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Amazon ist eines der wertvollsten Unternehmen der Welt. Was sind die Geheimnisse seines Erfolgs? Wie lassen sich diese Erkenntnisse auf andere Unternehmen im E-Commerce-Sektor übertragen? Die renommierten Einzelhandelsexpertinnen Natalie Berg und Miya Knights geben überzeugende Antworten. "Das Amazon-Modell" bietet einzigartige Einblicke in die disruptiven Strategien des unerbittlichsten Einzelhändlers und Innovators der Welt. Es zeigt, wie diese Strategien auf jedes Unternehmen im E-Commerce-Sektor angewendet werden können und wie professionell Amazon auf die Corona-Pandemie reagierte. Eine unschätzbare Ressource, um aus dem beispiellosen Aufstieg von Amazon zu lernen und erfolgreich zu handeln.
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Seitenzahl: 528
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NATALIE BERGMIYA KNIGHTS
Wie der unerbittlichsteEinzelhändler der Weltden Handel weiterrevolutionieren wird
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
Amazon: How the world’s most relentless retailer will continue to revolutionize commerce – 2nd edition
ISBN 978-1-3986-0142-0
Copyright der Originalausgabe 2019, 2022:
© Natalie Berg, Miya Knights, 2019, 2022. All rights reserved.
This translation of Amazon 2nd edition is published by arrangement with Kogan Page.
Copyright der deutschen Ausgabe 2022:
© Börsenmedien AG, Kulmbach
Übersetzung: Rotkel e. K.
Gestaltung Cover: Holger Schiffelholz
Gestaltung: Daniela Freitag
Satz und Herstellung: Timo Boethelt
Lektorat: Egbert Neumüller
ISBN 978-3-86470-838-1
eISBN 978-3-86470-839-8
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01Es ist eine Amazon-Welt
02Warum Amazon kein durchschnittlicher Einzelhändler ist: Einführung in die Einzelhandelsstrategie
Geld verlieren, um Geld zu verdienen
Amazons Grundprinzipien
Ungleiches Spielfeld: Steuern
Drei Säulen: Marktplatz, Prime, AWS
Erst Tech-Unternehmen, dann Einzelhändler
03Pandemie als Wendepunkt: Wie Corona die Einzelhandelsbranche umgekrempelt hat
Corona: Der Katalysator für den Einzelhandel
Niedergang des „Status quo im Einzelhandel“
Digitale Transformation: Corona wird das beenden, was Amazon begonnen hat
Die Zukunft des E-Commerce sind die Ladengeschäfte
Kundenerlebnis ist das neue A und O
Bewusster Konsum
04Amazons pandemischer Griff nach der Macht
Das goldene Zeitalter von Amazon
Ein Einkaufs- und Unterhaltungsriese zementiert seinen Status
Alexa, tritt meinem Zoom-Meeting bei
Amazon beweist seine technologische Leistungsfähigkeit
05Das Prime-Ökosystem: Neudefinition der Kundenbindung für den Kunden von heute
Versenden, Einkaufen, Streamen und mehr
Aber ist Prime tatsächlich ein Kundenbindungsprogramm?
Was hat Amazon von Prime?
Wie funktioniert Prime in Ladengeschäften?
Prime 2.0
06Einzelhandel: Apokalypse oder Renaissance?
Der Einkauf wird zum Wunschkonzert
Der Amazon-Effekt: Tod den Branchenkillern
Zu viel und kaum von Interesse?
07Das Ende des reinen E-Commerce: Der Einstieg von Amazon in den stationären Handel
Einzelhandel der Zukunft: Die Suche nach dem kanalübergreifenden Handel (Omnichannel)
Schlüsselfaktoren für die Vernetzung von stationärem und digitalem Handel
Webshop contra Filiale – Gründe für eine Ladeneröffnung
Amazon hat den richtigen Riecher
08Die Ambitionen von Amazon im Lebensmittelhandel: Eine Plattform, über die man alles verkaufen kann
Online-Lebensmittelhandel in den USA: Ein Dauerbrenner
Lebensmittel: Auf zu neuen Ufern und die Bedeutung der Kundenfrequenz
Amazons Kampf um Lebensmittel: Das Leben vor Whole Foods Market
09Die schöne neue Supermarkt-Ära
Der Amazon-Erfindungsdrang macht auch vor Supermärkten nicht halt
Warum Whole Foods Market?
Der Weckruf
Auf Wiedersehen Whole Foods, willkommen Amazon Fresh?
10Ein Eigenmarkenkonglomerat: Es wird eng
Kundenmentalität nach der großen Wirtschaftskrise
Amazons Ambitionen in Richtung Eigenmarken
11Technologie und reibungsloser Einzelhandel
100 Prozent kundenorientiert
1-Click zu Kein-Click
12KI und Sprachsteuerung: Neue Ufer im Einzelhandel
Die Bedeutung von Produktempfehlungen
Die Bedeutung von Interaktionen
Die Komplexität der Lieferketten
Das ungenutzte Potenzial der Sprachsteuerung
13Das Geschäft der Zukunft: Wie die digitale Automatisierung das Kundenerlebnis bereichern wird
Online recherchieren, offline kaufen
Standort als Ausgleich für mangelnde Relevanz
Das Geschäft als Ausstellungsraum
Das digitale Kundenerlebnis
14Neudefinition des Ladengeschäfts: von der Transaktion zum Erlebnis
Vom Geschäft zum Lifestyle-Center: Alles muss zur Marke passen
Ein Ort zum Essen
Ein Ort zum Arbeiten
Ein Ort zum Spielen
Ein Ort zum Entdecken, ein Ort zum Lernen
Ein Ort zum Mieten
Fazit
15Einzelhandelslogistik: Entscheidung auf der letzten Meile
Das Versprechen, zu liefern
Erschließung der letzten Meile
Ausbau der letzten Meile
16Die Infrastruktur für die letzte Meile
Arbeit auf der letzten Meile
Physische Infrastruktur
Immobilienbedarf
Amazon als Transportunternehmen
Fulfillment by Amazon
Rennen um die letzte Meile
Innovation aus der Ferne
Fazit: Amazon am Zenit?
Endnoten
in einem bestimmten Zusammenhang bedeutsam, [ge]wichtig
Der Einzelhandel befindet sich in einer Umbruchphase. Die Pessimisten sehen ihn vom Aussterben bedroht, andere nur die Folgen digitaler Transformation. Einigkeit besteht hingegen darüber, dass dies eine Zeit tiefgreifender struktureller Veränderungen ist.
Die pandemiebedingte Verlagerung zum Onlineshopping in Verbindung mit allgemein veränderten Wertvorstellungen und Ausgabegewohnheiten der Verbraucher hat ein Überangebot an Einzelhandelsgeschäften offenbart. Traditionelle Geschäftsmodelle werden verdrängt, der Einzelhandel muss ums Überleben kämpfen: Die Schließung von Geschäften erreicht Rekordzahlen, Insolvenzen sind in der Branche an der Tagesordnung. Das ist Darwinismus im Einzelhandel: Entwickle dich weiter oder stirb.
Jedoch gibt es etwas, was bei all dem Gerede über das bevorstehende Aussterben des Einzelhandels oft nicht beachtet wird: Relevanz. Die wichtigste Regel im Einzelhandel lautet: Sei für die Kunden relevant. Wenn du es nicht schaffst, deinen Kunden das zu geben, was sie wollen, oder dich von der Konkurrenz abzuheben, hast du keine Chance. Ja, die Tage dieser Einzelhändler sind gezählt. Für diejenigen, die bereit sind, sich auf Veränderungen einzulassen, ist dies unserer Meinung nach eine unglaublich aufregende Zeit, in der man den Einzelhandel neu erfinden kann. In Zukunft wird es weniger, dafür aber schlagkräftigere Geschäfte geben. In Zukunft werden Kunden eine bessere Mischung aus Online- und Offline-Angeboten erleben. Und in der Zukunft wird es darum gehen, sich im WACD (What Amazon Can’t Do) hervorzutun: darin, was Amazon nicht kann.
Amazon, der Handelsriese des 21. Jahrhunderts, hat sich vom Onlinebuchhändler zu einem der wertvollsten börsennotierten Unternehmen der Welt entwickelt. Als wir dieses Buch schrieben, entfiel rund die Hälfte des E-Commerce-Umsatzes in den USA auf Amazon.1 Im Jahr 2010 beschäftigte Amazon etwa 30.000 Mitarbeiter. Zehn Jahre später waren es 1,3 Millionen. Allein im Jahr 2020 hat Amazon seine Belegschaft um satte 500.000 Mitarbeiter aufgestockt.2 Und das in einem Pandemiejahr. Nicht einmal Walmart, der größte private Arbeitgeber in den USA, hat jemals so viele Mitarbeiter in einem einzigen Jahr eingestellt.3 Amazon hat sich zum unangefochtenen Marktführer in allen Bereichen entwickelt – von Cloud-Computing bis zur Sprachtechnologie. Amazon ist die Nummer eins bei der Produktsuche, noch vor Google;4 Amazon hat auch Walmart überholt und ist jetzt der größte Bekleidungshändler der USA.5 Im Jahr 2021, als wir dieses Buch schrieben, war Amazon mehr wert als Walmart, Netflix, Target, Nike und Costco zusammen. Das persönliche Vermögen des Amazon-Gründers Jeff Bezos ist sogar größer als der Börsenwert einiger dieser Unternehmen.6 Amazon verändert mit seinen Kartons zweifellos den Einzelhandel.
Und als ob das nicht genug wäre, hat Amazon auch noch seine weltweiten Aktivitäten ausgeweitet. Im Jahr 2010 war Amazon international nur auf sieben Märkten vertreten: Kanada, Vereinigtes Königreich, Deutschland, Frankreich, Japan, China und Italien. Zehn Jahre später machte das Geschäft außerhalb der USA rund ein Drittel des Amazon-Umsatzes aus und umfasste mehr als 20 ausländische Märkte – vom pulsierenden Mexiko-Stadt bis zu den abgelegenen Tälern des Himalaja.7
Bis 2020 besaß oder mietete Amazon weltweit mehr als 400 Millionen Quadratmeter Fläche.8 Seit dem Launch seiner Website9 sind bei Amazon mehr als 30 neue Produktkategorien hinzugekommen, und es gibt inzwischen weltweit mehr als 200 Millionen Prime-Mitglieder, die fast 150 US-Dollar im Jahr dafür ausgeben, die Vorteile von Prime zu nutzen.10
Amazon hat sich zu einem der einflussreichsten Unternehmen des 21. Jahrhunderts entwickelt, weil es unbeirrt an seiner ursprünglichen Vision festhält: unablässige Innovation, um einen langfristigen Mehrwert für die Kunden zu schaffen. Amazons Erfolg beruht auf der permanenten Unzufriedenheit mit dem Status quo, der Lust an der Disruption und dem Wunsch, die Kunden lebenslang an sich zu binden. Das Unternehmen steckt voller Überraschungen, aber alles wird letztlich von einer Vision geleitet, die sich seit der Gründung nicht verändert hat.
