Das Artefakt - Andreas Brandhorst - E-Book

Das Artefakt E-Book

Andreas Brandhorst

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Beschreibung

Dies ist die letzte Chance der Menschheit: Nachdem sie eine interstellare Katastrophe verursacht haben, die nur durch das Eingreifen der Hohen Mächte eingedämmt werden konnte, müssen die Menschen innerhalb von 600 Jahren beweisen, dass sie zu dauerhaftem Frieden fähig sind. Und das Vorhaben scheint unter einem guten Stern zu stehen: Der Planet Heraklon wird zum Zentrum des Friedens und der Diplomatie. Doch dann taucht ein uraltes Artefakt auf, so mächtig, dass es den Technologien der Hohen Mächte ebenbürtig ist – und der Krieg beginnt aufs Neue ...

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DAS BUCH

Dies ist die letzte Chance der Menschheit: Nachdem sie vor 600 Jahren eine interstellare Katastrophe verursacht haben, müssen die Menschen nun beweisen, dass sie zu dauerhaftem Frieden fähig sind. Denn nur dann werden sie in den Kreis der Hohen Mächte aufgenommen und erhalten Zugang zum universalen Wissen der Kosmischen Enzyklopädie. Unter der Aufsicht der »Ägide«, einer von Menschen gegründeten Organisation, die auf den von der Katastrophe betroffenen Welten Entwicklungshilfe leistet, wird der Planet Heraklon zu einem Ort des Friedens und der Diplomatie. Doch dann wird auf Heraklon ein mysteriöses Artefakt entdeckt, das den Zugang zu modernster Technologie verspricht – einer Technologie, die der Wissenschaft der Hohen Mächte ebenbürtig ist. Der Exekutor Rahil Tennerit soll das geheimnisvolle Artefakt im Auftrag der Ägide untersuchen. Eine gefährliche Aufgabe, denn es gibt immer noch mächtige Gegner, die die Aufnahme der Menschen in den Kreis der Hohen Mächte mit allen Mitteln verhindern wollen. Und einmal ist Rahil bereits gescheitert …

DER AUTOR

Andreas Brandhorst, geboren 1956 im norddeutschen Sielhorst, hat mit seinen Romanen die deutsche Science-Fiction-Literatur der letzten Jahre entscheidend geprägt. Spektakuläre Zukunftsvisionen verbunden mit einem atemberaubenden Thrillerplot sind zu seinem Markenzeichen geworden. Etliche seiner Romane wurden preisgekrönt und zu Bestsellern. Andreas Brandhorst hat viele Jahre in Italien gelebt und ist inzwischen in seine alte Heimat in Norddeutschland zurückgekehrt.

Mehr über Andreas Brandhorst und seine Romane erfahren Sie auf:

www.diezukunft.de

ANDREAS

BRANDHORST

DAS

ARTEFAKT

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2012 by Andreas Brandhorst Copyright © 2018 der deutschsprachigen Taschenbuchausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München unter Verwendung von Motiven von Shutterstock (Algol, zhu difeng und Evannovostro) Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-06694-9V004
www.diezukunft.de

Wie viele Gedanken passen in einen Kopf,

wie misst man ihre Größe?

Wie schwer sind Wahrheit und Lüge?

INHALT

ERSTER TEIL

IRRWEGE

DER ERSTE SCHRITT

DER ERSTE FEIND

DIE MISSION

LUCREZIA

GEDANKENSPIELE

HOHE WORTE

TIEFER FALL

INTERLUDIUM

VERGANGENE PFADE

GESTERN, VOR HUNDERT JAHREN

DER RING

DIE FLUCHT

DAS ENDE EINES WEGES

ZWEITER TEIL

HERAKLON

EIN WIEDERSEHEN

GEFRESSENE WELT

NACH NORDEN

DIE STUMMEN ZEUGEN

LAUTARET

BEGEGNUNGEN

MUNRAHA

DAS ARTEFAKT I

DAS ARTEFAKT II

EPILOG

GLOSSAR

ERSTER TEIL

IRRWEGE

Vor dem Jungen erstreckte sich die Stadt, durchzogen von wenigen breiten Straßen und vielen schmalen Gassen. Dunst hing über ihr wie ein graues Leichentuch.

»Eines Tages«, sagte der Vater des Jungen, »gehört dies alles dir. Dir und deiner Schwester. Eines Tages werdet ihr die Geschicke dieser Stadt bestimmen, und die der ganzen Welt.«

Der Knabe, erst elf Jahre alt, sah zum Himmel hoch, vorbei an den Wolkenbändern des warmen Gasriesen Cambronne, vorbei an seinen Monden, den Welten des Dutzends. Ich will weg von hier, dachte er und beobachtete die Sterne. Eines Tages werde ich bei euch sein.

Eine Wahrheit wandelt über mir

Einer Wolke gleich –

Mit unsichtbaren Blitzen trifft sie mich.

DER ERSTE SCHRITT

1

Es ist der Träumer, der sich fragt: Schlafe ich oder bin ich wach? Es ist der Lügner, der sich fragt: Verbirgt sich Wahrheit in meinen Lügen? Und ist nicht die einzige Wahrheit unser Glaube?

Es war der Kopf eines Toten – eines aus dem Jenseits Zurückgekehrten –, der diese Gedanken dachte, und es waren nicht einmal seine eigenen. Sie stammten von dem Psychomechaniker Lynton Hongeva Ayyad und waren Teil eines Mantras, das ihm, dem Wiederauferstehenden, helfen sollte, mit der Phase des Übergangs, der Rückkehr von den Toten – und auch dem Leben danach –, besser fertigzuwerden. So vage und hintergründig die Worte auch sein mochten, sie beschrieben den Zustand, in dem sich das erwachende Bewusstsein befand: nach der feinen Linie zwischen Wirklichkeit und Wirrnis suchend, um zu unterscheiden, zu kategorisieren, zu deuten und zu verstehen. Es gab zwei Welten, erinnerte sich der Träumer, mit einem wichtigen Unterschied: Die eine existierte außerhalb von ihm, und die andere war er selbst, eine Innenwelt, die einen Namen bekam, als er sich darauf konzentrierte: Rahil Tennerit. Ein Name, dachte er. Ein Name macht den Unterschied. Er zieht die Linie zwischen dem Hier und Dort; er gibt mir Identität und grenzt mich von der äußeren Welt ab. Der Name sorgt dafür, dass ich bin.

Ich bin der Träumer, dachte der Lebende. Ich erwache.

Er sah es nicht, spürte aber: Die äußere Welt war ein Uterus.

Das, so erinnerte er sich, war äußerst ungewöhnlich. Er erlebte seine Wiedergeburt, die Phase des Wachstums – er spürte, wie Rumpf und Gliedmaßen seines Körpers feinere Strukturen gewannen –, die Übertragung des Images in ein jungfräulich leeres Gehirn, das memoriale Informationen empfing und ihnen das Verknüpfungsmuster von Neuronen und Synapsen entnahm. Er hätte schlafen, ganz ein Träumer sein sollen, aber stattdessen wusste er, dass er im Innern einer Maschine steckte, dass ihn die Technik der Hohen Mächte, der Ägide zur Verfügung gestellt, ins Leben zurückbrachte.

Das Gehirn, mit dem er bereits dachte, nahm weitere Erinnerungen auf, und Rahil suchte in ihnen nach Hinweisen darauf, was ihn sein letztes Leben gekostet hatte. Es war nicht sein erster Tod gewesen; schon zum vierten Mal holte ihn die Technologie der Hohen Mächte ins Leben zurück.

Wer oder was hatte ihn umgebracht? Das Image, das jetzt zu seiner Identität wurde, ein Back-up seines Bewusstseins, enthielt Erinnerungen an die Vorbereitungen für den Einsatz auf Heraklon, an eine Mission, die das Artefakt im hohen Norden des Friedensplaneten betraf. War er dort gestorben, auf dem Planeten, der zeigen sollte, dass die Menschheit es sechshundert Jahre nach dem Ereignis verdiente, in den Kreis der Hohen Mächte aufgenommen zu werden und Zugang zur Kosmischen Enzyklopädie zu erhalten? Mentale Kontinuität schien es nicht zu geben; zumindest hatte er noch keine Erinnerungen an den Einsatz. Das bedeutete: Man hatte seine Leiche nicht rechtzeitig – oder gar nicht – gefunden.

Der Gedanke an die Enzyklopädie und ihr unentschlüsselbares Lied weckte in ihm eine seltsame, fast erschreckend intensive Sehnsucht. Er begriff, dass diese Sehnsucht (die Betonung lag auf der zweiten Silbe des Wortes) einer der Gründe war, warum er in seinen vorherigen Leben die Hilfe des Psychomechanikers Ayyad in Anspruch genommen hatte. Ein anderer, noch wichtigerer war …

Jazmine.

Der Name erschien in der Welt, die er selbst war, begleitet von einem Schmerz, so intensiv, dass sich Rahil zerrissen und zerfetzt glaubte. Aus dem anderen Universum, dem äußeren, kam eine Taubheit, die er als Schutzfunktion des Uterus erkannte – die Sensoren der Bioschmiede hatten einen hohen Stressfaktor festgestellt, und die Maschine, die ihn gebar, agierte mit selektiver neuronaler Stimulation – wie eine Rüstung oder Femtomaschinen – und versuchte, ihm den Schmerz zu nehmen.

Er sitzt zu tief, dachte Rahil. Er sitzt so tief, dass es nicht einmal Lynton Hongeva Ayyad, der beste Psychomechaniker der Ägide, geschafft hatte, die Wurzeln auszureißen.

Eine Zeit lang blieb es in allen Wahrnehmungsspektren »dunkel« – die Nervenverbindungen zwischen Sinnesorganen und Hirn schienen noch nicht komplett zu sein oder einer internen Interdiktion zu unterliegen, vielleicht als Bestandteil der Schutzmaßnahmen, mit denen der Uterus Rahils Schmerz dämpfte. Dann drang eine Stimme an Ohren, die genug Struktur gewonnen hatten, um sie wahrzunehmen.

