Das Amazon-Geheimnis – Strategien des erfolgreichsten Konzerns der Welt. Zwei Insider berichten - Bill Carr - E-Book

Das Amazon-Geheimnis – Strategien des erfolgreichsten Konzerns der Welt. Zwei Insider berichten E-Book

Bill Carr

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Beschreibung

Von den einen geliebt, von den anderen gehasst – doch wie schafft man es, so erfolgreich wie Amazon zu sein? Kindle, Prime, Alexa – Amazon hat die Wirtschaftswelt wie kein zweites Unternehmen verändert. Wie ist es dem Netzgiganten gelungen, sich derart auf die Bedürfnisse seiner Kunden einzustellen, um alle anderen Konkurrenten zu überholen? Welche wesentlichen Bausteine der Unternehmenskultur führten zu diesem Erfolg, und was sind die 14 Leadership-Prinzipien von Amazon? Als technischer Berater arbeitete Colin Bryar Seite an Seite mit Jeff Bezos und wurde nicht ohne Grund als »Jeffs Schatten« bezeichnet. Bill Carr zeichnete als Vizepräsident des Digitalgeschäfts verantwortlich und damit für einige der größten Erfolge der Amazon-Geschichte. Mit ihren 27 Berufsjahren in der Amazon-Chefetage liefern sie erstmals einen persönlichen Insiderblick in ein beispielloses Management und zeigen, wie sich deren rigide ausgeführte Prinzipien ganz konkret für das eigene Unternehmen oder den Job nutzen lassen. Denn: Man kann Amazon fürchten, boykottieren oder lieben, aber man kann auch viel von Amazon lernen. Vor allem eines machen die Autoren klar: Der Erfolg ist nicht auf das Genie eines Einzelnen zurückzuführen, sondern durch das Engagement und die Umsetzung einer Reihe klar definierter, rigoros ausgeführter Grundsätze und Mechanismen. In ihrem Buch werden sie erstmals mit der Öffentlichkeit geteilt. »Das Amazon-Geheimnis sollte jeder lesen, der es mit seinem Business ernst meint.« Steve Denning, Forbes »Colin Bryar und Bill Carr bieten konkrete und zugängliche Beispiele dafür, wie die 14 Leadership-Prinzipien und die Bausteine der Unternehmenskultur in der Praxis umgesetzt werden können.« New York Times »Ein Insiderblick auf die einzigartigen Prinzipien und Prozesse des Unternehmens. Leser werden garantiert viele der Lektionen auf kleine und große Firmen anwenden können.« Publishers Weekly

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Seitenzahl: 469

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Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem TitelWorking Backwards bei St. Martins Press, New York.

© 2020 by by Working Backwards LLC Deutsche Erstausgabe © 2021 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Published by arrangement with St. Martin’s Publishing Group. All rights reserved. Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749951307

www.harpercollins.de

Widmung

Für Sarah und Lynn

Einleitung, erster Teil

Zu behaupten, Amazon sei ein unkonventionelles Unternehmen, ist eine Untertreibung. Seine bedeutendsten Initiativen wurden häufig kritisiert oder gar belächelt. Ein Wirtschaftsexperte verspottete es als »Amazon. schrott«.1 Wieder und wieder hat Amazon die Kritiker jedoch Lügen gestraft. Etablierte Konkurrenten und ehrgeizige Newcomer haben das Unternehmen von außen studiert, in der Hoffnung, die Geheimnisse seines Erfolgs zu entdecken und für eigene Zwecke nutzen zu können. Aber obwohl viele eine oder mehrere seiner berühmten Leitlinien und Methoden übernommen haben, ist es selbst den glühendsten Amazon-Anhängern nicht gelungen, die Innovationskultur zu kopieren, durch die das Unternehmen weiterhin seinen Platz an der Spitze verteidigt.

Natürlich ist Amazon wegen einiger seiner unternehmerischen Methoden auch kritisch unter die Lupe genommen worden oder sogar unter Beschuss geraten. Manchen missfällt, welches Gewicht das Unternehmen in der Geschäftswelt oder gleich in der gesamten Gesellschaft hat.2 Diese Themen sind zweifellos wichtig, weil sie zum einen das Leben von Menschen und Gemeinden beeinflussen, zum anderen, weil es den Ruf und die Finanzen eines Unternehmens ruinieren kann, wenn es versäumt, sich damit auseinanderzusetzen. Doch sie gehen über das hinaus, was wir ausführlich in diesem Buch behandeln können. Hier soll es vorrangig darum gehen, einige der besonderen Prinzipien und Prozesse bei Amazon so detailliert vorzustellen, dass Sie sie selbst anwenden können, wenn Sie das wünschen.

Wir beide waren zusammengenommen 27 Jahre bei Amazon und haben einige der entscheidenden Momente seiner Entwicklung und seines Wachstums miterlebt. Jedes Mal, wenn einer von uns erwähnt, dass er dort gearbeitet hat, wird er sofort in irgendeiner Form nach den Gründen für den beispiellosen Erfolg des Unternehmens gefragt. Analysten, Konkurrenten und sogar Kunden haben versucht, sie im Geschäftsmodell oder in der Unternehmenskultur bei Amazon zu finden, aber am einfachsten und besten bringt es nach wie vor der Gründer Jeff Bezos (von nun an nur noch Jeff genannt) auf den Punkt: »Wir sind felsenfest davon überzeugt, dass die langfristigen Interessen der Aktionäre vollkommen im Einklang mit den Interessen der Kunden stehen.«3 Mit anderen Worten: Es stimmt zwar, dass der Unternehmenswert durch höhere Gewinne steigt, doch Amazon ist überzeugt, dass sich langfristiges Wachstum am besten dadurch erreichen lässt, die Kunden an erste Stelle zu stellen.

Was für ein Unternehmen baut man mit dieser Überzeugung auf? In einem Vortrag bei der Air, Space & Cyber Conference beschrieb Jeff Amazon folgendermaßen: »Unsere Kultur ruht auf vier Säulen: Bei uns dreht sich alles um die Kunden, nicht um die Mitbewerber; wir sind bereit, langfristig zu denken, und haben einen längeren Anlagehorizont als die meisten anderen in unserer Branche; wir sind innovationsfreudig, was selbstverständlich mit gelegentlichem Scheitern einhergeht; und zu guter Letzt sind wir stolz auf unsere operative Exzellenz.«

Diese Beschreibung trifft seit Amazons Anfangstagen zu. Im Aktionärsbrief von 1997, Amazons erstem Jahr als börsennotiertes Unternehmen, war von »Kundenbesessenheit« zu lesen, »Es dreht sich alles um die langfristige Entwicklung« und »Wir werden weiterhin sowohl aus unseren Erfolgen als auch aus unseren Fehlern lernen«. Ein Jahr später kam der Begriff »operative Exzellenz« hinzu und vervollständigte die vier Dimensionen von Amazons Unternehmenskultur, die bis heute bestehen. In den darauffolgenden Jahren wurden die Begrifflichkeiten als Reaktion auf gelernte Lektionen und erworbene Narben angepasst, aber Amazon ist nie von diesen vier Kernprinzipien abgerückt. Sie sind zu großen Teilen dafür verantwortlich, dass Amazon 2015 schneller als jedes andere Unternehmen der Welt einen Jahresumsatz von 100 Milliarden Dollar erreichte. Bemerkenswerterweise machte die Tochter Amazon Web Services (AWS) im selben Jahr einen Umsatz von 10 Milliarden Dollar – schneller, als Amazon selbst diese Marke erreichte.4

Natürlich beschreiben diese vier Grundpfeiler der Unternehmenskultur nicht das »Wie«, also die Frage, wie man individuell und kollektiv darauf hinarbeiten kann, sie zu festigen. Daher entwickelten Jeff und sein Führungsteam 14 Leadership-Prinzipien sowie ein breites Spektrum an klaren, praktisch anwendbaren Methoden, die darauf ausgerichtet sind, dauerhaft die kulturellen Ziele von Amazon umzusetzen. Darunter das sogenannte Bar-Raiser-Einstellungsverfahren, das dafür sorgt, dass das Unternehmen immer die Besten der Besten rekrutiert; die Bevorzugung unabhängig voneinander arbeitender Teams, deren Leitung sich auf eine einzige Aufgabe konzentriert, wodurch Ergebnisse beschleunigt werden und sich das Innovationstempo erhöht; die Verwendung schriftlicher Berichte anstelle von Folienpräsentationen, um ein tieferes Verständnis komplexer Themen und damit informierte Entscheidungen zu garantieren; ein bedingungsloser Fokus auf Input-Kennzahlen, um sicherzustellen, dass die Teams sich auf Aktivitäten konzentrieren, die das Unternehmen voranbringen. Und schließlich die Strategie, jedes Produkt ausgehend vom gewünschten Kundenerlebnis her zu entwickeln.

Viele Schwierigkeiten, mit denen Amazon konfrontiert ist, sind dieselben wie bei jedem anderen Unternehmen, egal welcher Größe. Der Unterschied liegt darin, dass Amazon immer wieder mit typisch amazonischen Lösungen für diese Probleme aufwartet. Zusammengenommen bilden diese Elemente eine Art zu denken, zu managen und zu arbeiten, die wir als das Amazon-Geheimnis oder den Amazon-Spirit bezeichnen, ein Begriff, den wir für dieses Buch erfunden haben. Wir beide, Colin und Bill, waren »mit im Raum« und haben – gemeinsam mit anderen leitenden Führungskräften – geprägt und definiert, was es bedeutet, Amazonier zu sein. Wir haben beide viel mit Jeff zusammengearbeitet und waren aktiv daran beteiligt, eine Reihe von Amazons beständigsten Erfolgen zu entwickeln (und einige seiner bemerkenswertesten Flops). Es war die größte Bereicherung für unser weiteres Berufsleben.