Wie die meisten radikalen Erneuerer ist auch Amazon ein Außenseiter. Es ist ein Technologieunternehmen mit entsprechender Kapitalstärke und kann sich den Luxus leisten, langfristig zu denken. Amazon wäre heute nicht dort, wo es ist, wenn es nicht nach seinen eigenen Regeln spielen würde, indem es Kurzfrist-Denken und andere traditionelle Zwänge, denen die stationären Einzelhändler unterworfen sind, vermeidet. Amazon hat sein Einzelhandelsangebot unermüdlich ausgebaut, und zwar nicht nur durch die Einführung neuer Produktkategorien – durch die ganze Branchen auf den Kopf gestellt wurden –, sondern auch durch ein verbessertes Entertainment-Angebot, bessere Auftragsabwicklung und IT-Kompetenz mit dem Ziel, ein einzigartiges, reibungslos funktionierendes und rundum integriertes Kauferlebnis für den Kunden zu schaffen.
Für Wettbewerber erscheint Amazon als rücksichtslos und furchterregend. Für Kunden ist Amazon unkompliziert und zunehmend unverzichtbar. Mit der Kombination aus dem Zugang zu Millionen von Produkten und einer immer schnelleren Lieferung hat das Unternehmen den ultimativen „Sweet Spot“ für Käufer getroffen. Und dies ist erst der Anfang. Amazon macht sich die Stärke und das Vertrauen in seine Marke zunutze und greift mit seinen Fangarmen nach immer neuen Branchen. Das bloße Gerücht, dass Amazon in einen Sektor einsteigen könnte, reicht aus, um Aktienkurse auf Talfahrt zu schicken. Und es wird von Tag zu Tag deutlicher, dass Amazon sich nicht damit begnügt, nur der Einzelhändler zu sein; Amazon will auch die Infrastruktur sein.
Heute feuert Amazon aus allen Rohren. Der pandemiebedingte Wandel hin zu einer digitaleren Welt hat alle Bereiche des Unternehmens gestärkt – Einzelhandel, Amazon Web Services (AWS), Prime, Alexa, Werbung – und solange nicht regulatorisch eingegriffen wird, scheint sich das Wachstum von Amazon auch nicht abzuschwächen.
Aber Amazon steht an einem Wendepunkt. Der König des E-Commerce hat erkannt, dass das reine Onlinegeschäft trotz aller Annehmlichkeiten nicht mehr ausreicht. Stationärer Handel und Onlinehandel nähern sich einander immer schneller an. Wenn Amazon den Lebensmittel- und Apothekensektor erobern will, benötigt das Unternehmen Ladengeschäfte. Wenn Amazon die steigenden Kosten für Kaufabwicklung und Kundenakquise ausgleichen will, benötigt das Unternehmen Ladengeschäfte. Und wenn Amazon die Prime-Mitgliedschaft, die Einführung der Sprachtechnologie und die Lieferung innerhalb einer Stunde weiter vorantreiben will, was dann? Es benötigt Ladengeschäfte.
Die Zukunft des Einzelhandels liegt im stationären Handel. Amazon wird den Begriff des Supermarkts für den Kunden des 21. Jahrhunderts neu definieren: Kassen werden abgeschafft, das Einkaufserlebnis wird digitalisiert, die Filialen werden für eine schnelle Lieferung genutzt, und vor allem wird mit den Kunden auf eine Art und Weise interagiert, wie es online niemals möglich wäre. Das Ladengeschäft der Zukunft wird stärker erlebnis- und serviceorientiert sein.
Für Amazon wird sich durch den Lebensmitteleinzelhandel ein sehr wichtiges Puzzleteil erschließen: die Kundenfrequenz. Wie ein ehemaliger Chef von Whole Foods Market es ausdrückt: „Lebensmittel sind die Plattform, über die man alles andere verkaufen kann.“11 Deshalb sollte Amazons Einstieg in den Lebensmittelhandel alle Einzelhändler beunruhigen, nicht nur Supermärkte. Es ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer totalen Dominanz im Einzelhandel.
Wie wir im Verlauf dieses Buches beschreiben werden, ist Amazon heute in vielerlei Hinsicht nicht mehr einzuholen. Das Unternehmen ist aus unserem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken, und viele fragen sich mittlerweile, ob Amazons Allgegenwart gut für die Wirtschaft – und für die Demokratie im Allgemeinen – ist. Die Bemühungen, die Dominanz von Amazon zu verringern, werden zunehmen, und ein Unternehmen von Amazons Größe, Macht und Einfluss sollte genau unter die Lupe genommen werden, insbesondere vor dem Hintergrund der Pandemie. Grundlegende globale Steuerreformen und die möglicherweise bedeutendsten Änderungen des US-Kartellrechts innerhalb der letzten Jahrzehnte werden dazu beitragen, gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle zu schaffen. Wir müssen jedoch anerkennen, dass Amazon auch Gutes bewirkt hat, indem es den Einzelhandelssektor gezwungen hat, seinen Service zu verbessern. Amazons unablässiger Fokus auf die Verbesserung des Kundenerlebnisses hat den Anstoß zu größeren Veränderungen in der Branche gegeben. Mit Blick auf die Zukunft wird die Zweiteilung in Gewinner und Verlierer im Einzelhandel weiter zunehmen. Die undifferenzierten und leistungsschwachen Einzelhändler werden aussortiert, und die verbleibenden werden erstarken, weil sie sich neu erfunden – und damit ihre Relevanz und letztlich ihr Überleben gesichert haben.
Ein schweres, sich drehendes Rad in einer Maschine, das dazu dient, das Drehmoment der Maschine zu erhöhen und dadurch für mehr Stabilität oder eine verfügbare Leistungsreserve zu sorgen.
Amazon ist voller Widersprüche. Das Einzelhandelsunternehmen, dessen Strategie darin bestand, „lange Zeit unrentabel zu sein“, ist heute eines der wertvollsten Unternehmen der Welt. Amazon ist ein Einzelhändler, dem die meisten der von ihm verkauften Produkte nicht gehören. Amazon ist sowohl ein gefürchteter Konkurrent als auch zunehmend ein Partner des Einzelhandels. Je nachdem, wen man fragt, kann der Begriff „Amazon-Effekt“ entweder das Aus für ein Unternehmen bedeuten oder aber eine drastische Verbesserung des Kundenerlebnisses.
Was ist der USP von Amazon? Ein nahezu unbegrenztes Sortiment und wettbewerbsfähige Preise sind entscheidende Faktoren des Marktplatzmodells, aber sie allein heben Amazon nicht genug von der Konkurrenz ab, um diesen großen Erfolg in der Welt des Einzelhandels zu erklären. Der Tech-Gigant hat mit seinem Prime-Mitgliedschaftsprogramm ein komplexes Netz um seine Kunden gesponnen. Doch letztlich ist das komfortable Einkaufen das Alleinstellungsmerkmal von Amazon. Einzig und allein komfortables Einkaufen. Die Kunden bleiben dem Service, dem reibungslosen Ablauf und dem bequemen Einkauf über die Amazon-Plattform treu. Zeit ist ein kostbares Gut, und Amazon weiß das. Mehr als ein Viertel der Käufe bei Amazon erfolgen innerhalb von drei oder weniger Minuten, und die Hälfte aller Käufe sind in weniger als 15 Minuten abgeschlossen.1
ABBILDUNG 2.1: Marktkapitalisierung: ausgewählte US-Unternehmen, in Milliarden (Stand: 21. Juni 2021)
QUELLE: eigene Recherche; Google Finanzen
Eine Frage, die uns oft gestellt wird, lautet: Was ist Amazon? Amazon verkauft alles, von Windeln bis zu Laufbändern, produziert aber auch erfolgreiche Fernsehsendungen und bietet Cloud-Computing-Dienste für so unterschiedliche Kunden wie McDonald’s, Zalando und die NASA. Amazon ist ein Hardwarehersteller, ein Bezahldienst, eine Werbeplattform, ein virtueller Reiseveranstalter, ein Seefrachtunternehmen, ein Verlag, ein WLAN-Systemanbieter, ein Zustellnetzwerk, ein Modeunternehmen, ein Eigenmarkenunternehmen und eine Fluggesellschaft. Das ist aber noch nicht alles! Amazon betreibt das größte zivile Überwachungsnetz in den USA. Amazon ist auch ein Supermarkt, eine Apotheke und ein Gesundheitsdienstleister. Amazon hat sich in den Bereichen Lieferservice für Restaurants, Luxusgüter, Finanzdienstleistungen und Friseursalons versucht. Der Tech-Gigant wollte sogar ein Heilmittel gegen Erkältung finden (ja, wirklich). Wenn Sie dies lesen, wird Amazon wahrscheinlich gerade an der Schwelle zur Lösung eines weiteren Problems oder zur Umwälzung eines weiteren Sektors stehen.
Amazon ist sich darüber im Klaren, dass eine solche Diversifizierung diffus und unlogisch wirkt. Ist Amazon einfach ein „Hansdampf in allen Gassen“, der nichts wirklich beherrscht? „Wenn wir neue Dinge angehen, akzeptieren wir, dass wir vielleicht für längere Zeit missverstanden werden“, war auf der Amazon-Website2 im Jahr 2021 zu lesen. Um Amazon zu verstehen, muss man zunächst seinen strategischen Rahmen verstehen: das Schwungrad (siehe Abbildung 2.2).