»Sie sollten mich jetzt hören können, Rahil Tennerit.«

Der wiederauferstandene Rahil wollte sprechen, und er sprach: »Dies ist nicht normal.«

»Nein.«

Weitere Nervenverbindungen entstanden, und er begann, Teile seines Körpers zu spüren. Ein leichtes Stechen ging von ihnen aus, fast unangenehm. Die psychische Taubheit blieb, wie eine Mauer, hinter der die mit dem Namen verbundenen Erinnerungen auf der Lauer lagen. Ayyad hatte angeboten, sie ihm zu nehmen und durch etwas anderes zu ersetzen, durch eine falsche Vergangenheit ohne Schmerz. Rahil hatte abgelehnt, weil er nicht auf einen wichtigen Teil seines Lebens verzichten wollte.

»Sind Sie der Schmied?«, fragte Rahil. »Was ist geschehen?«

»Der Schmied ist tot«, kam die Stimme aus dem scheinbaren Nichts, das Rahil umgab. »Wie alle anderen Besatzungsmitglieder der Station. Übrig sind nur ich und der Wartende an Bord des Schiffes. Dies ist ein Notfall. Der Uterus, in dem Sie sich befinden, arbeitet im beschleunigten Modus. Ich bedauere die Unannehmlichkeiten für Sie.«

In den Zehenspitzen – Rahil vermutete zumindest, dass es die Zehenspitzen waren – brannte ein Feuer. Er versuchte Einzelheiten seiner Umgebung zu erkennen, konnte aber nicht einmal feststellen, ob seine Augen geöffnet waren oder ob er in dieser Phase der Wiederherstellung bereits funktionierende Augen hatte. Um ihn herum blieb alles grauschwarz, und er hörte seinen Herzschlag – das Herz schlug, er fühlte es! – wie das Pochen eines mechanischen Metronoms.

»Wir müssen uns beeilen«, fuhr die Stimme fort. »Der Angreifer könnte zurückkehren.« Es folgte eine kurze Pause. »Vielleicht befindet er sich noch immer an Bord. Sie müssen so schnell wie möglich in den Einsatz zurückkehren.«

»Was ist geschehen?«, wiederholte Rahil mit etwas mehr Nachdruck. »Und wer sind Sie?«

»Ich bin der Kurator dieser Ägide-Station, die sich in der Nähe von Ganska befindet. Hilfe ist unterwegs, aber vielleicht trifft sie nicht rechtzeitig vor der nächsten Aktion des Angreifers ein. Deshalb erleben Sie diese Phase bei Bewusstsein; so können wir auf die Weckphase verzichten. Ich habe den Dämpfer aktiviert, um Ihnen Desorientierung zu ersparen.«

Der Dämpfer des Uterus mochte die Erinnerungen in Schach halten, mit denen Rahil seit Jahrzehnten rang, und vielleicht bewahrte er ihn in dieser Phase auch vor geistiger Zersplitterung, die so stark werden konnte, dass sie ein Trauma hinterließ. Aber etwas anderes war ebenso tief in ihm verwurzelt wie die Erinnerungen, etwas, an dem er sich all die Jahre festgehalten hatte: die Pflicht, der Dienst für die Ägide, die feste Entschlossenheit, den Gefallenen Welten dabei zu helfen, einen besseren Weg in die Zukunft zu finden und das zu vermeiden, was er damals, als Kind, im Dutzend erlebt hatte. In gewisser Weise war es dieser Dienst, der ihm seine Identität verlieh, und dass er sich hier befand, in diesem Uterus, in dieser Bioschmiede, offenbar unter ganz besonderen Umständen, bedeutete vielleicht …

»Wie bin ich ums Leben gekommen?«, fragte er das grauschwarze Nichts. Das Brennen in seinen Zehenspitzen wanderte, etwas weniger heiß, nach oben, erreichte Schienbeine und Knie.

»Das wissen wir nicht. Alles deutet darauf hin, dass Sie ermordet worden sind und Ihr Tod mit dem Artefakt in Zusammenhang steht.«

»Ich bin auf Heraklon ums Leben gekommen?«

»Ja.«

»Bevor ich meinen Auftrag erfüllen konnte?«

»Ja.«

Da war die Furcht, trotz des Dämpfers, und die Antworten des Stationskurators schienen sie zu bestätigen. »Habe ich … versagt?«

»Niemand zweifelt daran, dass Sie Ihr Bestes gegeben haben.«

»Aber vielleicht war es nicht gut genug.«

Wieder folgte eine kurze Pause, und Rahil fragte sich, ob sie objektiver oder subjektiver Natur war. Ich darf nicht versagen, dachte er. Er hatte einmal versagt, vor vielen Jahren, fast vor einem Jahrhundert, und auch Ayyad hatte ihn nicht von der Bürde der Schuld befreien können. Sie lastete auf seiner Seele, schwer wie ein Berg, solange er keine Rüstung trug, und auch wenn Ayyad von »Überkompensation« gesprochen hatte: Der feste Wille, seiner Verantwortung als Missionar der Ägide gerecht zu werden und alle seine Aufträge erfolgreich abzuschließen, gab ihm die Kraft, dem Druck standzuhalten, mit ihm fertigzuwerden.

»Ich registriere eine starke emotionale Reaktion«, sagte die Stimme. »Ich bin kein Schmied, aber vielleicht sollte ich die Dämpfung erhöhen, obwohl sie den Image-Transfer behindert.«

»Nein! Ich will wissen, was geschehen ist!«

»Bitte beruhigen Sie sich. Ihre Erinnerungen sind noch destrukturiert. Der Körper wächst schneller als die mentale Integrität. Aber in einer Stunde öffnet sich das Kickout, und dann müssen wir bereit sein. Dann müssen Sie bereit sein. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Die Lage auf Heraklon spitzt sich zu. Und die Krise betrifft nicht nur Heraklon, sondern einen großen Teil der Gefallenen Welten.«

Erinnerungen kehrten zurück, während Rahils Gehirn weitere Image-Daten aufnahm. Die Mission, die wichtigste von allen. Vor sechshundert Jahren, nach dem Ereignis, hatten die Hohen Mächte der Menschheit eine letzte Chance gegeben: sechs Jahrhunderte, um zu beweisen, dass sie fähig war, zu Frieden und Reife zu finden. Als Lohn winkte Zugang zur Kosmischen Enzyklopädie, zum Wissen und zur Technik der Primären, der ältesten Zivilisationen des Universums. Heraklon, zur Welt des Friedens und der Diplomatie geworden, hatte diesen Beweis erbringen sollen, aber dann war das Artefakt erschienen, ein seltsames Objekt, offenbar mit primärer Technik ausgestattet, das Begehrlichkeiten bei den Autokraten und Despoten der Gefallenen Welten weckte. Rahil erinnerte sich nun: Er war als Missionar der Ägide nach Heraklon geschickt worden, um dort festzustellen, was es mit dem rätselhaften Artefakt auf sich hatte und wie die Gefahren, die es heraufbeschwor, neutralisiert werden konnten. Er erinnerte sich auch daran, ein direktes Eingreifen der Ägide vorgeschlagen zu haben, wie auch schon bei anderen Gelegenheiten, aber das Kuratorium hatte abgelehnt und war bei seiner Politik der Nichteinmischung geblieben, an der sich zwischen Rahil und seinen Einsatzleitern oft Konflikte entzündet hatten.

Die wichtigste aller Missionen; von ihrem Erfolg oder Misserfolg hing die Zukunft der Menschheit ab.

Und ich bin auf Heraklon gestorben, dachte Rahil. Jemand hat mich dort umgebracht, um zu verhindern, dass ich die Mission erfülle.

Er zweifelte nicht daran, dass es einen Zusammenhang mit dem Angreifer gab, von dem der Kurator gesprochen hatte. Jemand wollte ihn töten, bevor er wieder richtig lebendig wurde. Jemand wollte, dass er nicht nach Heraklon zurückkehrte. Vielleicht verstand er mehr, wenn er alle memorialen Daten des Image empfangen hatte.

»Sie schicken mich zurück, Kurator?«

»In einer Stunde, Rahil Tennerit. Wenn es mir gelingt, die Wiederherstellung weiterhin stabil zu halten. Leider fehlen mir die Kenntnisse eines Schmieds. Ihre starken emotionalen Aktivitäten bedrohen die Integrität des Datenstroms zwischen Image und Uterus. Ich empfehle Ihnen dringend, sich auf neutrale Gedanken zu besinnen. Vielleicht wäre eine vollständige Dämpfung doch besser …«

»Nein!« Eine Stunde, dachte Rahil. Dann kann ich mich ganz auf den Einsatz konzentrieren. Bis dahin, bis ich eine Rüstung bekomme und damit die Möglichkeit, meine Emotionen unter Kontrolle zu bringen, muss ich mich ablenken. Nicht zu denken ist falsch; an etwas zu denken ist besser. »Habe ich Augen? Lassen Sie mich sehen!«

»Was möchten Sie sehen?«

»Das Kickout«, sagte er. »Bitte zeigen Sie mir das Fraktal des Kickouts, während ich auf das Ende der Wiederherstellung warte.«

2

Draußen, in schwarzer Totenstille, öffnete sich eine goldene Blume mit einem Durchmesser von hundertfünfzigtausend Kilometern, ihre Blütenblätter wie benetzt von fraktalem Tau, voller Muster, die wie dünnes Eis glänzten und sich im Kleinen wie im Großen ständig wiederholten. Neben dieser sich langsam entfaltenden Blume hing ein Schiff im All, klein im Vergleich mit dem Fraktal, das eine über viele Lichtjahre reichende Verbindung herstellte, aber riesig nach menschlichen Maßstäben: ein Polarisator der Leskovar – Sekundäre, die zu den Hohen Mächten zählten –, mit fast hundert Kilometern Länge ein Gigant und viel größer als die Station der Ägide am Rand des Schwerkrafttrichters, den Ganska und seine Monde mehrere Lichtsekunden entfernt ins Gewebe der Raumzeit stanzten. Wenn Rahil sich konzentrierte, sah er die gekrümmten Linien der Gravitationsfelder wie Seile, die Raum und Zeit zusammenhielten und durch den brodelnden Quantenschaum führten, in dem das Fraktal wurzelte, durch das Chaos aus Materie und Energie, die sich gegenseitig vernichteten und neu erschufen. Myriaden Blasen bildeten sich dort und platzten, wie von der Flamme der Schöpfung erhitzt, jede von ihnen kleiner als das, was man einst Planck-Länge genannt hatte, noch viel, viel kleiner als die Femtomaschinen, die, vom primären Uterus geschaffen, bereits in dieser Wiederherstellungsphase zu Millionen in Rahils Körper unterwegs waren, Zellverbände verstärkten und Organe mit Zusatzfunktionen ausstatteten. Jede einzelne Blase in diesem Schaum, der das Fundament alles Existierenden bildete, war ein eigenes Universum, durch eine interne inflationäre Phase aufgebläht. Ich sehe Geburt und Tod ganzer Kosmen, dachte Rahil mit einer Ergriffenheit, die ihn an seine Anfangszeit bei der Ägide erinnerte, und gleichzeitig fragte er sich, ob es seine eigenen, von den Femtomaschinen der Primären verbesserten Sinne waren, die den Quantenschaum sahen, oder ob der Kurator seine Wahrnehmung mit den Systemen der Station und des Uterus stimulierte.

