Schrift-Stücke - Jürgen Ebach - E-Book

Schrift-Stücke E-Book

Jürgen Ebach

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Beschreibung

Gelesenes und Aufgelesenes – die Bibel als Weltliteratur

- Ein unterhaltsam-intelligentes Geschenk für Bibelliebhaber

- Eine Überraschung für diejenigen, die das Buch der Bücher noch nicht kennen

- Liebevoll und wertig ausgestattet

»Schrift-Stücke« – diese doppeldeutige Überschrift zeigt an, worum es geht: Stücke und Stückchen aus und rund um die Bibel, als da sind Fundstücke, Schmuckstücke, Bruchstücke, gute, komische, sonderbare, ausgelesene sowie übersehene Stücke. Sie werden zum Gegenstand eines neuen Stücks: einer verblüffenden Reflexion, einer zugespitzten Exegese, einer hintergründig-ironischen Betrachtung oder eines Witzes. Zutage kommen unentdeckte Verknüpfungen, bisher so nie Gesehenes, lustige Erkenntnisse, weise Einsichten und natürlich auch zwar nutzloses, aber originelles Wissen.

Ein witziges, ironisches, intelligentes und rundum freundliches (Geschenk-)Buch für alle, die die Bibel mögen oder auf einladende Weise biblisches Denken – und seinen Klang in der Gegenwart – kennenlernen möchte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 330

Veröffentlichungsjahr: 2011

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GÜTERSLOHER VERLAGSHAUS

Gütersloher Verlagshaus. Dem Leben vertrauen

für Magdalene, für Klaus, für Richard.

Inhaltsverzeichnis

GÜTERSLOHER VERLAGSHAUSWidmungVorwort1 - »Wir sind von gestern und wissen nichts.«2 - Fragen gegen die Antworten3 - Lamed oder: Was ist Lernen?4 - Weiterlernen5 - Doppeldeutlich6 - Ältere Brüder?7 - Die andere Seite8 - Fälschung bis zur Kenntlichkeit9 - Schiffeversenken10 - Tel Aviv oder: Auch Städte können fliegen.Copyright

Vorwort

»Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen.«

(Walter Benjamin)

»Verstehen Sie mich, bitte, nicht so rasch!«

(André Gide)

Die in diesem Band versammelten Passagen verbindet, dass sie sich meist unmittelbar, zuweilen aber auch etwas umwegig auf biblische Worte, Texte und Motive beziehen. Sie tun das in ganz verschiedener Weise: Sie interpretieren und kommentieren, sie verweisen auf Kommentierungen und dabei immer wieder auf rabbinische und weitere jüdische Interpretationen und Rezeptionen, sie notieren Gelesenes und by the way Aufgelesenes. Manche Stücke sind so etwas wie selbstständige Fußnoten, es finden sich gelegentlich auch autobiographische Notizen und zuweilen bis zum Kalauer reichende Parodien und Travestien. Dabei wird das Biblische immer wieder – und nicht nur in den Überschriften – mit Alltäglichem konfiguriert. Keine Lehre wollen diese Schrift-Stücke vermitteln, sondern Aufmerksamkeit. Nicht um Überblicke soll es gehen, sondern um gelegentliche Durchblicke, um Passagen.

Passagen sind Durchgänge und auch – das gilt vor allem für Walter Benjamins Materialien zu seinem geplanten »Passagenwerk« – Durchbrüche. Als Passage bezeichnet man freilich ebenso einen zusammenhängenden Abschnitt im Leben eines Menschen, in einem Musikstück oder einem Buch und selbst die »Ladenpassage« in der Vielfalt der in ihr versammelten Angebote mag sich hier unter nicht nur negativem Vorzeichen melden. Besonders gut gefällt mir jedoch die Vorstellung von Bibelleserinnen und -hörern als »Passagieren« einer Fähre, die sie von den alten Texten zur Gegenwart und von ihrer Gegenwart zu den alten Texten hinüber und herüber bringt. Eines der Stücke ist darum explizit solcher Hermenautik gewidmet.

Es gibt in diesen Passagen Geschichten und Gegengeschichten, Texte und Gegentexte – wie sie die »Schrift« selbst enthält und im Kanon der hebräischen Bibel und ebenso im Kanon der ganzen christlichen Bibel zu verbindlicher Vielfalt zusammenbindet. Und immer wieder geht es um das Thema des »Übersetzens« – im engeren Wortsinn um Bibelübersetzungen und dabei öfter um die Bibel in gerechter Sprache. In den meisten Fällen sind die in diesen Schrift-Stücken vorkommenden Bibeltexte in dieser Übersetzung zitiert. Es geht aber auch um das Übersetzen im weiteren Sinn der Transferierung biblischer Worte in die Gegenwart und umgekehrt um das Übersetzen der jetzt lebenden Menschen in das, woran die »Schrift« zu erinnern vermag.

Womöglich ließe sich das so Entstandene in der Bezeichnung »Minima Biblica« charakterisieren. Das wäre darin bescheiden, dass es das ganz Kleine und allemal Fragmentarische betont. Dass ein solcher Titel zugleich sehr unbescheiden wäre, versteht sich angesichts der »Minima Moralia« Theodor W. Adornos allerdings auch. Doch dass Adornos zwischen 1944 und 1947 verfasste Sammlung von z.T. längeren Ausführungen und zuweilen auch kurzen Aphorismen mit dem Untertitel »Reflexionen aus dem beschädigten Leben« dem Autor dieser Schrift-Stücke mehr als ein formales Vorbild war, wird vielfach deutlich. Adorno ist – zusammen mit Karl Kraus und Woody Allen – der in den folgenden Passagen am häufigsten zitierte Autor, doch gerade am Beispiel Adornos lässt sich ein weiteres, wie sogleich einzuräumen ist, hoch gegriffenes Ziel der hier versammelten Texte benennen.

Anders als Bert Brecht, der auf die Frage nach seinem Lieblingsbuch geantwortet haben soll: »Sie werden lachen, die Bibel« – und anders auch als Ernst Bloch und auf seine Weise auch Woody Allen – nimmt Adorno die Bibel selten wahr. Dafür gibt es Gründe, doch dass gerade derjenige Intellektuelle, dem ich neben Walter Benjamin für mein eigenes Denken am meisten verdanke, in seiner Zeit denen zuzurechnen wäre, die einst Schleiermacher in seinen »Reden über die Religion« (1799) »die Gebildeten unter ihren Verächtern« nannte, lässt mich nicht in Ruhe. Schleiermacher fragte einmal in einer anderen Schrift: »Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen? das Christenthum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?«

Die Frage selbst ist angesichts der faktischen Geschichte des Christentums – aber auch der Wissenschaft – nur allzu berechtigt. Auf sie deshalb und dennoch mit einem hoffnungsvoll gewissen »Nein« zu reagieren, ist nur dann keine wohlfeile Antwort, wenn sie selbst wieder zur Frage wird.

