Das Atriumhaus - Kay Herminghausen - E-Book

Das Atriumhaus E-Book

Kay Herminghausen

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Beschreibung

Zwei Männer aus unterschiedlichen Kulturkreisen lernen sich kennen: Wilfried aus Deutschland und Rico aus einem unterentwickelten Land. Sie schließen Freundschaft, und Wilfried lädt seinen neuen Freund nach Deutschland ein. Während Rico dort zu einem Fußballstar aufsteigt, eine Familie gründet und ein Haus kauft, verläuft Wilfrieds Entwicklung entgegengesetzt. Ein Sportunfall macht ihn zu einem gefühlten Invaliden. Zudem handelt er sich durch sein Engagement für den Umweltschutz Probleme ein, beruflich, wie privat. Darüber hinaus fühlt er sich verfolgt, was sich auf sein Sozialverhalten auswirkt, mit der Folge, dass sich seine Frau von ihm trennt. Entnervt zieht er mit seiner neuen Lebenspartnerin aufs Land.

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Für Jessica, Julia, Felix, Ina, Noel, Tim, Melissa und alle, um deren Zukunft ich mich sorge

Als Rico zurückkehrte, lief wie immer der Fernseher, was seine Anspannung nicht minderte. Auch wenn das Gerät eingeschaltet war, bedeutete es nicht, dass sie nicht stumm und starr dalag. Jedesmal, wenn er zurückkam, war er auf alles gefasst. Sie hatte eine Krankheit des Gehirns im Endstadium, und die ihr aus ärztlicher Sicht verbleibende Zeit lag zwischen ein paar Wochen und einem halben Jahr. Vier Monate waren davon schon vergangen. Sie sagte es nicht direkt, aber ihr vorzeitiges Ende schien ihr nicht viel auszumachen.

„Das ist Schicksal,“ meinte sie, wenn sie über ihre Krankheit sprachen.

Sie war fünfundfünfzig, und Rico konnte verstehen, dass sie nicht um jeden Preis weiterleben wollte - krank und alt in einer Hütte, mit einem Gemüsebeet und ein paar Hühnern. War ihr Leben von jeher karg gewesen, so hatte es seit dem Tod seines Vaters alle Farbe verloren. Sie war dem Tod geweiht, und ein neben ihrem Sohn verbliebener Lichtpunkt in ihrem Dasein war das Fernsehen, bei dem sie die Schmerzen und die Last der Tage vergaß.

Mit dem Ausdruck freudiger Erwartung pflegte sie sich nach ihrem Tagewerk in ihren Sessel, einem mit Kissen und Woll- decken gepolsterten Holzstuhl mit Armlehnen, zu setzen und sich von den Bildern in eine andere Welt entführen zu lassen. Manchmal betrachtete Rico sie währenddessen von der Seite, und dann sah er, dass sie nicht mehr im Hier und Jetzt war, entrückt den Blick nicht vom Bildschirm wandte, gänzlich gefangen war von dieser fremden Bilderwelt.

Als die Krankheit sie schon nicht mehr ihr gewohntes Leben führen ließ, hatte er von seinem Ersparten den Fernseher gekauft. Dafür eine günstige Gelegenheit genutzt, indem er zusammen mit dem Arzt in dessen Auto in die entfernte Stadt gefahren war. So bequem die Hinfahrt gewesen war, so beschwerlich war die Rückreise gewesen. Nach einer Fahrt mit dem Bus hatte er noch einen langen Fußmarsch mit dem unhandlichen Gerät auf dem Rücken zurücklegen müssen. Es folgten Tage vergeblichen Bastelns und Probierens bis schließlich beim nächsten Besuch des Doctors mit dessen Hilfe zum allgemeinen Entzücken ein unerwartet klares Bild auf dem Schirm erschienen war. Seither lief er, der Apparat, wenn auch nicht störungsfrei, und tat seiner Mutter gut. Wenn der Fernseher lief, vergaß sie ihre Krankheit und Schmerzen. Seit sie bettlägerig war, ließ sie es sich nicht nehmen, ihn schon morgens anzuschalten, in der Hoffnung, dass es Strom gab.

Er nahm ihre kleine, bleiche Hand.

„Später werde ich fortgehen, Mama,“ sagte er mehr zu sich selbst. „Dahin!“ und wies mit einem Nicken zum Fernseher, wo eine amerikanische Serie lief, und schlug in seinem Sprachlehrbuch den Grammatikteil, Deklination, auf. Er hatte das Buch bereits zweimal durchgearbeitet und nutzte jede Gelegenheit, sich mit ihm zu beschäftigen. Aus dem dazugehörigen Wörterbuch lernte und wiederholte er täglich die Vokabeln mehrerer Seiten. Er war fest entschlossen, fortzugehen, sobald es seine Mutter nicht mehr gab. Außer seiner kranken Mutter gab es nichts, was ihn noch hielt, und nur sie wusste auch von seinem Plan, auszuwandern.

„Sie ist schon sehr schwach, kann nicht mehr ihren Arm heben. Sie ist am Ende des Pfades angelangt,“ sagte Doctor Sali, der einmal in vierzehn Tagen kam. „Nur ihre Schmerzen können wir etwas lindern. Hier sind Tabletten. Du gibst ihr dreimal täglich zwei. Wie kommst du zurecht? Es ist eine schwere Zeit. Hilft dir jemand?“

Rico nickte. „Aliwa von nebenan, sie kommt jeden Tag.“

„Was wirst du machen, später, wie sind deine Pläne?“ „Vielleicht gehe ich fort,“ entfuhr es ihm. .

Doctor Sali blickte ihn überrascht an. „Das ist eine gute Idee. Du hast einen klaren Verstand. Nutze ihn! Gehe in die Stadt und mache es wie ich! Das Land braucht Ärzte.“

„Leider bin ich kaum zur Schule gegangen, kann gerade mal lesen und schreiben.“

„Das ist schade. Aber das Versäumte lässt sich vielleicht nachholen. Du könntest dich bei der Medizinischen Hochschule bewerben. Dann erfährst du Näheres. Du bist noch jung, es liegt in deiner Hand. Wenn du willst, erkundige ich mich.“

Rico schüttelte den Kopf. „Ich habe andere Pläne,“ erklärte er. Und auf den fragenden Blick des Doctors gab er erstmalig von seinen Gedanken preis.