Rahil blinzelte, und das verwirrende Brodeln sowie die Linien des Gerüstes von Raum und Zeit verschwanden. Nur der Polarisator war zu sehen. Es befanden sich keine anderen Raumschiffe in der Nähe, weder in niedrigeren Umlaufbahnen um den Planeten noch in den Sprungsektoren des Sonnensystems. Hatten die Sekundären eine Interdiktionszone geschaffen, um weiteren Angriffen auf die Station der Ägide vorzubeugen?

»Öffnen die Leskovar das Fraktal für mich allein?«, fragte er.

»Ja«, bestätigte der Kurator.

Rahil dachte an den Energieaufwand. Die Leskovar jonglierten dort draußen mit energetischen Ressourcen, die ausgereicht hätten, den Energiebedarf so mancher Gefallenen Welt auf Jahre hinaus zu decken. Und das alles nur für ihn.

Nicht für mich, korrigierte er sich in Gedanken. Für die Mission der Ägide, die nicht scheitern darf.

Seine Gedanken, noch unkontrolliert von Femtomaschinen und Rüstung, bewegten sich wieder in eine Richtung, die stärkere Emotionalität hervorrief. Eine Stunde, dachte er. »Ich möchte das Lied der Kosmischen Enzyklopädie hören«, sagte er. »Es beruhigt mich«, fügte er hinzu, was zumindest teilweise der Wahrheit entsprach.

Etwas veränderte sich in seiner Wahrnehmung, und ein oder zwei Sekunden später drang ein melodisches Summen an Rahils wiederhergestellte Ohren, entfaltete fast sofort eine Komplexität, von der eine hypnotische Faszination ausging. Dies war der Gesang des Wissens, der von der Technik und den Erkenntnissen der Hohen Mächte erzählte, aber so gut codiert und verschlüsselt, dass es niemandem – weder den Experten und Maints von Ägide und Bruch-Gemeinschaft noch den Volontären, die sich hier und dort zu Dechiffrierungsgruppen zusammengeschlossen hatten – gelungen war, auch nur den Dateninhalt eines einzelnen Tons freizulegen.

Rahil hörte die Klänge und dachte: Bald fällt die Entscheidung, ob wir Zugang zur Enzyklopädie und damit zu den kolossalen Wissensschätzen der Hohen Mächte bekommen. Ein zweiter, warnender Gedanke lautete: Wenn man diese Melodie zu oft hört, kann man süchtig danach werden.

Die Aura des Planeten Ganska und seiner Monde bildete kein Schreien vor der kosmischen Hintergrundstrahlung, die das Lied in sich trug, und vor den Markierungsrufen der Bojen in den Sprungsektoren des Sonnensystems, aber ein lautes Flüstern, bestehend aus mehreren Billionen raunenden Stimmen – so viele smarte Geräte, Apparate, Instrumente, Maschinen und Maschinenintelligenzen sprachen dort miteinander, tauschten Meinungen und Bewertungen aus, analysierten Daten, schufen daraus neue Informationen, die ihrerseits Analysen erforderten, sondierten und philosophierten. Mit den Systemen der Station verbunden, hätte Rahil über die Femtomaschinen in seinem Innern jeder einzelnen dieser Stimmen lauschen können, und sie alle zusammen bildeten die Daten- und Kommunikationswolke, die den Planeten und seine Monde wie ein elektromagnetischer Schleier umgab. Aber so dicht und komplex die Aura auch sein mochte: Das Lied der Kosmischen Enzyklopädie war noch weitaus komplexer. Es beschränkte sich nicht auf eine Welt oder ein Sonnensystem, nicht einmal auf eine Galaxie – die Ägide vermutete, dass der Melodiencode der Enzyklopädie den ganzen Virgo-Superhaufen betraf, was bedeutete, dass man das Lied in etwa zweihundert Galaxienhaufen hörte, verstreut in einem Raumgebiet von über zweihundert Millionen Lichtjahren. Wie viele Welten gab es dort draußen, wie viele Zivilisationen, und wie viele – oder wie wenige – gehörten zu den Hohen Mächten, mit vollem Zugang zu dem Jahrmilliarden alten Wissen, das fast bis in die Zeit des Urknalls reichte?

Rahils Herz schlug noch etwas schneller, als ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen und so viel Platz einnahmen, dass für die anderen, vor denen er sich fürchtete, kein Platz mehr blieb. Dies ist richtig, dachte er. Dies lenkt ab, bis ich meine Erinnerungen wieder unter Kontrolle habe. Er wies seine inzwischen programmierbar gewordenen Femtomaschinen an, ihm einen direkten Zugang zum Lied zu ermöglichen, und nur eine Sekunde später hallten ätherische Klänge durch die wachsenden Gewölbe seines Bewusstseins.

»Ein direkter Kontakt ist gefährlich«, warnte der Kurator.

Rahil achtete nicht darauf. Darum geht es seit fast sechshundert Jahren, dachte er, beobachtete mit den Sensoraugen der Station das blühende Fraktal des Kickouts und hörte das von den Femtomaschinen übertragene Lied. Darum ging es seit dem Ereignis und der Gründung der Ägide. Um ein kosmisches Lied, das alle hören konnten, die richtigen Instrumente vorausgesetzt; doch nur die Hohen Mächte verstanden die Botschaft in ihren Tönen. Als Rahil zur Ägide gekommen war, kurz nach Jazmines Tod – nicht daran denken! –, hatte es sein Instruktor folgendermaßen ausgedrückt:

»Denk an die Bibliothek von Vandar, Rahil. Wir sind durch ihre virtuellen Säle gewandert, erinnerst du dich?«

»Wie könnte ich das vergessen?«, erwiderte Rahil, der Schmerz frisch in ihm, die Wunde in seiner Seele noch offen. »Die berühmte Bibliothek der sekundären Hosprit, entstanden zu einer Zeit, als sie noch nicht zu den Hohen Mächten gehörten. Ein großer Teil der in ihr lagernden Informationen ist analoger Natur.«

Der Instruktor, ein vogelartiger Chormiki, nickte und klapperte kurz mit dem rudimentären Schnabel. »Bevor sie zu den Hohen aufstiegen, unternahmen die Hosprit weite Reisen durch unsere Galaxis, besuchten fremde Völker, primitive ebenso wie hoch entwickelte, und sammelten Informationen aller Art: Geschriebenes, in Stein geritzt, auf Holz gemalt und auf Papier gedruckt, Worte und Bilder, in magnetischen Speichern, Kristallen und quantenmechanischen Gittern abgelegt. Sie wollten das ›Wissen des Lebens‹ zusammentragen und bewahren.«

»Damals wussten sie noch nichts von der Enzyklopädie«, sagte der junge Rahil.

»Nein. Sie erfuhren erst davon, als sie ihre Bibliothek gebaut hatten. Wie groß ist sie, Rahil?«

»Sie bedeckt einen ganzen Kontinent auf Vandar. Manche Gebäudeteile sind so hoch, dass sich unter ihren Dächern Wolken bilden. In einigen Flügeln mussten Wetterkontrollen installiert werden.«

»Die Bibliothek von Vandar ist die größte analog-digitale Bibliothek in dieser Galaxis«, sagte der Instruktor. »Wie viele Bücher gibt es in ihr, Rahil?«

Er blies die Wangen auf. »Viele. Ich meine, wirklich viele. Vermutlich Milliarden. Es dürften mehr Bücher sein, als es früher Menschen auf der Erde gab, vor dem Ereignis.«

»Es gibt dort mehr Bücher als damals im ganzen Sol-System, zu seiner besten Zeit. Von den übrigen analogen und auch den digitalen Datenträgern ganz zu schweigen. Stell dir jetzt einen Buchstaben in einem der dicksten Bücher der Bibliothek von Vandar vor.«

Rahil nickte. »Ja«.

»Welchen Buchstaben stellst du dir vor?«, fragte der Instruktor.

»Ein J«, sagte der junge Rahil und dachte, von Schatten und Schmerz begleitet: J wie Jazmine.

»Stell dir nun ein Farbpigment dieses Buchstabens vor.«

»Ein einzelnes Pigment, ja.«

»Und jetzt stell dir ein Atom dieses Pigments vor, und die Quanten in diesem Atom, und die Strings unter ihnen. Denkst du an sie, Rahil?«

»Ja«, sagte er. »Ich denke an sie.« Aber er dachte auch an Jazmine und seine Schuld.