Wie wäre es, wenn eine kritische Theorie der Bibel im emphatischen Sinne »Aufmerksamkeit« zuteil werden ließe – wenn nicht als Glaubenszeugnis, so doch als Weltliteratur und auch als Zeugnis des gelebten Lebens der vielen Generationen derer, die sie verfasst haben, und derer, die sie lasen und lesen? Wie wäre es, wenn nicht nur die großen Texte der klassischen Antike, sondern auch die der »Schrift« Israels zum Bildungsgut gehörten oder wieder dazu würden? Die Aufgabe, dazu etwas beizutragen, ist heute, davon bin ich überzeugt, nicht nur mit der neuen Konjunktur von »Religion« anzugehen, sondern mindestens ebenso auch gegen sie. Denn mit der Bibel darf gedacht werden!

Doch mit der Bibel darf auch gelacht werden. Dem Lachen und dem Denken ist das Erzählen nicht fern. Als unausgesprochener Vor-Satz all dieser Stücke ließe sich darum auch die Wendung hören, mit der Fritz Muliar seine jüdischen Witze einleitete: »Damit ich nicht vergess’, Ihnen zu erzählen ...« Das Erzählen und das Leben selbst – und noch das bloße Überleben – können fest aneinander gebunden sein. Dafür steht das große Beispiel der Scheherezade in »1001 Nacht«.

Die Abschnitte dieses Bandes folgen keiner stringenten Reihenfolge, wie sie auch keiner Stilreinheit verpflichtet sind. Manche beziehen sich aufeinander und fallen einander auch ins Wort, an anderen Stellen wechseln Stil und Thema jäh. Die einzelnen Passagen sollen für sich lesbar sein. Damit sie flüssig lesbar sind und nicht durch Anmerkungen oder Klammerbemerkungen zur Herkunft von Zitaten (außer bei reinen Stellenangaben) unterbrochen werden, sind die zu den einzelnen Stücken gehörenden Belege unter den jeweiligen Nummern und Überschriften in einem Anhang notiert, in dem sich an mehreren Stellen auch weiterführende Literaturhinweise finden und dabei gelegentlich auch Hinweise auf Arbeiten, in denen der Verfasser das hier nur knapp Angesprochene ausführlicher behandelt hat. Die zitierten hebräischen Worte in den Passagen sind, ebenfalls um der Lesbarkeit willen, in einer vereinfachten Umschrift wiedergegeben.

Für die große Hilfe bei der Korrektur dieses Bandes und für manche Anregungen bedanke ich mich sehr herzlich bei Christine Isabel Schröder. Ein ebenso herzlicher Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Gütersloher Verlagshauses und vor allem Diedrich Steen, der das Projekt von Beginn an mit Sympathie, Geduld und Tatkraft begleitet und der auch dafür gesorgt hat, dass das Buch in einer ansprechenden Gestalt erscheinen konnte.

Ich möchte diese Schrift-Stücke drei Menschen widmen, die mir seit vielen Jahren in ihrer je besonderen und unverwechselbaren Weise zu ebenso freundschaftlichen wie kritischen und in beiderlei Hinsicht unverzichtbaren – gerade auch im Wortsinn des gemeinsamen Lesens: – KollegInnen und zu GesprächspartnerInnen über das Gelesene und Geschriebene wurden:

Magdalene L. Frettlöh, der Systematischen Theologin, die wie nur wenige in diesem Fach die Bibel wahr nimmt und deren Text(il)e nicht nur scharfsinnig und umsichtig bedenkt und weiterdenkt, sondern auch als elementares LebensMittel aufnimmt. Von ihr habe ich neben so vielem anderen – auch für diese Schrift-Stücke, ohne dass es jeweils im Einzelnen ausgewiesen wäre – gelernt, das Wort »dogmatisch« nicht pejorativ zu verstehen.

Klaus Wengst, dem Neutestamentler, dessen klare Standpunkte und Haltungen in Arbeit und Leben und Freundschaft ich achte und bewundere. Von ihm habe ich wie von keinem anderen gelernt, dass auch die Bücher des Neuen Testaments jüdische Schriften sind. Ich danke ihm auch dafür, dass er meine gelegentlichen eigenen neutestamentlichen Versuche mit Nachsicht, Sympathie und Rat begleitet.

Richard Faber, dem Soziologen, Philosophen und Literaturwissenschaftler, der mir wie kein anderer zeigt, dass gerade auch ein Atheist die Bibel schätzen kann. Seine an Benjamin geschulte Weise des Zitierens, Collagierens und Konstellierens wurde mir in vielem zum Vorbild. Er erinnert mich zudem immer wieder hartnäckig daran, dass es beim humanen Erbe der Antike nicht um Athen und Rom statt Jerusalem, aber eben auch nicht um Jerusalem statt Rom und Athen zu tun ist, sondern um Athen, Rom und Jerusalem.

Bochum, im Herbst 2010

Jürgen Ebach

1

»Wir sind von gestern und wissen nichts.«

Vor einigen Jahren gab es an einem Gründonnerstag im ZDF zur Hauptsendezeit ein von Thomas Gottschalk moderiertes Bibel-Quiz. Eine der Fragen konnte fast niemand richtig beantworten, nämlich die, welche von vier angebotenen Redewendungen auf die Bibel zurückgehe. Die richtige Lösung war: »von gestern sein«. Das wusste niemand und die Quote derer, die es richtig erraten hatten, war ungewöhnlich gering. Dass die biblische Herkunft jener Formulierung unbekannt war, wundert nicht, denn der entsprechende Satz in der Rede des Hiobfreundes Bildad in Hiob 8,9 gehört nicht gerade zu den bekannten Bibelworten. Aber warum schlossen die meisten gerade diese Redewendung aus? Warum konnten sie sich nicht vorstellen, dass »von gestern sein« in der Bibel steht? »Ich bin doch nicht von gestern!« Das sagt, wer selbst nicht von gestern, nicht verstaubt und verschlafen, vielmehr up to date und zukunftsfähig sein will. Diese Haltung aber erwartet man offenbar in der Bibel nicht und darum vermutet man die Redewendung »von gestern sein« dort am wenigsten. Die Lösung wurde im ZDF-Bibelquiz zur großen Überraschung.

Wer den Satz des Hiobfreundes im Kontext liest, stößt aber noch auf eine zweite Pointe. Von gestern zu sein wird nämlich auch in Hi 8,9 kritisiert – aber nicht, weil man von heute oder besser schon von morgen sein wollte, sondern weil es viel zu kurz greift. »Wir sind von gestern und wissen nichts«, sagt Bildad und stellt die Erfahrungen und das Wissen vieler Generationen dem eigenen kurzen Leben gegenüber. »Wir sind von gestern« heißt also: Wir sind kaum mehr als Eintagsfliegen; unsere Erfahrungen reichen gerade mal bis gestern. Wer nur noch weiß, was gestern, und nicht auch das, was vorgestern war und noch viel früher, weiß im Grunde nichts. Um Leben und Welt zu verstehen, ist das viel zu kurz; dazu bedarf es des Vorgestern und des Vorvorgestern. Darum bedarf es der Erfahrungen der vielen Generationen vor uns. Ohne sie würden wir das, was gestern so war und heute ist, für das halten, was »immer schon« so war und somit für das einzig Mögliche.