Colin

Mein erster Job nach dem College war die Entwicklung und Programmierung von Datenbankanwendungen bei Oracle. Danach gründete ich mit zwei Kollegen die Server Technologies Group. Wir wollten unsere Erfahrung mit großen Datenbanksystemen nutzen, um Unternehmen zu helfen, ihre betrieblichen Aktivitäten ins damals noch neue Internet zu verlagern. Zu unseren Kunden gehörten Boeing, Microsoft und eine kleine Firma namens Amazon. Wir erkannten, dass Amazon etwas Besonderes war, und wechselten 1998 dorthin. Zwölf Jahre war ich in diesem Unternehmen als leitender Angestellter tätig, zwei davon in einer Funktion, die mich während einer außergewöhnlichen Wachstums- und Innovationsphase bei Amazon eng mit Jeff zusammenarbeiten ließ. Diese zwei Jahre begannen im Sommer 2003, als Jeff mich bat, sein technischer Berater zu werden, eine Rolle, die scherzhaft als »Jeffs Schatten« bezeichnet wird und mit der Position des Chief of Staff in anderen Unternehmen vergleichbar ist.

Die Stelle war etwa achtzehn Monate zuvor geschaffen worden, als Andy Jassy, nun CEO von Amazon Web Services, Jeffs erster technischer Berater in Vollzeit wurde. Sie brachte im Wesentlichen zwei Aufgaben mit sich: Die eine war, Jeff zu helfen, so effektiv wie möglich zu arbeiten. Die andere, wie Jeff mir erklärte, »voneinander zu lernen und sich zu entwickeln«, damit die Person, die diesen Posten innehatte, irgendwann größere Verantwortung im Unternehmen übernehmen konnte.

Sowohl Jeff als auch Andy machten deutlich, dass dies keine Beobachter- oder Zuhörerrolle war – und auch keine Schulungsmaßnahme. Von mir würde erwartet werden, dass ich von Anfang an meinen Beitrag leiste: Ideen einbringen, Risiken eingehen und als Diskussionspartner für Jeff dienen. Bevor ich den Job annahm, erbat ich mir ein Wochenende Bedenkzeit und rief ein paar Freunde an – einer hatte einen ähnlichen Posten in einem Fortune-10-Unternehmen inne, in dessen Rahmen er dem CEO der Firma unter die Arme griff, ein anderer war die rechte Hand eines prominenten Regierungsbeamten. Beide sagten im Grunde so etwas wie: »Bist du verrückt? Das ist eine einmalige Chance. Warum hast du nicht sofort zugesagt?« Sie erklärten mir außerdem, dass ich nicht mehr Herr über meine Zeitplanung sein und mehr lernen würde, als ich mir je vorstellen könnte. Einer von ihnen meinte, er habe zwar ungeheuer viel gelernt, es sei aber kein Zuckerschlecken gewesen.

Das meiste von dem, was meine Freunde gesagt hatten, traf auf die Funktion von Jeffs Schatten zu – mit der nicht unwesentlichen Ausnahme, dass mein Job tatsächlich großen Spaß machte. Einmal flogen wir zu einigen Meetings und Events nach New York, darunter ein Tennisschauturnier im Grand Central Terminal, um Amazons neues Bekleidungsgeschäft zu promoten. Auf dem Flug fragte Jeff mich, ob es mir etwas ausmachen würde, nach der Landung ein paar Bälle mit ihm zu spielen, damit er für das Event üben konnte. Sein Spiel war ein bisschen eingerostet – zuletzt hatte er zwei Jahre zuvor bei einem Charity-Event mit Bill Gates, Andre Agassi und Pete Sampras den Schläger in der Hand gehalten, »und davor … keine Ahnung«. Ich antwortete, ich hätte zwei Wochen zuvor mit meinem Kumpel John im Park gespielt. »Du führst also in puncto Tennispromis als Spielpartner, aber ich bin mehr im Training. Unentschieden, würde ich sagen. Den Rest müssen wir heute Abend auf dem Platz ausfechten.« Jeff stimmte mir lachend zu.

Diese Geschichte ist untypisch: 95 Prozent der Zeit, die ich mit Jeff verbrachte, war internen Angelegenheiten gewidmet, nicht externen Veranstaltungen wie Konferenzen, öffentlichen Vorträgen oder Sportevents. Aber es ist charakteristisch für Jeff, dass er herausfordernden Situationen wie dieser – an einem Match vor einem großen Publikum teilnehmen in einem Sport, den er so gut wie nie praktizierte – mit Optimismus, Humor und seinem berühmten ansteckenden Lachen begegnete. Mit derselben Haltung ging er die tagtäglichen unternehmerischen Entscheidungen an, die bedeutender waren, als sie die meisten anderen Menschen in ihrer beruflichen Laufbahn jemals treffen müssen. Er verkörpert durch und durch das Amazon-Motto: »Arbeite hart, habe Spaß und schreibe Geschichte.«

Während der regulären Bürozeiten von zehn Uhr morgens bis sieben Uhr abends arbeitete ich Seite an Seite mit Jeff. An den meisten Tagen fanden fünf bis sieben Besprechungen mit den Teams aus der Produktentwicklung oder dem Management statt. Vor und nach Jeffs Bürozeiten bereitete ich diese Teams auf die Meetings mit ihm vor, damit diese für alle Beteiligten produktiver abliefen. Ich wusste bereits, wie es sich anfühlte, einer endlosen Ideenflut von ihm ausgesetzt zu sein und aufgefordert zu werden, die Aufgaben schnell und nach gelegentlich übertrieben hoch erscheinenden Maßstäben zu erledigen. Ich wurde oft gefragt: »Was glaubst du, wie wird Jeff auf diese Idee reagieren?« Meine Standardantwort war: »Ich kann seine Meinung nicht voraussagen, aber dies sind die Prinzipien, auf denen seine Reaktion normalerweise basiert …«

Während meiner Zeit mit Jeff entstanden mehrere zentrale Geschäftsbereiche des Unternehmens, darunter Amazon Prime, Amazon Web Services, Kindle und Fulfillment by Amazon. Mehrere Betriebsabläufe wurden eingeführt und fest in der Unternehmenskultur verankert – unter anderem die schriftlichen Berichte und die Strategie, alles rückläufig vom gewünschten Kundenerlebnis ausgehend zu betrachten.

Mir war bewusst, welches Glück ich durch meinen Job hatte und was für eine seltene Gelegenheit er mir damit bot, dass ich zwei Jahre lang tagtäglich Seite an Seite mit Jeff und der Amazon-Führungsriege arbeiten durfte. Ich war entschlossen, jede Minute zu nutzen. Autofahrten, Mittagessen und Gänge zu Meetings betrachtete ich als wertvolle Gelegenheiten zu lernen, die ich nicht verpassen wollte. Einmal sah ein Freund, wie ich eine lange Liste mit Themen in ein Notizbuch schrieb. Er fragte, was ich da tue, und ich antwortete: »Na ja, ich habe diese Woche noch einen fünfstündigen Flug nach New York mit Jeff vor mir, und ich will sichergehen, dass ich Fragen und Themen für mindestens fünf Stunden habe, falls dafür Zeit übrig ist.« Ich kann in diesem Buch darüber schreiben, was Jeff dazu brachte, bestimmte Kernentscheidungen zu treffen, weil ich ihn oft ausdrücklich nach dem Gedankengang hinter seinen Erkenntnissen fragte. Diese Gedankengänge dahinter waren häufig aufschlussreicher als die Erkenntnisse selbst.

Bill

Ich bin über Umwege zu Amazon gelangt. Nach dem College arbeitete ich einige Jahre im Vertrieb, bis ich meinen Master of Business Administration absolvierte. Danach nahm ich eine Stelle im Vertrieb bei Procter & Gamble an, wo ich später als Bilanzbuchhalter für Kmart tätig war. Da ich im technologischen Bereich arbeiten wollte, verließ ich P&G für eine Stelle in dem Software-Start-up Evare. Im Mai 1999 bewarb ich mich auf Vorschlag eines Studienfreundes bei Amazon. Die Firma war noch in einem einzigen Gebäude auf der Second Avenue in Seattle untergebracht. Dort war so wenig Platz, dass eines meiner Bewerbungsgespräche in einem Pausenraum geführt wurde, wo die Leute auf der anderen Seite eines Raumtrenners Kaffee tranken und sich unterhielten. Ich bekam eine Stelle als Videoproduktmanager (VHS und DVD) und blieb auf verschiedenen Positionen fünfzehn Jahre lang in dem Unternehmen.

In den ersten fünf Jahren war ich in Amazons damals größter Sparte tätig, der US-Gruppe für physische Medien – Bücher, Musik und Video –, wo ich mich bis zum Director hocharbeitete. Im Januar 2004, wenige Monate nachdem Jeff Colin angeboten hatte, sein technischer Berater zu werden, ließ mein Manager und guter Freund Steve Kessel eine ähnliche Bombe platzen: Er stand vor der Beförderung zum Senior Vice President und würde auf Jeffs Bitte hin das Digitalgeschäft von Amazon übernehmen. Er sagte mir, ich solle zum Vice President befördert werden, und er würde gern mit mir zusammenarbeiten.

Steve informierte mich, dass Jeff entschieden hatte, die Zeit sei reif für Amazon, seinen Kunden zu ermöglichen, Bücher, Videos und Musik digital zu erwerben, zu lesen, zu sehen und zu hören. Das Unternehmen befand sich an einem Wendepunkt. Zwar waren Bücher, CDs und VHS/DVDs die beliebtesten Kategorien bei Amazon, doch angesichts der Entwicklungen im Internet und in der Gerätetechnologie sowie der Gründung von Napster und Apples Einführung von iPod/iTunes war klar, dass dies nicht so bleiben würde. Wir erwarteten, dass das Geschäft mit physischen Medien durch den Wechsel zum Digitalen mit der Zeit zurückgehen würde. Und wir hatten den Eindruck, dass wir unverzüglich handeln mussten.