Der von dem Managementtheoretiker Jim Collins entwickelte Schwungrad-Effekt beschreibt einen sich selbst verstärkenden Zyklus, der Unternehmen immer erfolgreicher macht. Auf seiner Website erklärt Collins: „Es gibt nicht den entscheidenden Schritt, kein großartiges Programm, keine Killerinnovation, keinen glücklichen Zufall, keinen einmaligen Moment. Vielmehr gleicht der Prozess dem unermüdlichen Anschieben eines riesigen, schweren Schwungrads, Zentimeter um Zentimeter, mit zunehmender Dynamik, bis es immer schneller und von alleine läuft.“3
ABBILDUNG 2.2 Das Schwungrad: der Schlüssel zum Erfolg von Amazon
Wie lässt sich das auf Amazon anwenden? In seinem Buch „Der Allesverkäufer“ erläutert Brad Stone den Grundgedanken:
Bezos und seine Leute entwarfen ihren eigenen Kreislauf, von dem sie überzeugt waren, dass er ihr Geschäft voranbringen würde. Es lief in etwa so ab: Niedrigere Preise führten zu mehr Kundenbesuchen. Mehr Kunden steigerten das Umsatzvolumen und zogen mehr provisionszahlende Drittanbieter auf die Website. Dadurch konnte Amazon die Fixkosten wie etwa für die Logistikzentren besser decken und die für den Betrieb der Website erforderlichen Server vorteilhafter nutzen. Diese größere Effizienz ermöglichte es dem Unternehmen, die Preise weiter zu senken. Wenn man an einem beliebigen Punkt dieses Schwungrads positive Energie einbringt, so die Überlegung, sollte es die Dynamik beschleunigen.4
Nachdem es mehr als zwei Jahrzehnte gefüttert wurde, dreht sich das Schwungrad jetzt. Amazon diversifiziert sein Geschäft weiter und blickt weit über die Grenzen des Einzelhandels hinaus, um das Schwungrad in Bewegung zu halten. Amazon gibt sich nicht damit zufrieden, der „Allesverkäufer“ zu sein, sondern will auch der „Überallverkäufer“ sein. Die Absicht, in völlig neue Branchen wie Finanzdienstleistungen und das Gesundheitswesen vorzudringen, mag dem Kerngeschäft des Einzelhandels zuwiderlaufen, aber wir müssen uns zwei Dinge vor Augen halten:
1Jede neue Dienstleistung ist ein weiteres Rädchen im Getriebe. Amazons Erfolg lässt sich nicht durch die isolierte Betrachtung eines einzelnen Geschäftsbereichs messen.
2Das Einzige, was alle scheinbar irrationalen Schritte von Amazon verbindet, besteht darin, das Kundenerlebnis verbessern und dabei den Käufer noch stärker an sich binden zu können.
Hierbei sollte man berücksichtigen, dass Amazon eigentlich kein Einzelhändler ist, sondern ein Technologieunternehmen, das stets nach Möglichkeiten sucht, sich durch Innovation zu verbessern. Vertrauen und Loyalität gegenüber der Marke Amazon haben sich inzwischen gut aufgebaut und können auf andere Sektoren übertragen werden, auch wenn dies nicht ohne genauere Prüfung geschehen wird.
Schauen wir jetzt einmal etwas genauer an, wie die Wertvorstellungen von Amazon die Strategie des Unternehmens geprägt haben, um es zu einem der revolutionärsten und einflussreichsten Einzelhandelsunternehmen des 21. Jahrhunderts werden zu lassen.
„Wir sind ein Pionierunternehmen. Es ist unsere Aufgabe, kühne Wetten einzugehen, und wir schöpfen unsere Energie daraus, für den Kunden innovativ zu sein. Erfolg misst sich am Möglichen, nicht am Wahrscheinlichen.“
AMAZON, 20215
Die meisten Einzelhändler würden sich selbst als innovativ, kundenorientiert und ergebnisorientiert bezeichnen. Der Unterschied zu Amazon ist, dass es auf Amazon wirklich zutrifft.
Es mag mit Büchern angefangen haben, aber seit mehr als einem Jahrzehnt besteht Amazons kühne Mission darin, das „kundenorientierteste Unternehmen der Welt“ zu werden – Punkt. Diesem Ziel ist Amazon bis heute treu geblieben, indem sichergestellt wird, dass jede getroffene Entscheidung letztlich einen Mehrwert für den Kunden darstellt. Das Ziel des Einzelhandels ist schließlich der Dienst am Kunden.
„Wenn Sie wissen wollen, was uns abhebt, dann ist es dies: Wir sind wirklich kundenorientiert, wir denken wirklich langfristig und wir erfinden wirklich gerne Neues. Die meisten Unternehmen tun das nicht.“
JEFF BEZOS, AMAZON-GRÜNDER UND EXECUTIVE CHAIRMAN VON AMAZON6
Amazon ist eindeutig nicht der erste Einzelhändler der Welt, der zu hundert Prozent kundenorientiert ist. Man könnte sogar behaupten, dass Amazon vom verstorbenen Sam Walton inspiriert wurde, dem Gründer von Walmart, der das Mantra „Der Kunde ist König“ wirklich verinnerlicht hatte und einmal sagte: „Es gibt nur einen Chef. Den Kunden. Und er kann jeden im Unternehmen entlassen, vom Vorstandsvorsitzenden an abwärts, indem er sein Geld einfach woanders ausgibt.“7
Was Amazon jedoch auszeichnet, ist seine unablässige Unzufriedenheit mit dem Status quo. Das Unternehmen ist wirklich zu hundert Prozent am Kundenerlebnis orientiert. Es versucht ständig, den Dienst am Kunden zu verbessern und Konflikte im Gesamterlebnis auszumerzen. Wenn Einzelhändler von Innovation sprechen, meinen sie meist Dinge wie Pop-up-Stores und digitale Anzeigen. Bei Amazon sind es Unterwasser-Lagerhäuser und Roboter-Postboten.
In einem früheren Brief an die Aktionäre schrieb Jeff Bezos:
Ein kundenorientierter Ansatz hat viele Vorteile, aber hier ist der größte: Die Kunden sind immer höchst unzufrieden, selbst wenn sie zufrieden erscheinen und das Geschäft gut läuft. Auch wenn sie es noch nicht wissen, wollen die Kunden etwas Besseres, und wenn Sie die Kunden glücklich machen möchten, werden Sie dafür etwas Neues erfinden müssen.8
Bezos weist darauf hin, dass Amazon niemals darum gebeten wurde, das Prime-Mitgliedschaftsprogramm zu entwickeln, „aber es hat sich herausgestellt, dass die Kunden es wollten“.9 Amazon hat die Lösung, bevor der Kundenbedarf überhaupt besteht.
In einem Exklusivinterview mit den Autorinnen betonte John Boumphrey, Chef von Amazon UK, die Bedeutung der Aspekte Sortiment, Preis und Komfort. „Sie werden niemals einen Kunden sagen hören: ‚Ich wünschte, es gäbe weniger Auswahlmöglichkeiten. Ich wünschte, die Preise wären ein bisschen höher. Ich wünschte, die Lieferungen dauerten ein bisschen länger.‘ Einer der Gründe, warum der Einzelhandel so spannend ist, liegt in seiner unglaublichen Dynamik. Was in einem Jahr innovativ ist, wird in den kommenden Jahren zur neuen Normalität.“
Amazon gibt Milliarden US-Dollar für Forschung und Entwicklung aus, möglicherweise mehr als jedes andere Unternehmen der Welt.10 Trotz hoher F&E-Ausgaben betrachtet Amazon den gezielten Einsatz von Ressourcen als zentrales Führungsprinzip, da es dazu beiträgt, Einfallsreichtum, finanzielle Unabhängigkeit und Innovation zu fördern.
Der gezielte Einsatz von Ressourcen ist eine gemeinsame Eigenschaft der erfolgreichsten Einzelhändler der Welt. In der Anfangszeit verwendete Amazon bekanntermaßen Türen als Schreibtische. Walmart heißt heute so, weil dieser Name nur sieben Buchstaben hatte, kürzer war als die Alternativvorschläge und es somit billiger war, die Neonleuchten mit dem Firmenschriftzug anzubringen und zu betreiben. Inzwischen heißt es, dass die Führungskräfte des größten spanischen Einzelhändlers Mercadona eine 1-Eurocent-Münze in der Tasche tragen, die sie daran erinnern soll, Kosten für die Kunden einzusparen.11
Auch Amazon wird nur dann Geld ausgeben, wenn es einen klaren Nutzen für den Kunden gibt. „Jeff würde nicht im Traum daran denken, einen Pixel, einen Button, eine Schaltfläche beim Bezahlvorgang oder irgendetwas anderes auf der Website zu verändern, wenn man ihm nicht erklärt, was das für den Kunden bedeutet“, sagt Brian McBride, ehemaliger Chef von Amazon UK. „Wenn der Kunde nichts davon hat, warum sollten wir es dann tun?“12
1Hundert Prozent kundenorientiert
2Verantwortung übernehmen
3Erfinden und vereinfachen
4Die richtige Entscheidung treffen
5Neugierig bleiben und nie aufhören, zu lernen
6Die besten Mitarbeiter einstellen und weiterentwickeln
7Immer höchste Maßstäbe anlegen
8In großen Dimensionen denken
9Aktiv handeln
10Gezielter Einsatz von Ressourcen
11Vertrauen aufbauen und verdienen
12Dingen auf den Grund gehen
13Rückgrat zeigen, eigene Meinungen vertreten und getroffene Entscheidungen mittragen
14Ergebnisse liefern
Die „Es ist immer Tag 1“-Philosophie ermöglicht es Amazon, trotz seiner Größe seine unternehmerische Agilität zu bewahren. Diese Start-up-Mentalität bedeutet nicht nur, dass Amazon sich an den Bedürfnissen der Kunden orientiert und diese vorwegnimmt, sondern auch, dass es sich auf Ergebnisse statt auf Prozesse konzentriert, schnell qualitativ hochwertige Entscheidungen trifft und externe Trends aufgreift. Gibt es jemals einen Tag 2? Nicht laut Bezos. „Tag 2 ist Stillstand. Gefolgt von Bedeutungslosigkeit. Gefolgt von einem quälenden, schmerzhaften Untergang. Gefolgt vom Tod. Und deshalb ist es immer Tag 1.“13
Wie also schafft Amazon eine Unternehmenskultur, die nach ständiger Verbesserung strebt? Die von Agilität lebt? Wie kann sie in großem Stil innovativ sein?
