Lesen und Verstehen - Jürgen Ebach - E-Book

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Jürgen Ebach

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Beschreibung

Jürgen Ebach gehört zu den profiliertesten Bibelwissenschaftlern in der evangelischen Theologie in Deutschland. Sein sozialgeschichtlich-sprachanalytisch inspirierter Zugang zu alttestamentlichen Texten vermag deren klassische Zeitlosigkeit und aktuelle Orientierungskraft auf beeindruckende Weise sichtbar zu machen. Es gibt kaum eine Studie aus seiner Feder, die nicht überraschen, verblüffen und den Blick und das Herz weiten würde. Dieser Band versammelt 12 seiner wichtigsten Arbeiten aus den letzten Jahren, die bisher nur verstreut zugänglich waren.

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Seitenzahl: 624

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Wie eigentlich soll man Worte anders als wörtlich verstehen?

Biblische Texte zu lesen, ist das Eine – sie zu verstehen ist das Andere. Vom Einen zum Anderen zu gelangen ist manchmal nicht ganz einfach, aber in jedem Fall lohnenswert.

Jürgen Ebach gehört zu den profiliertesten Bibelwissenschaftlern in der evangelischen Theologie in Deutschland. Sein sozialgeschichtlich-sprachanalytisch inspirierter Zugang zu alttestamentlichen Texten vermag deren klassische Zeitlosigkeit und aktuelle Orientierungskraft auf beeindruckende Weise sichtbar zu machen. Es gibt kaum eine Studie aus seiner Feder, die nicht überraschen, verblüffen und den Blick und das Herz weiten würde.

Dieser Band versammelt 12 seiner wichtigsten Arbeiten aus den letzten Jahren, die bisher nur verstreut zugänglich waren.

Dr. Jürgen Ebach, geboren 1945, ist Professor em. für Exegese und Theologie des Alten Testaments und Biblische Hermeneutik an der Ruhr-Universität Bochum. Er war langjähriges Mitglied im Editorial Board der Zeitschrift »Biblical Interpretation« (Sheffield), sowie Konsultor des »Freiburger Rundbriefs« (Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung) und ist Mitherausgeber der Buchreihe »Jabboq«. Seit vielen Jahren ist er Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag. Lange Zeit gehörte er der exegetischen Arbeitsgruppe und dem Präsidium des Kirchentags an, ferner dem Arbeitskreis Studium in Israel. Er ist Mitherausgeber der Bibel in gerechter Sprache, bei der er auch als Übersetzer mitgewirkt hat.

Jürgen Ebach

Lesen und

VERSTEHEN

Gesammelte Aufsätze zur Biblischen Exegese und Hermeneutik

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Copyright © 2022 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-28778-8V001

www.gtvh.de

Inhalt

Vorwort

Arbeit und Ruhe

Israels Sohn und Ägyptens Herr

Zur Ambivalenz der Josefsfigur in Gestaltung und Lektüre von Gen 37-50

»Compassion«?!

Ein beziehungsreiches Wort im Kontext biblischer Erinnerungen und Impressionen

Fremde in Moab – Fremde aus Moab

Das Buch Ruth als politische Literatur

Die 70 oder/und die 72 Ausgesandten in Lukas 10

Ein biblischer Lektüre-Essay

Mehr Bibel oder mehr Luther?

Beobachtungen und Impressionen zur neuen Revision der Lutherbibel

Mit Schuld leben – mit Schuld leben

Beobachtungen und Überlegungen zum Anfang und zum Schluss der biblischen Josefsgeschichte

Der Golem. Ein leibhaftiger Mensch?

oder: Was wir wissen dürfen, tun können und unterlassen sollen

Aggadische Dogmatik? – Aggadische Dogmatik

Diskurs über Diskurse über Genesis 1,26 im Midrasch Bereschit rabba (Par. VIII, 1-10)

Messianismus und Utopie

Schrifthermeneutik im Horizont des jüdisch-christlichen Gesprächs

Intellektuelle als Propheten – Propheten als Intellektuelle

Beobachtungen und Erwägungen zu einer Parallelchiffre.

Erstveröffentlichungen

Vorwort

»Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.«

(Friedrich Schlegel)1

Zu Beginn zitiere ich meinen früheren langjährigen Paderborner Kollegen, den katholischen Neutestamentler Hubert Frankemölle: »Texte verstehen«, schreibt er, »heißt lesen, was da steht, doch deren Sinn selbst steht nicht da.«2 Es empfiehlt sich, das Wort »heißt« hier sowohl im Sinne von »bedeutet« als auch im Sinne von »fordert« zu verstehen.

Bereits beim »lesen, was da steht« und vollends bei den Versuchen der Sinnfindung bedarf es mehrerer Diskurse. Da ist zunächst das Gespräch der Schriftgelehrten. Ich verwende diesen Ausdruck ganz positiv, ohne den negativen Touch, den der Begriff in manchen neutestamentlichen Texten und ihrer christlichen Rezeption hat. Dazu gehört die exegetische Debatte, in die ich mich als Alttestamentler einreihe und als Verfasser kräftig einmische. Dazu gehören aber auch die Diskurse jüdischer Schriftgelehrter von den Anfängen in den Midraschim und Talmudim bis zu gegenwärtigen jüdischen Stimmen. Ihre Wahrnehmung wird in den Aufsätzen »Aggadische Dogmatik? – Aggadische Dogmatik«, »Messianismus und Utopie« und »Schrifthermeneutik im Horizont des jüdisch-christlichen Gesprächs« leitend, durchzieht aber auch die weiteren in diesem Band gesammelten Aufsätze. Damit zusammen hängt auch mein Misstrauen gegen die Devise »Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig« (2 Kor 3,6), denn sie unterschlägt den Geist, der in den Buchstaben und ihrer genauen Beachtung steckt.

In diesen Zusammenhang gehört auch, dass ich die biblischen Worte und Texte wörtlich verstehen möchte. In der Abgrenzung von fundamentalistischen Lesarten heißt es oft, man dürfe die Bibel nicht wörtlich verstehen. Gemeint ist damit meist, dass nicht alles historisch und sachlich so war und ist, wie es in der Bibel steht. Das ist ja auch richtig. Die Sonne dreht sich nicht um die Erde und der Hase ist kein Wiederkäuer, um nur diese simplen Beispiele zu nennen. Aber wie eigentlich soll man Worte anders als wörtlich verstehen? Die Anweisung, man solle ein Bild nicht bildlich oder eine Musik nicht musikalisch verstehen, klänge nur absurd.

Zuweilen reicht es nicht einmal, einen Text wörtlich zu nehmen, sondern man muss ihn buchstäblich nehmen. Dafür steht in diesem Band der Aufsatz über den Golem.

Zum Lesen und Verstehen gehört aber auch ein weiterer Diskurs, nämlich der mit den (im nur zu imaginierenden Idealfall mit allen) Lesenden. Zur intentio auctoris bzw. der intentiooperis kommt die intentio lectoris bzw. kommen die intentiones lectorum. Ein literarischer Text wie ein Gedicht oder auch eine biblische Passage hat so viele Verstehensweisen, wie er Leserinnen und Leser hat. Die wissenschaftliche Exegese vermag manche Auslegungen als falsch zu erweisen; was die richtige Lektüre und Auslegung ist, vermag sie nicht herauszufinden oder gar zu dekretieren.

Das Finden des Sinns ist immer auch ein Erfinden, die Rekonstruktion stets auch eine Konstruktion – gemäß dem wohl auch, aber nicht nur ironisch gemeinten Spruch Goethes:

»Im Auslegen seid frisch und munter!

Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter!«3

Ein oft erster Schritt zum Lesen und dann vom Lesen zum Verstehen ist gerade bei biblischen Texten das Übersetzen. Dabei empfiehlt es sich, das Wort in seinen beiden Betonungen, nämlich ÜberSETZEN und ÜBERsetzen, in den Blick zu nehmen und im Blick zu behalten. Beim ÜberSETZEN von einer Sprache in eine andere bedarf es der Hilfe eines Wörterbuchs (bzw. oft mehrerer Wörterbücher), beim ÜBERsetzen von einem Ufer zum anderen – hier der Texte zu den Lesenden und der Lesenden zu den Texten – bedarf es der Hilfe einer Fähre. Ich habe in diesem Zusammenhang einmal von einer HermeNAUTIK gesprochen.4 Einen wunderbaren Beleg für diese Lesart habe ich damals noch nicht gekannt; er sei hier nachgetragen:

In einer aktuellen Ausstellung im Marbacher Literaturarchiv wird Paul Celan als Übersetzer präsentiert. Er hat u.a. das surrealistische Theaterstück »Le Désir attrapé par la queue« von Pablo Picasso 1954 unter dem Titel »Wie man Wünsche beim Schwanz packt« ins Deutsche übersetzt. Die erste Aufführung von Picassos 1941 geschriebenem Stück fand 1944 als szenische Lesung im Hause von Michel Leiris unter der Regie von Albert Camus und der Mitwirkung von Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre, Raymond Queneau, Dora Maar und Valentine Hugo statt. Eine wahrlich bemerkenswerte Zimmertheaterpremiere! Und nun die hermenautische Pointe: Der Arche-Verlag bezahlte Celans oben genannte Übersetzung ins Deutsche nicht nur nach der Zeilenzahl, sondern auch nach den »Ruderschlägen« beim ÜBERsetzen.