Wer nicht weiß, dass es einmal anders war, kann sich nicht vorstellen, dass es einmal anderes sein wird oder auch nur sein kann. Die jeweils Herrschenden sind daran interessiert, die Erinnerung zu besetzen. George Orwells negative Utopie »1984« ist dafür ein Lehrstück: Da haben die »Historiker« die Aufgabe, die Geschichte je so umzuschreiben, dass immer galt, was heute gelten soll. Der Wahlspruch ihres Auftraggebers, des »Wahrheitsministeriums« lautet: »Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft. Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.« Die Kolonisierung der Geschichte im Namen der allein herrschenden Gegenwart löscht mit der Vergangenheit auch die Zukunft aus. Es gibt nur noch das, was ist – und damit ist das, was ist, alles. Die Gegenwart wird die einzige Zeit. Denn wo die Vergangenheit und mit ihr die Erinnerung zum Verschwinden gebracht wird, wird auch die Zukunft und mit ihr die Erwartung getilgt. Die Erinnerung hält die Differenz zwischen dem, was ist, und dem, was war, fest und hält damit auch für die Differenz zwischen dem, was ist, und dem, was sein wird und sein kann, einen Spalt in der Tür offen.

Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Aber nichts kann so gegenwärtig sein wie ein altes Buch, gerade wenn es nicht um jeden Preis aktuell sein will. Gerade das nicht Zeitgemäße kann zur kritischen Einrede werden. Biblische Worte kommen von weit her. Statt krampfhaft ihre Aktualität zu propagieren, wäre gerade das stark zu machen. Weil viele Worte der Bibel nicht zeitgemäß sind, sagen sie uns, was wir uns nicht selbst sagen können und was nicht auf der Tagesordnung steht. Wir sind von gestern. Deshalb sollten wir nicht schon von morgen sein wollen, sondern uns sagen lassen, was vorgestern und vorvorgestern war. Dabei wird sich noch etwas zeigen: Es geht nicht nur darum, Antworten auf die Fragen, sondern heute mehr noch Fragen auf die Antworten zu finden. Manchmal zeigen die ganz alten Fragen die Kurzschlüssigkeit vieler in Kirche und Gesellschaft so modern und zukunftsorientiert sich aufplusternder Antworten – z.B. die ganz alten Fragen der Bibel.

2

Fragen gegen die Antworten

Frage: »Warum antwortet ein Jude auf jede Frage mit einer Gegenfrage?« – Antwort: »Und warum soll er nicht?« Der Witz hat mehr Tiefe, als es auf den ersten Blick scheint. Denn er bringt eine Haltung auf den Begriff, die als eine biblisch-jüdische gelten kann.

»Yentl« heißt der auf einer Erzählung von Isaac Bashevis Singer fußende, 1983 in den USA gedrehte Film, in dem Barbra Streisand Regie führte und die Hauptrolle spielte. Er handelt von einer osteuropäischen Rabbinertochter, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Rabbinatsstudium absolvieren will und sich, weil Studium und Beruf für Frauen verboten waren, als junger Mann ausgeben muss. Es soll jetzt nur um eine einzige Szene gehen, um wenige Sätze eines Dialogs. Yentl kommt mit anderen Studenten ins Gespräch; alle schwärmen von den großen und bedeutenden Lehrern, bei denen sie studiert haben. »Mein Lehrer«, sagt einer, »weiß auf jede Frage zehn Antworten.« Und Yentl antwortet: »Mein Vater weiß auf jede Antwort zehn Fragen.«

Der jüdisch-amerikanische Autor und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel berichtet von einem Gespräch, das er als Kind mit dem Synagogendiener seines Heimatortes Sighet führte – nicht lange bevor der sechszehnjährige Eli Wiesel nach Auschwitz transportiert wurde. Der Junge fragt den Küster, der ihm ein wichtiger Lehrer in Talmud und jüdischer Mystik ist, im Laufe eines Gesprächs über Gott und das Gebet und das Unverständliche in Gottes Tun: »Und warum betest du zu Gott, wenn du weißt, dass man seine Antworten nicht verstehen kann?« Der Synagogendiener antwortet: »Damit er mir die Kraft gebe, richtige Fragen zu stellen.«

Wer das versteht oder auch nur ahnt, was es da zu verstehen geben könnte, hat viel gelernt – vom Lernen, vom Bibelstudium und insbesondere vom jüdischen Lernen und Studieren.

In den unter dem Titel »Provinz des Menschen« zuerst im Jahre 1942 erschienenen Aufzeichnungen des aus dem südosteuropäischen sefardischen (d.h. einst in Spanien und Portugal beheimateten) Judentums stammenden Elias Canetti, der 1981 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, findet sich die folgende Notiz:

»Von der Balance zwischen Wissen und Nichtwissen hängt es ab, wie weise einer wird. Das Nichtwissen darf am Wissen nicht verarmen. Für jede Antwort muss – in der Ferne oder scheinbar gar nicht im Zusammenhang damit – eine Frage aufspringen, die früher geduckt schlief. Wer viel Antworten hat, muss noch mehr Fragen haben. Der Weise bleibt ein Kind sein Leben lang, und die Antworten allein machen Boden und Atem dürr. Das Wissen ist Waffe nur für den Mächtigen, der Weise verachtet nichts so sehr wie Waffen. Er schämt sich nicht seines Wunsches, noch mehr Menschen zu lieben, als er kennt; und nie wird er sich hochmütig absondern von denen, über die er nichts weiß.«

3

Lamed oder: Was ist Lernen?

Die Form der hebräischen Schrift, die in den gedruckten hebräischen Bibeln (und so auch der in Studium und Wissenschaft gebrauchten so genannten Biblia Hebraica Stuttgartensia) und ebenso in gegenwärtigen israelischen Büchern oder Zeitungen verwendet wird, ist die so genannte Quadratschrift. Sie besteht zunächst allein aus Konsonanten – ein bestimmtes System von Punkten und Strichen zur Anzeige der Vokale wurde erst später hinzugefügt. Quadratschrift heißt sie, weil jedes Konsonantenzeichen in ein quadratisches Kästchen eingezeichnet werden könnte und dabei entweder das ganze, ein halbes oder auch ein viertel Quadrat füllte. Da gibt es z.B. den Buchstaben Kaf (einen von zwei hebräischen k-Lauten), der sich an drei Seiten eines ganzen (gedachten) Quadrats anlehnt: Da gibt es das Mem , welches übrigens, wenn es am Ende eines Wortes steht, genau alle vier Seiten füllt ( ). Das Nun (n) z.B. nimmt ein halbes Quadrat ein und das Jod (j) umfasst ein Viertelquadrat ).