Ein Beispiel dafür ist der Ansatz des „Rückwärtsarbeitens“. Amazon war schon immer ein lautstarker Kritiker von PowerPoint-Folien (einfach für den Vortragenden, schwierig für das Publikum). Stattdessen werden die Sitzungen anhand von sechsseitigen Berichten strukturiert, die jeder zu Beginn einer Sitzung still liest. Durch diese Memos, so Bezos, wird alles wesentlich nachvollziehbarer, insbesondere wenn es um die Entwicklung neuer Produkte geht. Sie sind so gestaltet, dass sie sich wie eine Pressemitteilung lesen, die das Endprodukt ankündigt, während dem Kunden die Vorteile in für Laien verständlicher Sprache vermittelt werden – oder wie der ehemalige Amazon-Direktor Ian McAllister es nennt: „Oprah-Sprache “, nicht „Fachchinesisch.“
„Wenn Sie rückwärts arbeiten, sind Sie dafür verantwortlich, wie es für den Kunden funktionieren wird.“
PAUL MISENER, AMAZON-VIZEPRÄSIDENT FÜR GLOBALE INNOVATIONSPOLITIK UND KOMMUNIKATION14
ABBILDUNG 2.3: Langfristige Strategie: Amazons Umsatz und Gewinn im Vergleich
QUELLE: eigene Recherche; Amazon 10-Ks
ABBILDUNG 2.4 Sind die Probleme mit der Generierung von Gewinnen bei Amazon endlich vorbei?
QUELLE: eigene Recherche; Amazon 10-Ks
Diese Memos „konzentrieren sich auf das Kundenproblem, wie aktuelle Lösungen (interne oder externe) fehlschlagen und wie das neue Produkt bestehende Lösungen über den Haufen wirft“. Wenn die Vorteile nicht überzeugen, arbeitet der Produktmanager weiter an dem internen Dokument. „Die Überarbeitung einer Pressemitteilung ist wesentlich kostengünstiger als die Überarbeitung des Produkts selbst (und geht schneller!)“, schreibt McAllister in seinem Blog.15
Das Ergebnis? Schnelle Innovation. Ein gutes Beispiel dafür ist Prime Now, wie Amazons ein- bis zweistündiger Lieferservice ursprünglich bezeichnet wurde, der von der Produktidee zur Markteinführung nur 111 Tage benötigte.16 Damit unterscheidet sich Amazon von anderen Anbietern: Durch seinen einzigartigen Ansatz bei der Produktentwicklung kann es die Mentalität eines Start-ups mit der Größe und den Ressourcen eines Großunternehmens verbinden.
Amazon schätzt Neugierde und Risikobereitschaft. Aber nicht alles, was Amazon anfasst, wird zu Gold. Bezos selbst hat zugegeben, dass Amazon „Milliarden Dollar teure Fehler“ gemacht hat.17 Der größte Flop war wohl das Fire Phone, das den iPhones und Android-Smartphones nicht das Wasser reichen konnte und schließlich zu einer Abschreibung in Höhe von 170 Millionen US-Dollar führte. Andere kurzlebige Experimente waren: die Reise-Website Amazon Destinations, die Groupon-ähnliche Deal-Website Amazon Local und Amazon Wallet, eine App, mit der Kunden Geschenk- und Kundenkarten auf ihrem Telefon speichern konnten.
„Viele Misserfolge sind von Menschen hingelegt worden, die nicht erkannt haben, wie nahe sie dem Erfolg waren, als sie aufgaben.“
THOMAS EDISON
Innovation und Misserfolg sind laut Bezos „unzertrennliche Zwillinge“. Es ist die Akzeptanz von Fehlschlägen als Lernerfahrung, die Amazon von anderen Unternehmen unterscheidet. „Jedes einzelne wichtige Projekt, das wir angegangen sind, hat viel Risikobereitschaft, Ausdauer und Mut erfordert; einige davon haben sich bewährt, die meisten nicht“, sagt Bezos. Um es klar zu sagen: Diejenigen, die sich bewährt haben – zum Beispiel Prime, AWS und Alexa – waren kolossale Erfolge für das Unternehmen.
„Wir werden für eine lange Zeit unrentabel sein. Und das ist unsere Strategie.“
JEFF BEZOS, 199718
Die Wall Street ist von Natur aus kurzfristig orientiert, sodass sich die meisten Aktiengesellschaften auf die Maximierung der Rentabilität und der Aktienperformance von Quartal zu Quartal konzentrieren. Amazon macht genau das Gegenteil.
Seit dem Tag 1 hat Amazon dem Wachstum Vorrang vor der Rentabilität eingeräumt und misst seinen eigenen Erfolg am Kunden- und Umsatzwachstum, am Grad der Wiederkaufrate und am Markenwert. Der Plan war immer die Marktführerschaft, die wiederum das Wirtschaftsmodell von Amazon stärken würde.
Es sieht so aus, als ob dieser Zeitpunkt endlich gekommen wäre. Amazon hat einen steinigen Weg hinter sich, wenn es ums Geldverdienen geht. Aber im Jahr 2020 meldete der Einzelhändler einen Nettogewinn von 21,3 Milliarden US-Dollar und ist damit eines der profitabelsten Unternehmen der Welt (siehe Abbildungen 2.3 und 2.4).19 Und das war kein pandemischer Ausrutscher: Amazon hatte in den Jahren vor der Coronakrise seine Rentabilität stetig verbessert. Das Schwungrad-Konzept ist nicht auf kurzfristigen Erfolg ausgelegt, sondern auf den Aufbau langfristiger Kundenbeziehungen. Jahrzehntelange Bemühungen um die Verbesserung des Kundenerlebnisses in Verbindung mit Investitionen in wachstums- und margenstarke Geschäftsbereiche haben endlich Früchte getragen.
Dabei darf nicht übersehen werden, wie wichtig die konsequente Strategie von Amazon ist: Der allererste Aktionärsbrief von 1997 liest sich, als wäre er erst gestern geschrieben worden. Bezos hat die Zukunft nicht vorhergesagt, er hat sie geschaffen. Vor mehr als zwei Jahrzehnten stellte er seine Vision dar, sich unermüdlich auf die Kunden zu konzentrieren, um sowohl für die Kunden als auch für die Aktionäre langfristigen Mehrwert zu schaffen. Man darf nicht vergessen, dass Amazon 1997 ein Online-Buchhändler war, nicht vergleichbar mit dem Einzelhandelsriesen, der es heute ist; aber dennoch war seine Strategie klar.
Damit Bezos’ Plan funktionierte, musste er langfristig aktiv mit von der Partie sein. Er stand die nachfolgenden 24 Jahre an der Spitze des Unternehmens, was entscheidend dafür war, dass Amazon nicht von seiner ursprünglichen Vision abwich.
Erst 2021 übergab Bezos schließlich die Leitung an den ehemaligen AWS-Chef Andy Jassy. Bezos ist jedoch nicht weit vom aktiven Geschäft entfernt – er wählte einen ähnlichen Weg wie Bill Gates bei Microsoft und Eric Schmidt bei Google, indem er zum geschäftsführenden Vorsitzenden des Verwaltungsrats wurde.
Der Rückzug nach einem Vierteljahrhundert hat es Bezos ermöglicht, seinen anderen Interessen nachzugehen – von Zeitungen bis hin zur Weltraumerkundung. Der Gründer von Amazon ist zwar nicht mehr in das Tagesgeschäft eingebunden, hat aber immer noch großen Einfluss. Nicht zu vergessen, dass es sich hier um einen der reichsten Menschen der Welt handelt, der einen Großteil seines Vermögens in Amazon-Aktien angelegt hat. Wie Finanzvorstand Brian Olsavsky es formuliert: „Jeff geht nicht wirklich woandershin. Es ist eher eine Umstrukturierung in dem Sinne, wer was tut.“20
„Es brauchte mehr als 50 Meetings, um eine Million US-Dollar von Investoren aufzutreiben. Und während all dieser Meetings lautete die am häufigsten gestellte Frage: ‚Was ist das Internet?‘“
JEFF BEZOS, 202021
Bezos’ Überzeugungskraft, sein Durchhaltevermögen und sein Glaube an das Geschäftsmodell Amazon sollten sich letztendlich auszahlen. Aber in der Anfangszeit waren ein dickes Fell und außerordentliche Einsatzbereitschaft erforderlich, um die Kritiker abzuschütteln und die Ängste der Aktionäre zu zerstreuen. Viele Menschen wetteten in den Anfängen des Unternehmens gegen Amazon. „Damals gab es kein blindes Vertrauen, dass jede Idee von Jeff ein Erfolg würde“, so der ehemalige Geschäftsführer von Amazon, Vijay Ravindran.22 Bis zum Jahr 2000, dem Jahr, in dem die Dotcom-Blase platzte und Amazon bereits sechs Jahre am Markt war, hatte das Vertriebsunternehmen noch keinen Gewinn ausgewiesen und machte Millionen US-Dollar Verlust. Analysten der Wall Street waren überzeugt, dass Bezos ein Luftschloss baute:23 Ravi Suria, ein Analyst von Lehman Brothers, prophezeite, dass Amazon innerhalb weniger Monate kein Geld mehr haben würde, wenn es nicht eine weitere „Finanzierung aus seinem magischen Hut zaubert“.24 Und Suria war nicht der Einzige. Im selben Jahr veröffentlichte die Finanzzeitschrift Barron’s eine Liste mit 51 Internetunternehmen, die bis Ende 2000 voraussichtlich in Konkurs gehen würden. Auf der sogenannten „Burn Rate 51“-Liste fanden sich heute schon vergessene Namen wie CDNow und Infonautics – und eben Amazon.
Schlagzeilen wie „Kann Amazon überleben?“25 und „Amazon: Schneeballsystem oder Walmart des Internets?“26 zeigten die Zweifel an einer Zukunft für Amazon auf. Man erwartete, dass Amazon zu den weiteren Opfern der Dotcom-Blase zählen würde.
Trotz allgemeiner Skepsis und schieren Erstaunens über das unkonventionelle Geschäftsmodell konnte Amazon mit schlagenden Argumenten genügend Aktionäre überzeugen. Bezos bat um Geduld, und überraschenderweise stimmten sie zu. „Ich denke, es kommt auf in sich schlüssige Inhalte und auf eine in sich schlüssige Strategie an, von der man nicht abweicht, wenn die Aktie fällt oder steigt“, so Bill Miller, Chief Investment Officer bei Miller Value Partners.27
Der ehemalige Amazon-Manager Brittain Ladd, geht davon aus, dass Unternehmen sich entweder in einem endlichen oder einem unendlichen Spiel befinden. Bei einem endlichen Spiel geht ein Unternehmen davon aus, dass es die Konkurrenz besiegen kann. Es hält sich an vereinbarte Regeln und klar definierte Vorgehensweisen, um zum Ende des Spiels zu kommen.