Beim ÜberSETZEN werden Wörter und Worte einer Sprache in eine andere transferiert, im Falle der Bibel hebräische, aramäische und griechische z.B. in ein gegenwärtig verstehbares Deutsch, beim ÜBERsetzen werden die Lesenden selbst aus der Gegenwart auf die Seite der Sprach- und Lebenswelt der biblischen Texte und wieder zurück in die Gegenwart übergesetzt. Beim ÜberSETZEN liegt das Gewicht auf dem intendierten Abschluss des Verfahrens, beim ÜBERsetzen liegt es auf dem Weg zwischen der einen und der anderen Seite. Aber was ist die andere Seite? Der dümmste Kalauer wird hier zur philosophischen Allegorie:

Imaginierter Wortwechsel am Straßenrand:

»Entschuldigen Sie bitte, wo ist die andere Straßenseite?« – »Na, da drüben doch!« – »Komisch, da habe ich auch schon gefragt, da hat man mich hierhin geschickt.«

Das ÜberSETZEN und das ÜBERsetzen spielt in allen Beiträgen dieses Bandes eine Rolle; zum zentralen Thema wird es im Beitrag »Mehr Bibel oder mehr Luther?« über die 2016 revidierte Lutherbibel (bekannt als »Luther 2017«).

Beim Übersetzen ist es meist darum zu tun, für biblische Wörter, Worte und Texte möglichst entsprechende Wiedergaben zu finden. Im Aufsatz über »Compassion«?! geht es umgekehrt zunächst darum, für das moderne Titelwort entsprechende biblische Wörter zu finden und aufzusuchen. Im Weiteren geht es in diesem Aufsatz darum, die Wörter und Worte mit kognitiven, aber auch mit emotionalen und ebenso mit leiblich-leibhaftigen Lebensdimensionen verknüpft zu lesen und zu verstehen. Die konstitutive Verbindung kognitiver, psychischer und somatischer Ebenen bei einzelnen Wörtern und Wortfeldern und weit darüber hinaus ist eine grundlegende Dimension alttestamentlicher Anthropologie und Theologie.

Bereits beim Übersetzungsthema, aber auch bei anderen Lektüre- und Interpretationsschritten zeigt sich ein weiterer methodischer Schwerpunkt aller in diesem Band gesammelter Aufsätze. Es geht um das Wahrnehmen, das Aushalten und das Starkmachen von Ambiguitäten, Spannungen und Widersprüchen. Der Aufsatz »Die 70 und/oder die 72 Ausgesandten in Lukas 10« entwickelt sich aus einem textkritischen Problem in Lk 10,1. Anders als im üblichen Umgehen mit textkritischen Problemen geht es mir nicht darum, die richtige oder wenigstens wichtigere Lesart zu ermitteln (was in diesem Fall ins Leere ginge, da beide Lesarten, beide Zahlen, 70 und 72, gleich verlässlich überliefert sind), sondern darum, beide Zahlenangaben wahr zu nehmen. Dabei zeigt sich am Ende, dass in beiden Zahlenangaben ein je eigenes Konzept von Geistbegabung und Gemeindebildung angelegt ist. Hier (und nicht nur hier) zeigt sich meine Neigung oder auch mein Spleen, auf manche Oder-Frage regelwidrig, doch, wie ich meine, sachlich begründet mit »Ja« zu antworten. In der Bibel gibt es wie im wirklichen Leben Geschichten und Gegengeschichten. Und manchmal ist eine Geschichte nur wahr, weil und indem ihre Gegengeschichte auch wahr ist. Also auf die auf den ersten Blick einfach nur textkritische Frage in Lk 10,1 bezogen: »70 oder 72 Ausgesandte«? »Ja«!

Hier, aber auch an vielen anderen Stellen, ja, wenn ich das so sagen darf, im Gesamtton der hier versammelten Aufsätze geht es mir darum, die Mehrdeutigkeit biblischer Wörter, Worte und Texte zur Darstellung zu bringen und dem Vorwurf entgegenzutreten, Mehrdeutigkeit bedeute Beliebigkeit.

Zwei Aufsätze dieser Sammlung haben in unterschiedlichen Fragestellungen die alttestamentliche Josefsfigur und ihre Facetten und inneren Spannungen zum Thema, und einer – »Das Buch Ruth als politische Literatur« – behandelt ein ebenso vielschichtiges und spannungsreiches Thema.

Am Anfang und am Ende dieser Aufsatzsammlung stehen zwei alttestamentlich-kulturursoziologische Beiträge: Ein Aufsatz über »Arbeit und Ruhe« und das biblisch-jüdische Konzept des Sabbats leitet die Aufsatz-Sammlung ein und eine gezielt anachronistische Konfiguration der Propheten und der Intellektuellen schließt sie ab.

Last, but not least möchte ich mich bedanken.

Dem Leiter der Abteilung Fachbuch, Diedrich Steen, danke ich sehr herzlich für seine spontane Bereitschaft, diesen Band meiner gesammelten Aufsätze ins Verlagsprogramm aufzunehmen. Ihm und den weiteren Mitarbeitenden im Gütersloher Verlagshaus und in der Druckerei gilt mein herzlicher Dank dafür, dass sie in je ihrer Funktion und ihrer Kompetenz das Erstellen und Erscheinen dieses Bandes gesammelter Aufsätze ermöglicht haben.

Noch eine formale Notiz: Hebräische und griechische Wörter sind in dieser Aufsatzsammlung ungeachtet der Schriftform in den Vorlagen in eine vereinfachte Umschrift transformiert.

Hattingen im Frühjahr 2021

Jürgen Ebach

1Friedrich Schlegel, Fragmente [53], in: Ders., Werke in 2 Bänden, 1. Band, Bibliothek deutscher Klassiker, Berlin und Weimar 1980, 196.

2Hubert Frankemölle, Das Evangelium des Neuen Testaments als Evangelium aus den heiligen Schriften der Juden, Berlin 2013, 55.

3Johann Wolfgang von Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 1, München 121981, 329.

4Jürgen Ebach, Üb'ersetzen, in: Ders., Schriftstücke. Biblische Miniaturen, Gütersloh 2011, 61-63.

Arbeit und Ruhe

Im sechsten Buch seines »Gottesstaats« zitiert der Kirchenvater Augustin eine Bemerkung des römischen Philosophen Seneca. Der habe, wie es dort (VI,11) heißt, »unter anderen abergläubischen Bräuchen (…) auch die heiligen Einrichtungen der Juden« getadelt, »vor allem ihre Sabbatfeier, und betont, wie unnütz es sei, dass sie durch Einschiebung eines allwöchentlichen Ruhetages fast den siebten Teil ihres Lebens durch Müßiggang verlören und viele dringende Geschäfte dadurch Schaden litten.« Die Rubrizierung des Sabbats unter die Formen der superstitio, des Aberglaubens, findet sich auch bei anderen römischen Autoren und ebenso der Vorwurf, die Sabbatruhe zeige Müßiggang und Faulheit. An derselben Stelle zitiert Augustin Senecas Empörung, die Lebensweise dieses schändlichen Volkes (der Juden) habe in fast allen Ländern Eingang gefunden, nebst dem darauffolgenden Spitzensatz: »Die Besiegten haben den Siegern Gesetze gegeben (victi victoribus leges dederunt).« Seneca, so Augustin weiter, merke dann an, die Juden hätten gewusst, welchen Sinn ihre Gesetze und Bräuche haben, doch zu deren Übernahme im römischen Reich sage er: »Unser Volk tut zum größten Teil, was es selbst nicht begreift.«

Diese, was den zitierten Seneca betrifft, nahezu 2000 Jahre alte Passage scheint mir zum Einstieg in das Thema »Arbeit und Ruhe« geeignet, denn sie macht gleich auf mehrere seiner Aspekte aufmerksam. Da ist im Blick auf den Sabbat als Tag der Arbeitsruhe der Vorwurf des Aberglaubens und der der Faulheit, da ist die Empörung über die Attraktivität jüdischer Lebensweise für Nichtjuden und da ist auch die Beobachtung, dass gerade der Erfolg des Sabbats mit dem Nichtverstehen seiner ursprünglichen Bedeutung verbunden sei. Wir werden diesen Motiven bis in die Gegenwart in manchen Variationen begegnen. Doch vor weiteren Beobachtungen zur Rezeption des biblisch-jüdischen Konzepts von Arbeit und Ruhe sollten wir die biblischen Bestimmungen selbst in den Blick nehmen, dabei jedoch auch immer wieder danach fragen, wie sich in dieser Hinsicht Jerusalem zu Athen, Rom und Alexandrien verhält.

Ich beginne beim Stichwort »Arbeit« und dabei mit einigen Beobachtungen zu Worten und Wortfeldern. Die häufigsten biblisch-hebräischen Grundworte für »Arbeit« (avoda und melacha) haben keinen eo ipso negativen Klang. Das unterscheidet sie von entsprechenden Worten vieler Sprachen – man denke an das griechische ponos (die Last eines Esels), das lateinische labor (das Wanken unter einer Last, dann auch Mühsal, Krankheit), aber auch an das mittelhochdeutsche arebeit (Mühsal, Leiden [ich erinnere an die Anfangszeilen des Nibelungenliedes: »Uns ist in alten mæren wunders vil geseit / von helden lobebæren, von grôzer arebeit« – und diese arebeit ist Mühe und Leid]). Zu den kategorial negativen Worten für Arbeit gehört auch das französische travail (von mittellateinisch tripalare – einem Pferd die Beine zusammenbinden) oder das russische rabota (vom altkirchenslavischen rabu – Sklave). Doch nicht alle hebräischen Worte für Arbeit werden positiv oder neutral gebraucht, denn es gibt besondere Begriffe, welche mühselige Arbeit oder Zwangsarbeit bezeichnen (sebäl, mas, izzabon). Dagegen haftet dem Wort melacha in der Bibel nicht der negative Beiklang an, den das (über das Jiddische) von ihm abgeleitete »Maloche« in der deutschen Umgangssprache hat.