„Das Leben ist ungerecht,“ sagte er, „die Chancen sind ungleich verteilt. Die einen können unternehmen, was sie wollen und kommen nicht von der Stelle. Sie wohnen in Hütten, laufen barfuß und ihre Arbeit reicht nur, um sie am Leben zu halten. Die anderen wohnen in großen Häusern aus Stein, sie fahren mit dem Auto und können kaufen, was sie wollen. Und alles nur, weil sie dort und nicht dort geboren sind. Eine zufällige Auswahl durch die Geburt.“

„Du hast recht, das Leben ist ungerecht. Das liegt in seiner Natur. Dagegen sind wir machtlos. Doch darin muss ich dir widersprechen: Zufälle gibt es nicht,“ sagte Doctor Sali, die Stirn in Falten legend, „alles, was passiert, ist das zwangsläufige Ergebnis zusammenwirkender Bedingungen, erfolgt nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung.. - aber was du sprichst, klingt sonderbar in meinen Ohren. Ich höre daraus viel Unzufriedenheit. Wenn ich fragen darf, was folgt für dich daraus? Ich sehe, dass dich die Frage sehr beschäftigt.“

„Was habe ich denn zu erwarten?“ kam es zurück, „eine Hütte, Schwefel, ein Garten mit etwas Gemüse und wahrscheinlich ein frühes Ende, wie meine Eltern.“ „Nicht zwangsläufig,“ antwortete Dr. Sali. „die Bedingungen, die dich umgeben, formen dich, deine Entwicklung, bilden den Rahmen, in dem sich dein Leben vollzieht. Was nicht bedeutet, dass sein Verlauf von vornherein feststeht, dass du keine Möglichkeiten hast, es zu gestalten.“

„Möglichkeiten! Was für Möglichkeiten sollen das sein?

Ich kenne sie! Danke!

Dr. Salis Blick ruhte prüfend auf Rico, als er sagte:

„Ich kenne Beispiele, in denen ein Risiko einzugehen, sich gelohnt hat, aber es gibt auch andere... Bei allem rate ich dir zur Vorsicht, denn schon manch prächtiger Vogel, der sich kühn in die Lüfte schwang, flatterte hernach mit gebrochenem Flügel über den Boden.“

„Was macht die deutsche Sprache?“ wechselte er plötzlich das Thema. „Hast du das Buch schon durchgearbeitet?“ Rico nickte nur. Er wollte das Gespräch in diese Richtung nicht vertiefen. Ohnehin hatte er schon mehr gesagt, als er wollte.

„Alle Achtung! Ich bewundere dein Interesse für diese Sprache.“ Bei diesen Worten sah er Rico vielsagend an. „Ich selber hatte es aufgegeben, sie mir anzueignen, als meine Weiterbildung in Deutschland abgelehnt worden war,“ fuhr er fort, da Rico schwieg und wusste noch einiges aus dieser Zeit zu erzählen.

„Rico,“ sagte er, ihm beim Abschied tief in die Augen blickend, „da ich sehe, dass du Bedeutsames in deinem Kopf bewegst, gebe ich dir den Rat, nichts zu überstürzen, zweimal zu überlegen, bevor du wichtige Entscheidungen triffst.“

Freundschaftlich klopfte er ihm auf die Schulter und brach zu seinem nächsten Patienten auf.

Wie immer, wenn Rico auf andere Gedanken kommen wollte, holte er seinen Lederball, den ihm ein Tourist geschenkt hatte, und spielte mit ihm, wobei ihm ein ebener Wandteil des Kraters als Mitspieler diente. Die Zeiten, in denen er sich mit Gleichaltrigen aus dem Dorf zum Fußballspielen getroffen hatte, waren vorbei. Sie alle mussten den ganzen Tag arbeiten, wie er, und die meisten hatten schon eine Familie. Wenn nichts anderes anstand, kam er hierher und übte seine Geschicklichkeit im Spiel mit dem Ball. Es war eine Ruhelosigkeit in ihm, die ihn zu dieser Beschäftigung trieb.

Wegen der über Tag zunehmenden Hitze, brach er gewöhnlich frühmorgens zum Krater auf. Heute hatte er aus Sorge um seine Mutter gewartet, bis Aliwa gekommen war, die ihn seit einigen Wochen regelmäßig bei der Versorgung unterstützte. Da er erst spät loskam, wollte er die Tour heute nur einmal machen. Unterwegs beschloss er, es auch die nächsten Tage dabei zu belassen. Der Gedanke an seine Mutter bedrückte ihn. Sie konnte jeden Tag sterben. Er wollte in der verbleibenden Zeit so viel wie möglich bei ihr sein.

Unzählige Male war er den Weg schon gegangen, hinauf zum Kraterrand. Steiler, aber um einiges kürzer war dieser Weg, als der zurück in Schlangenlinien mit den schweren Schwefelbrocken in den Körben auf den Schultern. Er kannte dort jeden und Stein und zog es vor, allein zu gehen, seinen Schleichweg, denn seit er konkrete Pläne schmiedete, seine Heimat zu verlassen, war ihm Gesellschaft eine Last, besonders die seiner Freunde, denen er, anders als früher, etwas Wichtiges verschwieg. Er wollte nicht, dass sein Vorhaben bekannt wurde. Einmal dem Drang nachgegeben, sich mitzuteilen, fürchtete er, im Blickpunkt zu stehen als jemand, der sich für etwas Bessees hielt, sich zu schade war für dieses Leben, einem Verräter gleich.