Im Gespräch mit den Autorinnen sagte Ladd:
Amazon hingegen betreibt ein unendliches Spiel, bei dem es darum geht, die Konkurrenz zu überleben. Amazon weiß, dass Wettbewerber kommen und gehen. Amazon weiß, dass man nicht überall der Beste sein kann. Amazon hat sich für die Strategie entschieden, sich darauf zu konzentrieren, die Konkurrenz zu überleben, indem es ein Ökosystem schafft, das die Bedürfnisse der Verbraucher mit einer ständig wachsenden Palette von Produkten, Dienstleistungen und Technik perfekt erfüllt und den entsprechenden Service bereitstellt.
Amazon spielt eindeutig nach seinen eigenen Regeln. Ohne Bezos’ Vision hätte das Unternehmen niemals das Vertrauen der Investorengemeinschaft gewinnen können. Ohne das Vertrauen seiner Aktionäre wäre es nicht in der Lage gewesen, in die notwendige Infrastruktur für das Kerngeschäft des E-Commerce zu investieren oder weit über die Grenzen des Einzelhandels hinweg innovativ zu sein und dem Schwungrad die entscheidenden Speichen hinzuzufügen. Es gäbe kein AWS, kein Prime, keine Alexa. Amazon wäre nicht Amazon.
Ist das fair? Scott Galloway, Professor für Marketing an der New York University, sieht das anders. Er erklärt: „Es hat Zugang zu billigerem Kapital als jedes andere Unternehmen in der modernen Geschichte. Amazon kann sich heute Geld zu günstigeren Konditionen leihen als China. Infolgedessen kann es mehr Sachen gegen die Wand fahren als jede andere Firma.“28
Wie kann ein Wettbewerber mit einem Unternehmen mithalten, das keinen Gewinn machen muss? Ein Unternehmen, dessen wichtigste Erwartung seiner Investoren darin besteht, immer wieder Geld in neue Wachstumsbereiche zu stecken? Ein Unternehmen, das keine Skrupel hat, diejenigen zu vernichten, die sich ihm in den Weg stellen?
„Wenn man ein Unternehmen mit niedrigen Gewinnspannen betreibt, kann man einen sehr nachhaltigen wirtschaftlichen Burggraben um das Unternehmen herum bauen“, sagt Mark Mahaney, Managing Director bei RBC Capital, der sich seit 1998 mit Internet-Aktien beschäftigt. „Sehr wenige Unternehmen wollen in das Kerngeschäft von Amazon einsteigen und bei einer Marge von einem oder zwei Prozent konkurrieren.“29
Und das ist nur das Einzelhandelsgeschäft. Viele der „Nicht-Kerngeschäfte“ von Amazon sind tatsächlich nicht profitabel. Die Prime-Abonnementgebühren mögen jetzt zu einem einträglichen Plus beitragen, aber decken sie wirklich die Versandkosten der getätigten Einkäufe für ein ganzes Jahr? Unwahrscheinlich, besonders wenn man all die anderen damit verbundenen Vergünstigungen berücksichtigt.30 Inzwischen werden Amazon-Geräte wie Kindle und Echo31 in der Regel zum Selbstkostenpreis oder mit Verlust verkauft. Bezos hat erklärt, dass die Echo-Lautsprecher nicht mit Verlust verkauft werden, wenn sie zum regulären Preis abgegeben werden32 – aber wie oft ist das der Fall? Sieht man sich den Amazon-Preisverlauf auf Camelcamelcamel.com an, sind Geräte wie der Echo Dot und der Echo Show meistens im Angebot zu haben.
Amazon will wie Google so viele Kunden wie möglich an sich binden und dann mit den über das Gerät33 gekauften Inhalten Geld verdienen (sowie wertvolle Daten über Kaufgewohnheiten gewinnen). In Anbetracht der Tatsache, dass Echo-Besitzer 66 Prozent mehr ausgeben als der durchschnittliche Amazon-Kunde, ist Amazon natürlich sehr daran gelegen, den Verkauf34 seiner Geräte zu subventionieren.
Man kann nicht über die Wettbewerbsvorteile von Amazon sprechen, ohne die Steuern zu erwähnen. Amazon war eines der ersten Unternehmen, das einen Marktwert von einer Billion US-Dollar erreichte, und ist heute, gemessen am Umsatz, eines der größten Handelsunternehmen der Welt.35
Aber Unternehmen zahlen keine Steuern auf ihre Einnahmen, sondern auf ihre Gewinne. Durch die unkonventionelle Strategie des Gewinnverzichts konnte Amazon die Steuerlast minimieren, manchmal fielen sogar überhaupt keine Steuern an. Nachdem Amazon einige Jahre lang keine Bundessteuern gezahlt hatte, was auf verschiedene Steuergutschriften und Steuererleichterungen bei Aktienoptionen für Führungskräfte zurückzuführen war, zahlt das Unternehmen seit 2019 in den USA wieder Bundeseinkommenssteuern.36
Als Onlinehändler profitierte Amazon in der Vergangenheit – und nicht unumstritten – von einem Urteil des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 1992 (Quill Corp. gegen North Dakota), das die Bundesstaaten daran hinderte, E-Commerce-Unternehmen zu verpflichten, Verkaufssteuer zu erheben, sofern diese Händler in dem betreffenden Bundesstaat nicht ansässig waren (zum Beispiel in Form eines Büros oder Lagers). Das war einer der Gründe, warum sich Bezos anfangs für den Bundesstaat Washington als Amazons Hauptsitz interessierte: Der Bundesstaat hat wenige Einwohner, und seine Hauptstadt Seattle entwickelte sich zu einem Technologiezentrum. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Bezos’ erste Wahl ein Indianerreservat in der Nähe von San Francisco gewesen sein soll, das großzügige Steuervorteile geboten hätte, wenn nicht der Staat eingeschritten wäre.
In der Anfangszeit errichtete Amazon seine Lagerhäuser in dünn besiedelten Staaten wie Nevada und Kansas, um in nahe gelegene bevölkerungsreiche Staaten wie Kalifornien und Texas liefern zu können, ohne dabei Verkaufssteuer zu erheben.37 Die Möglichkeit, steuerfrei zu verkaufen, brachte Amazon und anderen Onlinehändlern jahrelang einen gewaltigen Vorsprung gegenüber dem stationären Handel. Als Amazon jedoch weiter expandierte und sich auf eine immer schnellere Lieferung konzentrierte, hatte das Unternehmen allerdings keine andere Wahl, als weitere Logistikzentren in unmittelbarer Nähe zu seinen Kunden zu errichten. „Als diese Strategie nicht mehr haltbar war und Amazon mehr Lagerhäuser in mehr Staaten errichten wollte, um der durch Prime möglichen wachsenden Nachfrage nach der 2-Tage-Lieferung gerecht zu werden, verhandelte das Unternehmen oft über Steuerverzug, -aufschub oder -reduzierung als Bedingung für ihre Erhebung“38, schrieb Jeremy Bowman von The Motley Fool.
Viele Staaten schlossen sich daraufhin einer Vereinbarung an, die es den Einzelhändlern ermöglichte, die Verkaufssteuer freiwillig zu erheben. Bis 2017 erhob Amazon die Verkaufssteuer in allen 45 Bundesstaaten, in denen es eine landesweite Verkaufssteuer gab,39 was bedeutete, dass im darauffolgenden Jahr, als der Oberste Gerichtshof das Urteil von 1992 aufhob, die Auswirkungen auf Amazon relativ gering waren. Es bedeutete jedoch auch, dass die Drittanbieter bei Amazon beginnen mussten, Verkaufssteuer auf ihre Produkte zu erheben (zuvor hatte Amazon nur Steuern auf eigene Artikel erhoben).40
„Amazon nutzt verschiedene Gesetzeslücken, sodass es keinen einzigen Penny an Bundeseinkommenssteuer bezahlt. Ich will es nicht bestrafen, aber das ist einfach falsch.“
US-PRÄSIDENT JOE BIDEN, 202141
Als Amazon auf der Suche nach einem zweiten Hauptsitz war, bat das Unternehmen Städte und Regionen in ganz Nordamerika um Angebote und versprach Investitionen in Höhe von fünf Milliarden Dollar und 50.000 neue Arbeitsplätze innerhalb der nächsten zehn Jahre. Es gingen mehr als 200 Angebote ein, die von New Jerseys Steueranreizen in Höhe von sieben Milliarden Dollar bis hin zu Chicagos Versprechen reichten, dass die Mitarbeiter einen Teil ihres Gehalts als „Einkommensteuer“ an Amazon zurückzahlen müssten.
In Europa war die Steuerstruktur von Amazon ebenso umstritten. Nachdem es über ein Jahrzehnt lang seine Verkäufe über Unternehmen in Luxemburg abgewickelt hatte, begann das Unternehmen 2015 damit, in Großbritannien, Deutschland, Spanien und Italien zu kaufen und Steuern zu zahlen. Die EU hat Amazon inzwischen zur Rückzahlung von 250 Millionen Euro Steuern aufgefordert, die das Unternehmen aufgrund einer unfairen Steuererleichterung in Luxemburg erhalten hatte, und hat eine dreiprozentige Digitalsteuer auf die Einnahmen – statt auf die Gewinne – großer Technologieunternehmen vorgeschlagen. In der Zwischenzeit nehmen es einzelne Staaten selbst in die Hand, Veränderungen auf Länderebene herbeizuführen: Bis zum Jahr 2021 hatte etwa die Hälfte aller europäischen OECD-Länder eine Steuer auf digitale Dienstleistungen entweder angekündigt, vorgeschlagen oder eingeführt.42
Im Vereinigten Königreich profitierten Amazon und andere Onlinehändler von einer Anpassung der Unternehmenssteuern im Jahr 2017 unverhältnismäßig stark. Die von vielen als archaisch empfundenen Steuersätze wurden so berechnet, dass sie den Anstieg der Immobilienpreise nach der Großen Rezession berücksichtigten. Da sich die meisten Amazon-Lager außerhalb von Städten befinden, wurde deren Wert (und damit auch die Unternehmensabgabe) geringer angesetzt, während er bei vielen Einzelhändlern in den Einkaufsstraßen stieg – in einigen Fällen um bis zu 400 Prozent. Ein weiterer massiver Wettbewerbsvorteil für Amazon.