Das Wort melacha bezeichnet nämlich in Gen 2,2 Gottes eigene Schöpfungsarbeit. Dass Gott selbst arbeitet, dass Gott »malocht«, ist ein im engsten Sinne theologischer Aspekt der Arbeit. Ein Gott, der selbst arbeitet, handwerklich arbeitet, wie es in Gen 1 zu lesen ist, wenn er (oder sie) etwa die Himmelplatte, das Firmament, wie eine Metallplatte herstellt, ein Gott, der von dieser Arbeit ausruht – der (oder die) ist nicht der »unbewegte Beweger« der griechischen Philosophen.

Besondere Aufmerksamkeit muss dem hebräischen Wort(feld) avad, äväd, avoda gelten. Wie die Bedeutungen von äväd vom Sklaven über den Diener bis zum Minister reichen, kann avoda sowohl im allgemeinen Sinn Arbeit bezeichnen als auch im besonderen Sinne die Sklavenarbeit Israels für Pharao, aber ebenso die kultische Arbeit, den Gottesdienst. Hier entscheidet nicht der Begriff über die Qualität der Arbeit, sondern die Bedingungen, unter denen Menschen arbeiten, und auch die Größe, für die sie arbeiten. Für alle weiteren Beobachtungen und Überlegungen ist daher festzuhalten: Wenn nicht dem Wort(feld) »Arbeit« selbst eine negative Bedeutung impliziert ist, kommt es umso mehr auf die Bedingungen an, unter denen Menschen arbeiten, sowie auf die Mächte und die Ziele, für die sie arbeiten.

Kleiner Zwischentext: Das Umschlagen der instrumentellen Vernunft in neuen Mythos, das Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrem großen gemeinsamen Werk »Dialektik der Aufklärung« analysiert haben, fand ich vor vielen Jahren einmal in einem Bilderwitz – ich glaube, er stand in der Saturday Evening Post – auf eine treffliche Kurzform gebracht: Es war die Zeit, als Computer noch sehr groß waren, Hollerith-Maschinen hießen und ihre Ergebnisse auf Lochstreifen präsentierten. Zu sehen waren zwei Ingenieure, die vor einem solchen eine ganze Wand füllenden Rechner standen, der gerade einen solchen Lochstreifen ausgespuckt hatte. Der eine der beiden Ingenieure, der die Botschaft entziffert hatte, sagt zu seinem Kollegen: »Er will, dass wir ihm ein Schaf opfern.«

Blicken wir noch einmal auf den Schluss der Schöpfungsgeschichte am Anfang der Bibel. In Gen 2,2 ist zu lesen: »Und Gott vollendete am siebten Tag seine Arbeit (seine ›Maloche‹), die er gemacht hatte; und er ruhte am siebten Tag von all seiner Arbeit, die er gemacht hatte.« Wie ist das zu verstehen? Hat Gott nun am siebten Tag die Arbeit vollendet, oder hat sie (oder er) an diesem Tag geruht? Oder hat Gott womöglich am Vormittag die Arbeit vollendet und dann ab Mittag geruht? Nein, so ist es nicht zu verstehen, denn über die Tatsache hinaus, dass hier von einem körperlich arbeitenden Gott die Rede ist, kommt hier bereits ein Moment der Relation von Arbeit und Ruhe in den Blick. Gott vollendet die Arbeit, indem er ruht. Die Ruhe ist hier nicht der Gegensatz zur Arbeit, sondern deren ihr selbst zugehörender Abschluss. Nicht Ruhe statt Arbeit ist das Ziel, sondern eine Ruhe, welche zur Arbeit als deren Vollendung gehört, und somit ein ausgewogenes Verhältnis von Arbeit und Ruhe. Doch zum komplementären Begriffspaar Arbeit und Ruhe gehört als dessen striktes Gegenbild ein anderes komplementäres Verhältnis, nämlich das von Zwangsarbeit und Trägheit. Dafür stehen in der hebräischen Bibel die Erzählungen von der Wüstenwanderung, in denen immer wieder ins Bild kommt, dass sich das träge und zugleich aufsässige Volk nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurücksehnt. Der beschwerliche Weg der Befreiung schlägt um in die Nostalgie der Sicherheit des Sklavenzustands, dem Israel nur mit den Füßen entronnen war.

Zurück zur Schöpfungsgeschichte und zum Konzept des arbeitenden Gottes. Ihm korrespondiert die Arbeit als Aufgabe des Menschen in der Welt, die er im Auftrag Gottes gestalten soll. Wiederum ist zu betonen, dass es dabei zuerst um körperliche Arbeit geht. Hier ist abermals ein Antagonismus zwischen der klassischen Antike und der Bibel zu notieren – zwischen Jerusalem auf der einen und Athen und Rom auf der anderen Seite. Die klassische Antike tendiert (in unterschiedlicher Gewichtung) zur Abwertung körperlicher Arbeit. Der Handwerker ist im Griechischen der banausos, der Banause, und für den, der nur arbeitet, den Sklaven und die Sklavin, gilt bei Aristoteles die Klassifizierung als ktema empsychon, als »beseelte Sache«. Das volle Menschsein und so auch das volle Bürgerrecht kommen nur dem zu, der von körperlicher Arbeit frei ist. Sein Leben dient der Muße, die als schole (»Schule«) freilich kein Nichtstun ist, sondern – knapp gesagt – eine Konzentration auf die Verbindung von Geist und Politik.

Gerade vor dem Hintergrund dieser antiken Konzeption erstaunt die Tatsache, dass die Bibel weder in paradiesischer Erinnerung noch in utopischer Erwartung ein Leben ohne Arbeit kennt. Im Garten in Eden, im »Paradies«, wurde gearbeitet (der Mensch soll den Garten bebauen und bewahren), und noch in den kühnsten Verheißungen eines guten Lebens arbeiten Menschen. Ins Bild kommt nicht die Utopie eines Lebens ohne Arbeit, sondern die eines Lebens, in dem Arbeit nicht mehr durch Ausbeutung und Vergeblichkeit bestimmt ist. Ich lese einige Verse aus der großen Utopie vom neuen Himmel und der neuen Erde in Jes 65. Da heißt es über die Arbeit und das Leben der Menschen:

Sie bauen Häuser und wohnen darin,

pflanzen Weinberge und essen ihre Frucht.

Nicht bauen sie, und andere wohnen darin,

nicht pflanzen sie, und andere essen.

Ja, wie die Tage des Baumes sind die Tage meines Volkes,

und was ihre Hände erarbeiten,

sollen meine Erwählten verbrauchen.

Sie mühen sich nicht ab ins Leere

und gebären nicht für jähen Tod.

Nachwuchs der Gesegneten Adonajs sind sie

und ihre Nachkommen mit ihnen. (Jes 65,21-23)

Eine weitere Zwischenbemerkung: Wenn ich vor 30 Jahren in Vorträgen oder Seminaren davon erzählte, dass selbst in den größten biblischen Utopien kein Leben ohne Arbeit erscheint, pflegten die Zuhörenden verwundert bis verstört zu reagieren. Das zu den kühnsten Träumen vom gelingenden Leben ein Leben mit Arbeit gehören soll, konnten sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten gründlich verändert. Arbeiten zu können erscheint immer mehr und für immer mehr Menschen als größtes Ziel. Die veränderten sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen der Gegenwart verändern den Blick auf die alten Texte und Konzeptionen und dabei können biblische Texte und Motive, die lange als abständig bis archaisch erschienen, plötzlich ganz aktuell werden.

Der im biblischen Konzept von Arbeit und Ruhe erkennbare Gegensatz zum klassischen Altertum wird an einem Motiv besonders deutlich, das sich sowohl in prophetischen Verheißungen der hebräischen Bibel als auch in einem wirkmächtigen Text der römischen politischen Dichtung findet. Ich denke an den Tierfrieden, der in Jes 65 im Anschluss an die eben zitierten Verse aufscheint und besonders markant in Jes 11 ins Bild kommt, der aber auch – vermutlich vermittelt durch die jüdischen Sibyllen und daher auch literaturgeschichtlich auf die Jesajatexte zurückgehend – in der 4. Ekloge des augusteischen Staatsdichters Vergil aufscheint. Ich lese eine Übersetzung von Jes 11,6-8:

Dann wird der Wolf beim Lamm

als Flüchtling unterkommen,

und der Leopard wird beim Böckchen lagern;

Kalb, Junglöwe und Mastvieh leben zusammen,

ein kleines Kind treibt sie.

Kuh und Bärin werden weiden,

gemeinsam werden ihre Jungen lagern,

und der Löwe wird wie das Rind Stroh fressen.

Der Säugling wird vergnügt

an der Höhle der Kreuzotter spielen,

und nach dem Loch der Giftschlange

wird das Kleinkind mit seiner Hand patschen.