Um die Pointe dieses kleinen Ausflugs in die Welt der hebräischen Buchstaben zu verstehen, bedarf es einer weiteren Information: Die hebräischen Buchstaben haben Namen, die mit Worten verbunden sind. So ist Kaf () zugleich das Wort für die Handfläche; es sieht aus wie eine hohle Hand. Das Alef ( ), der erste Buchstabe des Alphabets bzw. Alefbets, hängt mit einem Wort für den Ochsen zusammen, weil es in seiner ursprünglichen Form einen gehörnten Ochsenkopf stilisiert; der Buchstabe Bet () bedeutet Haus. Der Buchstabe Lamed () hat zu tun mit dem Verb lamad – »lernen«. Damit zusammen hängt das Wort Talmud, welches zunächst Lehre bedeutet. Mit diesem Buchstaben Lamed, dem Buchstaben des Lernens also, hat es etwas Besonderes auf sich. Er ist nämlich der einzige Buchstabe, der beim Schreiben ein wenig nach oben aus dem gedachten Quadrat herausgeht:

Lernen heißt ein wenig über die vorgegebenen Kästchen hinaus zu gehen. Aber um über die vorgegebenen Kästchen hinauszugehen und erst recht um zu merken, dass man über ein vorgegebenes Kästchen hinausgekommen ist, bedarf es der vorgegebenen Kästchen. Das gilt auch für das Schreiben. Jeder Mensch entwickelt im buchstäblichen und auch im übertragenen Sinne im Laufe seines Lebens eine eigene Handschrift. Aber um sie zu entwickeln, bedarf es zunächst der Einübung in so etwas, das man Grund- oder Ausgangsschrift nennt. Und dann muss eine Erstklässlerin auch schon einmal eine ganze Zeile voller »a«s oder »m«s schreiben, obwohl es gar kein Wort gibt, in dem zwanzig Mal ein a oder ein m hintereinander vorkommen.

Lernen heißt, im vorgegebenen Rahmen zu üben und im eigenen Verstehen über den vorgegebenen Rahmen hinaus zu gehen. So kommen im biblischen, im rabbinischen und im weiteren jüdischen Lernen das Memorieren und das Sich-Anverwandeln des Stoffes zusammen; es geht um Genauigkeit und Phantasie und damit um größte Treue und freieste Auslegung. Und dieses Lernen umfasst ein ganzes Leben.

Auf die Frage, warum er im Alter von über 90 Jahren noch immer jeden Tag übe, antwortete der weltberühmte Cellist Pablo Casals, er bemerke, dass er Fortschritte mache.

Bild 1 Francisco Goya, Aún aprendo [»Ich lerne noch«], 1824-28

4

Weiterlernen

Die meisten Deutschen haben inzwischen immerhin gelernt, dass Jüdinnen und Juden keine schlechteren Menschen sind. Jetzt müssen sie noch lernen, dass sie auch keine besseren Menschen sein müssen.

5

Doppeldeutlich

Die alttestamentliche Josefsgeschichte in 1 Mose, 37-50 erzählt in Kapitel 39 von Potifars Frau, die sich in Josef verliebt. Der aber weist ihre Avancen ab, und als sie ihn an seinem Gewand fasst, um ihn zudringlich zu bewegen, sich zu ihr zu legen und mit ihr zu schlafen, lässt Josef sein Gewand in ihrer Hand zurück und sucht das Weite. Darauf schlägt die Liebe der Frau in Hass um und sie denunziert Josef, indem sie behauptet, er habe sich ihr in unverschämter Weise genähert. So erzählt sie es zweimal – zuerst ihren Dienstboten und dann noch einmal ihrem heimgekehrten Mann.

Dass der zweifache Bericht die Wahrheit auf den Kopf stellt, ist evident. Doch es soll auch nicht unterschlagen werden, dass die biblische Erzählung und dann noch stärker die Rezeptionsgeschichte mit dieser Frau verächtlich umgeht und umging – beginnend damit, dass ihr ein eigener Name versagt bleibt und sie bis heute meist als »Potifars Weib« oder »die Potifar« firmiert. Gerade darum sei eigens erwähnt und zur Lektüre empfohlen, dass und wie Thomas Mann, der dieser Geschichte in seiner Romantetralogie »Joseph und seine Brüder« viel Raum gibt, der Frau Potifars Respekt erweist – beginnend damit, dass er ihr einen Namen gibt und in diesem ägyptischen Namen Mut-em-enet (»Mut im Wüstentale«) im Namen der ägyptischen Göttin »Mut« auch das deutsche Wort »Mut« mitklingen lässt. Nicht nur in der Namengebung protestiert Thomas Mann gegen die biblische Fassung, die er »unsere Unterlage« nennt:

»Offen gestanden, erschrecken wir vor der abkürzenden Kargheit einer Berichterstattung, welche der bitteren Minuziosität des Lebens so wenig gerecht wird wie die unserer Unterlage, und haben selten lebhafter das Unrecht empfunden, welches Abstutzung und Lakonismus der Wahrheit zufügen, als an dieser Stelle.«

Und nun beginnt ein Spiel mit der Kategorie »Urtext«, der einerseits als »das Erstgeschriebene« verstehbar ist, den aber andererseits und »richtiger, das sich selbst erzählende Leben« bildet. So knapp und rüde, wie es das »Schlaf mit mir!« in der »Unterlage« suggeriert, kann es im »sich selbst erzählende(n) Leben« nicht gewesen sein. Besonders schön scheinen die Brechungen zwischen Geschichte als story und als history (und bei Thomas Mann an dieser Stelle durchaus auch als her story) in der Mahnung Josephs auf:

»... denn meine Worte werden bestehen bleiben, und wenn unsere Geschichte aufkommt und kommt in der Leute Mund, so wird man sie anführen. Denn alles, was geschieht, kann zur Geschichte werden und zum schönen Gespräch, und leicht kann es sein, daß wir in einer Geschichte sind. Darum hüte auch du dich und hab Erbarmen mit deiner Sage, daß du nicht zur Scheuche werdest in ihr und zur Mutter der Sünde!«

Im Anschluss an die zitierte Warnung Josefs, seine Worte werde man später zitieren, lässt der Autor, dessen Protest gegen die »Unterlage« im Blick auf die Worte der Frau in 1 Mose 39,7 zum Anlass werden, die Geschichte nun »richtig« zu erzählen, folgerichtig Josef in seiner Antwort genau die Worte sagen, welche die »Unterlage« berichtet, d.h. 1 Mose 39,8f. in der biblisch-wörtlichen Fassung (d.h. hier: der Lutherrevision von 1912). Joseph also hat die Bibel auf seiner Seite und bedarf zu seiner Ehrenrettung der »Revision« der Geschichte nicht. Umso mehr bedarf die Frau ihrer und Thomas Mann nimmt diese Re-Vision vor.