ABBILDUNG 2.5: Wann wird Amazon nicht mehr als Einzelhändler bezeichnet? Nettoumsatz nach Geschäftsbereichen
Aber Amazons Steuerstreit ist gerade erst in Gang gekommen. Im Jahr 2021 schlug die Biden-Regierung vor, den Körperschaftsteuersatz in den USA auf 28 Prozent anzuheben (dies wurde dann in eine Untergrenze von 15 Prozent geändert, um die Unterstützung des Kongresses zu gewinnen) und das Steuergesetz zu ändern, um Gesetzeslücken zu schließen, die es Unternehmen ermöglichen, Gewinne ins Ausland zu verlagern. Mindestens 55 der größten amerikanischen Unternehmen zahlten im Jahr 2020 keine Bundessteuern, obwohl sie zusammengerechnet 40,5 Milliarden US-Dollar an Vorsteuergewinnen erzielten.43 Obwohl es für Unternehmen völlig legal ist, ihre Geschäfte in verschiedenen Ländern zu tätigen, sind viele Regierungen und zunehmend auch die Verbraucher der Meinung, dass Unternehmen wie Amazon moralisch verpflichtet sind, mehr Steuern zu zahlen, insbesondere vor dem Hintergrund der Pandemie.
Im Jahr 2021 unterzeichneten die G-7-Staaten – Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten – ein wegweisendes Abkommen zur Reform des globalen Steuersystems, um dem heutigen digitalen Zeitalter besser gerecht zu werden. Das historische G-7-Steuerabkommen legt einen weltweiten Mindestkörperschaftsteuersatz von 15 Prozent fest und verlangt von multinationalen Unternehmen, dass sie Steuern auf die Gewinne dort zahlen, wo sie erwirtschaftet wurden, und sich nicht an dem Land ausrichten, wo das Unternehmen steuerlich ansässig ist. Das bedeutet, dass Unternehmen wie Amazon in jedem Land besteuert werden könnten, in dem sie mehr als zehn Prozent Gewinn aus den Verkaufserlösen erzielen. Obwohl Amazons Handelsmargen durchweg unter diesem Schwellenwert liegen, erzielt sein Cloud-Computing-Geschäft, Amazon Web Services (AWS), durchweg eine operative Marge im Bereich von 25 bis 30 Prozent. Eines steht jedenfalls fest: Die Tage der Steuervermeidung der Big-Tech-Unternehmen gehen dem Ende entgegen.
ABBILDUNG 2.6: Was ist die Cashcow? Amazons operative Marge nach Segmenten
Steuerschlupflöcher und der einzigartige Zugang zu billigem Kapital haben Amazon in der Vergangenheit einen dauerhaften Wettbewerbsvorteil gegenüber seinen stationären Konkurrenten verschafft. Wie bereits erwähnt, konnte Amazon so schneller in neue Wachstumsbereiche investieren, was zu den drei Säulen des Unternehmens führte: Marketplace, Prime und AWS.
Diese verschiedenen Einnahmequellen haben entscheidend dazu beigetragen, Amazons Schwungrad zu beschleunigen. Mit Ausnahme von AWS (was vielleicht entschuldbar ist, da es der wichtigste Gewinnmotor von Amazon ist) haben diese Geschäftsfelder einen direkten Mehrwert für die Kunden geschaffen. Darüber hinaus gibt es sie überwiegend nur bei Amazon.
Als einer der ersten Einzelhändler, der seine Website für Drittanbieter geöffnet hat, konnte Amazon seinen Traum vom „größten Angebot der Welt“ verwirklichen. Die Kunden profitieren davon, dass sie auf Millionen von Produkten in Dutzenden von Kategorien zugreifen können, während Amazon sowohl die Lagerkosten als auch das Risiko reduziert. Durch Marketplace ist Amazon zur ersten Anlaufstelle selbst für die obskursten Produkte geworden – von Weingläsern aus Silikon bis hin zu Kratz-Plattenspielern für Katzen –, was in Verbindung mit der Prime-Lieferung ein sehr überzeugendes Angebot darstellt.
Marketplace hat sich auch deshalb als fruchtbare Einnahmequelle erwiesen, weil Amazon einen Anteil von etwa 15 Prozent des Warenpreises erhält.44 Zwischen 2018 und 2020 verdoppelten sich die Einnahmen aus Verkäufen durch Drittanbieter fast auf 81 Milliarden US-Dollar. Damit ist dies Amazons größte Einnahmequelle nach den Verkaufserlösen von Einzelhandelsprodukten und noch vor AWS.45
Immer mehr Marketplace-Verkäufer entscheiden sich nicht nur für den Verkauf über Amazon, sondern möchten ihre Produkte auch bei Amazon lagern sowie bei Bestelleingang darüber Zahlungen abwickeln und den Artikel kommissionieren, verpacken und an die Kunden liefern lassen. Dieser Service mit der Bezeichnung Fulfillment by Amazon (FBA) beinhaltet, dass diese Marktplatz-Produkte für den schnellen Prime-Versand infrage kommen und außerdem eine größere Chance haben, die Buy Box zu gewinnen (sodass das Produkt als erstes in der Schaltfläche „In den Einkaufswagen“ auf der Produktdetailseite erscheint). FBA ermöglicht Amazon eine bessere Nutzung überschüssiger Kapazitäten bei gleichzeitiger Erhöhung des Versandvolumens und damit mehr Einfluss auf Lieferunterunternehmen wie UPS und FedEx. Aber das Beste an FBA ist vielleicht, dass es Jahrzehnte dauern würde, bis ein anderer Händler es kopieren könnte.
Das Mitgliedschaftsprogramm von Amazon hat sich als das verbindende Element seines Ökosystems erwiesen. Der Tech-Gigant hat Prime geschickt von einem Service, der sich ursprünglich auf Liefervorteile konzentrierte, zu einem allumfassenden Mitgliedschaftsprogramm entwickelt, über das Angebote zum Streaming von digitalen Inhalten, zur Ausleihe von Büchern und zur Speicherung von Fotos erhältlich sind. Das Ergebnis? Die Kunden geben mehr Geld aus, Kundenfrequenz und Kundenbindung werden gesteigert. In den kommenden Kapiteln wird dargestellt, dass Prime heute viel mehr als ein Treueprogramm ist – es gehört inzwischen zum Alltag.
Amazons Cloud-Speicherdienst kommt vielleicht nicht direkt den Kunden zugute, aber er hat sich als Amazons Weißer Ritter erwiesen (und daher ist es keine Überraschung, dass die Person, die dieses Geschäft aufgebaut hat, die Nachfolge von Bezos antreten wird).
Die Betriebsmargen liegen durchweg im zweistelligen Bereich im Vergleich zu den dürftigen drei bis fünf Prozent, die oft aus dem Einzelhandel kommen (siehe Abbildung 2.6). Im Jahr 2020 war AWS für etwa zwei Drittel des gesamten operativen Gewinns von Amazon verantwortlich. In manchen Jahren waren es sogar 100 Prozent.46 Erinnern Sie sich an den Hinweis von Brad Stone, dass man nur einem beliebigen Teil des Schwungrads etwas zuführen muss, um es zu beschleunigen? Ein einziger profitabler Geschäftsbereich innerhalb von Amazon bedeutet größere Chancen, in den Kernbereich des Einzelhandels zu reinvestieren.
„Als wir anfingen, bezeichneten viele AWS als eine gewagte – und ungewöhnliche – Wette. ‚Was hat das mit dem Verkauf von Büchern zu tun?‘ Wir hätten auch getreu dem Motto ‚Schuster, bleib bei deinem Leisten‘ handeln können.
Ich bin froh, dass wir es nicht getan haben.“
JEFF BEZOS47
AWS ist der eindeutige Marktführer im Public-Cloud-Geschäft und unterstützt Hunderttausende von Unternehmen in fast 200 Ländern auf der ganzen Welt.48 So kann Amazon, wie es der Analyst Ben Thompson ausdrückt, „von allen wirtschaftlichen Aktivitäten profitieren“.49 Es überrascht nicht, dass große Konkurrenten wie Walmart und Kroger AWS meiden (sehr zum Vorteil anderer Cloud-Anbieter wie Google und Microsoft), aber Amazon bietet immer noch Cloud-Computing-Dienste für eine Reihe von Einzelhandelsmarken an, zu denen ab 2021 Interflora, Under Armour und Ocado gehören.
AWS mag bei Amazon der Ausreißer in einer bereits vielseitigen und breit gefächerten Mischung von Geschäftsfeldern sein, aber es weist immer noch alle traditionellen Amazon-Merkmale auf: 100 Prozent kundenorientiert, erfinderisch, experimentierfreudig und langfristig orientiert.
Wie zu Beginn des Kapitels festgestellt, hebt sich Amazon durch seine technologischen Wurzeln und seine Leidenschaft für Erfindungen deutlich von der Konkurrenz ab. Tatsächlich erinnert man sich nicht mehr an viele der früheren von Amazon entwickelten Neuerungen, weil sie heute einfach zur Normalität geworden sind. Erinnern Sie sich an die späten 1990er-Jahre: Onlineshopping war damals ziemlich mühsam. Amazon hat den gesamten Vorgang durch die Einführung von 1-Click-Shopping, personalisierte Produktempfehlungen und nutzergenerierte Bewertungen und Beurteilungen vereinfacht.
„Innovation ist die Wurzel unseres Erfolgs. Wir haben verrückte Dinge zusammengefügt und sie dann zu etwas Normalem werden lassen.“
JEFF BEZOS, 202150
Die Lieferung war unterdessen nicht immer schnell und kostenlos. Prime hat die Kundenerwartungen erheblich gesteigert, sodass dem Wettbewerb kaum eine andere Wahl blieb, als in ihre eigene Logistik zu investieren. Mit der Einführung von Amazon Lockers im Jahr 2011 hat Amazon eines der größten Hemmnisse beim Onlineshopping beseitigt: verpasste Zustellung. Heute bietet praktisch jeder größere westliche Einzelhändler Click & Collect an. „Die einzige wirkliche Konstante im Einzelhandel ist der Wunsch der Kunden nach niedrigeren Preisen, besserer Auswahl und Komfort“, sagte Jeff Bezos im Jahr 2020.51
Bevor Amazon den Kindle vorstellte, klangen E-Reader wie Zukunftsmusik. Obwohl die Verkaufszahlen in diesem Bereich zurückgegangen sind (was man auf die Bildschirmmüdigkeit schieben kann), war die Möglichkeit, Hunderte von Büchern auf einem einzigen Gerät zu speichern, bei der Markteinführung ein entscheidender Vorteil.