»Denk jetzt an ein Fraktal, wie die Kickouts der Leskovar«, sagte der Instruktor. Seine Federn raschelten. »Stell dir vor, dass die Bibliothek von Vandar tausendmal in einen solchen String passt, den du gerade vor deinem inneren Auge gesehen hast, und stell dir weiter vor, dass sich dieses Muster aus Bibliothek, dickstem Buch, Buchstabe, Pigment, Atom, Quanten und String tausendmal innerhalb des einen Strings wiederholt. Wie viele Bibliotheken würde ein einzelner Buchstabe des dicksten Buches enthalten?«

Der junge Rahil zögerte. »Ich weiß nicht, ob es eine Zahl gibt, die dafür groß genug ist.«

Der Instruktor nickte bedächtig. »Das ist die Kosmische Enzyklopädie der Hohen Mächte«, sagte er. »Eine Bibliothek mit Milliarden von jenen Büchern, in denen jeder einzelne Buchstabe, jedes Farbpigment und jedes Atom so viele Informationen enthält, dass man ihre Zahl gar nicht nennen kann.«

Unendliches, unbegrenztes Wissen, darauf lief es hinaus. Die ersten Zivilisationen, die vor Jahrmilliarden im Universum entstanden waren, die Primären, hatten begonnen, Wissen zu sammeln wie später, viel später die Hosprit, und auf diese Weise war die Kosmische Enzyklopädie entstanden, als Erfahrungsschatz allen intelligenten Lebens in Zehntausenden von Galaxien. Dieses intellektuelle Manna und die Möglichkeit, Antwort auf alle Fragen zu bekommen, Zugriff auf alle Technologien zu erhalten, auch auf jene, die wie pure Magie anmuteten, lockten die aufstrebenden jungen Zivilisationen, denn dieses Wissen versprach die Lösung aller Probleme.

Darum geht es, dachte Rahil. Um die Pforten des technologischen Paradieses, die sich auch für uns öffnen könnten. Erneut hörte er die Stimme seines Instruktors aus einer Zeit, als er noch voller Illusionen gewesen war.

»Als vor fast sechshundert Jahren die Ägide gegründet wurde, kurz nach dem Ereignis, bekam sie Kandidatenstatus. Die Primären sagten uns: Wir helfen euch. Wir helfen euch dabei, den anderen zu helfen, jenen Teilen von euch, die den falschen Weg beschritten …«

»Damit meinten sie die Gefallenen Welten, nicht wahr?«, vernahm Rahil seine eigene Stimme, die Worte des jungen Rahils.

»Ja«, bestätigte der Instruktor und fügte ein kurzes Klappern mit den Schnabelrudimenten hinzu. »Die verwüstete Erde und all die anderen vom Ereignis betroffenen Welten, insgesamt zweihundertdrei in neunundachtzig Sonnensystemen, Opfer der Zweiten Phase beziehungsweise der Diaspora. Die dreizehn Systeme diesseits des Sagittariusbruchs waren von der Katastrophe verschont geblieben und bewahrten sich ihr Entwicklungsniveau, während die Gesellschaften auf über zweihundert Welten, oder ihre Überreste, in die Barbarei zurückfielen. Wir, die Bruch-Gemeinschaft und die Sieben Völker…«

Die Stimme des Chormiki wurde leiser, verlor sich schließlich im Lied der Kosmischen Enzyklopädie. Fast sechshundert Jahre, dachte Rahil, hat die Ägide hart gearbeitet und gehofft, und jetzt droht alles zu scheitern. Dort saßen die erlauchten Völker der Hohen Mächte am Tisch und tranken den Wein der Erkenntnis, während die Menschheit am Rand der Wüste ausharrte, den sie nach sechs Jahrhunderten der Restauration erreicht hatte. Hunger leidend und halb verdurstet hockte sie dort an einem eigenen Tisch, klein und wacklig, darauf nichts weiter als trockenes Brot und Wasser.

Aufnahme in den Kreis der Hohen Mächte und Zugang zur Kosmischen Enzyklopädie, das war das Ziel. Ein Platz am Tisch, auf dem es alles gab, das man sich wünschen konnte, direkt in Reichweite – man brauchte nur die Hand danach auszustrecken.

Aber dann war das Artefakt erschienen.

Es hat mich getötet, dachte Rahil und beobachtete, wie das Kickout der Leskovar seine stabile Phase erreichte – es war für den Transit bereit. Wegen des Artefakts hat mich jemand auf Heraklon getötet, damit ich meine Mission nicht beenden konnte. Ich habe versagt.

Zeit verging, während das Lied des Wissens flüsterte.

»Die Wiederherstellung ist beendet«, sagte der Kurator schließlich.

Rahil seufzte, schlug die Augen auf und sah Zerstörung.

3

Der Uterus tief im Innern der Station hatte sich geöffnet, und in der Wand jenseits der offenen Luke klaffte ein Loch, wie geschaffen von der Faust eines zornigen Riesen. Rahil beobachtete und fühlte, wie sich die letzten Verbindungen von Bauch, Brust und Kopf lösten, stand auf und trat vorsichtig durch die Öffnung. Der fehlende direkte Kontakt mit den Systemen der Station schränkte seinen Wahrnehmungshorizont ein, aber dafür standen ihm nun die Sinne des neuen Körpers zur Verfügung. Nackt, physisch jung und ohne einen einzigen Kratzer blieb er vor dem Loch in der Wand stehen und betrachtete die zerschmetterten Reste eines Aggregats, das eine monochrome Schmiede gewesen sein musste. Viel war nicht davon übrig, aber Rahil hatte genug Schmieden gesehen, um einige der übrig gebliebenen Komponenten zu identifizieren.

»Wir haben Glück gehabt«, erklang eine Stimme. »Die Schmiede wurde zerstört, nachdem sie den Uterus geschaffen und ihm Ihr Image übertragen hatte. Andernfalls stünden Sie jetzt nicht hier.«

Rahil drehte sich um und sah einen hageren, älteren Mann. Ein kaum wahrnehmbares Flimmern – eigentlich nur erkennbar, wenn man wusste, wonach es Ausschau zu halten galt – wies darauf hin, dass es sich um eine semimaterielle Projektion handelte. Es war keine Person aus Fleisch und Blut, sondern ein Avatar in einer blaugrünen Uniform, am Kragen ein Abzeichen mit dem Symbol der Ägide.

»Ich habe Ihnen dies mitgebracht.« Der Mann – der Avatar – reichte Rahil ein kleines Bündel, bestehend aus einem mehrfach gefalteten Gewebefladen.

Rahil nahm ihn entgegen und drückte ihn an die nackte Brust, woraufhin sich die Konsistenz des Fladens veränderte. Er wurde zu einer zähflüssigen Masse, die mehr grau als braun an Rahil hinabfloss und emporkletterte, in Penis und After kroch und binnen weniger Sekunden Funktionen für die Wiederaufbereitung aller Ausscheidungen bereitstellte. Nach einigen weiteren Sekunden und nachdem Rahil erst den einen und dann auch den anderen Fuß gehoben hatte, bildete die Gewebemasse eine zweite Haut auf dem Leib und begann damit, auf der Grundlage eines autoadaptativen Programms ihre molekulare Struktur zu verändern. Die Außenseite verwandelte sich in etwas, das nach gewöhnlicher Kleidung aussah, während die Innenseite Kontaktstellen für die Femtomaschinen schuf.

»Die Rüstung ist ein Modell Empirion«, sagte der Avatar. »Sie enthält alle aktuellen Informationen und die notwendigen Einsatzprogramme. Ich bringe Sie zum Schiff.«

Angenehme Ruhe breitete sich in Rahil aus, als die Funktionen von Femtomaschinen und Rüstung sich gegenseitig ergänzten. Die zahllosen winzigen Maschinen in seinem Innern dienten in erster Linie dazu, Zellschäden zu reparieren sowie die metabolische und organische Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Sie gewährten relative Unsterblichkeit, ermöglichten begrenzte emotionale Kontrolle und beschleunigtes Denken. Die Rüstung, in diesem Fall ein Empirion, schützte vor Verletzungen, stellte dem Träger ein gewisses Regenerationspotenzial zur Verfügung und enthielt externe Gedächtnismodule, Datenbanken sowie zerebrale Schaltkreise, die Wahrnehmung und Denken erweiterten. Als der Datenfluss zwischen Femtomaschinen und Rüstung in voller Bandbreite funktionierte, rückten Rahils zuvor wild durcheinandergewirbelte Gedanken und Erinnerungen an ihren Platz, während Gefühle, die diese neue Ordnung beeinträchtigen konnten, in den mentalen Hintergrund wichen. Er erreichte den geistigen Zustand, den die Missionare der Ägide »ruhige, entschlossene Einsatzbereitschaft« nannten. Nichts lenkte ihn ab, nicht einmal die Erinnerungen an Jazmine.

»Sie sind der Kurator?«, fragte Rahil, als er dem Avatar durch das Loch in der Wand in einen halbdunklen Korridor folgte.

Der hagere Mann in der Ägide-Uniform vor Rahil zögerte kurz, und das kaum sichtbare Flimmern, wie ein leichtes Verschwimmen der Konturen, schien für den Bruchteil einer Sekunde etwas stärker zu werden. »Die von mir repräsentierte Maint dieser Station, ja. Ich habe überlebt, obwohl der Angreifer eine Logikbombe gegen meine Systeme eingesetzt hat.«

Sie wichen einem Trümmerstück aus, das wie ein kleiner Berg vor ihnen aufragte und aus der Wand gebrochen war. Es sah aus, als hätte sich etwas mit roher Gewalt einen Weg durch die Station gebahnt, ohne sich von Siegeltüren und Wänden aufhalten zu lassen, und das Ziel schien ihr Zentrum gewesen zu sein, der am besten geschützte Ort, wo sich Schmiede und Uterus befanden.

Rahil griff auf die Erinnerungen zu, die Teil des überspielten Images waren, und wertete mithilfe der zerebralen Schaltkreise innerhalb von nur ein oder zwei Sekunden alle relevanten Daten aus. Es gab viele Maints mit dem Status von Kuratoren, aber die meisten von ihnen befanden sich in großen planetaren Stationen oder Orbitalbasen, in direkter Verbindung mit einer Aura, wenn sie nicht gar ihren Mittelpunkt oder zumindest eins ihrer Zentren bildeten. In einer relativ kleinen Station wie dieser – über die Kommunikationssysteme der Rüstung hatte Rahil Zugriff auf die freigegebenen Datenspeicher der Station und eine schematische Darstellung mit Leistungsspezifikationen heruntergeladen –, noch dazu ein ganzes Stück von Ganska und seiner Informationsaura entfernt, lag der größte Teil der Kapazität einer Maschinenintelligenz brach; smarte Systeme hätten vollkommen ausgereicht.