Jeff verwendete damals häufig eine Analogie, wenn er unser Bemühen, neue Geschäftsfelder zu erfinden und aufzubauen beschrieb: »Wir müssen viele Samen pflanzen«, sagte er, »denn wir wissen nicht, aus welchem von ihnen einmal eine mächtige Eiche erwächst.« Es war eine passende Analogie. Die Eiche ist einer der stabilsten, am längsten lebenden Bäume. Jeder Baum produziert Tausende Eicheln, von denen letztlich jeweils nur eine als neuer Baum zum Himmel wächst.

Im Rückblick war das eine Zeit der Renaissance bei Amazon. Aus den Samen, die Amazon Anfang 2004 gepflanzt hatte, sollten der Kindle E-Book-Reader, das Fire Tablet, Fire TV, Amazon Prime Video, Amazon Music, Amazon Studios, unser sprachgesteuerter Echo-Lautsprecher und die sich dahinter verbergende Assistenztechnologie Alexa entstehen. Sie sollten sich zu einigen von Amazons stärksten und am schnellsten wachsenden Geschäftszweigen und Werttreibern entwickeln. Bis 2018 hatten diese Bereiche Geräte und Dienste geschaffen, die täglich von zig Millionen Konsumenten in aller Welt genutzt wurden und zig Milliarden Dollar Jahresumsatz für Amazon generierten.

Ich hatte das Glück, bei den neuen Produktinitiativen in diesem Jahrzehnt entweder hinter dem Steuer oder auf dem Beifahrersitz dabei zu sein (Letzteres mit einer großartigen Aussicht). Meine Rolle veränderte sich über die Jahre, und ich übernahm die Verantwortung für Amazons weltweites Digitalgeschäft mit Musik und Video und die entsprechenden Abteilungen für die technische Entwicklung. Mein Team und ich waren verantwortlich für die Einführung, Entwicklung und das Wachstum der Dienste, die heute als Amazon Music, Prime Video und Amazon Studios bekannt sind. Dadurch hatte ich die Gelegenheit, die Entwicklung und Implementierung nicht nur dieser neuen Produkte, sondern auch einer ganzen Reihe neuer Prozesse bei Amazon zu beobachten, daran teilzunehmen und davon zu lernen. Diese Kombination sollte Amazon in die zweite Wachstumsphase katapultieren, in der es zu einem der erfolgreichsten Unternehmen der Welt wurde.

Vom gewünschten Ergebnis zum Produkt – ein Buch über Amazon

Durch meine Frau Lynn und Colins Frau Sarah freundeten wir uns an. Unsere Frauen fingen 2000, nachdem sie beide einen MBA absolviert hatten, in Amazons Spielzeugteam an. Unsere Freundschaft vertiefte sich dadurch, dass wir beide gern Golf spielen und regelmäßig ins Bandon Dunes Golf Resort fuhren. Wir beschlossen 2018, dieses Buch zu schreiben, als wir zwei Trends beobachteten: Erstens war die Popularität des Unternehmens explodiert. Es war in den Medien omnipräsent, und die Leute wollten eindeutig mehr über Amazon erfahren. Zweitens wurde es ständig missverstanden – was wir während unserer Zeit dort auch schon erlebt hatten. Wall-Street-Analysten konnten nicht nachvollziehen, warum Amazon keinen Gewinn machte, sondern seine liquiden Mittel in neue Produkte investierte, um künftiges Wachstum zu befördern. Und ein großer Teil der Presse reagierte bei jedem neuen Amazon-Produkt – auch bei Kindle, Prime und Amazon Web Services – ratlos oder kritisch.

Wir beide haben Amazon verlassen, um uns neuen Aufgaben zu widmen – Colin 2010 und Bill 2014 –, aber unsere Erfahrung dort prägt uns nach wie vor. Wir haben mit einer Reihe von Venture-Capital-Gesellschaften und Investoren zusammengearbeitet. Eine typische Aussage, die wir bei unserer Arbeit hörten, war diese Bemerkung eines CEO eines Fortune-100-Unternehmens: »Ich verstehe nicht, wie Amazon das macht. Es bekommt Wachstum und Gewinn in so vielen verschiedenen Bereichen hin – vom Einzelhandel über Amazon Web Services bis zu digitalen Medien. Wir dagegen sind seit über dreißig Jahren dabei und haben nicht einmal unser Kerngeschäft vollständig im Griff.«

Uns wurde bewusst, dass es da eine Marktlücke gab. Es existierte keine Quelle, kein Buch, das diese Fragen beantwortete, Amazons spezielles Verhalten erklärte und erläuterte, wie das Unternehmen seine außergewöhnlichen Ergebnisse erzielt. Wir kennen die Antworten auf diese Fragen und wollen sie auf den kommenden Seiten mit Ihnen teilen.

Seit wir nicht mehr bei Amazon sind, haben wir viele seiner Elemente in unseren neuen Organisationen eingeführt, mit großem Erfolg. Aber wir haben festgestellt, wenn wir mit Kollegen über die Umsetzung der Amazon-Prinzipien in ihren Unternehmen sprechen, reagieren sie oft mit Kommentaren wie: »Aber ihr hattet viel mehr Ressourcen und Geld, ganz zu schweigen von Jeff Bezos. Wir nicht.«

Wir wollen Ihnen klarmachen, dass Sie weder Amazons Kapital (Amazon war in Wirklichkeit die meisten Jahre, die wir dort verbracht haben, zurückhaltend mit Investitionen) noch Jeff Bezos benötigen (wenn Sie ihn zur Mitarbeit an Ihrem Projekt gewinnen können, empfehlen wir ihn allerdings wärmstens!). Die konkreten, bewährten Leitlinien und Praktiken von Amazon können von jedem gelernt und innerhalb eines Unternehmens verfeinert und angepasst werden. Wir hoffen, dass Sie nach der Lektüre dieses Buches verstehen, dass es beim Amazon-Spirit nicht um einen geheimnisvollen Führungskult geht, sondern um ein flexibles Mindset. Sie können die Aspekte, die Sie brauchen, für sich einsetzen, sie ausfeilen und nach Belieben auf Ihre Bedürfnisse zuschneiden. Das Konzept hat außerdem eine wunderbare fraktale Qualität, kann also für jede Größenordnung von Nutzen sein. Wir haben die erfolgreiche Anwendung dieser Elemente vom Start-up mit zehn Mitarbeitern bis zum global agierenden Unternehmen mit Hunderttausenden Beschäftigten beobachtet.

Sie werden hier eine Anleitung bekommen, wie Sie Ihr Unternehmen auf Ihre eigene Art und Weise auf den Amazon-Weg führen können. Wir bieten konkreten, praktischen Rat, den wir aus unserem Erfahrungsschatz gezogen haben: aus den Ereignissen, Geschichten, Gesprächen, Persönlichkeiten, Scherzen und vielem mehr, das wir über die Jahre gesammelt haben.

Wir behaupten nicht, dass es nur diesen einen Weg gibt, eine leistungsstarke Organisation aufzubauen. Wie Jeff geschrieben hat: »Die Welt ist glücklicherweise voll von zahlreichen äußerst starken, äußerst unterschiedlichen Unternehmenskulturen. Wir behaupten nie, dass unser Ansatz der richtige ist – nur, dass er unserer ist …«5

Nun können auch Sie ihn sich zu eigen machen.

1. Der Amazon-Spirit

Einleitung

Im ersten Teil dieses Buches werden wir einige der wesentlichen Prinzipien und Prozesse detailliert schildern, die den Amazon-Spirit ausmachen. Diese Arbeitsweisen – über die Jahre geduldig perfektioniert – haben Amazon seine bemerkenswerte Effizienz und sein Rekordwachstum ermöglicht. Sie haben die Kultur des Unternehmens zu einer werden lassen, in der der Erfindergeist gepflegt wird und die Zufriedenheit der Kunden oberste Priorität hat. Wir werden einige Hintergrundgeschichten dieser Prinzipien und Strategien erzählen und zeigen, dass sie Lösungen für Probleme waren, die uns daran hinderten, frei zu denken und die Bedürfnisse der Kunden wieder und wieder zu erfüllen.

In Kapitel 1 konzentrieren wir uns auf Amazons Leadership-Prinzipien. In den Anfängen des Unternehmens, als es nur wenige Mitarbeiter hatte, die in einem Büro mit drei kleinen Räumen arbeiteten, gab es keine formell festgelegten Führungsgrundsätze, denn in gewisser Weise verkörperte Jeff diese. Er verfasste Stellenbeschreibungen, führte Bewerbungsgespräche, packte und verschickte die Kartons und las jede E-Mail, die an die Kunden rausging. An jedem Aspekt des Unternehmens beteiligt zu sein ermöglichte ihm, die Amazon-Philosophie informell an die relativ kleine Gruppe von Mitarbeitern weiterzugeben. Aber das Unternehmen wuchs so schnell, dass dies bald nicht mehr möglich war. Daher die Notwendigkeit fester Leadership-Prinzipien. Wir erzählen die Geschichte ihrer Entstehung – in sich eine durch und durch Amazon-typische Geschichte – und beschreiben, wie stark sie die Betriebsabläufe des Unternehmens durchdringen.

Hand in Hand mit den Führungsprinzipien gehen die sogenannten Mechanismen, die wir ebenfalls in Kapitel 1 besprechen werden. Dabei handelt es sich um konsistente, wiederholte Prozesse, die dafür sorgen, dass die Leadership-Prinzipien Jahr für Jahr, Tag für Tag im Unternehmen verankert werden. Wir listen die Methoden auf, mit denen Amazon seine Jahrespläne und –ziele für jedes einzelne Team aufstellt und die Teamziele mit den Zielen des Gesamtunternehmens abstimmt. Wir erklären außerdem Amazons ungewöhnliches Vergütungsmodell, das Kooperation und den Fokus auf langfristige Ziele fördert – im Gegensatz zu innerbetrieblichem Wettbewerb und Orientierung an kurzfristigem Profit.