„Wir mögen zwar ein Einzelhändler sein, aber im Herzen sind wir ein Technologieunternehmen. Als Jeff Amazon gründete, tat er das nicht, um [einen] Buchladen zu eröffnen.“
WERNER VOGELS, TECHNIKVORSTAND (CTO) VON AMAZON52
Amazon ist der ultimative Zerstörer. Das waren jetzt nur ein paar Dinge, die die Einkaufs- und Konsumgewohnheiten revolutioniert haben. Die meisten von Amazons Neuerungen trafen die Konkurrenz unvorbereitet, sodass sie sich in der unglücklichen Position wiederfand, auf Veränderungen zu reagieren, anstatt zu agieren. „Wir waren nicht die erste Wahl, als es mit dem Onlinehandel losging“, sagte Walmart-CEO Doug McMillon im Jahr 2021. „Natürlich versuchen wir, das zu ändern. Das muss man sich aber erst verdienen. Man muss das Warensortiment haben. Man muss den richtigen Preis haben. Man muss Service bieten. Man muss liefern, wenn geliefert werden soll.“53
Amazon hat aus seinem First-Mover-Vorteil im digitalen Bereich Kapital geschlagen, wovon vor allem eine Partei profitiert hat: der Kunde. Amazons ständige Innovationen erhöhen die Kundenerwartungen, was wiederum die Wettbewerber dazu veranlasst, ihre Leistungen zu verbessern, und letztendlich ein besseres Kauferlebnis schafft. Wie sähe die Welt aus, wenn es Amazon nicht gäbe? Kurz und knapp: Die Kunden wären viel toleranter gegenüber mittelmäßigem Service.
„Wenn man es richtig macht, ist das Neue nach ein paar Jahren zur Normalität geworden. Es wird für die Menschen langweilig. Und diese Langeweile ist das größte Kompliment, das man einem Erfinder machen kann.“
JEFF BEZOS, 202154
Die große Frage ist, welche der Vorhaben, die derzeit in Planung sind, sich bewähren und die Branche noch einmal verändern werden. Amazon war bereits ein phänomenaler Katalysator für Veränderungen in Bereichen wie Versand, Bezahlung und Sprachtechnologie und gestaltet fast im Alleingang die Zukunft des Einzelhandels in der westlichen Welt. Hier sind unsere Prognosen:
•Das Ladengeschäft ist tot – lang lebe das Ladengeschäft! Amazons wachsender Drang nach Ladengeschäften ist ein Beweis dafür, dass sich der stationäre Einzelhandel weiterentwickelt und nicht stirbt. Reiner E-Commerce ist nicht mehr genug. In dem Maße, wie die Technologie die Hindernisse zwischen dem stationären und dem digitalen Handel aufbricht, werden die Einzelhändler ohne Ladengeschäft, die bereits unter dem Druck stehen, die Kosten für Versand und Kundenakquise zu kompensieren, stark benachteiligt.
•Die Grenzen zwischen dem reinen Zweckeinkauf und dem Einkauf mit Spaßfaktor werden weiter auseinanderdriften. Verbraucher werden in Zukunft deutlich weniger Zeit mit dem Einkauf des Nötigsten verbringen. Unsere von Amazon versorgten Haushalte werden all die alltäglichen Nachbestellungen selbst erledigen, sodass die Kunden nie wieder in einen Supermarkt gehen müssen, um Bleichmittel oder Toilettenpapier zu kaufen. Stattdessen werden diese Produkte automatisch nachbestellt – der ultimative Test für Markentreue. Das Bestreben von Amazon, den lästigen Lebensmitteleinkauf abzuschaffen und ein angenehmes Einkaufserlebnis zu ermöglichen, bietet der Konkurrenz die Möglichkeit, sich auf WACD (What Amazon Can’t Do) zu konzentrieren: das, was Amazon nicht kann.
•Wer heute im Einzelhandel gewinnbringend bestehen will, muss dort punkten, wo Amazon es nicht kann, und sich daher weniger auf das Produkt als vielmehr auf Erfahrung, Kundenpflege, das gemeinsame Miteinander und neue Erkenntnisse konzentrieren. Das Ladengeschäft von morgen wird sich von einem reinen Dienstleistungsbetrieb zu einer erlebnisorientierten Verkaufsstätte entwickeln, da sich die Konkurrenz von dem zweckorientierten Onlinekauf abheben möchte. Amazon ist stark, wenn es um schnelles Einkaufen geht, aber der Spaßfaktor ist nicht sehr groß. Wir sind davon überzeugt, dass sich das Design, die Ausstattung und die Spezialisierung des Ladengeschäfts weiterentwickeln werden, um den sich ändernden Prioritäten der Verbraucher besser gerecht zu werden. Es wird nicht nur ein Ort zum Einkaufen sein, sondern man wird dort auch essen, arbeiten, spielen, Neues herausfinden, lernen und sogar Sachen mieten können.
•Amazon wird den Online-Lebensmittelhandel für alle zugänglich machen, da durch die neue Technologie Barrieren abgebaut werden können, die in den USA schon immer mit E-Commerce beim Lebensmitteleinzelhandel verbunden waren. Es werden sich weitere Unternehmen gegen Amazon verbünden, wobei Instacart, Deliveroo, Ocado und Google besonders von Amazons Ambitionen im Bereich Lebensmittel profitieren. Wenn Amazon die Kunden davon überzeugen kann, dass es damit eine zuverlässige Alternative zu den Supermärkten gibt, dann ist die letzte Hürde auf dem Weg zum „Everything Store“ (ein Geschäft, das alles verkauft) genommen. Wenn Amazon in diesem Bereich Fuß fasst, wo viel und oft gekauft wird, wird Cross-Selling einfacher und Kunden werden leichter in das breit gefächerte Ökosystem von Amazon gelockt, sodass Amazon zur Standardoption beim Einkaufen wird. Und dann wird es ungemütlich, nicht nur für die Supermärkte, sondern für den gesamten Einzelhandel: Amazon-Kunden sind in der Regel treue, lebenslange Kunden.
•Wenn Prime auch im stationären Handel vertreten sein wird, müssen die Einzelhändler ihre eigenen Treueprogramme grundlegend überdenken. Das Konzept, an der Kasse eine Plastikkarte durch ein Gerät zu ziehen und dafür Punkte zu bekommen, ist veraltet. Bei den neuen Kundenbindungsprogrammen werden die Einzelhändler die Devise „Je mehr Sie einkaufen, desto mehr verdienen Sie“ aufgeben. Punktesysteme werden der Vergangenheit angehören, da sich das umkämpfte Geschäft um die Kundenbindung verlagern wird – es geht nicht mehr darum, Geld zu sparen, sondern Zeit, Energie und Aufwand. Die Hyperpersonalisierung durch flexible Prämien in Echtzeit wird Standard werden. Es muss mehr als den reinen Kaufabschluss geben, um eine tiefe emotionale Kundenbindung aufzubauen.
•Die Lieferung innerhalb von einer Stunde oder weniger wird in städtischen Gebieten zum Standard werden, da die klassischen Einzelhändler ihr bestes Gut – ihre Verkaufsläden – zu Mini-Lagern umgestalten. Die Einzelhändler müssen ihre Filialen vor Ort auch nutzen, um den Kunden von heute, der zu seinen Bedingungen einkaufen will, mit der Abholung vor Ort zufriedenzustellen und die Achillesferse des Onlinehandels – die Retouren – anzugehen. Es ist zu erwarten, dass es in diesem Bereich zu einer verstärkten Zusammenarbeit, auch mit Amazon selbst, kommen wird, da die Einzelhändler ihre Kräfte bündeln werden, um den Dienst am Kunden zu verbessern. Das Ladengeschäft von morgen wird nicht nur ein Ort für das Einkaufserlebnis, sondern auch für das Fulfillment sein.
•Amazon wird auch weiterhin ständig Innovationen für den Kunden entwickeln, damit die Käuferschaft beeindrucken und so weitere Bereiche ins Chaos stürzen. In Zukunft wird es einem ganz normal vorkommen, nicht zu bezahlen (ohne dabei zu klauen); die Lieferung nach Hause oder ins Auto wird eine vertretbare Alternative zur herkömmlichen Belieferung ohne Bedienung sein; und das größte Hindernis für den Onlinekauf von Kleidung – die richtige Größe zu wählen – wird weitgehend ausgeschaltet. In der Zwischenzeit könnte die Kombination aus ausgefeilterer künstlicher Intelligenz und der Durchdringung von Alexa in die Haushalte und unsere Telefone zu einer Ära des wahrhaft personalisierten Einkaufsassistenten führen.
•Amazon wird sich zu einem überwiegend dienstleistungsorientierten Unternehmen entwickeln. Der Anteil des Einzelhandels am Gesamtumsatz geht weiter zurück (von 72 Prozent im Jahr 2015 auf 55 Prozent im Jahr 2020, siehe Abbildung 2.5).55 Wir gehen davon aus, dass der Wendepunkt, an dem Amazon den größten Umsatz mit Dienstleistungen und nicht mehr mit Waren erzielt, vor 2025 erreicht sein wird. Auch wenn es noch viele Möglichkeiten gibt, das Kernangebot für den Einzelhandel international zu vergrößern, baut Amazon ein Portfolio an umfassenden Dienstleistungen für Verbraucher (durch kontinuierliche Verbesserungen bei Prime) und auch für andere Geschäftsfelder wie Marketplace, AWS, Just Walk Out und Werbung auf. Da zudem der Anteil der Verkäufe von Drittanbietern gemessen am Gesamtumsatz weiter steigt, spiegelt der von Amazon angegebene Umsatz immer weniger das Bruttowarenvolumen wider, das über Amazon abgewickelt wird (da hier nur die Einnahmen aus dem Verkauf des Drittanbieters berücksichtigt werden, nicht die gesamte Auftragssumme). Amazon entwickelt sich vom Einzelhandelsunternehmen zur idealen Infrastruktur.