Auch in der 4. Ekloge Vergils kommt der Tierfrieden ins Bild und mehrere Einzelmotive verbinden beide Friedensutopien. Aber gerade darum sind die Differenzen umso sprechender. Bei Vergil bedarf es in jenem Friedensreich überhaupt keiner Arbeit mehr; die Kühe bringen ihre Milch selbst herbei und die Schafe ihre schon gefärbte Wolle – alles geschieht automatisch. (Das sogenannte automaton-Motiv erscheint nicht nur hier bei Vergil; es begegnet auch bei Horaz in der 16. Epode.) Bei Jesaja dagegen gibt es auch in der größten Zukunftshoffnung noch Arbeit, ja sogar Kinderarbeit (»Kalb, Junglöwe und Mastvieh leben zusammen«, heißt es, und »ein kleines Kind treibt sie«). Arbeit und Spiel werden hier eins. Ich versuche, die Differenz pointiert zu formulieren: Die klassische Antike träumt von der Befreiung vom Zwang der Arbeit, die Bibel träumt von der Befreiung der Arbeit vom Zwang.

Obwohl sie das mir gestellte Thema nicht unmittelbar betrifft, sei eine weitere, womöglich noch zentralere Differenz zwischen der biblischen und der augusteischen Utopie erwähnt. Denn ebenso prägend sind die Differenzen in der Hoffnung auf das Ende der Konflikte zwischen Mensch und Tier, Tier und Tier. Bei Vergil gibt es die feindlichen Tiere (Löwen und Schlangen) nicht mehr, bei Jesaja sind sie zu nicht mehr feindlichen verwandelt. Im Entwurf der pax Romana geht es um das Ende der Feinde, im biblischen Bild vom schalom geht es um das Ende der Feindschaft. Auch hier also nicht Jerusalem und Rom, sondern Rom versus Jerusalem! Und in dieser Thematik wird man kaum Senecas am Beginn des Referats zitiertem Satz zustimmen können, dass die Besiegten den Siegern die Gesetze gegeben haben. Vielmehr hat sich gerade im christlichen Abendland das Konzept der Pax Romana durchgesetzt – und auf der Ein-Dollar-Note stehen bis heute keine Bibel-, sondern Vergilverse – darunter das »novus ordo seclorum« aus eben der 4. Ekloge. »In God we trust« steht dazu auf dem Dollarschein. Jener – tatsächliche oder gut erfundene – Fehldruck »In gold we trust« ist allemal eine Fälschung bis zur Kenntlichkeit.

Aber zurück zum engeren Thema »Arbeit und Ruhe«, das in vielen biblischen Texten und Zusammenhängen wichtig wird, von denen wir jetzt nur wenige beleuchten können. Das biblische Konzept hat im Sabbatgebot eine besondere Ausprägung gefunden. Ihm will ich mich jetzt zuwenden. Worum geht es in diesem Gebot? Vielen evangelischen Christinnen und Christen mögen die Worte in Luthers Kleinem Katechismus in den Sinn kommen. Da heißt es im Ersten Hauptstück über die Gebote knapp und klar:

Du sollst den Feiertag heiligen.

Was ist das?

Wir sollen Gott fürchten und lieben,

dass wir die Predigt und sein Wort nicht verachten,

sondern es heilig halten, gerne hören und lernen.

Es geht also um die Predigt und um Gottes Wort. Im Großen Katechismus führt Luther aus, er gebe das Wort Sabbat mit »Feiertag« wieder, weil es um das Aufhören der Arbeit gehe (»daher wir pflegen zu sagen: ›Feierabend machen‹«). Darauf nennt er die Erholung von der täglichen Mühe als elementaren Inhalt des Gebots, um dann als das Entscheidende zu formulieren: »dass man an einem solchen Rugetage (weil man sonst nicht dazu kommen kann) Raum und Zeit nehme, Gottesdienst zu warten, also, dass man zuhaufe komme, Gottes Wort zu hören und handeln, darnach Gott loben, singen und beten«. Es müsse übrigens nicht unbedingt der Sonntag sein, merkt Luther an, aber der sei nun mal seit alters der christliche Ruhetag und so solle es auch dabei bleiben. In den dann folgenden Ausführung über das Wort »heiligen« geht es zentral und immer wieder um Gottes Wort. Das solle natürlich jeden Tag bestimmen, aber – wenn dazu sonst angesichts der Alltagsarbeit die Zeit fehle – wenigstens den Sonntag.

Folgt man dieser Linie, so geht es in einer christlichen Wahrnehmung des Sabbatgebots darum, wenigstens für diesen einen Tag der Woche – die Differenz zwischen dem jüdischen Sabbat und dem christlichen Sonntag als Tag der Arbeitsruhe lasse ich für diesmal beiseite – einen Freiraum für den Gottesdienst und die Besinnung auf Gottes Wort bereitzuhalten. Aber wie lautet das Sabbatgebot in der Bibel selbst? Ich zitiere die Fassung in Ex 20,8-11 – nun um der ökumenischen Ausgewogenheit willen nach der katholischen Einheitsübersetzung:

Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt.

Zuerst fällt die Ausführlichkeit des Gebots ins Auge. Es ist in beiden biblischen Fassungen (zur zweiten später noch etwas) das Gebot, welches im Text den größten Raum einnimmt. Aber ebenso wird erkennbar, dass in diesem Gebot mit keinem Wort von einem Gottesdienst die Rede ist. Das Gebot hat keine kultische Abzweckung, es geht allein um die an diesem Tag gebotene Arbeitsruhe. Geboten wird, was zu unterlassen ist. Auch das »Heilig-Halten« zielt nicht auf eine kultische Begehung; es besagt, dass dieser Tag ein besonderer ist. Aber warum hat die Arbeitsruhe am siebten Tag eine so hohe Bedeutung, dass sie in den Rang eines der Zehn Gebote kam? Um das zu verstehen, muss man wahrnehmen, dass alle Gebote von den ersten Worten in Ex 20,2 her zu lesen sind. Sie lauten:

Ich, ich bin Adonaj, bin dein Gott, weil ich dich aus dem Land Ägypten, aus dem Sklaven-, dem Arbeitshaus herausgeführt habe.

Dieser Prolog bestimmt den Leitton und das Ziel aller folgenden Einzelgebote. Gott stellt sich vor der Gabe der Gebote mit seinem Eigennamen vor, den ich in einer jüdischen Tradition Adonaj ausspreche. Und Gott stellt sich vor als Gott der Befreiung aus dem Sklavenhaus. Gott hat Israel befreit und so sollen Israels Menschen auch wie befreite Menschen leben.

Die Freiheit – darum geht es in mehreren der Zehn Gebote – hat ihre Grenze da, wo die Integrität der Anderen auf dem Spiel steht. Rosa Luxemburgs Bemerkung, Freiheit sei immer die Freiheit der Anderen, hat eine biblische Grundierung. Dieses Ziel aller Gebote zeigt sich markant im Gebot der Sabbatruhe. Immer zu arbeiten ist Sklavendienst; wer allein durch seine Arbeitskraft definiert ist, ist ein Sklave. Befreit zu sein heißt darum, nicht immer arbeiten zu müssen, sondern ein Leben zu führen, in dem Arbeitszeit und Ruhezeit ausgewogen sind. »Sein ganzes Leben war Arbeit!« Das kann man noch immer in rühmenden Nachrufen hören. In biblischer Sicht müsste man sagen: Also hat der arme Mensch nur ein halbes Leben gelebt!

Vor einigen Jahren wurden Menschen befragt, welches der Zehn Gebote für sie heute noch unbedingt gelte und welches ihnen heute ganz verzichtbar scheine. Sie können das Ergebnis leicht erraten. Es wundert nicht, dass »Du sollst nicht töten!« das unverzichtbare war – und welches mehrheitlich als überflüssig angesehen wurde, ist auch nicht schwer zu raten, wenn ich jetzt an diese Umfrage erinnere: »Du sollst den Feiertag heiligen!« Das erschien den meisten verstaubt und ohne Bedeutung. Ich kann das auch verstehen. Das Gebot der Feiertagsheiligung ist für viele mit der Freudlosigkeit des Kleinbürgersonntags verbunden. Manche von uns Älteren erinnern sich noch an die Sonntagskleidung – man durfte sich nicht schmutzig machen – und der Geruch von Schweinebraten und Soße durchzog den Ort. Der Sonntag – eine einzige Langeweile. Und dann denke ich auch an den Zwang des Gottesdienstbesuchs. Haben Sie in der Schule auch noch jenes furchtbare Goethegedicht »Die Wandelnde Glocke« gelernt? Da läutet die Kirchenglocke zum Sonntagsgottesdienst, aber das Kind will lieber ins Feld hinauslaufen, als in die Kirche zu gehen. Da sieht es die Glocke hinter ihm her wackeln und es verfolgen. Die Angst, sie würde es unter sich begraben, lässt das Kind im letzten Moment noch den Weg in die Kirche finden. Die letzte Strophe lautet:

Und jeden Sonn- und Feiertag

Gedenkt es an den Schaden,

Läßt durch den ersten Glockenschlag

Nicht in Person sich laden.

Wenn Langeweile, Zwang und Schadens- und Strafvermeidung das ausmachen, was Menschen mit dem Feiertagsgebot verbinden, dann kann ich gut verstehen, warum sie dieses Gebot am liebsten streichen würden. Übrigens passt in diesem Gedicht, das in mehrfacher Hinsicht nicht zu Goethes größten Leistungen gehört, die ins Bild gesetzte wandelnde Glocke durchaus zu Senecas am Anfang des Referats zitierter Bemerkung, nicht mehr verstandene Gebote würden zum Aberglauben mutieren.