Er stieg in das Innere des Kraters, dorthin, wo Dämpfe aus Erdspalten zischten und über dem Gelb des ausgetretenen Schwefels hoch stiegen. Nachdem er sich ein feuchtes Tuch vor Mund und Nase gebunden hatte, begann er mit einer Eisenstange, Schwefelbrocken heraus zu hacken. Es musste schnell gehen. Er achtete darauf, sich nicht länger als notwendig den giftigen Gasen und Dämpfen auszusetzen. Mit kräftigen, gezielten Hieben löste er einen großen Brocken, der allein den einen Korb füllte. Das Füllen des zweiten dauerte länger, da der Schwefel an manchen Stellen noch nicht erkaltet war. Dann hob er die an beiden Enden einer Bambusstange hängenden Körbe auf seinen Schultern, die dicke Schwielen hatten, ins Gleichgewicht und sah zu, dass er mit seiner Fracht wieder aus dem Krater kam. Bergauf ging`s, steil bergauf, über Geröll und Gestein. Oben angekommen, machte er wie immer eine Pause. Manchmal begegneten ihm auf dem Kamm und dem Weg zurück Touristen, die ihn um ein Foto zusammen mit ihm und seinen schwefelgefüllten Körben baten. Zum Dank gaben sie ihm nicht selten einen Geldschein und ein paar Zigaretten.

Bei einer solchen Gelegenheit hatte er auch Wilfried kennengelernt, der mit einem großen Rucksack auf dem Rücken im Land unterwegs war, und dem er später bei einer erneuten, zufälligen Begegnung aus einer bedrohlichen Lage geholfen hatte. Mit ihm hatte er Freundschaft geschlossen, war von ihm nach Deutschland eingeladen worden. Doch solange seine Mutter lebte, sah er sich außerstande, der Einladung nachzukommen und seine mit ihr verbundenen Pläne zu verwirklichen.

Der Weg bergab war ausgetreten, weniger steil und gefährlich. Nach zwei Stunden war er an der Wiegestation angekommen. Was mit dem Schwefel weiter geschah, interessierte ihn nicht. Für ihn zählten nur die drei Dollar, die er erhielt, ein Vielfaches von dem, was ein Bauer in dieser Zeit verdiente.

Sein Entschluss, in einem anderen Teil der Welt zu leben, war plötzlich gekommen. Großen Anteil daran hatte der neu angeschaffte Fernsehapparat und die Bekanntschaft mit Wilfried. Die Welt bestand nicht nur aus dem unterentwickelten Teil, in dem er geboren war, wie ihm das Gerät anschaulich zeigte, das Leben nicht nur aus schwerer Arbeit, Schweiß, Schwefel und Qualm.

Es gab etwas anderes, ein ganz anderes Leben. Er empfand sein Dasein als ungerechten Zufall, hatte begonnen, sich Fragen zu stellen. Staunend sah er, wie das Leben in anderen Erdteilen war, in den Städten NewYork, Los Angeles, Berlin, München, Paris. Die Bilder auf dem Bildschirm führten ihm die Armseligkeit seines Daseins und die Ungerechtigkeit des Schicksals vor Augen.

Die Menschen dort lebten wie im Paradies, mussten kein Holz sammeln für das Feuer, um Essen zu kochen, mussten kein Wasser aus einem Brunnen holen, betätigten nur einen Schalter und hatten, was sie brauchten. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, konnten sie zwischen zahllosen Möglichkeiten wählen, eine Arbeit auszuüben. Sie lebten in Verhältnissen, von denen man nur träumen konnte. Allein Ihre Häuser mit verschiedenen Zimmern und Küche und Bad mit warmem Wasser waren wie von einem anderen Stern.

Wo er war, gab es keine Träume, keine, die ihm Hoffnung brachten.

Er hatte schon mal seine Fühler ausgestreckt, wegen des Verkaufs des Hauses, von seinem Vater erbaut, um den Preis eines frühen Todes. Dreimal täglich war er in den Krater gestiegen, um seiner Familie ein besseres Leben, ein Leben in festen vier Wänden zu ermöglichen. Vom Tragen der schweren Körbe hatte sich auf seinen Schultern, eine harte, bläuliche, Schicht gebildet mit Buckeln, die sich entzündet hatten, was ihn nicht davon abhielt, in seinem Tun fortzufahren. Was das Geldverdienen betraf, hatte er sich nicht dreinreden lassen, auch von seiner Frau nicht, und auch nicht, als ein sich allmählich verstärkender Husten ihn kurzatmig machte und nachts am Schlafen hinderte. Bis die Zeit kam, als er Rico mit in den Krater nahm und ihm diese Arbeit schließlich ganz übertrug, als die knappe Luft ihn erst ans Haus und dann ans Bett fesselte.

Das Beispiel seines Vaters, dem langsam die Luft ausgegangen war, schreckte Rico. Seine Furcht, das gleiche Schicksal zu erleiden, war groß. So wollte er nicht enden.

Er hatte also schon mal mit Markos gesprochen, einem Kollegen in seinem Alter, der mit der Tochter der Dunays verheiratet war und erneut Nachwuchs erwartete. Er war nicht sonderlich begütert, dafür waren es die Eltern seiner Frau, bei denen er, nicht erst seit der Geburt seines zweiten Kindes, in beengten Verhältnissen wohnte.

Aliwa, die Nachbarin, mit der Rico von klein auf befreundet war, saß auf einem Stein vorm Haus. Als sie Rico sah, ging sie ihm entgegen.

„Sie schläft,“ sagte sie, „sie schläft die ganze Zeit.“

Sie traten ein. Seine Mutter lag schwer atmend auf dem Rücken. Trotz der Anstrengung, die ihr das Atmen offensichtlich bereitete, schlief sie. Ein süßlicher, von krankem Leben herrührender Geruch, lag im Zimmer.

„Sie hat seit zwei Tagen nichts gegessen, wir sollten sie auf die Seitedrehen,“ sagte Aliwa.

Dank der Routine, die ihnen bei der täglichen Pflege zu eigen geworden war, hatten sie ihre anfängliche Berührungsangst gegenüber ihrem ausgezehrten Körper, unter dessen faltiger Haut sich von Tag zu Tag deutlicher Knochen abzeichneten, beizeiten überwunden. Der Zerfall ihres Äußeren und all dessen, was sie ausgemacht hatte, ließ sie jetzt als jemand anders erscheinen. Aber der Gegendruck ihrer Hand, sobald sie sie ergriffen, sprach die ihnen vertraute Sprache.