Dass verschmähte Liebe in Hass umschlagen kann und dass solcher Hass die Liebe verrät und doch nicht preisgibt, lässt sich nicht nur bei Potifars Frau erfahren. Ein kleiner Zug der biblischen Erzählung demonstriert gleichwohl eine besondere Infamie der Denunziation. Nur darum soll es jetzt gehen, nämlich um die doppeldeutliche Differenz der beiden Berichte, die Potifars Frau vom vorgeblich Geschehenen gibt. In 1 Mose 39,13-15 lesen wir:

Als sie sah, dass er sein Gewand in ihrer Hand gelassen hatte und nach draußen geflohen war, rief sie nach den Leuten ihres Hauses und sagte zu ihnen: »Schaut, da hat er uns einen hebräischen Mann hergebracht, dass der sich mit uns amüsiere! Er ist doch tatsächlich zu mir gekommen, um mit mir zu schlafen, aber ich habe mit lauter Stimme gerufen. Als er nun hörte, wie ich meine Stimme erhob und rief, da ließ er sein Gewand bei mir und floh und lief nach draußen.

Ein wenig anders und bei genauerem Hinsehen ganz anders lautet die Fortsetzung (V. 16-19):

Sie ließ sein Gewand bei sich liegen, bis sein Herr nach Hause kam, und sagte zu ihm etwa diese Worte: »Da ist doch tatsächlich der hebräische Sklave zu mir gekommen, den du uns hergebracht hast, und wollte sich mit mir amüsieren. Als ich dann meine Stimme erhob und rief, da ließ er sein Gewand neben mir liegen und floh nach draußen.« Als nun sein Herr die Worte seiner Frau hörte, die zu ihm in solchen Worten gesprochen hatte: »Das hat dein Sklave mir angetan«, da entbrannte sein Wutschnauben.

Die kleine und doch entscheidende Variation der Lügengeschichte verdient Aufmerksamkeit. Gegenüber dem Personal spricht die verschmähte Frau verächtlich von dem »hebräischen Mann«, den Potifar »uns« hergebracht habe. Die Herrin schließt sich mit diesem »uns« leutselig mit den Dienstboten zusammen und formuliert implizit einen unüberhörbaren Vorwurf an ihren Mann, der ihn »uns« hergebracht habe. Thomas Mann – hier wie sehr oft nicht nur großer Romancier, sondern auch aufmerksamer Philologe und sorgsamer Exeget – nimmt dieses kennzeichnende »uns« des biblischen Textes genau wahr. Er setzt es im Roman so in Szene, dass er sie ihre Leute anreden lässt: »›Ägyptische Brüder!‹ « und in Klammern hinzufügt: »(Brüder auf einmal! Sie genossen es sehr.)«

Die Anbiederung an die neben Josef bzw. nach dem in 1 Mose 39 zuvor Erzählten längst unter Josef stehenden Bediensteten verstärkt sie dadurch, dass sie Josef nicht als hebräischen Sklaven bezeichnet. Sie betont den sozialen Status gerade nicht, denn sie will ja den »hebräischen Mann« gegen »uns«, soll heißen: gegen uns anständige Ägypterinnen und Ägypter konturieren.

Potifar gegenüber sagt sie dagegen betont: »der hebräische Sklave« bzw. »dein Sklave«. Indem sie an dieser Stelle den sozialen Status Josefs betont, packt sie den hohen ägyptischen Amtsträger bei seiner Ehre. Von keinem Mann dürfte er sich so etwas gefallen lassen – um wie viel weniger von einem Sklaven!

Die unterschiedliche Adressierung und damit der jeweils ganz andere Ton zeigt sich noch da, wo der Wortlaut gleich ist. In beiden Berichten gibt es die Bemerkung, Potifar habe Josef »uns hergebracht«. In den an Potifar gerichteten Worten steht dieses »uns« für ihren Mann und sie selbst, d.h. für die »Herrschaft«, während sie sich mit dem »uns« in der Rede an das Personal mit den ägyptischen Sklavinnen und Sklaven gemein macht. Sie nennt ihn einen »hebräischen Mann«, um mit der Betonung des ethnisch Anderen die sozialen Schranken zu überspielen.

Diese (scheinbare) Auflösung der »Klassen« durch die gemeinsame Abgrenzung der (angeblichen) »Rassen« gehört zur Armatur des Antisemitismus. In seinen »Betrachtungen zur Judenfrage« notiert Jean-Paul Sartre in Erinnerung an die Dreyfus-Affaire: »Proust zum Beispiel hat geschildert, wie der Anti=Dreyfusianismus den Herzog seinem Kutscher näherbrachte, und wie dank ihres Hasses gegen Dreyfus die bürgerlichen Familien den Zutritt zu den adeligen Häusern erzwangen.«

Zudem bedient sich Potifars Frau des Clichés vom lüsternen Fremden, das seit dem Altertum ebenfalls zur Armatur der Judenfeindschaft und anderer Formen der Xenophobie gehört. Die israelische Literaturwissenschaftlerin und Ethnologin Alisa Shenhar hat in einem instruktiven Aufsatz zu dieser kleinen biblischen Passage das Cliché ebenso entlarvt wie auch das Cliché einer solchen Darstellung dieses Clichés.

Gleichzeitig ist in der Passage in 1 Mose 39 ein weiteres Vorurteilsmuster aufgenommen und genderperspektivisch umgekehrt, nämlich die Warnung vor der »fremden Frau«, ein beliebtes Motiv vor allem der Proverbien, der »Sprüche Salomos«. Die Umkehrung zur Warnung vor dem »fremden Mann« betrifft allerdings nur die Ebene der erzählten Argumentation der ägyptischen Frau. Als Bestandteil der hebräischen Erzählung, welche die Ägypterin so reden und handeln lässt, landet sie unversehens im hergebrachten Raster, denn die Geschichte selbst wird zu einer Warnung vor der »fremden Frau«. Auch in dieser Hinsicht bleibt die Kritik der Kritik wichtig, wie sie die Alisa Shenhar für das Fremdenstereotyp vorführt.