In Kapitel 2 werden wir Amazons einzigartiges Bar-Raiser-Einstellungsverfahren behandeln, mit dem wir die Messlatte der bei Amazon Beschäftigten erhöhten. Genau wie die Leadership-Prinzipien haben wir den Bar Raiser entwickelt, weil das Unternehmen unglaublich schnell wuchs. Eine der größten Schwierigkeiten, wenn man rasch viele neue Leute einstellen muss, ist das Gefühl der Dringlichkeit. Man ist von der Arbeit überwältigt und braucht dringend neue Kräfte. Damit geht die Tendenz einher, die Schwächen eines Kandidaten zu übersehen. Die Messlatte gibt Teams Methoden an die Hand, effizient und schnell die besten Einstellungsentscheidungen zu treffen, ohne das Verfahren abzukürzen.

In einem Unternehmen, das für seinen Erfindergeist bekannt ist, hat sich eine auf Eigenverantwortung beruhende Führungskultur als eine der nützlichsten Errungenschaften erwiesen. Auf sie gehen wir in Kapitel 3 ein. Dabei handelt es sich um eine Organisationsstrategie, die die Behinderung der Effizienz durch Abhängigkeiten innerhalb der Organisation minimiert. Die Grundprämisse ist, dass es eine einzige leitende Person für jedes Vorhaben und jedes Projekt gibt, deren Fokus dieses Projekt – und nur dieses Projekt – ist. Diese Person leitet Teams, in denen die Aufmerksamkeit der einzelnen Mitglieder ebenfalls ausschließlich auf ein einziges Projekt gerichtet ist. In diesem Kapitel erzählen wir die Geschichte, wie wir zum Prinzip der »Single-threaded Leadership« (bzw. fokussierten Führung) gekommen sind und beschreiben es: Wir skizzieren die Probleme, für deren Lösung es geschaffen wurde, und die nicht gerade perfekten Lösungen, die wir entwickelt hatten, bevor wir auf diese eine gestoßen sind, die wirklich funktioniert. Wir werden außerdem besprechen, wie und warum wir die Art und Weise, wie wir Technologien entwickelten und implementierten, komplett verändern mussten, um getrennt voneinander agierende Teams mit fokussierter Führung zu realisieren.

Wir stellten außerdem fest: Was wirklich in Meetings funktioniert, ist nicht, was die meisten Unternehmen in Meetings tun. So sehr wir PowerPoint als Werkzeug für visuelle Kommunikation und als Unterstützung für Vorträge respektieren, haben wir doch auf die harte Tour gelernt, dass es nicht das beste Format ist, um komplexe Informationen über Vorhaben und laufende Projekte in einem einstündigen Meeting zu präsentieren. Wir erkannten, dass stattdessen ein sechsseitiger, vom jeweiligen Team verfasster Bericht die Methode ist, die jedem Teilnehmer am besten ermöglicht, sich schnell und effizient zu dem Projekt, mit dem das Team gerade beschäftigt ist, auf den aktuellen Stand zu bringen. Gleichzeitig zwingt das Schreiben eines Berichts das Team, über seine Arbeit oder neue Projekte nachzudenken und diese schnörkellos und verständlich für andere zu formulieren. So schärfen die Mitarbeiter auch ihr eigenes Denken. Wir stellen die Details dieser Art von Bericht – inklusive Beispiel – in Kapitel 4 vor.

In Kapitel 5 besprechen wir, wie neue Ideen und Produkte bei Amazon entwickelt werden: Working Backwards, also ausgehend von der gewünschten Kundenerfahrung. Bevor wir mit der Entwicklung irgendeines Produktes oder einer Dienstleistung beginnen, schreiben wir eine Pressemitteilung, um klar zu definieren, wie eine neue Idee oder ein Produkt den Kunden zugutekommen wird, und wir schreiben eine Liste mit häufig gestellten Fragen, um von vornherein Schwierigkeiten auszuräumen. Wir setzen uns mit jedem dieser Dokumente sorgfältig und kritisch auseinander und schreiben es um, bis wir zufrieden sind, bevor wir zum nächsten Schritt übergehen.

Der Kunde steht auch im Zentrum der Art und Weise, wie wir unsere Performance analysieren und verwalten. Unser Schwerpunkt liegt auf den sogenannten kontrollierbaren Input-Kennzahlen, weniger auf den am Output orientierten Zahlen. Kontrollierbare Input-Kennzahlen (zum Beispiel die Reduzierung der internen Kosten – damit man es sich leisten kann, Produktpreise zu senken –, neue Produkte zur Verkaufspalette auf der Website hinzufügen oder die Standardlieferzeit verkürzen) messen die Aktivitäten, die, wenn sie richtig angegangen werden, die gewünschten Ergebnisse, auch Output-Kennzahlen genannt, bringen (zum Beispiel Monatsumsatz und Aktienkurs). Wir führen diese Kennzahlen in Kapitel 6 detailliert aus und zeigen, wie man sie ermittelt und im Auge behält.

Teil 1 beinhaltet keine vollständige Liste der Prinzipien und Prozesse, die bei Amazon entwickelt wurden. Wir haben diejenigen ausgewählt, die unserer Ansicht nach am besten den Amazon-Spirit illustrieren. Wir werden darlegen, wie der Weg zu jedem einzelnen von ihnen verlief. Und wir werden Ihnen konkrete, umsetzbare Informationen an die Hand geben, die Ihnen helfen werden, die Methoden zu verfeinern, mit denen Sie das Potenzial Ihres Unternehmens oder Ihrer Organisation jeglicher Größe maximieren können, den Kunden zu dienen.

1 Bausteine

Leadership-Prinzipien und Mechanismen

Die Entwicklung der 14 Amazon-Leadership-Prinzipien. Wie sie die tägliche Arbeit beeinflussen. Ein Kontrollsystem (Mechanismen), das für ihre Einhaltung sorgt. Warum sie einen signifikanten Wettbewerbsvorteil darstellen. Wie Sie sie in Ihrem Unternehmen anwenden können.

***

Amazon.com startete im Juli 1995 mit einer Handvoll von Mitarbeitern, die Jeff Bezos persönlich ausgewählt hatte. 1994 hatte Jeff einen Bericht gelesen, in dem hochgerechnet wurde, dass die Internetnutzung jährlich um 2300 Prozent wachsen werde. Damals war er Senior Vice President bei D. E. Shaw & Co., einem New Yorker Hedgefonds, der sich darauf spezialisiert hatte, mit komplexen mathematischen Modellen die Schwächen des Marktes zu nutzen. Jeff kam zu dem Schluss, beim Wachstum des Internets mitzumischen sei eine einmalige Gelegenheit, gab seine lukrative und vielversprechende Karriere auf und fuhr mit seiner Frau MacKenzie westwärts, um eine Internetfirma zu gründen.

Auf dem Weg nach Seattle schrieb er seinen Businessplan. Er identifizierte mehrere Gründe, weshalb das Marktsegment Buch unterversorgt war und warum es sich besonders für den Onlinehandel eignete. Er beschrieb, wie er eine neue, verlockende Erfahrung für Buchkunden schaffen könne. Erstens wogen Bücher recht wenig und ihr Format war relativ einheitlich, was bedeutete, dass sie einfach und kostengünstig gelagert, gepackt und versandt werden konnten. Zweitens konnte selbst eine Megabuchhandlung von Barnes & Nobles nur einige Zehntausend Titel von den über hundert Millionen geschriebenen und über eine Million im Jahr 1994 lieferbaren vorrätig halten. Ein Onlinebuchhändler dagegen konnte nicht nur die Bücher anbieten, die in ein physisches Ladengeschäft passten, sondern jedes lieferbare Buch. Drittens gab es zwei große Distributoren, Ingram und Baker & Taylor, die als Mittler zwischen Verlagen und dem Einzelhandel agierten und über gewaltige Bestände in riesigen Lagerhallen verfügten. Sie führten detaillierte elektronische Kataloge über die lieferbaren Bücher, damit Buchhandlungen und Bibliotheken ohne Schwierigkeiten bei ihnen bestellen konnten. Jeffs Idee war, die von Ingram und Baker & Taylor geschaffene Infrastruktur – Hallen voller versandbereiter Bücher sowie ein elektronischer Katalog über diese Bücher – mit der wachsenden Infrastruktur des Internets zusammenzuführen und so Konsumenten zu ermöglichen, jedes existierende Buch zu finden und zu kaufen und direkt nach Hause geliefert zu bekommen. Die geplante Website schließlich konnte die Technologie nutzen, um das Kundenverhalten zu analysieren und eine einzigartige, personalisierte Erfahrung für jeden Einzelnen zu kreieren.

Die ersten Amazonier arbeiteten dicht gedrängt in drei kleinen Büroräumen über einem umgebauten Untergeschoss, in dem hauptsächlich Ware von dem Army-Shop auf der gegenüberliegenden Straßenseite gelagert wurde. Die Tische – auch Jeffs – waren aus ausrangierten Türen und Kanthölzern zusammengezimmert. Eine Sperrholztür mit Vorhängeschloss im Keller sicherte das erste »Verteilzentrum« von Amazon, einen keine vierzig Quadratmeter großen Raum, in dem davor eine lokale Band geprobt hatte, deren Name noch in Sprühfarbe auf der Tür prangte.

Auf so begrenztem Raum konnte Jeff leicht den Puls des Unternehmens erfassen – von der Softwareentwicklung bis zum Finanzmanagement und der Produktion –, indem er seinen Stuhl drehte oder den Kopf durch die Tür zum Nebenraum steckte. Er kannte jeden, der für das Unternehmen arbeitete, und hatte – abgesehen vom Programmieren der zentralen Software – jeden Job Seite an Seite mit den Mitarbeitern ausgeübt, während sie eingearbeitet wurden. Da er noch nie hinter dem Berg gehalten hatte, wie die Dinge seiner Meinung nach laufen sollten, begann er, Prinzipien wie Kundenorientierung und unglaublich hohe, unbedingt einzuhaltende Standards in jeden Schritt, den sein kleines Team unternahm, einzuführen.