»Es erfolgen keine Instruktionen?«, fragte Rahil.

»Rufen Sie die Einsatzprogramme auf, wenn Sie an Bord des Schiffes sind«, erwiderte der Avatar. »Die Leskovar sagen, dass die Routen geeignet sind, und die Zeit drängt. Sie müssen so schnell wie möglich nach Heraklon.«

Sie erreichten einen Gang, in dem es zu einer Explosion gekommen war, und Rahil beobachtete eine glitzernde Wolke aus Femtomaschinen, die geborstenen Synthmetallen und Polymeren neue Struktur gaben – die Station reparierte sich. Ein autonomes Reparaturmodul schwebte ihnen entgegen, auf einem wie heiße Luft flirrenden Krümmungsfeld und einen silbergrauen Schweif hinter sich herziehend. Offenbar handelte es sich um eine Minischmiede, auf die Produktion spezialisierter Femtomaschinen programmiert. Der Angriff, überlegte Rahil, konnte noch nicht lange zurückliegen, denn sonst wäre zumindest die Schmiede als wichtigste Komponente der Station repariert gewesen.

»Warum ausgerechnet ich?«, fragte Rahil. »Mein Tod auf Heraklon bedeutet, dass ich identifiziert worden bin. Außerdem ist Ganska mehr als fünftausend Lichtjahre von Heraklon entfernt. Bestimmt sind andere Missionare der Ägide dem Planeten näher als ich.«

Seltsamerweise antwortete der Avatar nicht sofort. Er blieb an den Resten einer zerstörten Siegeltür stehen, den Kopf wie horchend zur Seite geneigt. Knirschende Geräusche kamen aus der Finsternis, und in der Dunkelheit flackerte ein defektes Leuchtelement. Rahil erinnerte sich an den Hinweis, dass der Angreifer vielleicht noch immer an Bord war. Die Sensoren der Rüstung nahmen keine verdächtigen Aktivitäten wahr, aber das hatte nicht viel zu bedeuten, wenn primäre Technik zum Einsatz kam.

Der Avatar setzte den Weg fort, durch einen intakten peripheren Korridor. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft.

»Wir sind sicher, dass Sie vor Ihrem Tod ein Image angefertigt oder zumindest Ihre Erinnerungen gespeichert haben, vermutlich zusammen mit wichtigen Informationen über das Artefakt«, sagte der Avatar. »Wir wissen nicht, wie die Daten gespeichert sind, aber auf Heraklon unterliegt Technik oberhalb der vierten Stufe der Interdiktion. Es gibt sie nur in Ausnahmezonen wie unserer dortigen Botschaft und den Konsulaten. Deshalb müssen wir davon ausgehen, dass Image oder Gedächtnisinhalt nicht in einem dauerhaften Speicher abgelegt sind. In einigen Wochen oder Monaten könnten die Daten unbrauchbar sein. Dann wäre Ihr früheres Leben endgültig verloren, Rahil Tennerit.«

»Aber wie soll ich meine Erinnerungen finden? Ich weiß nichts mehr von meinem Einsatz auf Heraklon. Dieses Image ist wie alt?«

»Ein Jahr.«

»Ein ganzes Jahr!«, entfuhr es Rahil.

»Ein aktuelleres stand leider nicht zur Verfügung«, sagte der Avatar in einem bedauernden Tonfall. Sie traten durch ein offenes Schott, und der sonderbare Geruch wurde stärker. »Es wird keine Rolle spielen, sobald Sie Ihre Erinnerungen auf Heraklon gefunden haben. Sie werden nicht als einfacher Missionar dorthin zurückkehren, Rahil Tennerit. Diesmal brechen Sie mit Exekutor-Privilegien auf. Sie sind bereits bei unserer Botschaft akkreditiert, und Sie erhalten einen Assistenten, der Ihnen helfen wird.«

Dieser Hinweis ließ Rahil nicht unbeeindruckt. Exekutoren waren Sonderbeauftragte der Ägide, dazu befugt, sich über Regeln und Vorschriften hinwegzusetzen, wenn es die Situation erforderte. Seine aktuellen Erinnerungen an Heraklon waren ein Jahr alt; in der Zwischenzeit musste sich die Situation auf dem Planeten zugespitzt haben, denn das Kuratorium verlieh Exekutor-Privilegien nicht ohne Grund.

Entschlossenheit erfüllte Rahil, nicht nur geschaffen von Femtomaschinen und Rüstung. Existierte eine wichtigere Mission als die, der Menschheit das Tor in die Zukunft zu öffnen? Dies gab seinem Leben einen Sinn: Er konnte den wichtigsten aller Dienste leisten, und wenn er Erfolg hatte, tilgte er damit einen Teil seiner Schuld. Überkompensation? Und wenn schon. Hauptsache, es half.

»Die Frist, die uns die Hohen Mächte vor sechshundert Jahren gesetzt haben, geht in einigen Monaten zu Ende. Finden Sie Ihre auf Heraklon gespeicherten Erinnerungen und lösen Sie das Rätsel des Artefakts. Als Exekutor können Sie auf alle Ressourcen zurückgreifen, die Sie brauchen.«

Als Exekutor war er auch nicht mehr an die Nichteinmischungsprinzipien gebunden, an denen die Ägide noch immer festhielt, trotz allem. Es war ein verlockender Gedanke.

»Wie wir hörten, haben die Krion die gegenwärtigen Entwicklungen zum Anlass genommen, sich im Gremium der Evaluatoren erneut dagegen auszusprechen, der Menschheit und den mit ihr assoziierten Sieben Völkern den Status von Sekundären zu geben und uns Zugang zur Kosmischen Enzyklopädie zu gewähren«, sagte der Avatar.

»Die Krion waren immer gegen uns«, sagte Rahil und fragte sich noch immer, was der seltsame Geruch bedeutete.

Der Avatar zog eine Siegeltür auf. »Die Gesserat und Feazelle stehen uns ebenfalls skeptisch gegenüber, vor allem wegen des vom Dutzend begonnenen Krieges, an dem vor einigen Jahrhunderten auch die Polymorphen von Heraklon beteiligt waren.«

Rahil erinnerte sich gut daran; es war Teil seiner Familiengeschichte.

»Umso wichtiger ist Ihre Mission, Exekutor Tennerit.« Der Avatar trat durch die Tür, und es wurde hell im Raum. Im selben Moment identifizierte Rahil den scharfen Geruch.

Es war der Geruch des Todes.

Kryo-Zellen waren an den Wänden aufgereiht, insgesamt neunzehn an der Zahl, jeweils zweieinhalb Meter lang und neunzig Zentimeter breit – die Standardmodule der Ägide. Jede Schmiede verfügte über ein entsprechendes Programm, denn solche Kryo-Einheiten konnten, im All oder auf einer der Gefallenen Welten, über Leben oder Tod entscheiden. In diesem Fall brauchte keine solche Entscheidung getroffen zu werden, denn allein die sichtbaren Verletzungen der Körper in den Zellen deuteten darauf hin, dass keine Schläfer in ihnen ruhten, sondern Leichen.

Der erste Behälter enthielt den Leichnam des Stationsschmieds, eines gläsernen Ippakao. Die kristallenen Elemente seines schmächtigen, fragilen Körpers hatten sich getrübt; Bruchlinien durchzogen die Kapillargefäße in ihnen. Das nur zehn Zentimeter breite Gesicht war zerschmettert, der aus Muskel- und Mineraliensträngen bestehende Hals zerfetzt.

»Wie kam der Angreifer hierher?«, fragte Rahil und dachte daran, dass der Schmied und die achtzehn anderen seinetwegen gestorben waren. »Dies ist eine Station der Ägide, in der Nähe eines Hightech-Planeten der Bruch-Gemeinschaft. Ein Angriff sollte eigentlich unmöglich sein.«

Sein Blick glitt über die Kryo-Zellen, und er fragte sich, wer die Toten geborgen und dort untergebracht hatte. Woher stammten die Behälter überhaupt, wenn die Schmiede zerstört worden war?

»Er kam aus dem Nichts, vielleicht durch ein individuelles Kickin«, erwiderte der Avatar. »Und er könnte noch immer an Bord sein«, betonte er noch einmal. »Auch deshalb ist Eile geboten.« Er deutete zum Schiff, das in der Startmulde wartete: eine zart anmutende Blume aus silbergrauem Synthmetall, die Blütenblätter – das Heck – weit geöffnet und zwischen ihnen, wie kleine Knospen, die Projektionselemente der Variatoren. Ein Shifter der Ägide, ausgestattet mit primärer Technik, sehr schnell und weder auf Sprungsektoren noch die Fraktale der Leskovar angewiesen. Aber das gerade geschaffene und stabilisierte Kickout ermöglichte Transite in Minuszeit über sehr weite Strecken; schneller konnte man praktisch nicht reisen. Es sei denn, man befand sich an Bord eines Kontinuumschiffs der Krion.

Eine Warnmeldung erschien wie vor Rahils Augen, von der Rüstung in sein Blickfeld eingeblendet: Fehlfunktion im vierten zerebralen Schaltkreis.

Die Meldung verschwand sofort wieder, noch bevor Rahil bewusst den Blick darauf richten konnte, und der Avatar sagte: »Er kam aus dem Nichts, vielleicht durch ein individuelles Kickin. Und er könnte noch immer an Bord sein. Auch deshalb ist Eile geboten.«

Rahil sah den hageren, älteren Mann in der Ägide-Uniform verblüfft an und stellte fest, dass sie die Rampe des Shifters erreicht hatten, dessen Krümmungsfeld zwischen den knospenartigen Generatoren glühte und sie mit einem leisen Summen willkommen hieß. »Dieselben Worte haben Sie an mich gerichtet, als wir eben bei den Kryo-Zellen standen.«

Der Avatar richtete einen ernsten Blick auf ihn. »Wir sind nicht bei den Zellen stehen geblieben«, sagte er. »Kontrollieren Sie die Aufzeichnungen des Empirion.«

Rahil kontrollierte sie, und die Rüstung bestätigte: Sie waren an den Kryo-Zellen vorbeigegangen, und er hatte einen flüchtigen Blick auf den toten Schmied geworfen, mehr nicht. Und die Worte, an die er sich zu erinnern glaubte, waren gerade zum ersten Mal gefallen.