•In Zukunft werden immer mehr Einzelhändler auf Amazons Zug aufspringen. Die Einzelhändler selbst sehen gern über die enorme Bedrohung am Markt durch Amazon hinweg, um von dessen Infrastruktur im Bereich Logistik und Digitalisierung zu profitieren. Für manche ist das ein Spiel mit dem Feuer – ganz sicher für Einzelhändler wie Toys R Us, Borders und Circuit City. Sie gehörten in den frühen 2000er-Jahren zu den allerersten als Feinde betrachteten Freunden von Amazon, als sie ihr E-Commerce-Geschäft an den Giganten auslagerten – alle drei sind inzwischen insolvent. Wir gehen jedoch davon aus, dass sich mehr Einzelhändler Amazon anschließen werden, wenn es ihnen dabei hilft, eine größere Reichweite zu erzielen (Marketplace), die Kundenfrequenz zu erhöhen (Amazon Pop-ups, Click & Collect, Instore-Returns) oder das Kundenerlebnis zu verbessern (Lieferung am selben Tag, kassenloses Einkaufen, Voice Shopping). Die einzigartige Dualität von Wettbewerber und Dienstleister wird immer deutlicher. Die „Koopetition“ ist ein Schlüsselthema für die Zukunft.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Amazon kein gewöhnlicher Einzelhändler ist, weil es eigentlich gar kein Einzelhändler ist. Es handelt sich um ein Technologieunternehmen, dessen einziges Ziel die ständige Weiterentwicklung für seine Kunden ist. Und ganz nebenbei wird auch noch allerlei verkauft.
Einschneidende Veränderungen sind im Einzelhandelssektor nichts Ungewöhnliches, doch nichts hat die Branche bisher derart erschüttert wie die Corona-Pandemie. Als sich die Coronakrise Anfang 2020 zunehmend ausweitete, veränderte sich das Verbraucherverhalten schlagartig und dramatisch. Den normalen Alltag gab es nicht mehr, und die Bedürfnisse der Verbraucher sanken auf die untersten Ebenen von Maslows Bedürfnispyramide: auf die Ebenen der physiologischen Bedürfnisse und Sicherheitsbedürfnisse. Als Verbraucher des 21. Jahrhunderts hatten wir uns daran gewöhnt, die ganze Welt in greifbarer Nähe zu haben, doch scheinbar über Nacht definierte Corona unsere Bedürfnisse, Werte und Erwartungen neu.
Während der Pandemie mussten Einzelhändler einen sicheren Betrieb gewährleisten und hatten keine andere Möglichkeit, als vorübergehend fast all das zu opfern, was am Shoppen Spaß macht: Sie schlossen Umkleidekabinen und Cafés, forderten die Kunden auf, allein einkaufen zu gehen, verlangten von den Kunden, Masken zu tragen, sich in Wegesystemen zurechtzufinden und zu Stoßzeiten sogar Schlange zu stehen, um hineinzukommen.
„Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts passiert, und es gibt Wochen, in denen Jahrzehnte passieren.“
LENIN
Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Wir glauben, dass es nach der Pandemie zu einer Wiederbelebung des stationären Handels kommen und dieses Jahrhundert seine eigenen Goldenen Zwanziger erleben wird. Schließlich sind wir soziale Wesen, und ein Einkaufsbummel ist per se eine Freizeitbeschäftigung. Nach der letzten großen Pandemie im Jahr 1918 entstanden Kaufhäuser, Kinos und Stadien. Die Zukunft des Einzelhandels in der Nach-Corona-Welt gehört weniger, aber weitaus besseren Ladengeschäften, die auf Emotionen, zwischenmenschliche Beziehungen, das Entdecken von Neuem und auf die Gemeinschaft setzen. Einkaufen im Geschäft wird wieder zu einem haptischen, sinnlichen, zu einem Hightouch-(im Gegensatz zum Hightech-)Erlebnis.
Die Einkaufsgewohnheiten wurden durch die Pandemie allerdings auf den Kopf gestellt. Das Digitale kommt in unserem Leben nicht mehr nur vor, es beherrscht es. Wir haben gelernt, online zu arbeiten, zu lernen, einzukaufen, Kontakte zu knüpfen und sogar Sport zu treiben. Und viele dieser neu erlernten Gewohnheiten werden die Pandemie überdauern. In Zukunft wird es schwierig sein zu erkennen, wo die physische Welt endet und die digitale beginnt.
Als Einzelhandelsanalystinnen bewerten wir kontinuierlich bestehende Branchentrends und versuchen, kommende Trends vorherzusagen. Selbst in guten Zeiten ist es knifflig, Vorhersagen für Entwicklungen im Einzelhandel zu treffen. Aber niemand konnte damit rechnen, dass sich eine rätselhafte Krankheit von Wuhan in China, in mehr als 8.000 Kilometer Entfernung, bis zu uns ausbreiten würde. Und sicherlich konnte niemand vorhersehen, wie schnell sich die Coronakrise entwickeln und unsere Welt für immer verändern würde.
Am 31. Dezember 2019 informierten die chinesischen Behörden die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über eine Zunahme der Fälle von Lungenentzündung unbekannter Ursache, und Anfang März wurde der Ausbruch des Coronavirus zur Pandemie erklärt. Was folgte, war ein verheerendes Jahr mit unvorstellbaren Entbehrungen, einem Teufelskreis aus Lockdowns, physischen und psychischen Gesundheitsproblemen und in der Folge einer radikalen Änderung des Verbraucherverhaltens. Auch während wir dieses Buch Mitte 2021 – mehr als ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie – schreiben, treten gefühlt täglich Veränderungen ein, die die Beispiellosigkeit der Coronakrise und der daraus resultierenden Schockwellen verdeutlichen, die weiterhin die Einzelhandelsbranche erschüttern.
„Die Coronakrise wird innerhalb von weniger als zwölf Monaten Veränderungen im stationären Einzelhandel bewirken, die normalerweise fünf Jahre dauern würden.“
SIR JOHN TIMPSON, VORSTANDSVORSITZENDER VON TIMPSON, 20211
Die durch die Pandemie ausgelösten beispiellosen Veränderungen führten zu einer Forcierung vieler Trends im Einzelhandel, die sich schon lange abgezeichnet hatten. Es war kaum zu glauben: Was sonst Jahre gedauert hätte, geschah jetzt innerhalb von Wochen. Als Analystinnen hatten wir schon seit Jahren vor dem Darwinismus im Einzelhandel gewarnt; nun waren die Einzelhändler zum ersten Mal wirklich gezwungen, sich weiterzuentwickeln, um zu überleben. Flexibilität war ein Must-have, nicht mehr nur eine nette Zugabe.
FRÜHE ANZEICHEN DER PANDEMIE ALS WENDEPUNKT: REAKTION AUF EINE SICH ENTWICKELNDE KRISE
Die von den Unternehmen zu Beginn der Pandemie ergriffenen Maßnahmen, als alles noch recht ungewiss war, werden sie in Zukunft prägen, sei es die Umrüstung von Parfümfabriken auf die Herstellung von Händedesinfektionsmitteln (LVMH) oder die Umwandlung von Parkplätzen in Corona-Teststationen (Walmart). In Großbritannien war die Kosmetikkette Lush der erste Einzelhändler, der Maßnahmen gegen das Virus ergriff und die Kunden aufforderte, sich beim Betreten der Filialen die Hände zu waschen, auch wenn sie nichts kaufen wollten. Die Einzelhändler begannen, den Menschen über den Profit zu stellen. Der britische Tiefkühlkosthändler Cook bot seinen Kunden ein kostenloses Tiefkühlgericht für einen kranken oder älteren Nachbarn an. Carrefour in Frankreich und Iceland in Nordirland gehörten zu den ersten Supermarktketten, die ihre Geschäfte nur für Kunden ab 70 Jahren früher öffneten. Zum Schutz seiner Mitarbeiter und der Allgemeinheit war das Bekleidungsunternehmen Patagonia einer der ersten Einzelhändler, die nicht nur ihre Geschäfte, sondern auch ihren E-Commerce-Betrieb schlossen. Der britische Lebensmitteleinzelhändler Morrisons war währenddessen dazu übergegangen, seine kleinen Lieferanten sofort zu bezahlen, damit sie in den ersten Tagen der Pandemie genügend liquide Mittel zur Verfügung hatten.
Wenden wir uns nun den Trends zu, die durch die Pandemie forciert wurden.
Einzelhändler, die vor der Pandemie keine Bedeutung hatten, stellen fest, dass sie jetzt erst recht keine Bedeutung mehr haben. Corona hat die vielen Probleme verschärft, die diesen Bereich plagen: ein Überangebot an Einzelhandelsflächen, flexibler agierende Konkurrenz, die Notwendigkeit, sich an massive technologiebestimmte Veränderungen der Einkaufsgewohnheiten anzupassen.
Die Struktur des Einzelhandels hat sich schon lange vor 2020 verändert, sodass es bereits eine natürliche Auslese derjenigen Einzelhändler gegeben hat, die bedeutungslos geworden waren. Die Pandemie hat lediglich die verbliebenen Dinosaurier, die mittelmäßigen Einzelhändler und die digitalen Nachzügler aufgedeckt. Jahrelang hatten wir die Einzelhändler aufgefordert: „Friss, Vogel, oder stirb.“ Als Corona einschlug, hieß es eher: „Friss, Vogel, oder stirb ganz schnell.“
„Erst wenn die Ebbe kommt, sieht man, wer nackt schwimmt.“
WARREN BUFFETT2
Ein zentrales Thema dieser Krise war die Vertiefung der Kluft zwischen den Gewinnern und den Verlierern im Einzelhandel. Sie hat die Zweiteilung des Einzelhandels forciert und die Bedeutung der Flexibilität verstärkt. Corona war der letzte Sargnagel für Einzelhändler mit strukturellen Problemen, von denen viele jetzt den Preis für jahrelange Untätigkeit zahlen.
In Großbritannien haben wir uns von angeschlagenen Einzelhändlern wie Topshop und T. M. Lewin verabschiedet – Kultmarken, die letztlich für die Kunden nicht mehr interessant waren. In derselben Woche, als Amazon 85.000 neue Arbeitsplätze in Nordamerika und Großbritannien ankündigte,3, 4 wurden wir Zeugen, wie die letzten Filialen von Debenhams schlossen, einem Einzelhandelsunternehmen, das seit mehr als 200 Jahren in Großbritannien präsent gewesen war. Aber vielleicht zeigt sich daran Darwinismus in reinster Form: dass in den USA ausgestorbene Einkaufszentren zu Google-Büros und Amazon-Logistikzentren werden. Die Pandemie hat einfach den Niedergang des überflüssigen Einzelhandels vorangetrieben.