Hinzugesetzt an die Adresse der von der Herrschaft leutselig vereinnahmten Dienstboten in 1 Mose 39 und ihren sozialen Nachfolgerinnen und Nachfolgern bis heute sei die treffende (vermutlich fälschlich August Bebel zugeschriebene) Bemerkung, der Antisemitismus sei der Sozialismus der dummen Kerls. Die ihrerseits Entrechteten, die das ihnen geschehende Unrecht bemerken, richten ihren Hass nicht auf die, die sie ausbeuten, sondern stimmen in den zur Verschleierung der wirklichen Verhältnisse dienenden Antisemitismus ein, indem sie meinen und tönen: »Die Juden sind unser Unglück!«

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sekundieren dem genannten »Bebelschen« Urteil in der »Dialektik der Aufklärung« und formulieren die Konstellation, in der der Antisemitismus wirkt, noch weiter und noch genauer:

»Gleichgültig, wie die Juden an sich selber beschaffen sein mögen, ihr Bild, als das des Überwundenen, trägt die Züge, denen die totalitär gewordene Herrschaft todfeind sein muß: des Glückes ohne Macht, des Lohnes ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein, der Religion ohne Mythos. Verpönt sind diese Züge von der Herrschaft, weil die Beherrschten sie insgeheim ersehnen. Nur solange kann jene bestehen, wie die Beherrschten selber das Ersehnte zum Verhaßten machen.«

6

Ältere Brüder?

Zur Beschreibung des Verhältnisses von Christentum und Judentum gibt es einige gut gemeinte Metaphern. Zu ihnen gehört die Rede von Israel als dem älteren Bruder und auch die von Israel als Wurzel des Christentums. Wie so oft könnte auch hier das gut Gemeinte das Gegenteil des Guten sein. Zeigen nicht viele Geschichten des Alten und Neuen Testaments, dass gerade der jüngere Bruder der erwählte und geliebte ist? Man denke nur an Jakob, an Josef, an David oder an das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Und ist nicht dieses Bild zum Motiv vieler Märchen geworden? Welche Kon-, Sub- und Intertexte wachsen da fast unweigerlich der Rede von Israel als dem älteren Bruder zu?

Nicht minder problematisch ist auch die Rede von Israel als Wurzel – trotz oder auch wegen ihrer ehrwürdigen paulinischen Herkunft aus den Kapiteln 9-11 des Römerbriefs.

Gewiss: Die Wurzel trägt den Baum, aber die Wurzel liegt unter der Erde und sie bringt keine Frucht. Vollends fatal wird es, wenn beide Metaphern zu einer gerinnen, zum Bild des Älteren, der unter der Erde liegt. Viele Menschen gerade in Deutschland und dabei besonders die, die sich der politischen Linken zurechnen, sind sehr engagiert, wenn es um das Gedenken der toten Jüdinnen und Juden geht. Mit den in Israel Lebenden haben sie viel mehr Mühe. Zeigen die gut gemeinten Metaphern hier ihre verräterischen Folgen?

7

Die andere Seite

Die rabbinische Traditionsliteratur und hier wiederum besonders die Schriftauslegung in der Form des Midraschs repräsentieren eine Weise eines Verstehens der Bibel, in welcher das Recht, anders zu denken, nicht als eine zuweilen eingeräumte Möglichkeit in Betracht kommt, sondern auf paradigmatische Weise die Grundlage allen Verstehens ist. Die jeweils andere Lesart, Deutung oder Verknüpfung markiert nicht allein die stets wahrzunehmende Grenze des je eigenen Verstehens, sie bildet geradezu die Basis des je eigenen Verstehens. Anders ist immer nur anders als anders – der, die Andere bin stets auch ich. Womöglich ist hier der dümmste Kalauer zugleich die präziseste Beschreibung:

Fragt jemand: »Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir sagen, wo die andere Straßenseite ist?« – »Na, da drüben doch!« – »Komisch. Da hab ich auch schon gefragt. Da hat man mich hierher geschickt!? «

Es gibt mehr als eine Seite und was die andere Seite ist, ist buchstäblich eine Frage des Standorts. Es gibt mehr als eine Verstehensweise, es gibt Geschichten und Gegengeschichten und zuweilen ist eine Geschichte nur wahr, weil ihre Gegengeschichte auch wahr ist. Nicht die Begrenztheit des menschlichen Verstehens und eine ihr geschuldete permissive Pluralität mehrerer für möglich erachteter Verstehensweisen ist der letzte Grund dieser Diskursform, sondern die Grundüberzeugung, dass jedes Wort der »Schrift« in sich selbst eine Fülle von Lesarten, Deutungen, Verknüpfungen enthält, dass die Vielfalt der Auslegungen dem Text selbst eingeschrieben ist und dass nur eine solche Vielfalt ihm selbst gerecht wird. Die abweichenden Stimmen sind nicht der Ausweis dafür, dass die eine Wahrheit noch nicht gefunden ist, sie sind unverzichtbar als not-wendige Erinnerungen daran, dass der Sinn der »Schrift« vielfältig und eben nicht einfältig ist und schließlich dass der Widerspruch als Triebfeder jedes Diskurses unverzichtbar ist. Nur eine Auslegung zu haben wäre daher nicht etwa das wünschenswerte Ziel, sondern Ausweis eines noch sehr unvollkommenen Verstehens.

Der bis in die kleinsten Eigentümlichkeiten treu überlieferte, festgelegte (Konsonanten-) Text ist »zur Auslegung freigegeben«. »Gegenpol des festen Textes«, so Günter Stemberger, »ist mithin die offene Auslegung. Auslegung bedeutet mehr als das Befragen des Textes nach seiner ursprünglichen, vom Autor gewollten Bedeutung. Diese bleibt nicht unberücksichtigt, ist aber nur ein Aspekt des Umgangs mit dem biblischen Text.«

Der lebendige Diskurs, die mündliche Diskussion ist die literarische Form dieser Exegese. Denn viele derer, die da miteinander diskutieren, haben nie am selben Ort und in derselben Zeit gelebt. Der rabbinische Diskurs findet statt in einem Räume – und auch (da sind die Rabbinen weiter als die neue Welt mobiler Internet-und E-Mail-Kommunikation) Zeiten, oft Jahrhunderte – übergreifenden »Chatroom«. Und in diesem Diskurs über Zeiten und Räume hinweg haben auch die Toten Stimmrecht.

Die Polarität zwischen dem festen, geschlossenen Text und seiner freien, vielfältigen Auslegung und somit die Dialektik von Verbindlichkeit und Offenheit, Tradition und Erneuerung kennzeichnet die rabbinische Exegese. Zu einem für diese Auffassung leitenden Schriftvers wurde Psalm 62,12:

Eines hat Gott geredet, zwei sind’s, die ich gehört habe.

Beim Versuch, nicht nur diese Aussage, sondern auch die hinter ihr stehende »Haltung« genauer zu erfassen, stößt man auf die spannende Frage, was man sich als performativen Vor-Satz dazu denken soll. Da gibt es mehrere Möglichkeiten, z.B.: Ich bin mir der traurigen Tatsache bewusst, dass ... (nämlich dass ich das eine klare Wort Gottes nicht als das eine klare zu hören vermag), oder: Ich bin beglückt angesichts des Reichtums, dass ... (nämlich dass das eine Wort Gottes so vielfältig, so reich an Verstehensmöglichkeiten ist und dass Menschen mit ihrer Phantasie und ihrer Argumentation etwas von diesem Reichtum herausfinden, ja herausarbeiten können).