»Ihr Selbst ist noch nicht stabil«, sagte der Avatar sanft. »Der Uterus hat mit maximaler Beschleunigung gearbeitet, weil wir weitere Angriffe fürchteten. Image und Körper müssen vermutlich noch richtig zusammenwachsen.«

Das war eine seltsame Ausdrucksweise für den Avatar einer Maschinenintelligenz; normalerweise sprach man nach einer Wiederherstellung von »Integration«.

Die Station ist beschädigt, dachte Rahil. Das muss Auswirkungen auf den Avatar der Kurator-Maint haben. Oder war mit der Rüstung etwas nicht in Ordnung?

Er beschloss, später gründliche Funktionsanalysen vorzunehmen, und folgte dem Kurator ins Schiff.

Dort wartete ein Polymorpher auf sie.

Der Mann war jung, um die zwanzig, und wie der Avatar trug er eine Uniform der Ägide, die seltsamerweise eine Nummer zu groß wirkte, obwohl sie mit Autoadaptation ausgestattet war und sich, innerhalb gewisser Toleranzen, jeder beliebigen Körperform anpasste. Vielleicht hatte er gerade seine Gestalt gewechselt oder seine Körperstruktur so oft verändert, dass die autoadaptiven Fasern der Uniform an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit stießen.

»Ich will nicht zurück«, sagte der junge Mann trotzig, und eine Reptilienzunge tastete aus dem von kleinen, grüngelben Schuppen gesäumten lippenlosen Mund. »Ich habe lange genug gebraucht, um Hrkln zu verlassen, und jetzt soll ich zurück wegen … wegen …« Er hob die ebenfalls von Schuppen bedeckten Hände und ließ sie wieder sinken. Dann beugte er sich plötzlich vor, und der Ärger im reptilienartigen Gesicht wich Furcht. »Ist er noch da? Treibt er sich noch da draußen herum? Zerstört und tötet er noch immer? Wenn meine Mutter davon erfährt, wird die Ägide ihren Zorn zu spüren bekommen!«

Rahil wechselte einen kurzen Blick mit dem Avatar. Die Kommunikationssysteme der Rüstung waren aktiv geworden, was ihn darauf hinwies, dass der Polymorphe seine Heimatsprache verwendet hatte und nicht das bei der Ägide gebräuchliche Stellar, eine künstliche Sprache, die sich besonders gut für Informationsübermittlung eignete und mit der auch nonsmarte Geräte ohne Auraverbindungen programmiert werden konnten. Die ein Jahr alten Erinnerungen des Images präsentierten ihm Daten aus der Zeit seiner Vorbereitungen auf die fehlgeschlagene erste Heraklon-Mission. Der Polymorphe sprach Tarit, eine von fünf auf Heraklon gebräuchlichen Hauptsprachen, genauer den Dialekt von Munraha, der häufig Vokale unterschlug und sich gerade bei Namen auf Konsonanten beschränkte. Der Name des Planeten klang im munrahanischen Tarit wie ein Knurren: Hrkln. Munraha ist der zweitgrößte von neunzehn Nationalstaaten auf Heraklon, flüsterten die Image-Erinnerungen. Weitere Daten flossen über die im Uterus geschaffenen neuronalen Verbindungen, zusammen mit Bildern. Innerhalb eines Sekundenbruchteils erfuhr Rahil, dass Munraha ein Matriarchat war, in dem Männer nur eine untergeordnete Rolle in Staat und Gesellschaft spielten, und dieser Polymorphe dort im Korridor des summenden, startbereiten Shifters wies große Ähnlichkeit mit einem Sohn der Ersten Mutter auf.

Rahil erinnerte sich an einige Worte des Avatars, denen er kaum Beachtung geschenkt hatte, weil er zu sehr von seinen neuen Exekutor-Privilegien überrascht gewesen war. Sie erhalten einen Assistenten, der Ihnen helfen wird.

»Ich arbeite allein«, sagte er. Seit fast hundert Jahren war er für die Ägide tätig und in dieser Zeit zu einem ihrer besten Missionare geworden. Deshalb hatte ihn das Kuratorium vor zwei Jahren für die Heraklon-Mission ausgewählt. Er hatte sich das Recht erworben, seine Vorgehensweise zu bestimmen und eventuelle Helfer selbst auszuwählen.

»Diesmal nicht«, erwiderte der Avatar. Seine Gestalt flackerte kurz, und ein Grollen kam aus dem Innern der Station.

Der Polymorphe zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück. »Was war das?«, zischte er.

»Das energetische Herz der Station ist bedroht«, sagte der Avatar. »Starten Sie, Rahil Tennerit. Ich kümmere mich um den Angreifer.« Er ging durch den Korridor zur Rampe. »Sie waren in Munraha, als Sie starben. Sammaccan ist Sohn der Ersten Mutter, und das gibt ihm im Gegensatz zu den anderen Männern die Möglichkeit, sich dort frei zu bewegen. Er ist Ihr …« Der Kurator blinzelte, und Rahils Komm-Systeme empfingen das Wort Eintrittskarte, während der Avatar den begonnenen Satz mit »Assistent« beendete.

Die Schlangenaugen des Polymorphen schienen plötzlich zu leuchten. »Ich bin sein Assistent? In den Diensten der Ägide?«

Der Avatar nickte. »So hat es das Kuratorium beschlossen.«

Sammaccan atmete tief durch, und seine Brust schwoll so sehr an, dass sie den oberen Teil der Kleidung füllte. »Es ist mir eine … große Ehre. Ich werde mein Bestes geben! Ich werde …«

Der Avatar des Kurators trat aus dem Schiff. »Bevor ich es vergesse, Exekutor. Vor einigen Wochen erfuhren wir von unserem Missionar auf Kattinga, dass die Großen Familien des Dutzends einen Ascar auf Sie angesetzt haben. Es könnte einen Zusammenhang mit Ihrem Tod auf Heraklon geben. Seien Sie doppelt vorsichtig.« Der hagere, ältere Mann winkte und verschwand. Sofort schloss sich die Luke.

Ein Ascar?, dachte Rahil. Nach all der Zeit? Nach fast einem Jahrhundert? Für einen Moment sah er das Gesicht seines Vaters vor sich, Zorn in den grauen, kalten Augen, aber sein Vater lebte längst nicht mehr. Auf den Welten des Dutzends gab es nicht die Möglichkeit, ein Bewusstseinsimage anfertigen und einen neuen Körper erschaffen zu lassen.

Eine dünne Falte bildete sich mitten in seiner glatten Stirn. Bevor ich es vergesse? Maint-Kuratoren vergaßen nichts. Es sei denn, man zerstörte ihre Speicher. Und selbst in dem Fall gab es genug redundante Verzweigungen, um wichtige Informationen – und dies war eine wichtige Information – zu bewahren.

Eine Sekunde war verstrichen, mehr nicht. Sammaccan schien Rahils Zögern nicht einmal bemerkt zu haben.

»Zur Pilotenkanzel«, sagte Rahil und ging mit langen Schritten. Eine leichte Vibration, für gewöhnliche taktile Sinne kaum wahrnehmbar, wies ihn darauf hin, dass der Shifter durch den Ätmosphärenschild fiel, der die Startmulde vom All trennte.

Sammaccan folgte ihm und versuchte an seiner Seite zu bleiben. »Was muss ich tun? Wie gehen wir vor? Bekomme ich einen offiziellen Status? Ich meine, einen ganz offiziellen? Kann ich als Missionar nach Hrkln zurückkehren? Was meine Mutter dazu sagen wird! Und all die anderen …« Es folgte ein Wort, das die Kommunikationssysteme der Rüstung mit »Xanthippen« übersetzten.

Rahil antwortete nicht und fällte ein erstes Urteil, auf der Grundlage von Körpersprache, Ausdrucksweise und allgemeinem Verhalten. Sammaccan, Polymorpher von Heraklon, war ein dummer, eingebildeter, unreifer Narr.

»Ich werde es ihnen allen zeigen!«, fuhr der junge Reptilienmensch voller Eifer fort, als sie die Pilotenkanzel betraten. »Ich werde ihnen zeigen, was in mir steckt! Ich werde auf den Stufen des Mutterhauses stehen, in dieser Uniform der Ägide, nein, in einer noch schöneren, mit vielen Abzeichen und glänzenden Medaillen, und mein Ruhm wird heller strahlen als die Sonne am Himmel, und die Mütter werden sich vor mir verbeugen …« Er unterbrach sich, schnappte nach Luft und rief: »Es frisst uns!«

Rahil saß bereits im Sessel des Piloten und vergewisserte sich, dass sie auf Kurs waren und alle Systeme des Shifters wie vorgesehen funktionierten. Vor ihnen wuchs das Kickout der Leskovar, eine riesige goldene Blume, die sich anschickte, eine kleine silberne zu verschlingen.

»Es ist ein Transitfraktal«, sagte Rahil und fragte sich, wie viel beziehungsweise wie wenig, dieser Idiot, der sein Helfer sein sollte, von der Ägide und allem anderen wusste. »Es bringt uns nach Heraklon.«

Die zentrale Öffnung des Fraktals nahm den Shifter auf und schickte ihn mit einem Vielfachen der Lichtgeschwindigkeit durch den M-Raum. Rahil Tennerit, zum vierten Mal von den Toten wiederauferstanden, schloss die Augen, blendete die Stimme des Polymorphen aus und dachte an die Mission auf Heraklon und seinen Tod auf jener Welt. Es gab, so wurde ihm klar, bei dieser Sache auch eine sehr persönliche Komponente: Er wollte sein letztes Leben zurückhaben – die Erinnerungen daran – und den Mörder finden, der es ihm genommen hatte.