Andere finden das Feiertagsgebot womöglich unzeitgemäß, weil sie sich von niemandem vorschreiben lassen wollen, wie sie ihre Freizeit verbringen – schon gar nicht von Bibel und Kirche. Auch das ist durchaus nachvollziehbar. Freilich ist das mit der Freiheit und der Freizeit so eine Sache. Im Namen der Freiheit dürfen wir nun vieles selbst tun, was zuvor andere taten: Wir waschen und tanken das Auto selbst, wir wiegen das Gemüse im Supermarkt ab, fertigen unsere Passbilder im Automaten selbst an, drucken uns Bahnfahrkarten selbst und vieles mehr. Diese Freiheit zwingt uns Arbeiten auf und – auch das sollten wir nicht vergessen – rationalisiert viele Arbeitsplätze weg. Ich halte es für ein Gebot, sich hier zuweilen sehr dumm zu stellen. Ich muss dann allerdings die mitleidigen Blicke des Servicepersonals ertragen, die bemerken, dass ich nicht einmal in der Lage bin, mir eine Bahnfahrkarte selbst auszudrucken und mich stattdessen in die Schlange der Wartenden stelle. Die mich da für früh-vergreist halten, wissen nicht, dass sie nur deshalb noch ihre Arbeit haben, weil es Menschen gibt, die dümmer sind, als die Polizei erlaubt …

Und was die Freizeit angeht, so ist inzwischen auch sie weithin taylerisiert und durchgetaktet. Die Rede von der Freizeitindustrie oder der Berufsstand der Animateure sprechen Bände. Aber ich will jetzt in keine larmoyante Kulturkritik verfallen und vor allem nicht den Zeiten das Wort reden, in denen der Lebensrhythmus von Menschen von oben vorgeschrieben war. Die Dialektik von Gebot und Freiheit in der biblischen Figur gebotener Freiheit ist schwer zu fassen. Ich komme darauf zurück, aber ich bleibe noch einen Moment beim Feiertagsgebot, das, wie die erwähnte Umfrage zeigte, von den meisten Menschen als das überflüssigste aller Gebote erachtet wird.

Jene Umfrage fand nämlich just in der Zeit statt, in der es unter dem Stichwort »Flexibilisierung der Arbeitszeit« auch um die Erweiterung der Arbeitszeit auf das Wochenende ging. Es ging um die vor allem bei der Chipfertigung auftretende Frage, ob es nicht an der Zeit sei, dass die Arbeits- und Ruherhythmen der Menschen sich den optimalen Laufzeiten der Maschinen anpassen sollten. Aber das betraf auch viele weitere Bereiche. Ich nenne ein Beispiel: Da ist ein Supermarkt in der Nähe eines samstäglichen Wochenmarktes. Bei gutem Wetter wird die Gemüse- und Obstabteilung des Supermarktes wenig frequentiert; man kann also eine Verkäuferin, die sie betreut, einsparen. Wenn es regnet, gibt es für sie Bedarf, sie soll also mit flexibler Arbeitszeit gegebenenfalls bereitstehen. Nicht weniger Freizeit war das Ziel, sondern flexibilisierte Zeiten. Aber wer flexibilisiert, wer beugt wen? Darum wurde heftig gestritten. Hätten die Befragten gewusst, dass es im Sabbat-, im Feiertagsgebot um ein ausgewogenes Verhältnis von Arbeit und Ruhe zu tun ist, um eben das, was Sklavinnen- und Sklaven von freien Menschen unterscheidet, hätten sie dann auch so entschieden gerade dieses Gebot für überholt erklärt? Warum sind dieser Inhalt und dieses Ziel des Gebots so unbekannt? Diese Frage fällt auch auf die zurück, die in Kirche, Schule und Universität über die Zehn Gebote sprechen.

Ich füge eine weitere Zwischenbemerkung ein: In den Zeiten jener Flexibilisierungsstrategien bekam ich erstaunlich viele Einladungen von Gewerkschaftsverbänden, die zu dieser Thematik und zur Unterstützung des Kampfs um das freie Wochenende ein Referat zur biblischen Sabbatthematik haben wollten. Ich war froh über die Möglichkeiten, ein zentrales Thema biblischer Ethik und Sozialethik in einem aktuellen Kontext zur Sprache bringen zu können, und ich erinnere mich an manche ja keineswegs selbstverständliche große Aufmerksamkeit für die Bibel gerade bei Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern. Dann aber einigte sich die IG Metall mit dem VW-Werk in Wolfsburg über flexible Arbeitszeiten. Ich will nicht darüber urteilen, ob es sich dabei um einen menschenfreundlichen Vertrag handelte, aber ich merkte, dass von diesem Moment an Einladungen von Gewerkschaften zu Vorträgen und Diskussionen über den Sabbat schlagartig ausblieben. Die Bibel und die Theologie waren offenkundig nur so lange gefragt, wie sie die eigenen Ziele und Strategien zu stützen schienen. Das war für mich eine Enttäuschung, aber auch eine heilsame Ernüchterung. Vielleicht war ich in jenen Tagungen, in denen meine Erörterungen zur Bibel so große Aufmerksamkeit erfahren hatten, doch das gewesen, was Lenin einen »nützlichen Idioten« genannt hat. Das hindert mich freilich nicht, auch weiter an den Sabbat und seine Grundgedanken zu erinnern, und das will ich auch jetzt tun.

Um das richtige Verhältnis von Arbeitszeit und Ruhezeit geht es im biblischen Gebot selbst. Das Sabbatgebot ist nicht nur das ausführlichst begründete, es ist auch so etwas wie die Mitte der hebräischen Bibel. Denn in ihm kommen Theologie der Schöpfung und Theologie der Befreiung zusammen. In der zitierten Fassung in Ex 20,8-11 ist es zurückgebunden an Gottes Ruhe am siebten Tag. Wir haben die entsprechende Sequenz in Gen 2 bereits angeschaut und ich wiederhole noch einmal: Gott ruhte nicht, nachdem er seine Arbeit vollendet hatte, sondern er vollendete seine Schöpfung, indem er ruhte. Ruhe ist nicht der Gegensatz zur Arbeit, sondern ihr komplementärer Teil. Verweist die Fassung des Dekalogs in Ex 20 auf die Schöpfung, so die in Dtn 5 auf den Exodus, auf die große Befreiungsgeschichte. Ich lese Dtn 5,12-14 – wieder nach der Einheitsübersetzung:

Achte auf den Sabbat: Halte ihn heilig, wie es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht hat. Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Rind, dein Esel und dein ganzes Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Dein Sklave und deine Sklavin sollen sich ausruhen wie du. Denk daran: Als du in Ägypten Sklave warst, hat dich der Herr, dein Gott, mit starker Hand und hoch erhobenem Arm dort herausgeführt. Darum hat es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht, den Sabbat zu halten.

Auch hier kein Wort von einer kultischen Begehung! Das spricht keineswegs gegen einen christlichen Sonntags- oder gegen einen synagogalen Sabbatgottesdienst. Der Besuch dieser Gottesdienste ist eine gute Weise, den arbeitsfreien Tag zu füllen, zu gestalten, aber er ist eben nicht der Zweck des Ruhetages. Der Zweck des Ruhetages ist die Ruhe selbst.

Ruhen aber soll nicht nur der einzelne Mensch vom Betrieb, ruhen soll der Betrieb selbst. Darum reicht es nicht, den einzelnen Menschen die je nach den Bedürfnissen des Betriebs optimalen Ruhezeiten zuzubilligen, es geht um gemeinsame Ruhezeit. Ich weiß sehr wohl, dass es da eine Fülle von konkreten Einzelfragen gibt, deren sachgemäße Regelung nicht leicht ist. Wie steht es mit der Arbeit nicht Weniger, die gerade dann anfällt, wenn es um die Gestaltung der Ruhezeit der Vielen zu tun ist? Es würde mich nicht freuen, wenn am Sonntag Theater oder Ausflugsgaststätten geschlossen hätten. Und doch sollte in den Einzelfragen nicht der Kern des Gebots verschwinden.

Um diesem Kern noch näher zu kommen, empfiehlt sich der Blick auf eine Weiterung des Grundgedankens des Sabbatgebots in der Bibel. Ich meine das Sabbatjahr. Das Konzept des siebten Tages ist hier auf das siebte Jahr bezogen. In jedem siebten Jahr, so lauten die biblischen Bestimmungen, sollen die Äcker und die Weinberge ruhen. Man soll leben von dem, was in den Jahren zuvor geerntet wurde. Der Wildwuchs des siebten Jahres soll für die Armen da sein – und was dann noch bleibt, für die Tiere. Ebenso sollen in jedem siebten Jahr die Schulden erlassen und die Sklaven frei werden. Ich lese jetzt nur eine der Fassungen dieses Gebots (Ex 23,10f.):

Sechs Jahre sollst du dein Land besäen und seinen Ertrag einsammeln. Aber im siebten sollst du es brachliegen lassen und nicht bestellen, damit die Armen deines Volkes davon essen. Und was sie übriglassen, mögen die Tiere des Feldes fressen. Ebenso sollst du es mit deinem Weinberg und mit deinem Ölbaumgartenhalten.