Mindestens zwei Hörweisen, Auffassungen, Auslegungen also gibt es (selbstredend auch beim Verstehen des Satzes in Ps 62, welcher eben das zum Inhalt hat). Wo es mindestens zwei gibt, gibt es bald auch mehr als zwei Verstehensweisen, die ein einziger Vers haben könne. Dabei kann es in der Aggada, der erzählenden Schriftauslegung, nicht bunt genug zugehen. Anders ist es in der Halacha, der verbindlichen Lebensführung. Doch auch hier geht es nicht um die Frage, was die Wahrheit sei, sondern was gelten soll. Und dabei gibt es keine bessere Möglichkeit als die der Abstimmung nach ausführlicher Diskussion, bei der keine Stimme unterdrückt werden soll. Über die Wahrheit kann nicht die Mehrheit entscheiden, wohl aber darüber, was – jedenfalls für eine Weile – gelten soll.

Die Überzeugung, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt, führt keineswegs zur Beliebigkeit. Die verschiedenen Auffassungen stehen nicht unverbindlich nebeneinander, sie bilden vielmehr eine verbindliche und verbindende Vielfalt. Verbindlich ist vor allem der Diskurs selbst, der in der Dialektik von Treue und Widerspruch die Worte des Kanons der »Schrift« selbst aufnimmt und auslotet.

Nachgesetzt: Wenn es stimmt, dass es zu jeder Geschichte eine Gegengeschichte gibt, dann freilich gibt es auch zu der Aussage, zu jeder Geschichte gebe es eine Gegengeschichte, eine Gegengeschichte. Zuweilen ist Eindeutigkeit gefordert. Der infinitesimale Dauerdiskurs würde zum prinzipiellen Moratorium des Handelns. Es gibt Situationen, in denen gehandelt werden muss, bevor zu Ende gedacht werden kann. Dann aber bedarf es der nachlaufenden Reflexion.

In 2 Mose 24,7 ist zu lesen, wie das Volk Israel auf die Gabe der Gebote reagiert. »Wir wollen es tun und hören«, heißt es da. Die verblüffende Reihenfolge der Verben sollte in der Übersetzung nicht eingeebnet werden, wie es etwa in der Einheitsübersetzung geschieht (»Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun; wir wollen gehorchen«) oder auch in der Lutherbibel in der Revision von 1912 (»Alles, was der HERR gesagt hat, das wollen wir tun und gehorchen«). Wörtlich verstanden, ist jene Reihenfolge in 2 Mose 24,7 lehrreich. Denn sie hält fest, dass es zuweilen des Tuns bedarf, um dann hören zu können, dass zuweilen die Praxis der Theorie nicht nur vorausgehen muss, sondern sie allererst ermöglichen kann.

Zur wenige Kapitel zuvor erzählten Geschichte vom Durchzug Israels durch das Schilfmeer erzählt eine rabbinische Auslegung, das Meer habe sich nicht geteilt, als Mose den Stab erhob; es habe sich geteilt, als Israel den ersten Schritt tat.

8

Fälschung bis zur Kenntlichkeit

Seit wann eigentlich ist Gott »lieb«? Und was heißt dabei »lieb«? Ein realsatirischer Vergleich vermag womöglich eine Aufklärung zu leisten.

Zuweilen kommt mir auf dem Weg ein mordlustig aussehender Hund entgegen. Während ich angstvoll dem Unheil ins Auge sehe, ruft die Stimme eines (dem Hund nicht selten ähnlich sehenden) »Herrchen«: »Der ist lieb.« Und sehr oft folgt als weiterer Satz: »Der tut nichts.« Die vertraute Wortwahl erlaubt verblüffende Rückschlüsse auf die Rede vom »lieben Gott«. »Der ist lieb. – Der tut nichts.« Lieb sein heißt: Nichts tun. In dieser Logik zeigt nicht nur eine bestimmte Pädagogik ihr Gesicht, sondern auch eine bestimmte Frömmigkeit. Würden, mit Verlaub, Hund, Kind oder Gott »etwas tun«, so wäre es aus mit dem Lieb-Sein. Der »liebe Gott« ist »lieb« – nicht nur solange er nichts, sondern weil er nichts tut. Vor dem »lieben Gott« muss man keine Angst haben – er tut nichts.

Die im deutschen Sprachgebrauch nahezu zum Namen Gottes gewordene Bezeichnung »der liebe Gott« geht auf die Welt von Grimms Märchen zurück und nicht auf die Bibel selbst. Denn in dem, was die Bibel bezeugt, tut Gott etwas und ist – eben deshalb – nicht (nur) der liebe Gott. Wer Gott auf das Lieb-Sein vermindert, befördert die Karriere des Teufels, der für all das zuständig wird, das nicht »lieb« ist. Je lieber Gott bleiben soll, desto mächtiger muss der Teufel werden. Zu Ende gedacht kommt jene Spielart der Theodizee (der Verteidigung Gottes angesichts der Übel in der Welt) heraus, zu welcher der Philosoph Odo Marquard Stendhals Satz zitiert: »Die einzige Entschuldigung für Gott ist, dass es ihn nicht gibt« und bemerkt, das sei ein »Atheismus ad maiorem Dei gloriam«. Am Ende bleibt (von Marquard auf den Punkt gebracht) das Fazit: »Theodizee gelungen, Gott tot«. An den lebendigen Gott zu glauben, heißt darum, gegen seine – oder ihre – Reduzierung auf den »lieben Gott« zu streiten.

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Schiffeversenken

Zur oben geschilderten Begegnung mit einem Hund nebst der Übertragung auf ein bestimmtes Gottesbild gibt es eine Variante. Denn zuweilen folgt auf den beruhigend gemeinten Ruf jenes »Herrchen«: »Der ist lieb!« nicht der Satz »Der tut nichts«, sondern: »Der will nur spielen.« Auch das bekommt auf überraschende Weise mit einer Rede von Gott zu tun. Ein spielender Gott? In Psalm 104 kommt in einer großen tour d‘horizont über die Welt als Welt Gottes in den Versen 25 und 26 das Meer in den Blick:

Da – das Meer: groß und weit sich dehnend; dort ist Gewimmel ohne Zahl, kleine Tiere zusammen mit großen. Dort ziehen Schiffe dahin, der Leviathan, den du gebildet hast, mit ihm zu spielen.