Nur hunderttausend Kilometer über dem Kickout, das sich zusammenzufalten begann, kroch ein kleines Kontinuumschiff der Krion, dunkel wie die Nacht zwischen den Sternen, aus einer Raumfalte, in der es sich verborgen hatte. Es schenkte der sich langsam um ihre eigene Achse drehenden Station der Ägide ebenso wenig Beachtung wie dem Planeten Ganska und seinen Monden, führte ein nicht länger als eine Nanosekunde dauerndes Datengespräch mit dem Polarisator der Leskovar und glitt dann dem Fraktal entgegen, das es ebenso aufnahm wie zuvor die silberne Blume des Shifters.

Feinde ringsum!

Dicht wie wetterschwarze Wolken

Drängen sie gegen mich heran.

DER ERSTE FEIND

4

Die Schmiede im Zentrum des Ägide-Shifters war eine silbergraue Säule, die sich langsam drehte, während sie von den Systemen des Instrumentenraums neue Energie empfing. Sie gehörte zum einfachen monochromen Typ mit fester, unveränderlicher Programmierung und benötigte daher keinen Schmied für die Anpassung komplexer Produktionsprogramme. Rahil hatte sich eine Analyseeinheit fabrizieren lassen – mit begrenztem Potenzial, aber für seine Zwecke völlig ausreichend –, stand nackt vor dem leise surrenden Apparat und beobachtete, wie er seine Rüstung verschlang. Holografische Fenster öffneten sich über der Werkbank mit den vielen Anschlüssen und Interfaces, und Datenkolonnen wanderten durch die Darstellungsbereiche.

»Wünschen Sie einen einfachen Funktionstest oder eine gründliche Überprüfung?«, erklang die Stimme der Maschinenintelligenz, die das Schiff steuerte und dessen Systeme kontrollierte, darunter auch die Schmiede.

»Ich möchte wissen, ob ich diesem Modell Empirion mein Leben anvertrauen kann«, sagte Rahil.

»Ich verstehe, Exekutor. Überprüfung beginnt. Wünschen Sie Kleidung, während Sie warten?«

»Nein, es ist warm genug.« Exekutor, dachte er und begann mit einer langsamen Wanderung durch den etwa dreißig Quadratmeter großen Instrumentenraum, der sich dort befand, wo der silberne »Blumenstängel« des Schiffes in den Blütenkelch überging. Hatte der Junge, der damals auf Caina davon geträumt hatte, einmal zur Ägide zu gehören, jemals daran gedacht, Exekutor zu werden? Ein Gesicht mit Sommersprossen erschien vor Rahils innerem Auge, aber es gehörte nicht Jazmine, sondern Emily, dem Kindermädchen, das seiner Schwester und ihm von anderen Welten erzählt hatte. Emily mit dem leichten Lächeln und der sanften Hand … Sie hatte Regeln beschrieben, die Moral und Ethik betrafen und über die sich niemand hinwegsetzen durfte. Und der Knabe, der an ihren Lippen gehangen hatte, nicht nur von ihren Worten fasziniert, war entschlossen gewesen, jene Regeln – die der Ägide – eines Tages zur Grundlage seines Lebens zu machen, denn sie waren ganz anders als der auf Macht ausgerichtete Pragmatismus seiner Familie. Worte seines Vaters hallten aus der Vergangenheit, mit dem dumpfen Klang einer Stimme, die aus dem Grab kam: »Moral und Ethik sind Entschuldigungen der Schwachen. Unsere Familie ist stark und mächtig geworden, weil wir es verstanden haben, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, immer und überall. Tu, was getan werden muss, Rahil. So lautet unser Grundsatz. Du wirst es lernen, und ebenso deine Schwester. Du wirst lernen und begreifen, dass ich recht habe, und irgendwann wirst du meinen Platz einnehmen und dieses Prinzip auch deinen Sohn lehren.«

Aber dazu war es nicht gekommen. Rahil hatte Caina verlassen, er war aus dem Dutzend geflohen, um nicht die Nachfolge seines Vaters antreten zu müssen, und er hatte seine Schwester überredet, mit ihm zu kommen. Und dann, kurze Zeit später, war Jazmine gestorben.

Nein, damals hatte er nicht davon geträumt, sich über Regeln hinwegzusetzen, aber viele Jahre später, in denen nach zahlreichen Einsätzen die Enttäuschung größer geworden war als die Hoffnung, auf den Gefallenen Welten entscheidende Verbesserungen zu bewirken, hatte er damit begonnen, Kritik zu üben und eine Revision des Regelwerks der Ägide zu fordern. Warum, hatte er immer wieder laut und hartnäckig gefragt, setzte die Ägide nicht alle ihre technischen, politischen und wirtschaftlichen Mittel ein, um den Despotien und Autokratien auf den Gefallenen Welten ein Ende zu setzen? Dass ausgerechnet er mit der Heraklon-Mission beauftragt worden war, hatte ihn angesichts seiner Kritik überrascht – daran erinnerte sich das Image –, aber im Licht der neuen Entwicklungen betrachtet war es vielleicht gar nicht so überraschend. Die Ägide, das Kuratorium … Sie konnten nicht über ihren eigenen Schatten springen, zumal sie sich ständig von den Evaluatoren der Hohen Mächte beobachtet fühlten. Vielleicht war er für die Mission auf Heraklon ausgewählt worden, weil er so oft Kritik geübt und ein direkteres Eingreifen gefordert hatte. Vielleicht hatten die Kuratoren gehofft, dass er sich über die Regeln hinwegsetzte, um seinen Auftrag zu erfüllen.

Aber es hatte nicht funktioniert. Er war getötet worden.

Und jetzt stand er hier, an Bord eines Shifters, der nach Heraklon flog, offiziell mit Exekutor-Privilegien ausgestattet: Rahil Tennerit, als Kind von Idealen fasziniert, als Erwachsener von ihnen enttäuscht und in seinem vierten Leben berechtigt, sie zu verraten, um ebenjene Ideale zu bewahren und durchzusetzen.

Er hatte die Augen geschlossen, öffnete sie nun und sah sein Spiegelbild in der silbernen Säule der inzwischen zur Ruhe gekommenen Schmiede. Dort stand ein Mann, der etwa fünfunddreißig Jahre alt zu sein schien, schlank, der Körper fast völlig haarlos, bis auf etwas blonden Flaum am Geschlechtsteil und ebenfalls blonde Stoppeln auf dem Kopf, die bleiche Haut voller roter Flecken, wo es zuvor direkte Nervenverbindungen mit dem Empirion gegeben hatte. Das Gesicht mit den zwei großen aquamarinblauen Augen war auffallend schmal, ebenso die Nase.

Rahil wandte sich von der Schmiede ab, setzte seine Wanderung durch den Instrumentenraum fort und kam am Eingang vorbei, neben dem grüne Indikatoren auf die Unversehrtheit der Siegel hinwiesen. Zwei weitere Schritte brachten ihn zu einem Terminal, dessen Anzeigeflächen über die Programme und Subprogramme der Schmiede Auskunft gaben und ihren Bereitschaftsstatus bestätigten. Neben diesen Terminals stand ein Stuhl, vom Formspeicher des Shifters so gestaltet, dass er den Eindruck erweckte, aus echtem Holz zu bestehen – die Maserung unter der dünnen, transparenten Lackschicht war deutlich zu erkennen. Rahil zögerte, nahm auf dem Stuhl Platz und legte die Arme auf die Armlehnen. Das Material des Stuhls fühlte sich sogar nach Holz an, weckte weitere Erinnerungen an seine Kindheit im Dutzend und ein Leben mit primitiver Technik. Abrupt stand er wieder auf und fröstelte, obwohl sich an der Temperatur nichts geändert hatte.

»Alle Komponenten dieses Empirion-Modells funktionieren einwandfrei, Exekutor«, sagte die Maschinenintelligenz des Shifters.

Rahil kehrte zur Werkbank mit der Analyseeinheit zurück. Die Rüstung erschien in ihrem Ausgabefach, sorgfältig zusammengefaltet, gereinigt und überprüft. Er sah darauf hinab und überraschte sich selbst, indem er nicht sofort die Hand danach ausstreckte. »Was ist mit den Gedächtnismodulen? Gibt es … Inkongruenzen in den Aufzeichnungen?«

Der Analysator surrte leise vor sich hin, und ansonsten blieb es still. Rahil wollte seine Fragen schon wiederholen, als die Shifter-Maint erwiderte: »Was meinen Sie mit ›Inkongruenzen‹, Exekutor?«

»An Bord der Station habe ich den Avatar zweimal die gleichen Worte sprechen hören. In einem Abstand von wenigen Sekunden. Was sagen die Aufzeichnungen dazu?«

Wieder folgte Stille, und Rahil runzelte verwundert die Stirn. Die Analyse der Aufzeichnungen gehörte zur Überprüfung; er hätte sofort Antwort bekommen müssen.

»Die Aufzeichnungen enthalten keine Wortwiederholungen, Exekutor.«

»Sind sie nachträglich verändert worden?«

»Nein. Die Integrität der Daten ist verifiziert.«

Rahil sah noch immer auf die Rüstung hinab, spürte ein leichtes Prickeln im Nacken und fragte sich, ob es sein Instinkt war, der ihn warnte.

»Wie konnte es zu dem Angriff auf die Station der Ägide kommen?«

»Unbekannt. Ich verfüge nicht über genug Informationen, um diese Frage zu beantworten.«

Rahil überlegte, die Gedanken allein von den Femtomaschinen beschleunigt.

»Hat sich kurz vor oder während der Wachstumsphase meines Körpers im Uterus ein Schiff der Station genähert?«

»Nein, Exekutor. Die Station unterlag einem Anflug-Interdikt, vom Kuratorium verhängt. Es diente Ihrem Schutz.«

Die Rüstung lag da und schien ihm zuzuflüstern: Zieh mich an. Doch etwas stimmte nicht. Dieses Gefühl wurde immer deutlicher, verstärkt vom Prickeln im Nacken.