Warum diese Bestimmungen? Soll die Ackerbrache das Auslaugen der Äcker verhindern – vergleichbar der mittelalterlichen Dreifelderwirtschaft? Das ist gewiss eine wichtige ökologische Dimension der Ackerbrache – aber welcher Bauer wäre dann so dumm, alle Äcker gleichzeitig ruhen zu lassen! Geht es um das soziale Gebot der Versorgung der Armen durch den Wildwuchs? Auch diese Sozialverpflichtung des Eigentums hat ihre große Bedeutung, aber wie viel besser könnte man die Armen mit dem versorgen, was man angebaut hat?! Was für einen Zweck also hat dieses Gebot? Aufschlussreich ist, dass europäische Exegeten lange annahmen, es handele sich nur um eine ideelle Bestimmung, die nicht wirklich praktiziert wurde. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass man auf Ertragsoptimierungen verzichtet hätte. Doch es gibt Belege dafür, dass das Sabbatjahr eingehalten wurde – und an manchen Orten auch im modernen Israel eingehalten wird. Was den europäischen Auslegern so schwer zu verstehen war, ist gerade das Ziel des Gebots. Es geht darum, nicht das Letzte herauszuholen – aus den Ressourcen der Erde nicht, aus dem Kapital nicht, aus der Arbeitskraft der Anderen nicht und aus der eigenen auch nicht.

Nicht das Letzte herausholen! Das ist der Kern des Sabbatgebots und seiner Weiterungen in den real praktizierten Geboten des Sabbatjahres und den utopischen Modellen des nach sieben mal sieben Jahren erfolgenden Jobeljahres. Nicht das Letzte herausholen!

Was ist das für eine Gesellschaft, in der viele – viel zu viele – keine Arbeit haben und andere die permanente Überarbeitung als Ausweis ihrer Bedeutung brauchen?!

Vielleicht ist manchen von Ihnen die folgende Szene nicht ganz unvertraut: Da plant ein Gremium das nächste Treffen. Ein Termin ist schwer zu finden, die Terminkalender der Beteiligten sind schon sehr voll. Ein weiterer Tag wird als Möglichkeit genannt. Ich schaue in meinen Kalender und sehe etwas Furchtbares. Da steht nichts. Da steht drei Tage nichts. Hoffentlich merkt der neben mir sitzende Kollege nicht, dass da gar nichts eingetragen ist. Er dächte ja, ich wäre gar nicht mehr gefragt.

Aber ich kann ja gar nicht klagen. Als langjähriger C 4-Professor nun im ersten Semester im Ruhestand genoss ich mehrfach die Segnungen eines Freisemesters. Im angelsächsischen Sprachgebrauch heißt das in Anlehnung an das biblische Gebot Sabbatical. Ein halbes Jahr lang ohne Lehrverpflichtungen lesen und schreiben zu dürfen, ein Semester nicht im Hamsterrad und das bei voller Bezahlung – welch ein Privileg! Manche Bücher hätte ich ohne diese Ruhe nicht schreiben können. Inzwischen höre ich, dass Kolleginnen und Kollegen diese »Freiheit« voll dazu verwenden müssen, Anträge auf Drittmittel für die Forschung zu erarbeiten. »Nun ist aber Sabbat!«, möchte ich angesichts der neuen Zwänge ausrufen, die im Namen sogenannter Freiheit erwachsen. Aber wichtiger noch ist mir die Frage: Warum gibt es ein solches Sabbatical nicht für alle Arbeitenden?

Doch noch wichtiger ist mir im Zusammenhang des biblischen Sabbatgebots und seiner Zielsetzung eines Lebens in Freiheit die bereits angesprochene Frage, ob man Freiheit gebieten kann. Die Freiheit, die sich im Gebot der Feiertagsheiligung manifestiert (»Nicht das Letzte herausholen!«) ist eine Freiheit des Unterlassens. Hier geht es um eine ethische Grundfrage. Ich plädiere dafür, die berühmte Trias der Fragen Immanuel Kants (Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen?) heute mit einer weiteren Frage explizit zur Quadriga zu erweitern, der Frage: »Was haben wir zu unterlassen?«

Nicht das Letzte herausholen und das aus Freiheit und in Freiheit tun. Das ist die Quintessenz des biblischen Sabbatgebots. Es geht um eine Grundentscheidung im Verhältnis von Arbeit und Ruhe. Was für eine Gesellschaft wollen wir? Eine, in der der ökonomische Ertrag über allem steht, oder eine, die dessen Steigerung nicht für den letzten Wert hält?

Im Sabbatgebot wird geboten, was zu unterlassen ist. Aber das Unterlassen ist nicht einfach ein Nichts-Tun. Der große jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig schrieb am Schabbat Briefe. Aber er unterschrieb am Schabbat keine Rechnung. Darin manifestiert sich eine Auffassung, in der Arbeit nicht physikalisch definiert ist. Gewiss fordert ein langer Brief mehr Anstrengung als eine kurze Unterschrift. Aber das eine dient der Kommunikation, das andere ist ein Eingriff in die ökonomischen Verhältnisse. Wie bei einer Ethik des Tuns geht es auch bei einer Ethik des Unterlassens um Kriterien. Der Schabbat ist darin »heilig«, dass er das Alltägliche unterbricht. In bestimmter Hinsicht ist der christliche Sonntag an die Stelle des biblischen Sabbats getreten. Die Einführung des Sonntags durch den römischen Kaiser Konstantin ist mit einer Reihe von weiteren Aspekten verbunden, die ich jetzt nicht thematisieren will. Immerhin: Der Sonntag könnte eine solche Unterbrechung sein oder wieder werden – für die Gesellschaft und für die Einzelnen. Von Johann-Baptist Metz stammt die schöne »kürzeste Definition von Religion«. Sie besteht nur in einem Wort und lautet: »Unterbrechung«. Es geht nicht immer so weiter!

Ich erinnere mich an eine Unterbrechung, die vor vielen Jahren ein Paderborner Student in seiner Examensarbeit über das Sabbatgebot praktiziert hat. Da unterbrach jede siebte Seite die fortlaufende Darstellung. Eine der je siebten Seiten enthielt z.B. einen Aphorismus, eine andere ein Bild, wieder eine ein Gedicht und zuweilen gab es auch eine leere siebte Seite. Wer so mit dem Thema des Sabbatgebots umgeht, hat verstanden, worum es geht. Es geht nicht ums Nichts-Tun, sondern um die konkrete und phantasievolle Unterbrechung des Alltäglichen. Der Mensch ist auch darin Gottes Bild, dass er als freier Mensch ein Leben führt, in dem Arbeit und Ruhe ausgewogen sind und in dem die Ruhe nicht der Gegensatz zur Arbeit ist, sondern zur Arbeit gehört. Darum geht es bei der Sonntagsheiligung und nicht darum, dass die Kirchen ihre Privilegien behalten.

Ich möchte noch einen weiteren Aspekt des Themas »Arbeit und Ruhe« ansprechen, einen, der die biblische Konzeption weniger mit denen der klassischen Antike in Beziehung setzt, sondern zu denen des alten Orients , nämlich Babylon. Babylon steht dabei als pars pro toto für die Welt des alten Orients.

In der biblischen Schöpfungsgeschichte mündet die Erschaffung des Menschen in die Weisung, er (männlich und weiblich) solle die Erde gestalten. Arbeit gehört mithin zur conditio humana,Menschsein realisiert sich in der freien Verfügung über die Welt, freilich, wie Gen 1,29f. bestimmt, in einer Herrschaft ohne Blutvergießen. Insofern gehört Arbeit zum Menschen. Allerdings wird der Mensch nicht durch Arbeit zum Menschen. Eben das unterscheidet die biblische Schöpfungsgeschichte von den Überlieferungen des alten Orients über die Menschenschöpfung. Diese Überlieferungen weisen in den mehr als zweieinhalb Jahrtausenden von den frühesten sumerischen Zeugnissen bis zur altorientalischen Spätzeit – wie sollte es auch anders sein? – eine Reihe unterschiedlicher Motive auf. Es sind unterschiedliche Gottheiten, mit denen die Menschenschöpfung verbunden ist; verschiedene Orte werden genannt, an denen die ersten Menschen erschaffen wurden, und es gibt unterschiedliche Formen dieser Erschaffung. Umso erstaunlicher ist, dass alle diese Überlieferungen in einer Hinsicht völlig übereinstimmen: Die Götter machen den Menschen, damit der ihnen die Arbeit abnehme, die sie zuvor selbst tun mussten. Zu Beginn des im alten Orient berühmten Atramchasis-Epos wird der Urzustand, in dem die Götter durch eigene Arbeit für ihren Unterhalt sorgen mussten, so beschrieben: »Als die Götter Mensch waren …« Doch die Götter arbeiten nicht gleichermaßen: »Die unteren Götter schleppten den Tragkorb, die oberen Götter beaufsichtigten die Arbeit.« Es kommt zum Protest der unteren Götter gegen die oberen; sie klagen vor einem noch höheren Gott, der nicht einmal die Arbeit beaufsichtigen muss, sondern der Ruhe pflegt. Warum, so klagen sie, erlaube er, dass die oberen Götter sie so drangsalierten, sie, die doch auch Götter seien? Der Konflikt wird so gelöst, dass die Arbeit fortan dem eigens zu diesem Zweck als Götterersatz erschaffenen Menschen auferlegt wird. Hier leuchtet übrigens eine immer wieder geübte Strategie auf, den Unmut derer, die in der Gesellschaft unten sind, stillzustellen. Man muss nur dafür sorgen, dass es welche gibt, die noch weiter unten stehen. Ein böser Witz erzählte bald nach der »Wende«, dass da ehemalige DDR-Bürger bei Aldi in einer langen Schlange vor der Kasse warten mussten. Sie hätten schließlich nicht für das Ende der DDR gekämpft, nörgeln sie, um jetzt wieder in einer Kassenschlange anzustehen. Da dreht sich ein Türke vor ihnen um und sagt: »Wir euch nicht ins Land gerufen.«

Eine andere altorientalische Tradition lässt den Menschen ebenfalls durch Arbeit zum Menschen werden, und zwar so, dass er sich durch die ihm von den Göttern überantwortete Fähigkeit zum Anbau von Getreide und zur Züchtung von Tieren aus dem Status des Tieres in den des Menschen heraufarbeitet. Bei durchaus unterschiedlichen Traditionen im Einzelnen stimmen die altorientalischen Menschenschöpfungstexte jedoch allesamt darin überein, dass der Mensch durch Arbeit zum Menschen wird und dass er zu diesem Zweck als Götterersatz gemacht wurde.