„Sie braucht wieder ein frisches Bett und frische Wäsche,“ erklärte Aliwa, nachdem sie sie versorgt hatten.

„Morgen waschen wir alles.“

Rico sah sie verstohlen von der Seite an. Als er ihr sagen wollte, was ihre Hilfe für seine Mutter und ihn bedeutete, winkte sie unwillig ab. Sie war im gleichen Alter wie er, lebte, noch unverheiratet, im Elternhaus. Anders als er, hatte sie die Schule regelmäßig besucht und wollte Lehrerin werden. Sie machte nie viel Aufhebens, war eine kluge, selbstbewusste Frau, die tat, was sie sagte, entsprach nicht dem landläufigen Bild einer Frau ihres Alters, der einen Mann und eine Familie zu haben das Wichtigste war. Der Anwärter für ein Leben an ihrer Seite gab es viele, doch sie hatte eigene Pläne, suchte zuerst die Unabhängigkeit. Das hatte auch Rico seinerzeit erfahren müssen.

Inzwischen begann es zu dämmern. Bevor Aliwa wieder ging, sahen Sie nach seiner Mutter, die jetzt schlafend auf der Seite lag.

Seine Mutter starb nachts. Sie lag auf dem Boden, als er erwachte. Als er sie hochhob, um sie zurück auf ihr Bett zu legen, ging ein Ruck durch sie, durch ihren gequälten Körper mit dem Gewicht eines Kindes, und ein Röcheln kam tief aus ihrem Innern. Dann war es still.

Schon wenige Tage nachdem sie verbrannt und bestattet worden war, hatte sich Rico an das deutsche Konsulat gewandt und sich über das Verfahren für ein Visum informiert. Anschließend war er zu Doctor Sali gefahren, um von dort aus mit Wilfried zu telefonieren. Darnach hatte er mit des Doctors Hilfe unter dem Siegel der Verschwiegenheit das Antragsformular ausgefüllt und es zusammen mit den geforderten Unterlagen, beim deutschen Konsulat eingereicht.

Nach acht Monaten und mehreren Nachfragen war es dann plötzlich ganz schnell gegangen. Sein Visum war fertig. Es lag zur Abholung bereit und erlosch, wenn es nicht innerhalb von zwei Wochen abgeholt wurde.

Unverzüglich ging er daran, seine Planungen zu verwirklichen. Zunächst das Haus! Sein Verkauf hatte erste Priorität. Er kontaktierte erneut Markos, der ein eigenes Zuhause für sich und seine wachsende Familie suchte. Der Preis, den er erzielte, lag weit unter seinen Vorstellungen und auch dem Wert des Hauses. Doch da Markos der einzige ernsthafte Interessent war und in Anbetracht der Dringlichkeit, die für ihn der Verkauf hatte, feilschte er nicht lange. Was sich verkaufen ließ, verkaufte er, so den Fernseher. Das Übrige überließ er seinen Nachfolgern.

Nach diesem Schritt konnte er nun nicht früh genug das Land, in dem er geboren und aufgewachsen war, verlassen und gab sein Vorhaben erst am Tag seiner Abreise bekannt.

Die Verwunderung seiner Freunde und der anderen Dorfbewohner war groß. Dessen ungeachtet war es ein kurzer Abschied, wie von ihm gewollt, auch und gerade von Aliwa, der er inmitten ihrer guten Wünsche abrupt den Rücken zukehrte. Viel zu packen hatte er nicht. Was er mitnahm, füllte einen Rucksack.

Als er im Flugzeug saß, klopfte ihm das Herz bis zum Hals. Er sah um sich, ob es auch niemand hörte. Vor Aufregung war ihm, als flöge er bereits, doch der Blick aus dem Fenster holte ihn zurück auf den Boden. Er schloss die Augen, ließ, was kam, willenlos geschehen.

„Rico! Hier!“ rief eine ihm bekannte Stimme aus der Menge derer, die in der Halle auf die ankommenden Passagiere warteten.

Die Erleichterung war ihm anzusehen, sein Gesicht erstrahlte, als er Wilfried erblickte. Er hatte Tränen in den Augen, als sie sich umarmten und schien erschöpft zu sein.

Sie hatten schon das Hamburger Stadtgebiet erreicht, als er sich wieder zu regen begann. Tief in den Sitz zurückgelehnt, blinzelte er aus kleinen Augen auf die vorüberzie- hende Landschaft, während Wilfried zu der einen und anderen Örtlichkeit Bemerkungen machte. Als die Elbe mit den Schiffen von oben her sichtbar wurde, beugte sich Rico vor. Ob das die Elbe sei, wollte er wissen. „Ich bin da!“ sagte er mehr zu sich selbst, und seine Augen bekamen einen feuchten Glanz.

Wilfried hielt darauf an zu einem kleinen Spaziergang an ihrem Ufer. Kaum, dass sie den Sandstrand erreicht hatten, nahm Rico mit einem Schrei Anlauf und vollführte einen Salto.

„Keine Kunst!“ ließ sich Wilfried vernehmen, der sich nicht lumpen lassen wollte, und folgte etwas weniger elegant seinem Beispiel. Im Sand sitzend erwiderten sie das Winken einiger Leute von einem vorüberfahrenden Schiff.

Nach einer weiteren, halbstündigen Fahrt auf verkehrsreichen Straßen gelangten sie in eine ruhigere Gegend, wo mehr Autos standen, als fuhren. Die Straßen wurden schmaler, hatten Bäume zu beiden Seiten, und die Häuser standen hier in Gärten hinter Gebüsch und Hecken.

Auf ihr Läuten an einer der Türen öffnete eine dunkelhaarige, schlanke Frau.

„Da seid Ihr ja! Hallo Rico!“ sagte sie und reichte ihm die Hand.

„Ich freue mich, dich kennen zu lernen. Ich bin Simone.“

Hinter ihr lugte ein Mädchen hervor und versteckte sich gleich wieder.

„Emmi, sei nicht albern,“ mahnte die Mutter vergebens.