Weite und Buntheit – das sind die Leitmotive (auch) für die Schilderung des Meeres. Große und kleine Meerestiere bevölkern es gemeinsam, dazu Schiffe, wie wenn auch sie zu den Meeresbewohnern gehörten. Ein besonderes Lebewesen aber ist der Leviathan, der in V. 26 eigens erwähnt wird. Der Leviathan (bei Luther als Walfisch wiedergegeben) ist eine Art Meeresdrache. Er gehört zu den großen Meerestieren, die nach 1 Mose 1 auch erschaffen wurden, jedoch keiner Gattung zugehören. Im strengen Sinne des Wortes sind sie daher »Monstren«. In der kanaanäischen Mythologie erscheint der Leviathan (lotan) in Texten und Bildern als geschlängelter Drache, so auch in Jesaja 27. Eine besondere Rolle spielt er in den Gottesreden des Hiobbuches, wo er in Aufnahme ägyptischer Motivik als mythisch-reales Krokodil auftritt.

Im alten Ägypten war nämlich die rituelle Jagd des Pharao auf das Krokodil (und das ebenfalls im Hiobbuch als Behemoth genannte Nilpferd) ein Akt der Sicherung der Weltordnung gegen das Chaos. In der ägyptischen Spätzeit gelingt jene Sicherung allein dem Gott Horus. In der – religionsgeschichtlich gesprochen – »Rolle« des Horus ist es Israels Gott selbst, der im Hiobbuch allein in der Lage ist, den Leviathan zu besiegen. In der Rezeptionsgeschichte taucht die biblische Leviathanfigur als weißer Wal in Herman Melvilles »Moby Dick« auf – im englischen Text als Job’s whale, als Hiobs Wal. In der Staatsphilosophie verkörpert bei Thomas Hobbes der Leviathan den Staat.

Der Leviathan könnte (wie die Urflut, wie Sonne und Mond) ein potenzieller Gegenspieler Gottes sein. Wie die anderen Größen ist aber auch er in Ps 104 das nicht. Er ist ein Element in der bunten Welt, die Gott erschaffen hat und noch erhält. Warum aber gibt es dieses Tier? Ps 104,26 gibt die Antwort: »damit er mit ihm spiele«. Die Auskunft ist doppeldeutig. Man kann den Satz im Hebräischen wie im Deutschen so verstehen, dass der Leviathan mit dem Meer spielen solle. Wie an anderen Stellen dieses Psalms wäre damit ein Element in der Schöpfung Gottes benannt, das sich dem Prinzip des Nutzens entzieht und allemal nicht den Menschen und seine Interessen zum Maßstab der Schöpfung erhebt. Möglich ist aber auch, den Satz so zu verstehen, dass Gott den Leviathan erschaffen habe, um mit ihm zu spielen. Das Spiel wäre damit auf die höchst denkbare Ebene erhoben, nämlich zum Spiel Gottes. Im Talmudtraktat bAvoda sara 3b findet sich eine bemerkenswerte Passage zu diesem Psalmenvers:

... Rabbi Jehuda sagte ja im Namen Raws: zwölf Stunden hat der Tag; in den ersten drei Stunden sitzt der Heilige, gesegnet er, und befasst sich mit der Tora; in den zweiten (drei Stunden) sitzt er und richtet die ganze Welt. Sobald er aber sieht, dass sich die Welt der Vernichtung schuldig gemacht hat, erhebt er sich vom Stuhle des Rechts und setzt sich auf den Stuhl der Barmherzigkeit. In den dritten (drei Stunden) sitzt er und ernährt die ganze Welt, von den Hörnern der Büffel bis zu den Eiern der Läuse; in den vierten (drei Stunden) sitzt der Heilige, gesegnet er, und spielt mit dem Leviathan.

Und was spielen die beiden? Die Überschrift dieses Abschnitts könnte immerhin eine Antwort sein. Sie klingt in den Ohren mancher Frommen vermutlich blasphemisch. Sie ist aber biblischer Rede von Gott zuweilen näher als die vom »lieben Gott«.

Nachgesetzt: Vom hebräischen Verb zachak – »spielen, lachen«, das in Ps 104 womöglich Gottes Spielen mit dem Leviathan bezeichnet, das aber auch im Namen Jizchak (Isaak) steckt, stammt – vermittelt über das Jiddische – das Wort »zocken«. Auf verblüffende Weise verbindet sich der gegenwärtige Gebrauch dieses Wortes mit seinen biblischen Verbindungen. Gott und der Leviathan »zocken« womöglich; Isaak, derjenige unter den Vätern Israels, der in seinem Leben am wenigsten zu Lachen hat, wird von Jakob und Rebekka (1 Mose 27) buchstäblich »abgezockt«. Die ihn betrügen, sind »abgezockt«.

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Tel Aviv oder: Auch Städte können fliegen.

Fragt man, wo Tel Aviv liegt, wird man von Kundigen die Antwort erhalten, es liege ziemlich in der Mitte der israelischen Küstenlinie am Mittelmeer, bilde zusammen mit dem älteren Jaffa (Jafo) eine städtische Einheit und sei neben Jerusalem die größte Stadt Israels. Fragt man einen Menschen, der sich mit dem Alten Testament und besonders einen, der sich mit dem Buch Ezechiel (Hesekiel) befasst, wird man womöglich eine ganz andere Auskunft erhalten. Tel Aviv, so wird er sagen, ist einer der Orte, an denen die im Jahre 597 v. Chr. in ein erstes Exil in Babylonien Deportierten angesiedelt wurden. Tel Aviv – der Name begegnet zuerst in Ezechiel 3,15 – liegt im südlichen Babylonien, d.h. heute im Irak.

Was hat es mit dieser doppelten Auskunft auf sich? Handelt es sich um einen der mehrfach vorkommenden Ortsnamen (aus meiner Kinderzeit erinnere ich mich an die Liedzeile: Und weil Frankfurt so groß ist / drum teilt man es ein / in Frankfurt an der Oder / und Frankfurt am Main) oder ist es wie bei biblischen Ortsnamen, die auch auf Städte in ganz anderen Weltgegenden übertragen wurden (wie bei Bethlehem in Pennsylvania oder dem im Oranje-Freistaat in Südafrika)? Bei Tel Aviv verhält sich die Sache noch etwas anders; die Geschichte beginnt in der Tat im Ezechielbuch.

Der Ortsname Tel Aviv heißt – aus dem Hebräischen übersetzt – »Ährenhügel«. Allerdings dürfte es sich dabei nicht um die ursprüngliche Bedeutung des babylonischen Ortsnamens handeln, sondern um eine hebraisierende Etymologie (so wie man »Babel« in 1 Mose 11 mit dem Verb balal – verwirren, vermengen verbunden hat oder bet-lechem, »das Haus des Gottes Lachmu« im Hebräischen als »Brothaus« hörte und deutete).

Die Bezeichnung tel aviv dürfte auf ein babylonisches til abubi zurückgehen. Ein Tell ist ein Ruinenhügel und das akkadische Wort abubu bezeichnet die (Sint-)Flut; til abubi ist danach ein Schutthügel über einer von der Flut vernichteten Stadt. Im Namen steckt also eine gewesene Zerstörung.

1. Auflage

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eISBN 978-3-641-06576-8

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