Vor dem Hintergrund der altorientalischen Menschenschöpfungstraditionen zeigt die biblische Schöpfungsgeschichte ihr besonderes Profil. Auch hier sind die Themen Schöpfung, Menschsein, Herrschaft und Arbeit eng verbunden. Auch hier ist die Gestaltung der Welt die Aufgabe der Menschen. Doch sind sie nicht erschaffen, um Gott die Arbeit in der Welt abzunehmen, die er zuvor selbst tun musste, vielmehr erschafft Gott die Welt zur freien Gestaltung der Menschen. Herrschen in der Welt soll der Mensch, d.h. auch: Menschen sollen nicht über Menschen herrschen. Ich lese Gen 1,26-28:

Und Gott sprach: »Wir wollen Menschen machen – als unser Bild, gleichsam in unserer Gestalt. Sie sollen bezwingen die Fische des Meeres, die Flugtiere des Himmels, das Vieh, die ganze Erde, alle Kriechtiere, die auf dem Boden kriechen.« Da schuf die Gottheit die Menschen als ihr Bild, als Bild Gottes wurden sie geschaffen, männlich und weiblich hat sie sie geschaffen. Dann segnete die Gottheit sie, und Gott sprach zu ihnen: »Seid fruchtbar, vermehrt euch, füllt die Erde und bemächtigt euch ihrer. Bezwingt die Fische des Meeres, die Flugtiere des Himmels und alle Tiere, die auf der Erde kriechen.«

In der Differenz zwischen Gen 1 und den altorientalischen Überlieferungen scheint eine bleibende, heute besonders wichtige Perspektive auf eine entscheidende Frage auf: Wie kann Arbeit als zum Menschsein gehörende Lebensqualität behauptet werden, ohne dadurch Menschen, die (aus welchen Gründen immer) nicht arbeiten, im »Wert« zu mindern? Gerade in dieser Fragerichtung verdient die Konzeption von Gen 1 große Aufmerksamkeit:

Diese Schöpfungsgeschichte lässt den Menschen die Welt durch seine Arbeit verantwortlich gestalten. Diese Aufgabe ist die Explikation des Segens, den Gott dem Menschen zuspricht. So gehört Arbeit zum Menschsein. Doch wird der Mensch nicht durch Arbeit zum Menschen, sondern dadurch, dass Gott ihn (männlich und weiblich) als sein (und so auch ihr) Bild erschafft.

Zur Arbeit aber gehört die Ruhe, in einem ausgewogenen Verhältnis von Arbeit und Ruhe, wie es im Sabbatgebot formuliert und gefordert ist, werden Schöpfungs- und Befreiungstheologie zur Praxis eines humanen Lebens. Zu einem solchen humanen Leben gehört aber auch die ausgewogene Verteilung von Arbeit und Ruhe für alle Menschen. Eine Gesellschaft, in der viele und viel zu viele keine Arbeit haben, und in der es für andere als Ausweis des Erfolgs gilt, permanent überarbeitet zu sein, verfehlt dieses Ziel.

Mit einem Zitat Senecas habe ich begonnen und auf Senecas Urteil über den Sabbat will ich zum Schluss noch einmal zurückkommen. Wie andere römische Autoren hatte er die Praxis des Ruhetages als superstitio bezeichnet, als Aberglaube. Nun, wenn die gegenwärtig herrschende Maxime der dauernden Steigerung, des permanenten Wachstums, die sich in der politisch-ökonomischen Sprache verräterisch darin zeigt, dass man einen Rückgang der Produktion als ein »Minus-Wachstum«, d.h. immerhin auch noch ein Wachstum bezeichnet, ein wahrer Glaube ist, dann freilich sind das biblische Konzept von Arbeit und Ruhe und vollends der Sabbat ein Aberglaube. Aber könnte es nicht just umgekehrt sein? Doch wenn Seneca tadelt, sein Volk übernehme den jüdischen Brauch und tue damit etwas, das es selbst nicht verstehe, dann dürfte das für die christliche Übernahme des Sabbatgedankens nicht falsch sein. Wo das Feiertagsgebot zur Pflicht des Gottesdienstbesuches zusammenschnurrt und die Bewahrung des Sonntags zur Sicherung kirchlicher Privilegien, ist nicht mehr viel bewahrt von dem, worum es in der Bibel geht. Es geht darum, nicht das Letzte herauszuholen – aus der Erde nicht und aus dem Kapital nicht, aus der Arbeitskraft der Anderen nicht und aus der eigenen auch nicht. Das ist der Inhalt des Sabbatgebots und einer Weiterung im Sabbat- und im Jobeljahr; das nimmt den Grundgedanken der Zehn Gebote auf, in denen es um die Bewahrung der Freiheit geht. Zur gebotenen Freiheit gehört auch das Unterlassen. Aber solches Unterlassen soll aus Freiheit und in Freiheit geschehen. In den Minima Moralia Th.W. Adornos heißt es: »Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen.«

Israels Sohn und Ägyptens Herr

Zur Ambivalenz der Josefsfigur in Gestaltung und Lektüre von Gen 37-50

»In Josef existiert eine polare Spannung, die seine Handlungen, und seine Entscheidungen erst lebendig und aus ihm einen wahren, d.h. zerrissenen Menschen macht.«

(Elie Wiesel)1

»Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.«

(Friedrich Schlegel)2

I.

»Berührungspunkte« sind das Thema der […] zu Ehren von Rainer Albertz versammelten »Studien zur Sozial- und Religionsgeschichte Israels und seiner Umwelt«. Berührungen können glückhaft, aber auch schmerzlich sein – das zeigt schon die Bedeutungsbreite des Wortfelds ng' das neutral körperliche bzw. räumliche, positiv-emotionale und gewaltsam zudringliche Formen des Berührens umgreift. Eine entsprechende Ambi- bis Polyvalenz kennzeichnet auch Kontakte von Kulturen und Religionen. Zuweilen bleiben sie tangential und erreichen das Innere des Berührten nicht; manchmal werden sie zum Nukleus jäher oder auch allmählicher Veränderungen des je Eigenen, und nicht selten bleiben sie antagonistische Kontrapunkte. Es ist nicht ein für alle Male ausgemacht, welche Formen und Folgen solche Kontakte haben und erhalten. Vielmehr kann ein und dieselbe Berührung so oder so gesehen oder empfunden werden und bald die eine und bald die andere Folge zeitigen.

Der folgende Beitrag zur biblischen Josefsgeschichte thematisiert Kontakte Israels mit Ägypten. Dabei geht es nicht um historisch, philologisch oder archäologisch zu erhebende »reale« sozial- und religionsgeschichtliche Interdependenzen, sondern um Berührungspunkte, wie sie in Gen 37-50 in Israels Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung erscheinen. »Die« (gezielt im Plural formuliert) »Ägyptenbilder der Hebräischen Bibel« hat Rainer Kessler in einer differenzierten Studie dargestellt3 – in den folgenden Beobachtungen und Überlegungen steht mit Josef die Figur der Bibel im Zentrum, die wie keine andere und mehr noch als Mose in Israel und in Ägypten verortet, ja beheimatet wird. Die Ambivalenz der Wahrnehmung Ägyptens in der Josefsgeschichte hat Kessler4 präzise herausgestellt: Das Land kommt zugleich unter dem Aspekt der Ordnung wie dem des Despotismus in den Blick. Seltener zur Debatte steht dagegen eine Ambivalenz der Wahrnehmung der Josefgestalt selbst.