Er wurde durch das Haus und zu einem Zimmer auf dem Dachboden geführt, wo er für die Dauer seines Besuchs wohnen sollte. Dann begaben sie sich auf die Terrasse.

Dort erfuhr er anschaulich die Bedeutung des Wortes, Grillen, ein Wort, das er zum ersten Mal hörte und neugierig auf weitere, seinem jungfräulichen Sprachschatz hinzufügte. Soviel war sicher, das geröstete Fleisch, die Bratwürste und der Salat entsprachen seinem Gaumen.

Dank seiner jahrelangen Bemühungen um die deutsche Sprache, konnte er der Unterhaltung weitgehend folgen, erzählte unter Zuhilfenahme seines Wörterbuchs von seiner Reise im Flugzeug, den Essgewohnheiten in seiner Heimat, von den Behausungen und der Kargheit des Lebens dort.

Auch sagte er, dass er in Deutschland bleiben wolle.

Diese Äußerung bewirkte ein jähes Innehalten bei seinen Gastgebern. Sie verstummten und waren plötzlich ernst, wandten sich ihm aufmerksam zu.

„Aber, du hast nur ein Besuchsvisum,“ sagte Simone, worauf Rico die Achseln zuckte.

„Ich fahre nicht mehr zurück,“ antwortete er.

„Das dürfte schwierig werden,“ erklärte Wilfried, sichtlich erschrocken über diese unplanmäßige Absichtsänderung, „wer dauerhaft hier bleiben will, muss mit einem entsprechenden Visum einreisen oder…einen Asylantrag stellen.

Wirst du denn politisch verfolgt?“

Rico zuckte abermals die Achseln. Er sah mitleiderregend aus in seiner weiten Hose und dem knallgelben Hemd, ungelenk mit dem Besteck hantierend, ungelenk in allen Bewegungen.

Dass er nicht zurück wollte, konnte Wilfried gut verstehen. Er war auf seiner Reise in Gebiete gekommen, wo die Landbevölkerung ein äußerst karges Leben führte. Es war ein armes Land, aus dem Rico kam, mit an Vorzeiten erinnernden Verhältnissen. Er selbst hatte nach einem achtwöchigen Aufenthalt die Möglichkeit verstreichen lassen zu verlängern.

„Lieber Rico, eines müssen wir klarstellen,“ erklärte Simone, „wir haben dich für vier Wochen eingeladen, solange, wie dein Visum gültig ist. Wir freuen uns, dass du nun da bist und werden alles tun, damit du dich wohlfühlst. Nur, damit wir uns richtig verstehen, vier Wochen hatten wir gesagt. Vier Wochen bist du unser Gast. Darnach endet unsere Verantwortung. Versteh mich nicht falsch, aber es ist immer gut, wenn Klarheit herrscht.“

Rico nickte nachdenklich. „Ich habe gelesen, dass es in Deutschland viel Arbeit gibt. Ich werde arbeiten und…“

„Arbeit? Du machst mir Spaß. Du darfst nicht arbeiten! Du hast ein Touristenvisum mit Arbeitsverbot!“ fiel ihm Wilfried ins Wort.

„Wir sind alle Gefangene,“ sagte Rico nach einer Weile des Überlegens.

„Gefangene..? Was meinst du..?“

„Aber ich kämpfe“

„Natürlich, lieber Rico, in einer Demokratie kann man sich gegen alles wehren, wenn du das meinst, doch es gibt Gesetze..“

Schon wollte Wilfried auf das Ausländergesetz verweisen, aber Schweißperlen auf Ricos Gesicht ließen ihn verstummen. Er begriff, dass dieses Thema für ihn von größter Bedeutung war und schämte sich seiner Selbstgegerechtigkeit.

„Soweit ich kann, helfe ich dir natürlich,“ fuhr er fort, „nur möchte ich dir keine falschen Hoffnungen machen. Soviel ich jedenfalls weiß, wird ein Touristenvisum grundsätzlich nicht verlängert. Aber vielleicht gibt es ja andere Möglichkeiten. Ich kenne mich darin nicht aus. Ich werde mich erkundigen. Schmeckt es dir?“

Im Grunde hatte er es erwartet. Seine gemischten Gefühle, derer er sich seit seiner ausgesprochenen Einladung nicht erwehren konnte, bestätigten sich. Er hatte sich ein Problem aufgeladen, das war wohl sicher. Aber diese Einladung war für ihn das Mindeste gewesen, um sich erkenntlich zu zeigen, dafür, dass Rico ihn aus einer bedrohlichen Lage gerettet hatte. Ohne ihn, ohne sein Eingreifen, hätte die Sache für ihn sicherlich weniger glimpflich geendet. Mit einem Knüppel hatte er dem einen einen Scheitel gezogen, woraufhin der andere, sich quasi entschuldigend, seinem Kumpan nur noch behilflich war, das Weite zu suchen. Wie Rico berichtete, häuften sich neuerdings in dem Gebiet die Überfälle wieder; es waren nicht nur einzelne Banditen, die Angst und Schrecken verbreiteten, neuerdings fielen ganze Banden plündernd in die Dörfer ein. Auch sein Dorf sei überfallen worden. Mit Gewehren und Macheten seien sie gekommen, und nur weil er und seine Mutter sich zusammen mit einigen Nachbarn in einer eigens angelegten Erdhöhle unter dem Hühnerstall versteckt hatten, war ihnen nichts passiert. Nachdem das Militär gekommen war, hatte zunächst Ruhe geherrscht,

doch nach knapp einem Jahr waren die Banditen wieder gekommen.

Die Erinnerung an das Erlebte jagte Wilfried noch immer Schauer über den Rücken.

Den Rest des Abends ließen sie die Ereignisse und ihre gemeinsame Zeit damals revue passieren.

Als Lehrer, konnte Wilfried seine Urlaube nicht frei wählen, sondern war an die Schulferien gebunden. So beschränkte sich seine gemeinsame Zeit mit Rico auf die Abende und die Wochenenden. Damit Rico sich unabhängig und frei bewegen konnte, kaufte er ihm eine Monatskarte für die öffentlichen Verkehrsmittel Hamburgs und erklärte ihm, wie er immer zuverlässig zurück nach Hause fand. Auch drückte er ihm hundert Euro und ein Handy in die Hand mit der eingespeicherten Nummer ihres Haustelefons.