Vom Tonfall der E-Mails an die Kunden bis zum Zustand der Bücher und ihrer Verpackung hatte Jeff eine einfache Regel: »Es muss perfekt sein.« Er erinnerte sein Team daran, dass eine schlechte Kundenerfahrung den guten Willen von Hunderten perfekter zunichtemachen konnte. Als ein Coffee Table Book mit einem Kratzer auf dem Umschlag vom Großhändler kam, ließ Jeff den Kundenservice eine Entschuldigung an den Kunden schreiben und erklären, dass Ersatz unterwegs war, sich der Versand dadurch jedoch verzögern werde – es sei denn, der Kunde habe es besonders eilig und ziehe daher das beschädigte Exemplar vor. Der Kunde war sehr angetan von diesem Service, beschloss, auf das unbeschädigte Exemplar zu warten, und drückte seine Begeisterung über die überraschend zuvorkommende Behandlung aus.

Jeff las die E-Mails des Kundenservice zu jedem neuen Thema immer Korrektur. Einmal hatte ein prominenter Technologiekolumnist eine Reihe kritischer Fragen unter anderem zum Geschäftsmodell und zur Kreditkartensicherheit geschickt. Jeff las die Antwort seines Teams, schien sie ein zweites Mal zu lesen und sagte dann: »Das ist perfekt.« Danach war er offensichtlich sicher, dass der Kundenservice die Kernprinzipien verinnerlicht hatte, auf die er bestand, und kontrollierte von da an viel seltener.

Eine weitere von Jeffs zahlreichen Ermahnungen an sein kleines Mitarbeiterteam war, dass Amazon immer wenig versprechen und mehr als das Versprochene abliefern solle, damit die Erwartungen der Kunden in jedem Fall übertroffen würden. Ein Beispiel dieses Prinzips war, dass der Standardversand auf der Website eindeutig als U.S. Postal Service First-Class Mail dargestellt wurde. Tatsächlich aber wurden all diese Bestellungen per Priority Mail verschickt – eine weitaus teurere Option, die eine Lieferung innerhalb von zwei bis drei Werktagen überall in den Vereinigten Staaten garantierte. Dies wurde als kostenloses Upgrade in einer E-Mail bekannt gegeben. Unter den Dankes-E-Mails für das Upgrade war die folgende: »Leute, ihr werdet mal Milliarden machen.« Als Jeff das sah, brach er in Gelächter aus, druckte sich die Mail aus und nahm sie mit in sein Büro.

In der Tätigkeitsbeschreibung, die er für seinen allerersten Angestellten verfasste, stand: »Sie müssen Erfahrung darin haben, große und komplexe (aber leicht zu wartende) Systeme zu entwickeln, und sollten in der Lage sein, dies in ungefähr einem Drittel der Zeit zu erledigen, die die meisten kompetenten Menschen für möglich halten.«6 In seinem ersten Aktionärsbrief 1997 schrieb Jeff: »Wenn ich Vorstellungsgespräche durchführe, sage ich den Leuten: ›Ihr könnt lang, hart oder effizient arbeiten, aber bei Amazon.com kann man sich nicht bloß für zwei der drei entscheiden.‹«7

In jener Zeit war die Firmenkultur bei Amazon so, dass die meisten Amazonier sich Jeffs hohe Ansprüche bereitwillig zu eigen machten. Sie arbeiteten mindestens sechzig Stunden die Woche, spätabends dröhnte noch Musik durch das Büro, und es wurde alles getan, um die Kunden zufriedenzustellen. Jeden Nachmittag gesellte sich Jeff zu den Mitarbeitern im Keller, um die Bestellungen zu verpacken, anfangs auf Händen und Knien auf dem Betonfußboden. Die verschiedensten Bestellungen kamen in immer höherer Zahl aus allen Teilen der Welt. Schnell wurde klar, dass gerade etwas sehr Besonderes geschah, und es war ein tolles Gefühl, dabei zu sein.

Das Wachstum, das darauf folgte, war historisch und beispiellos, und es führte zu Veränderungen im Unternehmen. Monate nach dem Einzug in das erste Büro drängten sich überall die Schreibtische, und Amazon wechselte in wesentlich größere Räumlichkeiten in derselben Straße. Auch diese platzten bald aus allen Nähten, sodass das Unternehmen ein zweites Mal umziehen musste. In diesen entscheidenden ersten Jahren konnte Jeff seine starke und klare Botschaft bei den täglichen und wöchentlichen Zusammentreffen direkt an das kleine Managementteam weitergeben, er konnte bei großen und kleinen Entscheidungen anwesend sein, und er konnte Prinzipien wie Kundenorientierung, Innovationskultur, Sparsamkeit, persönliche Verantwortung, aktives Handeln und hohe Maßstäbe formulieren und anwenden. Aber die Zahl neuer Mitarbeiter – von denen anfangs jeder einzelne von Jeff persönlich eingestellt wurde – erreichte rasch eine Dimension, die neue Führungsebenen erforderte. Ende der 1990er-Jahre war die Zahl der Beschäftigten aus dem zweistelligen Bereich auf über fünfhundert gestiegen. Dieses unvergleichliche Wachstum schränkte Jeffs Möglichkeiten, beim Einstellungsprozess von Führungskräften und dem Eintrichtern seines Credos voll eingebunden zu sein, allmählich ein. Seine Prinzipien konnten nur durchgesetzt werden, wenn das Unternehmen selbst, von der Spitze bis zur Basis, sich zu ihrer Einhaltung verpflichtete.

In diesem Kapitel werden wir darstellen, wie Amazon eine Reihe von Prinzipien und Mechanismen etabliert hat, die es dem Unternehmen erlaubten, von einem einzigen Gründer auf Hunderttausende Angestellte anzuwachsen8 und dabei seiner Mission treu zu bleiben, den Kunden in den Mittelpunkt zu stellen, um langfristig den Unternehmenswert zu erhöhen. Einige dieser Methoden sind mittlerweile allgemein bekannt und werden weithin angewandt. Andere sind wohl nur bei Amazon zu finden.

Was Amazon von anderen unterscheidet, ist, dass seine Leadership-Prinzipien jeden relevanten Ablauf und jede Tätigkeit im Unternehmen beeinflussen. In vielen Fällen geben die Prinzipien eine Art zu denken oder zu arbeiten vor, die bei anderen Unternehmen nicht anzutreffen ist. Das führt zu einer monatelangen, herausfordernden Einarbeitungszeit, während der neue Amazonier die Leadership-Prinzipien kennenlernen und verinnerlichen soll. Da diese Prozesse und Praktiken Teil jedes Meetings und Dokuments, jeder Entscheidung, jedes Bewerbungs- und Mitarbeitergesprächs sind, gehen sie einem mit der Zeit in Fleisch und Blut über. Und jeder, der sie verletzt, zieht die Aufmerksamkeit auf sich, als würde er mit den Fingernägeln über eine Tafel kratzen. Wenn jemand beispielsweise bei einem Meeting eine Idee äußerte, die offensichtlich durch kurzfristige Überlegungen motiviert war und die langfristigen Auswirkungen ignorierte, oder etwas vorschlug, dessen Fokus auf dem Wettbewerber statt dem Kunden lag, entstand eine unangenehme Pause, und dann sprach jemand laut aus, was alle anderen dachten. Dies geschieht vielleicht nicht nur bei Amazon, aber es ist ein entscheidendes Element seines Erfolgs.

In den späten 1990er-Jahren gab es ein paar Kernkompetenzen bei Amazon, über die jeder Amazonier verfügen musste, sowie einige zusätzliche Qualifikationen, die alle Manager besitzen und einsetzen sollten. Als ich (Bill) nach meiner Einstellung 1999 die lange Liste der Kompetenzen durchlas, fühlte ich mich zugleich inspiriert und eingeschüchtert von der Kombination aus extrem hohen Maßstäben und ihrer Anwendung auf einer ganzen Reihe von Gebieten. Ich dachte: »Ich werde härter und intelligenter arbeiten müssen denn je, wenn ich diesen Ansprüchen gerecht werden will.«

2004 machten der Personalchef Mike George und seine Kollegin Robin Andrulevich eine Beobachtung: Das Unternehmen war gewachsen wie Unkraut, und es waren viele unerfahrene leitende Angestellte dazugekommen, die ein wenig formales Management- und Führungskräftetraining gebrauchen konnten. Also bat Mike Robin, ein Weiterbildungsprogramm für sie zu entwickeln. Robin war der Meinung, dass dies zunächst erforderte, klar und prägnant festzulegen, was Führung bei Amazon bedeutet. Dies verzögerte zwar den Start des Programms, aber nach einigen Diskussionen waren sich alle einig, dass es das wert wäre.

Im Aktionärsbrief von 2015 schrieb Jeff: »Man kann seine Unternehmenskultur niederschreiben, aber indem man dies tut, entdeckt man sie, deckt sie auf – man erschafft sie nicht.«9 Dies war die Annahme, auf deren Grundlage Robin vorging, als sie sich daranmachte, die Leadership-Prinzipien auszuarbeiten. Sie befragte erfolgreiche Führungskräfte in allen Bereichen des aufstrebenden Unternehmens, die für dessen Essenz standen. Was als zweimonatiges Projekt geplant gewesen war, brauchte neun Monate bis zur Vollendung. Aber als Robin fertig war, waren durch ihren Einsatz viele der Elemente deutlich geworden, die das Unternehmen zu dem machten, was es heute ist.