»Der Polymorphe, der mich nach Heraklon begleiten soll, Sammaccan … Wie kam er zur Station?«

»Durch ein Kickin«, antwortete die Maschinenintelligenz des Shifters sofort. »Genau eins Komma vier eins Stunden vor Beginn Ihrer Genese. Ein Missionar begleitete ihn und brachte sowohl Ihr Image als auch die DNS für den Uterus.«

Rahil wölbte eine Braue. »Die Leskovar haben ein Minifraktal in der Station installiert?«

»Ja, Exekutor. Es wurde beim Angriff zerstört.«

»Was ist mit dem zweiten Kickin, durch das der Angreifer kam?«

»Von einem zweiten Kickin ist mir nichts bekannt, Exekutor.«

Rahil wölbte eine Braue und erinnerte sich daran, dass der Avatar nur die Möglichkeit eines Kickins erwähnt hatte. Er kam aus dem Nichts, vielleicht durch ein individuelles Kickin. »Wie viele sind aus dem von den Leskovar installierten Kickin gekommen?«

»Nur die beiden bereits erwähnten: der Missionar, der das Image und Ihre DNS für den Uterus brachte, und Sammaccan.«

»Niemand sonst?«

»Nein«, sagte die Maint des Shifters. »Ich empfehle Ihnen, die Rüstung anzuziehen und das im Hauptspeicher abgelegte Instruktionsprogramm aufzurufen. Vermutlich kann es alle Ihre Fragen beantworten.«

Kein Fehler bei den Aufzeichnungen, dachte Rahil, den Blick nach wie vor auf das Empirion gerichtet. Also ein subjektiver Faktor, etwas in meiner Wahrnehmung. Liegt es am Image? Ist es noch nicht richtig integriert, oder steckt eine mentale Fehlfunktion dahinter?

Zwei oder drei Sekunden lang rang er mit einem klassischen Dilemma. Wenn es Grund zu der Annahme gab, dass eine solche Fehlfunktion existierte, hätte das Image gelöscht und neu übertragen werden müssen, doch das wäre einem »Tod« dieser neuen Identität gleichgekommen. Rahil wollte nicht sterben, nicht so schnell nach seiner Wiedergeburt.

Das Prickeln im Nacken wurde zu einem Stechen, und diesmal war er sicher – sein Instinkt, nach hundert Jahren in den Diensten der Ägide geschärft, versuchte ihn zu warnen.

Plötzlich begriff Rahil, dass er trotz der Versiegelung des Instrumentenraums nicht allein war.

5

Rahils Blick glitt durch den Raum, vorbei an der silbernen Säule der monochromen Schmiede, über die Instrumente und Geräte, die Anzeigen und Displayfelder. Ein ruhiges, stetiges Summen hing in der Luft, verursacht von der Schmiede, die auf Anweisungen wartete. Der Stuhl neben dem Auswahlterminal passte nicht zum Rest.

»Schiff?«

»Exekutor?«

»Wie viele Personen befinden sich in diesem Raum?«

»Die Sensoren registrieren zwei.«

Ein Polymorpher, fuhr es Rahil durch den Sinn. Ich hätte es wissen müssen.

Er ging zu dem Stuhl. »Ich lasse mich nicht gern ausspionieren.«

Der Stuhl bewegte sich nicht.

»Wenn Sie sich nicht sofort in Ihrer normalen Gestalt zeigen, werde ich dieses Ding zertrümmern!«

Die Stuhlbeine krümmten sich, Sitzfläche und Rückenlehne flossen ineinander und wuchsen in die Länge, veränderten Farbe, Konsistenz und Struktur. Rahil beobachtete, wie sich der Stuhl innerhalb weniger Sekunden in ein humanoides Geschöpf verwandelte, mit einer Haut aus einander überlappenden Schuppen, die jedoch schnell ihre Beschaffenheit veränderten und eine Ägide-Rüstung imitierten: hauchdünn, grün und kobaltblau, den Uniformen hochrangiger Kuratoren der Ägide nachempfunden. Zahlreiche Medaillen baumelten an Brust und Kragen.

»Ich habe Sie ausdrücklich aufgefordert, in Ihrem Quartier zu bleiben. Stattdessen haben Sie sich hierhergeschlichen und meine Privatsphäre verletzt. Warum?«

Sammaccan zischte, und die Medaillen an der nachgebildeten Uniform glänzten und klirrten, als er sich aufrichtete. »Sie weigern sich, meine Fragen zu beantworten!«, platzte es klagend aus ihm heraus, und das Kommunikationssystem des Shifters übersetzte für Rahil. »Obwohl die Einsatzvorschriften der Ägide Sie dazu verpflichten. Immerhin bin ich Ihr Assistent! Sie haben mir nicht einmal gesagt, warum die Reise so lange dauert, obwohl sie angeblich in Minuszeit stattfindet!«

Rahil musterte den vor ihm stehenden Reptilienmenschen nachdenklich. Die Polymorphen waren das Ergebnis genetischer Manipulationen, die während der Zeit des Aufbruchs stattgefunden hatten, vor viertausend Jahren, beim Ersten Exodus von der Erde. Ebenso wie die noch viel exotischeren Segler oder die Acquaä des Maritimen Bundes – Planeten, die weder zu den Gefallenen Welten noch der Bruch-Gemeinschaft zählten und, soweit bekannt, vom Ereignis verschont geblieben waren – trugen sie das genetische Erbe des alten Homo sapiens in sich. Aber die damaligen Bioingenieure, Adepten der noch jungen Wissenschaft der »biologisch-ökologischen Adaptation«, hatten den genetischen Code ihrer Vorfahren erweitert, und auf diese Weise waren neue Menschenspezies entstanden, mit einer eigenen Evolution. Die Folgen der damaligen Umweltanpassungen waren nicht immer positiv gewesen, wie die Segler bewiesen, die nach wie vor – auch nach vier Jahrtausenden – eine Gefahr darstellten, vor allem für die peripheren Welten. Auch die Polymorphen, die außer auf Heraklon noch auf vier anderen Welten lebten, genossen keinen besonders guten Ruf, nicht zuletzt wegen des Krieges, an dem sie damals, mit den Tennerits vom Dutzend verbündet, teilgenommen hatten.

Rahil drehte sich um, kehrte zur Analyseeinheit zurück, nahm die Rüstung und streifte sie über. Das Empirion passte sich sofort seinem Körper an und stellte die unterbrochenen Nervenverbindungen wieder her.

»Die Minuszeit betrifft die objektive Dauer des Transits, nicht die subjektive«, sagte er, sprach in einem geduldigen Ton und fragte sich gleichzeitig, wie viel – oder wie wenig – dieser Polymorphe von Heraklon über die Ägide und die Hohen Mächte wusste. »Für uns vergeht während des Transits, während dieses Transits, eine Woche subjektive Echtzeit, aber gleichzeitig bewegt uns das Kickout der Leskovar durch Minuszeit, was bedeutet, dass die Dauer des Transits außerhalb unseres Shifters null ist. Mit anderen Worten: Wenn wir das Lagoni-System mit Heraklon erreichen, ist dort in Bezug auf das Nevarezz-System mit Ganska seit unserem Transit keine Zeit vergangen.«

Rahil beobachtete den Polymorphen aufmerksam, während er das Konzept erklärte, und ihm fiel auf, dass Sammaccans Blick mehrmals zur Schmiede huschte.

»Es gibt auch Transite mit Pluszeit, und aus naheliegenden Gründen sind sie problematischer als die mit Minuszeit«, fuhr Rahil fort. Die Rüstung schenkte ihm angenehme Ruhe und schärfte gleichzeitig seine Aufmerksamkeit. »Dabei vergehen subjektiv Tage oder Wochen, aber die objektive Dauer des Transits kann Jahre oder gar Jahrzehnte betragen. Reisen mit Pluszeit sind Reisen in die Zukunft.«

Sammaccans Blick wanderte erneut zur silbernen Säule der Schmiede.

»Hören Sie mir überhaupt zu?«, fragte Rahil.

»Ich will wissen, wie dies funktioniert!«, zischte der Polymorphe, und diesmal übersetzte das Kommunikationssystem der Rüstung für Rahil. Einige rasche Schritte, die seine Medaillen klirren ließen, brachten Sammaccan zur Schmiede. »Ich will wissen, wie man diesen Apparat dazu bringt, all das zu produzieren, was man haben will! Erklären Sie es mir. Ich bin Ihr Assistent. Sie sind mir Auskunft schuldig!«

Der Reptilienmensch schien noch etwas größer zu werden, die Arme und Beine länger. Er überragte Rahil um zwanzig Zentimeter, und die Schlangenaugen sahen auf ihn herab.

»Deshalb sind Sie hierhergekommen?«, fragte Rahil langsam. »Weil Sie wissen wollen, wie die Schmiede funktioniert?«

»Schmiede!«, zischte Sammaccan. »So heißt also der Apparat.« Er streckte die Schultern und holte tief Luft, wodurch sich der Brustkorb unter der Uniformjacke vorwölbte. »Ich bin Sohn der Ersten Mutter von Munraha und Assistent der Ägide. Ich verlange, dass Sie mir die Funktionsweise der Schmiede erklären!«

»Sie verlangen das?«

»Für meine Dienste!«, fauchte Sammaccan. Seine Zunge tastete kurz aus dem lippenlosen Mund. »Die Ägide hat mich von Hrkln geholt, damit ich Ihnen helfe. Dafür will ich eine Schmiede!«

In diesen Worten steckten Wahrheit und Lüge, bemerkte Rahil. Er bedauerte plötzlich, dass er einen ganzen subjektiven Transittag hatte verstreichen lassen, ohne sich mit dem Instruktionsprogramm des Kurators zu beschäftigen. Es wurde höchste Zeit, Einzelheiten und Umstände seiner Mission kennenzulernen.

»Wozu wollen Sie eine Schmiede?«, fragte Rahil, der die Antwort zu ahnen begann.