Diesen Samstag, wollten sie das schöne Wetter für einen Familienausflug nutzen, Rico den Hamburger Hafen zeigen. Eine Hafenrundfahrt war angesagt.

Landungsbrücken! Sie suchten sich eine kleine, offene Barkasse, von der sie sich ein hautnahes Erlebnis versprachen. Der Wind draußen auf der Elbe war gegenüber dem an Land unerwartet kalt und kräftig. Gleich, als ein größeres Schiff an ihnen vorüber fuhr, klatschten dessen Wellen an die Bordwand ihrer stark schaukelnden Barkasse, deren eine mit Unterstützung der steifen Brise über die Reling kam, wo sie die Ausflügler zur Belustigung der anderen Fahrgäste erwischte. Der Kapitän kommentierte diesen Vorfall mit „Elbtaufe für unvorsichtige Landratten.“ An einem wärmeren Tag hätten sie diese kalte Dusche wohl mit mehr Humor genommen, nun aber waren sie alles andere als angetan. Nass und verfroren zogen sie sich bald zu den nun mitleidig blickenden, an Tischen sitzenden Passagieren in den geschützten Teil der Barkasse zurück. Nur Rico blieb draußen sitzen, lauschte angestrengt den Informationen aus dem Lautsprecher und betrachtete durch das mitgenommene Fernglas die beschriebenen Objekte: Schiffe, die im Dock lagen, Werften mit Schiffen im Bau, Kräne, am Kai liegende Kreuzfahrtschiffe, eine Fähre mit Schaufelrädern, einen bulligen, Schlepper, der einen Schwimmkran zog. Was er sah und hörte schien er förmlich aufzusaugen. Emmis Gedibber nach dem Fernglas überhörte er lange. Sein Interesse für sie war gering, manchmal schien es, als ginge sie ihm auf die Nerven.

Sie war wirklich ein verwöhntes Kind, das dauernd etwas wollte und schmollte, wenn es nicht nach seinem Willen ging. Die Fahrt langweilte sie. Als ihre Eltern ihr bei einem Zwischenstop am Hafenmuseum den Kauf eines Bechers mit ihrem Namen drauf verweigerten, weil sie einen ähnlichen bereits besaß, war sie nach einer Zeit des Jammerns derart bockig, dass sie nicht weitergehen wollte.

Nachdem auch das geduldige Zureden ihrer Eltern nicht fruchtete, schaltete sich plötzlich Rico ein und zog sie energisch weiter, was zu lautstarken Protesten und zur Intervention der Mutter führte: „Rico! Bitte! Es ist besser, du mischst dich nicht ein!“ Auch dieser Vorfall diente nicht der guten Stimmung.

Das Hafenmuseum kannte Wilfried ebenso wenig wie Rico, und fasziniert von den ausgestellten Gegenständen in verschiedene Epochen zurückliegender Seefahrtsgegeschichte, ließen sie es sich nicht nehmen, sie eingehend zu studieren: ein riesiger Bugspriet, naturgetreue Schiffsmodelle, mannshohe Schiffspropeller, Motoren, Winschen, Anker, beindicke Taue, eine metallene Taucherausrüstung, Kompasse und was noch alles. Sie wussten nicht, wohin zuerst mit den Augen. Zudem gab es vor dem Museum, am Kai liegend, einen Schutendampfsauger und einen Schwimmdampfkran zu besichtigen. Auch standen dort mehrere, nicht mehr in Betrieb befindliche, große Kräne, von denen einer als Plattform für Bungie-Jumping diente. Ehrfürchtig verfolgten sie, wie sich die Todesmutigen, Männer, wie Frauen, aus über vierzig Metern Höhe in die Tiefe stürzten. Wilfried, der unter Höhenangst litt, grauste beim Anblick der Springenden. Der Rest der Familie und Rico waren von dem Geschehen dagegen sehr eingenommen. Es reizte sie die Vorstellung, es den Aktiven gleichzutun, zumal sie alle unversehrt, wenn auch kopfüber und über der Wasseroberfläche schwingend, wieder ankamen und glücklich erregt schienen.

Am Ende äußerte aber keiner von ihnen den Wunsch, es auch zu wagen. Bis auf Rico. Er wollte unbedingt springen. Die Eintrittskarte für dieses Erlebnis übernahm, innerlich widerstrebend, Wilfried, der aber kein Spielverderber sein wollte. Über mehrere Treppen erklomm Rico die schwindelerregende Höhe, wurde vertäut und sah von der Kante der Plattform in den Abgrund, der Augenblick, an dem sich Wilfried schaudernd abwandte. Ein Schrei, und es war vollbracht. Nach einigem Auf- und Abschwingen zogen ihn die Mitarbeiter mit einem Haken zurück auf den Kai.

Der Eindruck, den er mit dieser Tat bei seinen Gastgebern hinterließ, war tief und nachhaltig, blieb untrennbar mit ihm verbunden.

„Hat dir die Hafenrundfahrt gefallen?“ fragte Wilfried ihnspäter. Rico nickte, die Speicherstadt hatte ihn sehr beein

druckt, besonders, die Tatsache, dass ihre großen Gebäude auf im Untergrund steckenden Holzpfählen standen. Nicht weniger hatten es ihm das Museum und die Bootsfahrt als solche angetan. Zum Bungie-Jumping meinte er, dass er gern noch einmal springen würde.

Was Wilfried darüber hinaus über die Speicherstadt und Hafencity wusste, gab er weiter.

Er fragte sich, wie sich Rico, der alles hinter sich zurück gelassen hatte, nach seinem Aufenthalt in Deutschland, den Eindrücken und Erfahrungen, die er gesammelt hatte, wieder in das Leben in seiner Heimat einfinden sollte. - Er tat ihm leid. Er hatte nichts, außer seinem Leben und dem, was er auf dem Leib trug, und seine Zukunft war mehr als ungewiss. Dessen ungeachtet beklagte er sich nicht. Wilfried verstand Simones Ablehnung nicht, und dass sie dem Ende des Besuchs entgegen sah. Ein Maß an Verständnis, ein Mitfühlen mit dem Anderen, nicht nur in diesem Falle, war etwas, was er an ihr vermisste.