Diese ersten Leadership-Prinzipien waren im Grunde die Formulierung und Zusammenfassung des Arbeitsethos der Menschen, die Robin befragt hatte. In einigen Fällen beruhte ein Prinzip auf der Führungstätigkeit einer einzelnen Person. Zum Beispiel bestand Jeff Wilke, damals Senior Vice President von Worldwide Operations und nun CEO von Amazons weltweitem Privatkundengeschäft, auf datengesteuerten Entscheidungsprozessen und häufigen Audits von allen, mit denen er zusammenarbeitete, und dies wurde zur Grundlage des Dive-Deep-Prinzips.

Robin ging jeden Entwurf mit Mike und dem Personalführungsteam durch. Insbesondere erfahrene Personaler wie Alison Allgor und Kristin Strout gaben wertvolles Feedback. Sie diskutierten jedes Prinzip mit einem kritischen Blick darauf, ob es auf die Liste gehörte. Einige Punkte wurden komplett gestrichen, wenn sie zu sehr nach Plattitüden klangen oder nicht relevant genug waren. Robin und Jeff Wilke trafen sich häufig, um den Fortschritt der Liste zu überprüfen und sie zu konkretisieren. Manchmal waren andere Führungskräfte – wie Rick Dalzell, Tom Szkutak und Jason Kilar – an dem Prozess beteiligt. Robin besprach sich auch regelmäßig mit Jeff und Colin.

Ich (Colin) erinnere mich an eine besonders intensive Debatte um den vorgeschlagenen Satz »Leader glauben nicht, sie würden nur nach Rosen duften« in dem Prinzip »offensiv selbstkritisch sein«. War es in Ordnung, eigenwillige Formulierungen zu verwenden, wenn man mit einem größeren Adressatenkreis kommunizierte? Würden die Leute die Prinzipien ernst nehmen, wenn wir es taten? Letztendlich kamen wir zu dem Schluss, dass der Satz zwar unkonventionell war, aber eben auch wahnsinnig aussagekräftig. Der Körpergeruch blieb.

Ende 2004, nach monatelangen Debatten, mailte Robin die aus ihrer Sicht vollständige Liste mit neun Leadership-Prinzipien an Jeff. Das kam uns damals viel vor, aber jedes einzelne schien essenziell zu sein, und wir konnten uns nicht darauf einigen, auch nur eines davon wegzulassen.

Anfang 2005 war die Arbeit an den Firmengrundsätzen beendet, und Jeff schrieb eine E-Mail an alle Amazon-Manager, in der er offiziell Amazons zehn Leadership-Prinzipien verkündete. Dank Robin, die ausgezeichnete Arbeit leistete, als sie diese einflussreichen Prinzipien zusammenstellte, waren sie so beschrieben, dass sie umsetzbar und spezifisch amazonisch waren. Zum Beispiel lautet die Formulierung des Highest-Standards-Prinzips: »Leader haben gnadenlos hohe Standards – viele Menschen halten diese für übertrieben hoch.« Die Ausdrücke »gnadenlos« und »übertrieben hoch« sind typisch für Jeff und daher für die amazonische Art zu denken und zu sprechen.

Eine weitere wichtige Formulierung bei Amazon fällt häufig in einem Atemzug mit den Führungsgrundsätzen und wichtigsten Leitsätzen: »Es sei denn, Ihnen ist etwas Besseres bekannt.« Dies erinnert die Leute daran, immer zu versuchen, den Status quo zu übertreffen.

Im Laufe der folgenden Jahre wurden einige der ursprünglich zehn Prinzipien etwas abgeändert und schließlich ergänzt. Auch heute noch werden sie von Zeit zu Zeit hinterfragt, optimiert und aufgrund neuer Erkenntnisse und Herausforderungen angepasst – genau wie das Unternehmen selbst.

Amazon hat aktuell 14 Leadership-Prinzipien – deutlich mehr als die meisten anderen Firmen. Sie sind auf der Amazon-Website mit folgender Erklärung aufgelistet: »Unsere Leadership-Prinzipien sind nicht nur eine Sammlung von klugen Sprüchen, die gut in einem Bilderrahmen an der Wand aussehen. Diese Prinzipien stellen hohe Anforderungen dar, aber genau das entspricht unserer Herangehensweise. Amazon-Mitarbeiter setzen diese Prinzipien Tag für Tag ein: wenn wir Ideen für ein neues Projekt diskutieren, im Sinne des Kunden über ein Problem entscheiden oder Vorstellungsgespräche führen. Die Leadership-Prinzipien machen Amazon besonders.«10

Die Leute fragen oft: »Wie könnt ihr euch bloß alle Prinzipien merken?« Die Antwort lautet nicht, dass wir besonders herausragende Gedächtniskünstler sind. Wenn die Grundsätze eines Unternehmens auswendig gelernt werden müssen, ist dies sogar ein Warnhinweis dafür, dass sie nicht stark genug verankert sind. Wir kennen die Amazon-Prinzipien und können sie uns merken, weil sie das Grundgerüst für unsere Entscheidungen und Handlungen sind. Wir begegnen ihnen jeden Tag und nehmen sie als Maßstab für uns und andere. Je länger man bei Amazon arbeitet, desto mehr werden diese 14 Leitlinien Teil von einem selbst und der persönlichen Weltsicht.

Legt man die Mechanismen jedes einzelnen Prozesses bei Amazon offen, wird man sehen, dass diese Prinzipien eine wichtige Rolle spielen. Die Evaluation der Arbeitsleistung der Beschäftigten veranschaulicht dies perfekt. Ein großer Teil der Rückmeldungen von Kollegen und Chefs konzentriert sich darauf, inwieweit der Betreffende in der betrachteten Periode die Amazon-Grundsätze an den Tag gelegt hat – oder nicht. In ähnlicher Weise wird jeder Kandidat für eine Stelle bei Amazon im Licht der Leadership-Prinzipien betrachtet. Die Verantwortlichen für die Vorstellungsgespräche verbringen fast eine Stunde damit, den Bewerber auf einzelne Grundsätze hin zu durchleuchten, und jeder Kandidat durchläuft üblicherweise fünf bis sieben Bewerbungsgespräche. Man ergänze die dreißig- bis sechzigminütige Nachbesprechung für jeden Interviewer und multipliziere dies mit der Anzahl offener Stellen – zehntausend allein in Seattle, während wir dies hier schreiben –, und man beginnt zu verstehen, warum die Leute bei Amazon die Prinzipien in- und auswendig kennen. Die Amazon-Führungsgrundsätze sind weit davon entfernt, bloße Schlagwörter für Poster oder den Bildschirmschoner zu sein; vielmehr bilden sie das lebendige, atmende Grundgesetz des Unternehmens.

Amazons Leadership-Prinzipien11

Customer Obsession –100Prozent kundenorientiert. Leader fangen beim Kunden an und arbeiten von dort aus rückwärts. Sie arbeiten stetig daran, das Vertrauen unserer Kunden zu gewinnen und zu bewahren. Leader behalten Mitbewerber im Blick, aber der Kunde bleibt immer im Fokus.

Ownership – Verantwortung übernehmen. Leader sind Eigentümer des Unternehmens. Sie planen auf lange Sicht und opfern langfristige Entscheidungen nicht zugunsten kurzfristiger Ergebnisse. Sie handeln im Interesse des gesamten Unternehmens, nicht nur im Interesse des eigenen Teams. Sie sagen nie: »Das ist nicht meine Aufgabe.«

Invent and Simplify – Erfinden und Vereinfachen. Leader fordern von ihren Teams, innovativ und einfallsreich zu sein und immer wieder Wege zu finden, Dinge zu vereinfachen. Sie kennen ihr Umfeld, suchen überall nach neuen Ideen und lassen sich nicht davon beeinflussen, ob Innovationen innerhalb oder außerhalb ihres Teams entwickelt wurden. Wenn wir etwas Neues in Angriff nehmen, akzeptieren wir, dass wir über lange Zeit missverstanden werden könnten.

Are Right, A Lot – Die richtige Entscheidung treffen. Unsere Leader treffen die richtigen Entscheidungen. Sie haben ein ausgezeichnetes Urteilsvermögen und einen guten Instinkt. Sie suchen unterschiedliche Perspektiven und hören niemals damit auf, ihre Überzeugungen auf den Prüfstand zu stellen.

Learn and Be Curious – Neugierig bleiben und stetig Neues lernen. Für Leader ist der Lernprozess nie abgeschlossen, denn sie suchen immer nach Möglichkeiten, noch besser zu werden. Neuen Möglichkeiten begegnen sie neugierig und aufgeschlossen und erkunden sie.

Hire and Develop the Best – Die besten Mitarbeiter einstellen und weiterentwickeln. Leader setzen die Messlatte mit jeder Einstellung und Beförderung höher. Sie erkennen außergewöhnliches Talent und unterstützen Versetzungen und Entwicklungen im Unternehmen. Leader entwickeln Leader und nehmen ihre Coaching-Rolle ernst. Im Sinne unserer Mitarbeiter arbeiten wir an der Einführung von Entwicklungsmechanismen wie zum Beispiel Career Choice.

Insist on the Highest Standards – Höchste Maßstäbe anlegen. Leader setzen unermüdlich hohe Standards – vielen mag dieser Standard sogar unverhältnismäßig hoch erscheinen. Leader legen kontinuierlich die Messlatte höher und motivieren ihre Teams, qualitativ hochwertige Produkte, Services und Prozesse zu entwickeln. Leader achten darauf, dass Fehler keine weiten Kreise ziehen und dass ihre Ursache endgültig behoben wird.

Think Big – In großen Dimensionen denken. Wer klein denkt, kann keine großen Ziele erreichen. Leader entwickeln und kommunizieren mutige Visionen und inspirieren zu großen Ergebnissen. Sie denken anders und um die Ecke und suchen überall nach neuen Wegen, um den Kunden zu dienen.