Die wohl anschaulichste Schilderung der Ambivalenz, ja der Zerrissenheit Josefs gibt Elie Wiesel.5 Gegen Ende seiner bemerkenswerten Skizze, die u.a. um die Frage kreist, warum ausgerechnet der immer wieder so zwiespältig handelnde Josef in der jüdischen Tradition den Namen »der Gerechte« (zaddiq) bekommen hat, heißt es: »Er lebt ständig auf zwei Ebenen, in zwei Welten, und wird von Kräften hin und her gerissen, die sich widersprechen.«6 Beachtung verdient aber ebenso das kritische Josef-Bild in den Arbeiten von Aaron Wildavsky und Ron Pirson. Wildavskys Perspektive wird im Titel seines 1993 erschienenen Buches »Assimilation versus Separation« deutlich, der thematische Schwerpunkt im Untertitel »Joseph the Administrator and the Politics of Religion in Ancient Israel«. Der Autor (1930-1993) war ein hochangesehener US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler und Politologe, der aber auch (u.a. gemeinsam mit Mary Douglas) kulturwissenschaftliche Themen behandelte und Studien über Mose und Josef verfasste. Wildavsky sieht in Josef eine (negative) Kontrastfigur zu Mose. Im »Abstract« seines postum 1994 veröffentlichten Aufsatzes »Survival must not be Gained through Sin« markiert er bündig den Gegensatz »between one who begins as a Hebrew and becomes an Egyptian and one who begins as an Egyptian and becomes a Hebrew.«7 Wie Wildavsky setzt auch der niederländische Exeget und Religionswissenschaftler Ron Pirson (1963-2006) in seiner 2002 erschienenen Studie »The Lord of the Dreams« bei dem auffälligen Tatbestand ein, dass Josef als Person außerhalb der Genesis nur selten erwähnt wird.8 Und wie für Wildavsky ist auch für Pirson innerhalb von Gen 37-50 Juda die (positive) Gegenfigur. Ob und inwieweit das zutrifft, hängt vor allem an der Beurteilung der Stellung und Funktion der Kapitel 38 und 49. In der Endgestalt von Gen 37-50 sind sie ein tragender Bestandteil der mit der Überschrift tol´dot ja'aqov »Geschichte der Kinder Jakobs« (37,2) eingeleiteten Geschichte (geworden), die – auch von dieser biblischen Überschrift her – nicht allein Josefs Geschichte ist.9 Dabei geht von der in den Sprüchen über die Söhne Jakobs bzw. Stämme Israels in Gen 49 ins Bild gesetzten Vorrangstellung Judas noch über Josef hinaus der Blick zurück auf die Tamar-Juda-Geschichte in Gen 38. Denn sie legt den Grund dafür, dass Juda sich vom gewalttätig-schnöde Handelnden, der seinen Bruder, wenn nicht töten, so doch zu Geld machen wollte (Kap. 37), zu dem gewandelt hat, der sich für seinen Bruder Benjamin mit seiner ganzen Person verbürgt und einsetzt (Kap. 43-44).10 In der Tamar-Geschichte hat Juda etwas gelernt, nämlich dass er selbst für das einstehen muss, das er zu verantworten hat. Eben das hat Ruben nicht gelernt11 und (auch) darum fallen die Sprüche Jakobs über Ruben und Juda denkbar unterschiedlich aus. Auch wenn Gen 38 und 49 ihre je eigene Vorgeschichte außerhalb von Gen 37-50 haben dürften, bilden sie in Gen 37-50 keine Fremdkörper, sondern gehören zur Endgestalt der Josefsgeschichte, die nicht nur Josefs Geschichte ist.

II.

Auch ungeachtet weiterer Beobachtungen an der Josefsgeschichte, die hier nicht entfaltet werden können, ist deutlich, dass die Geschichte unter Einschluss der Kap. 38 und 49 eine andere Gestalt und ein anderes Aussageprofil aufweist als eine Josefsgeschichte unter Absehung von diesen Kapiteln. Nötigt die Endgestalt von Gen 37-50 zur Frage, warum und in welcher Weise Juda am Ende über Josef zu stehen kommt,12 so stellt sich diese Frage bei einer Geschichte ohne die Kap. 38 und 49 nicht. Stellt sich in einer Josefsgeschichte ohne diese beiden Kapitel die Frage nach einer auch negativen Sicht auf Josef nicht ohne Weiteres, so wird sie angesichts der Prärogative Judas in der Gen 38 und 49 einschließenden Endgestalt unabweisbar. Dabei geht es nicht allein um die Passagen, welche einer ursprünglichen Josefsgeschichte in einer priester- (schrift)lichen Fortschreibung und Bearbeitung13 oder (wie die Sprüche über Jakobs Söhne bzw. Israels Stämme in Gen 49) womöglich noch später zugewachsen sind. Denn im Rahmen dieser Erweiterungen lassen auch solche Passagen – ohne dass ihr Wortlaut verändert wäre – ein gegenüber der vorlaufenden Fassung neues und anderes Aussageprofil hervortreten. In neuem Kontext können dieselben Aussagen eine womöglich geradezu gegenläufige Bedeutung bekommen, und so kann auch eine zunächst positiv ins Bild gesetzte Berührung mit dem und den Fremden zu einer nun prekären mutieren. War z.B. Josefs Verheiratung mit der Tochter eines ägyptischen Oberpriesters zunächst ein plakativer Ausweis seiner (im Doppelsinn) traumhaften Karriere, so konnte derselbe Umstand – in neuer Perspektive gelesen – zu einer bedenklichen Preisgabe der Wahrung der Identität Israels werden. Eine solche Ambivalenz stellt sich bei diesem Erzählmotiv gerade darum ein, weil es im Text von Gen 41,45 selbst weder positiv noch negativ bewertet, sondern lediglich notiert ist. Ähnlich verhält es sich mit der in Kap. 44 ins Spiel gebrachten Becherweissagung. Sie gehört im Plot der Erzählung zu einem Täuschungsmanöver, durch welches Josef prüfen will, ob die Brüder sich dem solchermaßen fälschlich in den Verdacht des Becherdiebstahls gebrachten Benjamin gegenüber solidarisch verhalten werden. Auf der Ebene der alten Erzählung lässt sich daraus kaum konstruieren, dass Josef hier als ein ägyptischer Mantiker ins Bild gesetzt werden soll.14 Doch auf der Ebene der Endgestalt von Gen 37-50 kann auch diese Erzählzug zu einer problematischen Seite in Josefs Tun werden.

Ron Pirson sieht u.a. in der Becherpassage, aber auch in Josefs geträumter Huldigung der Gestirne solche prekären Züge Josefs. Dagegen wendet Ludwig Schmidt in einer überaus kritischen Rezension15 ein, Pirson werde den »Texten nicht gerecht«.16 Das sei »dadurch bedingt, dass er Fragen an sie stellt, die sie nicht beantworten wollen«.17 Dieses Urteil fordert exegetisch, rezeptionsgeschichtlich und hermeneutisch grundlegende Rückfragen. Wollen Texte überhaupt etwas beantworten? Sind Texte intentionale Subjekte? Oder ist die Absicht des Autors (intentio auctoris) der gültige Maßstab, an dem zu bemessen ist, welche Fragen gegenüber einem Text legitim sind und welche nicht?

Aber wer ist der Autor? Ist es – gesetzt, es ließe sich hinlänglich überzeugend rekonstruieren – der Verfasser der Quelle, Schicht oder Fassung, in der eine bestimmte Passage oder Formulierung zuerst formuliert ist? Selbst wenn man von der auch in der Exegese zu beherzigenden literaturwissenschaftlichen und philosophisch-hermeneutischen Debatte über das intentio-Problem18 für einen Moment absähe, bliebe die Frage, ob nicht die, die einen Text aufnehmen und in einen neuen Kontext einfügen oder ihm gleichsam durch ein Vorzeichen vor der Klammer eine neue Valenz geben, ebenso als Autoren anzusehen sind.19 Und wer eigentlich hat das Recht zu dekretieren, welche Fragen an einen Text zu stellen sind und welche nicht? Lesen etwa die Rabbinen, welche die Texte der hebräischen Bibel in ihrer Zeit und mit je ihren Fragen interpretieren, konfigurieren, werten, unsachgemäß? Gilt das dann auch für innerbiblische Rezeptionen, welche Traditionen und Texte aufnehmen und je in ihrer Perspektive verändern? Zu fragen wäre dann ja wohl auch: Wollen die Texte die Frage beantworten, in welchen literarkritisch oder redaktionsgeschichtlich zu ermittelnden Phasen sie entstanden sind? Doch statt diesen Grundsatzfragen abstrakt weiter nachzugehen und dabei nur bei der gerade für die Josefsgeschichte zu konstatierenden gewaltigen Bandbreite unterschiedlicher Methoden und Herangehensweisen mit ihren je eigenen Plausibilitätsstrukturen und Gewissheiten zu enden, soll es im Folgenden um den Versuch gehen, die Ambivalenz der Figur »Josef« in Gen 37-50 an einigen Punkten aufzuzeigen und in eine mögliche Entstehungsgeschichte der Josefserzählung einzuzeichnen, die hier freilich nur in groben Strichen skizziert werden kann.

III.

Viel spricht dafür, in der Josefsgeschichte eine Diasporalegende20 zu sehen, welche (ungeachtet der Vorgeschichte mancher ihrer Motive, Erzählzüge und ganzer Textpassagen) in exilischer Zeit gestaltet ist und in nachexilischer Zeit noch einmal eine »P« zuzuschreibende Bearbeitung erfahren hat.21 Beide Fassungen der Geschichte gehen von der Erfahrung des Exils, des Lebens in fremdem Land aus. Die vorpriesterliche Fassung entfaltet dabei in der Form einer alten Erzählung die Botschaft, dass für Israels Menschen nicht nur ein Überleben, sondern auch, und zwar auf Dauer, ein Leben in fremdem Land und unter fremder Herrschaft (in mehrfachem Wortsinn:) anzunehmen ist. Das Beispiel Josefs in Ägypten vermag dabei zu demonstrieren, dass Berührungen von Völkern, Kulturen und Religionen nicht feindlich geraten müssen, sondern dass es in der Balance von Konvivenz und Distanz zu gegenseitigen Bereicherungen kommen kann. Josef wird zum Segen für Ägypten22und