Rico hatte keinerlei Probleme, sich in der für ihn neuen Welt zurechtzufinden. Er benahm sich, als lebte er schon jahrelang in Deutschland. Binnen weniger Tage kannte er sich mit den häuslichen und landläufigen Gepflogenhei- ten aus. Das Lösen einer Fahrkarte am Automaten und die Handhabung des Handys fiel ihm genauso leicht, wie der Umgang mit dem Computer, an dem er Stunden zubringen konnte. Doch besonderes angetan hatte es ihm der Staub- sauger. Wann immer sich Krümel auf dem Boden fanden, war er mit ihm zur Stelle und sorgte ausdauernd für Sauberkeit.

Manchmal ging er morgens aus dem Haus und kam spätabends wieder. Er sei durch die Stadt gelaufen, erzählte er dann und beschrieb unter Nennung von Straßennamen, Haltestellen und Sehenswürdigkeiten, wo er gewesen war.

Die Kirchen schienen eine besondere Anziehungskraft auf ihn auszuüben. Keine an der er vorbeigekommen wäre, ohne zu versuchen, die Tür zu öffnen. Dort, wo er eintreten konnte, fühlte er sich nach einigen Momenten des Staunens und Schauens auf eigene Art aufgehoben. Die Stille, die ihn dort mit dem Schließen des Portals im Dämmerlicht umfing, die hohen Gewölbe und Säulen, das bunte Glas der großen Fenster, die flackernden Kerzen, die ihr gedämpftes Licht, auf geheimnisvolle, steinerne Figuren und einige in Stille verharrenden Besucher warfen, die fremden Töne leise einsetzender Musik, hatten auf ihn eine besondere Wirkung, derart, dass er in einen Zustand völliger Regungslosigkeit, eine Art schwerelosen Dämmerzustand verfiel, ähnlich dem bei seinen Meditationen, der seine ständigen Gedanken um seinen Aufenthalt, die wie unruhige Insekten zwischen Hoffnung und Mutlosigkeit umherschwirrten, für eine wohltuende Weile durchbrach.

Wilfried war beunruhigt. Nicht erst seit Ricos Einreise, schon vorher, als sein Besuch begann, konkret zu werden, war ihm klar gewesen, dass Rico den Wunsch haben könnte, zu bleiben und mit seiner Hilfe rechnete. Wie sollte er sich auch nicht wünschen, bleiben zu können? Wer einmal das Leben dort, wo Rico herkam, kennen gelernt hatte, verstand ihn nur zu gut. Inzwischen hielt er seine Einladung für einen Fehler. Es war vorauszusehen gewesen, dass für Rico eine Rückkehr in seine Heimat äußerst problematisch sein würde. Die Einladung hatte falsche Erwartungen geweckt und dazu geführt, dass er alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte. Sich wieder in die alten Verhältnisse einzugewöhnen, wieder Fuß zu fassen, von vorn anzufangen, war fraglos eines der Schwersten. Er gab sich eine Mitschuld an Ricos Lage, die durch seine Einladung entstanden war. Es hätte durchaus andere Möglichkeiten gegeben, sich für seine Rettung erkenntlich zu zeigen. Doch nun war Rico da und hatte vom ersten Tage an keine Zweifel an seinen Absichten gelassen. Die Probleme waren vorprogrammiert.

Schon gab es im Hause wegen Rico Meinungsverschiedenheiten. Alles in allem war Simone nicht angetan von der herrschenden Situation mit einem Fremden im Haus. In vier Wochen hatte sie eingewilligt.

Vier Wochen! Das war die Abmachung gewesen, nicht länger. Das empfand Wilfried allerdings auch, mit Rico war etwas Fremdes ins Haus gekommen, das ihr gewohntes Zusammenleben beeinflusste. Er konnte in Ricos Gegenwart nicht unbefangen reden wie sonst, empfand Scham, wenn sich ihre Unterhaltung um Einkäufe, Vorbereitung einer Geburtstagsfeier, Urlaubsplanung oder irgendwelche Anschaffungen drehte.

Gleichzeitig hatte Wilfried den Überfall vor Augen, die beiden Gesellen, die ihm das Messer an die Kehle gehalten hatten, als er sich am Boden liegend wehrte. Ein Moment, in dem für ihn die Möglichkeit, nicht zu überleben, durchaus real gewesen war. Durch Ricos Eingreifen war es bei einer kleinen Stichverletzung geblieben.

Rico! Ihm verdankte er, dass er wieder zu Haus bei seiner Frau und seinem Kind war, sein Leben weiterleben konnte. Er stand in seiner Schuld, und durch die Einladung war sie nicht geringer geworden.

„Du hast gesagt, dass du nicht wieder in deine Heimat zurückkehren willst..,“ nahm Wilfried Rico nach dem Essen beiseite.

Rico nickte. „Dort habe ich nichts mehr. Meine Mutter ist tot, und das Haus habe ich verkauft. Entweder ich bleibe oder ich sterbe.“

Es war die grausame Härte des Lebens mancherorts, die bis dato nur über die Medien zu ihnen gedrungen war und nun in Person von Rico in ihrem Wohnzimmer stand.

„Wie konntest du das tun? Du musstest doch wissen, dass das nicht möglich ist. Wir hatten vereinbart: vier Wochen! Ein Besuch von vier Wochen! Nach vier Wochen läuft dein Visum ab, dann ist dein Aufenthalt illegal. Und dann? “

In Wilfrieds anschwellender Stimme lag entschiedenes Missfallen.