Bias for Action – Aktiv handeln. Schnelles Handeln ist wichtig im Geschäftsleben. Viele Entscheidungen und Handlungen sind widerrufbar und müssen nicht ausgiebig vorab untersucht werden. Wir schätzen kalkulierte Risikobereitschaft.

Frugality – Gezielter Einsatz von Ressourcen. Mit weniger mehr erreichen. Sich einzuschränken kann auch Einfallsreichtum bewirken, finanzielle Unabhängigkeit und Innovation fördern. Es gibt bei uns keinen Applaus für Leader, die nur die Anzahl der Mitarbeiter, das Budget oder die Fixkosten erhöhen.

Earn Trust – Vertrauen aufbauen und verdienen. Leader hören aufmerksam zu, äußern sich offen und ehrlich und behandeln ihre Mitmenschen mit Respekt. Sie üben offen Selbstkritik, selbst wenn es ihnen unangenehm oder peinlich ist. Leader denken nicht, dass sie oder ihr Team nur nach Rosen duften. Sie messen sich und ihr Team an den Besten.

Dive Deep – Dingen auf den Grund gehen. Leader arbeiten auf allen Ebenen und verlieren nicht den Blick fürs Detail. Sie überprüfen Entscheidungen und Prozesse regelmäßig und reagieren skeptisch, wenn Erwartungen und Resultate nicht im Einklang stehen. Keine Aufgabe ist ihnen zu unbedeutend.

Have Backbone, Disagree and Commit – Uneinigkeit klar kommunizieren und dennoch gemeinsame Entscheidungen unterstützen. Leader müssen Entscheidungen, mit denen sie nicht einverstanden sind, auf respektvolle Art infrage stellen, auch wenn dies unangenehm oder anstrengend ist. Leader haben Überzeugungen und vertreten diese hartnäckig. Sie akzeptieren keine Kompromisse, wenn diese nur zugunsten des Zusammenhalts der Gemeinschaft getroffen werden. Wenn eine Entscheidung gefallen ist, stellen sie sich voll und ganz dahinter.

Deliver Results –Ergebnisse liefern. Leader richten ihr Augenmerk auf die wichtigsten Einflussfaktoren für ihren Geschäftsbereich und liefern Ergebnisse in der richtigen Qualität und unter Einhaltung aller Fristen ab. Auch wenn sie Rückschläge hinnehmen müssen, stellen sie sich der Herausforderung und geben niemals auf.

Amazons Leadership-Prinzipien haben sich in sämtlichen Prozessen und Praktiken im ganzen Unternehmen verfestigt. Beispielsweise erfordern die sechsseitigen Berichte, die bei Amazon anstelle von PowerPoint-Präsentationen für die viertel- und halbjährlichen Geschäftsberichte genutzt werden, sowohl vom Schreibenden als auch vom Lesenden, den Dingen auf den Grund zu gehen (»Dive Deep«) und sein Bestes zu geben (»Insist on the Highest Standards«). Die Erstellung von Pressemitteilungen und FAQ-Listen fördert die absolute Kundenzentrierung (»Customer Obsession«), dabei wird von den Bedürfnissen der Kunden ausgehend rückwärts vorgegangen. (In Kapitel 4 und 5 erläutern wir den 6-Seiten-Bericht und die PR/FAQ.) Den »Door Desk Award« bekommt jemand verliehen, der die Prinzipien Sparsamkeit (»Frugality«) und Einfallsreichtun (»Invent and Simplify«) beispielhaft verkörpert. Der »Just Do It Award« ist ein extrem großer, ausgelatschter Nike-Turnschuh: Ihn bekommen besonders handlungsorientierte Mitarbeiter (»Bias for Action«). Normalerweise erhält ihn eine Person, die eine clevere Idee hatte, die nichts mit ihrem Aufgabenbereich zu tun hat. Das ausgeprägt Amazonische an dieser Auszeichnung ist, dass die Idee nicht einmal realisiert werden oder – falls sie tatsächlich umgesetzt wird – funktionieren muss, um preiswürdig zu sein.

Die Geschichten, die wir im zweiten Teil dieses Buches über den langen, harten Weg einiger von Amazons erfolgreichsten Diensten erzählen werden – Kindle, Prime und Amazon Web Services –, sind detaillierte Beispiele für die Anwendung eben dieser Leadership-Prinzipien.

Doch auch wenn diese Führungsgrundsätze eng mit dem Unternehmen verwoben sind, können sie sich nicht von selbst effektiv durchsetzen – dafür sind bei Amazon die sogenannten Mechanismen zuständig.

Mechanismen garantieren die Umsetzung der Leadership-Prinzipien

Ein Spruch, den man bei Amazon häufig hört, ist: »Gute Absichten funktionieren nicht. Mechanismen schon.« Kein Unternehmen sollte sich auf gute Vorsätze verlassen, wie »Wir müssen uns mehr anstrengen!« oder »Nächstes Mal müsst ihr daran denken, dass …«, um einen Prozess zu optimieren, ein Problem zu lösen oder einen Fehler zu beheben. Das liegt daran, dass die Leute bereits gute Absichten hatten, bevor die Schwierigkeiten aufgetreten sind. Amazon hat früh begriffen: Räumt man nicht die zugrunde liegenden Ursachen für ein Problem aus dem Weg, wird es wieder auftreten.

Über viele Jahre hat Amazon Mechanismen eingeführt, die sicherstellen sollen, dass die Leadership-Prinzipien in die Tat umgesetzt werden. Drei grundlegende Mechanismen sind: der jährliche Planungsprozess, die Festlegung der S-Team-Ziele (das S-Team besteht aus den Senior Vice Presidents und berichtet direkt an Jeff Bezos) sowie die Vergütungspläne bei Amazon, die Anreize mit dem in Einklang bringen, was für die Kunden und das Unternehmen auf lange Sicht am besten ist.

Die Jahresplanung: OP1 und OP2

Amazon stützt sich in hohem Maße auf unabhängige, auf eine einzige Aufgabe konzentrierte Teams (dazu mehr in Kapitel 3). Durch diese Teams bleibt das Unternehmen beweglich und kann ohne größere äußere Reibung schnell reagieren. Ihre Unabhängigkeit muss jedoch mit präzisen Zielsetzungen einhergehen, damit die verschiedenen Vorhaben der einzelnen Teams mit den übergeordneten Zielen des Unternehmens harmonieren.

Amazons Planung für das Kalenderjahr beginnt im Sommer. Es ist ein gründlicher Prozess, der vier bis acht Wochen intensiver Arbeit von den Managern und vielen Mitarbeitern jedes Teams innerhalb des Unternehmens erfordert. Diese Intensität ist gewollt, denn ein nicht genau ausgearbeiteter Plan – oder schlimmer noch: gar kein Plan – kann im Nachhinein sehr kostspielig werden.

Das S-Team beginnt damit, eine Reihe allgemeiner Erwartungen oder Ziele für das gesamte Unternehmen aufzustellen. Zum Beispiel verkündeten der CEO und der Finanzvorstand in vergangenen Jahren Ziele wie »Erhöhung des Umsatzes von 10 auf 15 Milliarden Dollar« oder »Reduzierung der Fixkosten um 5 Prozent«. Mit der Zeit wurden solche übergeordneten Ziele dann auf eine lange Liste zunehmend detaillierterer Ziele heruntergebrochen. Beispiele hierfür sind: Umsatzsteigerungsziele nach geografischer Lage und Segment; Kostenstrukturziele; Erhöhung der Produktivität und Weitergabe von Ersparnissen an die Kunden in Form gesenkter Preise; Generierung eines starken freien Cashflows; Klarheit über das Investitionsvolumen in neue Geschäftsfelder, Produkte und Dienste.

Sind diese allgemeinen Erwartungen etabliert, beginnt jede Gruppe mit der Arbeit an ihrem eigenen, detaillierteren operativen Plan – OP1 genannt –, der gewissermaßen den »Vorschlag der Basis« darstellt. Durch die Erstellung von Berichten (wie in Kapitel 4 beschrieben) strebt Amazon die Evaluation von ungefähr zehnmal so viel Informationen an, wie andere Unternehmen gewöhnlich im selben Zeitraum schaffen. Die Hauptkomponenten eines OP1-Berichts sind:

Auswertung vergangener Performance (unter anderem erreichte Ziele, verpasste Ziele und gelernte Lektionen)

wichtige Projekte für das kommende Jahr

eine detaillierte Erfolgsrechnung

Bitten um Ressourcen (mit Begründung); das können neue Arbeitskräfte sein, Marketingausgaben, Geräte oder anderes Assets

Jede Gruppe arbeitet mit ihren Kollegen in der Finanz- und der Personalabteilung zusammen, um einen detaillierten operativen Plan auszuarbeiten, der dann einer Gruppe von Führungskräften vorgestellt wird. Die Ebene dieser leitenden Angestellten – Directors, Vice Presidents oder das S-Team – hängt von der Größe, der Reichweite und der strategischen Bedeutung des Teams ab. Die Gruppe schließt dann die Lücken zwischen dem Vorschlag der Basis und den von der Spitze gesetzten Zielen. Manchmal wird ein Team gebeten, seinen Plan zu überarbeiten und erneut zu präsentieren, bis beides übereinstimmt.

Der OP1-Prozess läuft über den Herbst und wird zu Ende gebracht, bevor die hektische Weihnachtssaison beginnt. Im Januar, nach den Weihnachtsferien, wird OP1 nötigenfalls aufgrund der Ergebnisse aus dem vierten Quartal angepasst und dient auch als Grundlage für die Berechnung der weiteren Entwicklung. Dieser kürzere Prozess wird OP2 genannt. Dabei entsteht der verbindliche Plan für das Kalenderjahr.

Der OP2 richtet alle Gruppen auf die Unternehmensziele aus. Jeder kennt die Richtung, in die es gehen soll, also die Umsatz-, Kosten- und Leistungsziele. Man einigt sich auf die Kennzahlen, und sie werden Teil der Ergebniserwartung für jedes Team. Im OP2 wird glasklar, zu was sich jede Gruppe verpflichtet, wie sie diese Ziele erreichen will und welche Ressourcen sie dafür benötigt.

Einige Abweichungen sind unvermeidlich, aber jede Änderung des OP2 erfordert die formelle Zustimmung des S-Teams.

S-Team-Ziele

Während der OP1-Phase liest das S-Team die verschiedenen Pläne und wertet sie aus, entscheidet sich für Vorhaben und Ziele von jedem Team, die aus seiner Sicht am dringendsten durchgeführt werden sollen. Diese ausgewählten Ziele heißen, wenig überraschend, S-Team-Ziele. Anders ausgedrückt: Angenommen, mein (Bills) Team bei Amazon Music hätte in dem operativen Plan von 2012 beispielsweise 23 Ziele und Vorhaben gehabt. Nachdem das S-Team unseren Plan mit uns durchgegangen wäre, hätte es vielleicht sechs von ihnen als S-Team-Ziele festgelegt. Das Music-Team hätte dann trotzdem darauf hingearbeitet, alle 23 Ziele zu erreichen, hätte aber die Ressourcen in erster Linie für die Erfüllung der sechs S-Team-Ziele aufgewandt statt für die 17 anderen.

Drei besonders Amazon-typische Merkmale von S-Team-Zielen sind ihre ungewöhnlich hohe Zahl, ihre Detailliertheit und ihre Angriffslust. Es gab einmal ein paar Dutzend S-Team-Ziele, doch inzwischen sind es mehrere Hundert im Jahr, verteilt auf das gesamte Unternehmen.

S-Team-Ziele sind hauptsächlich auf Input-Kennzahlen fokussiert, mit denen die notwendigen Aktivitäten der Teams über das Jahr gemessen werden, damit die Unternehmensziele erreicht werden. In Kapitel 6 werden wir eingehender besprechen, wie Amazon diese präzisen, spezifischen Kennzahlen entwickelt. S-Team-Ziele müssen konkret, messbar, erreichbar, relevant und zeitpunktgerecht sein (Specific, Measurable, Attainable, Relevant, Timely, woraus sich das Akronym SMART ergibt). Ein S-Team-Ziel könnte beispielsweise so aussehen: »Hinzufügen von 500 neuen Produkten in der amazon. fr-Kategorie Musikinstrumente (100 Produkte in Q1, 200 in Q2 …).« Oder: »Gewährleisten, dass auf 99,99 Prozent aller Anrufe beim Softwareservice ›Y‹ innerhalb von 10 Millisekunden reagiert wird.« Oder: »Steigerung der Quote wiederkehrender Werbekunden von 50 auf 75 Prozent bis Q3 im kommenden Jahr.«

S-Team-Ziele sind so ehrgeizig, dass Amazon damit rechnet, dass nur etwa drei Viertel von ihnen im Laufe des Jahres vollständig eingehalten werden. Würde jedes einzelne erreicht, wäre dies ein deutliches Zeichen dafür, dass die Messlatte zu niedrig angesetzt wurde.

S-Team-Ziele für das Gesamtunternehmen werden gebündelt, und ihre Kennzahlen werden mithilfe von zentralisierten Programmen getrackt. Jedes einzelne wird vierteljährlich intensiv überprüft. Diese Reviews müssen gründlich vorbereitet werden und werden im Laufe des Quartals in mehrstündigen S-Team-Meetings durchgeführt. In vielen Unternehmen neigt die Führungsriege bei Besprechungen dazu, sich auf das große Ganze zu konzentrieren, auf übergeordnete strategische Überlegungen statt auf die Umsetzung. Bei Amazon ist das Gegenteil der Fall. Das Amazon-Management beschäftigt sich mit den Details der Ausführung und lebt das Leadership-Prinzip »Dive Deep«, das besagt: »Leader arbeiten auf allen Ebenen und verlieren nicht den Blick fürs Detail. Sie überprüfen Entscheidungen und Prozesse regelmäßig und reagieren skeptisch, wenn Erwartungen und Resultate nicht im Einklang stehen. Keine Aufgabe ist ihnen zu unbedeutend.«

Das Finanzteam trackt die S-Team-Ziele im Jahresverlauf und ordnet ihnen die Statusstufen grün, gelb und rot zu. Grün bedeutet, dass man auf dem richtigen Weg ist, gelb heißt, dass ein gewisses Risiko besteht, das Ziel nicht zu erreichen, und rot, dass das Erreichen des Ziels unwahrscheinlich ist, es sei denn, irgendetwas ändert sich signifikant. Diese regelmäßigen Überprüfungen lenken durch die gelben und roten Statusmeldungen die Aufmerksamkeit dorthin, wo sie am dringendsten benötigt wird, und es folgt eine offene Diskussion darüber, was schiefläuft und wie man es korrigieren kann.

Der OP-Planungsprozess richtet das gesamte Unternehmen auf die Ziele aus, die in einem Jahr definitiv erreicht werden sollen. Durch die S-Team-Ziele wird diese Übereinstimmung noch verfeinert, indem die größten oder dringendsten Ziele des Unternehmens an erste Stelle gestellt werden. Durch die regelmäßigen Reviews wird die gemeinsame Ausrichtung aufrechterhalten, egal was auf dem Weg geschieht. Diese Struktur garantiert, dass an jedem wichtigen Ziel gearbeitet wird – und es jeweils einen Verantwortlichen gibt.

Dieser Planungsprozess hat sich mit dem Wachstum von Amazon entwickelt. Alles in allem ist die Struktur nach wie vor dieselbe, doch es gibt nun gesonderte Führungsteams für das Retailgeschäft und Amazon Web Services – und sogar unabhängige Teams für die großen Aufgaben innerhalb dieser Geschäftsbereiche. Jeder dieser Bereiche hat eigene »S-Team-Ziele«, bloß dass sie dort anders genannt werden. Auch Sie können diesen rekursiven Prozess also in Ihrem wachsenden Unternehmen anwenden.

Das Vergütungssystem bei Amazon fördert langfristiges Denken

Selbst die besten Vorkehrungen dieser Art können durch andere Faktoren unterlaufen werden – am tückischsten sind gewisse »erfolgsorientierte« Vergütungen für Führungskräfte, die in anderen Unternehmen nur allzu verbreitet sind. Ganz gleich, wie klar Ihre Leadership-Prinzipien und Ihr Jahresplan auch sein mögen, gegen finanzielle Anreize haben sie keine Chance. Geld regiert die Welt. Wenn Ihre Leadership-Prinzipien, Ihr Jahresplan und Ihre finanziellen Anreize nicht übereinstimmen, erhalten Sie nicht die gewünschten Ergebnisse.

Bei Amazon ist man der Ansicht, dass sich die »Leistung« bei »leistungsgerechter« Vergütung auf die Gesamtleistung des Unternehmens bezieht, das heißt, im Interesse der Aktionäre sein muss, die wiederum mit den Interessen der Kunden im Einklang stehen. Entsprechend ist die Vergütung der S-Team-Mitglieder und der gesamten Führungsspitze des Unternehmens stark abhängig vom Eigenkapital, das über einen Zeitraum von mehreren Jahren aufgebaut wurde. Das Spitzengehalt bei Amazon liegt weit unter dem anderer US-amerikanischer Unternehmen. Als wir beide dort gearbeitet haben, lag das maximale Grundgehalt für jeden Beschäftigten bei 160000 Dollar (und alles deutet darauf hin, dass dies nach wie vor der Fall ist). Einige neu eingestellte Führungskräfte können ein Antrittsgeld erhalten, aber der Großteil ihrer Vergütung – und der potenziell gewaltige Vorteil – ist der langfristige Unternehmenswert.

Eine schlechte Vergütungspraxis kann in zweierlei Hinsicht zu einer ungünstigen Ausrichtung führen, erstens, indem statt langfristiger Wertsteigerung das Erreichen kurzfristiger Ziele belohnt wird, und zweitens, indem das Erreichen lokaler Meilensteine einzelner Bereiche honoriert wird, ob sie dem Gesamtunternehmen Nutzen bringen oder nicht. Beides kann Verhalten fördern, das die Ziele des Unternehmens letztlich torpediert.

In anderen Branchen, etwa den Medien oder den Finanzdiensten, wird ein großer Teil der Vergütung der leitenden Angestellten in jährlichen Leistungsboni ausgezahlt. Diese kurzfristigen Ziele (ja, ein Jahr ist definitiv eine kurze Zeit) können zu einem Verhalten führen, das dem Streben nach langfristigem Erfolg entgegensteht. Indem kurzfristige Ziele angepeilt werden, um die eigene Vergütung zu maximieren, könnten manche Manager bewusst Umsätze von einer Periode in die nächste verschieben, künftige Ergebnisse kannibalisieren und aktuelle Herausforderungen verschleiern. Andere geben vielleicht zu viel für Marketing aus, um die Umsätze für das aktuelle Quartal zu steigern und auf diese Weise kurzfristige Einnahmen zu erzielen, auch wenn das auf Kosten der Umsätze der unmittelbar oder langfristig folgenden Quartale geht. Einige könnten versucht sein, Ausgaben zu vertagen, Wartungskosten zu meiden oder weniger neue Mitarbeiter einzustellen, um eine als Quartalsziel definierte Kostenersparnis zu erreichen – und das alles hat auf lange Sicht negative Folgen. Manche Führungskräfte könnten sogar zögern, eine neue, verantwortungsvolle Rolle im Unternehmen zu übernehmen, bis ihr Bonus gesichert ist, und so wichtigen Vorhaben des Unternehmens im Wege stehen. Langfristige, am Unternehmenswert orientierte Vergütungsanreize dagegen verhindern solche eigennützigen und teuren Entscheidungen, weil sie in diesem System einfach keinen Sinn ergeben.