„Alle Menschen sind gleich,“ erklärte Rico darauf, „sie sind eine große Gemeinschaft, in der alle gleichberechtigt sind. Ich glaube, so ähnlich steht es auch in eurem Gesetz. Warum soll ich mich nicht frei bewegen können, dort leben, wo es mir gefällt? Die Menschen teilen sich diese Welt, sie gehört allen!“

„Lieber Rico,“ antwortete Wilfried, „das ist dein Standpunkt, und er mag ja so gesehen richtig sein, aber die Welt ist nun mal aufgeteilt in Staaten und Länder. Wir sind in Deutschland, und es gibt Gesetze. Wir müssen der Realität ins Auge sehen. Als einzigen Ausweg sehe ich, dass du einen Asylantrag stellst. Damit erreichst du, dass dein Aufenthalt vorerst nicht illegal wird.. es ist ein Zeitgewinn, aber was dann kommt...“ Er machte ein skeptisches Gesicht und hob und senkte vage die Schultern, während Rico ernst an ihm vorbeisah.

Rico kam aus einem der ärmsten Länder, in dem in Relation zu den Industrieländern die Lebensbedingungen denen des Mittelalters glichen. Die Menschen dort arbeiteten, um zu leben, für die Nahrung, die sie brauchten, um am nächsten Tag wieder arbeiten zu können, für die Nahrung, die sie brauchten, um... Jeden Tag aufs Neue. Eine schwere, körperliche Arbeit, die zur Erfüllung einfachster Grundbedürfnisse reichte: ein Dach über dem Kopf, Essen und Trinken.

Anders als seine Eltern und die übrigen Bewohner ihres Dorfes, hatte er sich schon früh, als Heranwachsender, Gedanken über die Mühsal ihres Lebens und ihre Fruchtlosigkeit gemacht. Er sah seine Eltern Tag um Tag ihre beschwerliche Arbeit tun, den Vater den Schwefel aus dem Krater holen, die Mutter das Gemüse aus dem Garten bereiten und auf dem sandigen Boden Feuer machen. Ihre Arbeit reichte für ein den dortigen Verhältnissen entsprechenden Dasein: ein bisschen Tabak und hin und wieder ein Huhn aus dem Stall. Seine Eltern und Freunde hatte er wohl manches Mal seufzen hören über die Beschwerlichkeit des Lebens, doch mangels anderer Möglichkeiten hatten sie sich in ihr Los gefügt, wie auch er, damals..

Schon in diesen frühen Jahren war eine Sinnenleere in ihm gewachsen, waren seine Gedanken an die Zukunft beherrscht von der Armseligkeit ihres Daseins. Dann musste er etwas unternehmen. Er hatte einen Weg gefunden, um diesen Anwandlungen zu entkommen: sich verausgaben und vergessen im Spiel mit dem Ball, beim Kunststückeeinstudieren: den Ball hintereinander, so oft es ging, mit dem Kopf gegen den Felsen stoßen, oder den abprallenden Ball mit dem Körper, den Beinen den Füßen aufzufangen und, ohne dass er zu Boden fiel, zurückzugeben, wieder und immer wieder, bis zur Erschöpfung.

Mit seinen Übungen und sich einstellenden Erfolgen dieser

Ertüchtigung überwand er seine lähmenden Gefühle. Bis sie immerseltener wurden und schließlich ganz verschwanden, als via Satellit die übrige Welt, die er nur vom Hörensagen kannte, zu ihnen in die Hütte kam.

Es war die Zeit, als der Glanz in seinen Augen zurückkehrte, als an die Stelle seines Trübsinns eine Idee rückte, die ihn gänzlich gefangen nahm. Es gab für ihn nur noch ein Ziel: diese andere Welt! Dorthin fahren, irgendwie und irgendwann.

Sein Leben diesem Ziel unterordnend, hatte er begonnen, statt zwei- dreimal in den Krater zu steigen, wie sein Vater, und das verdiente Geld für sein Unternehmen, in einem eigens angelegten, auch vor seinen Eltern verborgenen Versteck hinter einem Wandbrett, zu sparen. Wohin die Reise gehen sollte, in welches Land, diese Frage hatte er bis zur Bekanntschaft mit Dr. Sali noch nicht entschieden, nur Dorthin musste es sein. Als diesem anlässlich des Fernsehkaufs, zu dem er Rico in seinem Wagen mitgenommen und ihm eine Übernachtungsmöglichkeit in seinem Haus gegeben hatte, sein Interesse für ein bestimmtes Buch, ein Lehrbuch der deutschen Sprache, aufgefallen war, hatte er es ihm geschenkt.

Fortan nahm das Buch den ersten Platz in Ricos Leben ein. Er widmete ihm mehr Zeit als seiner Mutter, deren Krankheit ihn nicht um seine Träume bringen sollte. Sie war krank und würde bald sterben. - Das war sicher. Das sagte Dr. Sali. Er konnte ihr nicht helfen, niemand konnte es. Das Deutschbuch half ihm, an etwas anderes zu denken, entführte ihn im Geiste in die andere Welt. Wenn er bei ihr saß, beschäftigte er sich regelmäßig mit ihm.

Da sie nur noch lag und hindämmerte, fragte er sich, ob es für sie einen Unterschied machte, ob sie jetzt oder später stürbe. War ihr Leben schon immer schwer gewesen, war es jetzt nicht mehr lebenswert. Sie litt Qualen, und immer öfter wusste sie nicht, wo sie war, dachte, sie flöge durch die Lüfte. Gesagt hatte sie es nie, aber ihre Augen hatten es ihm verraten, dass sie dieses Leben nicht mehr wollte.

Weit vorher, zu Zeiten, als die Mutter noch das Essen bereitet hatte, war er Wilfried begegnet, dem Bidungsreisenden. In seiner Gegenwart hatte er nur noch deutsch gesprochen, mit der Folge, dass seine Lust an dieser Sprache bald seine Lust am Ballspiel übertraf. So war es nicht ausgeblieben, dass seine Deutschkenntnisse innerhalb kurzer Zeit exponentiell gewachsen waren.

Manchmal besuchten Wilfried Schüler seiner Klasse. Er sah es gern und freute sich über ihre unbefangene Einstellung ihm gegenüber, die damit zum Ausdruck kam.

Als es klingelte, standen Jacob und Julian vor der Tür. Sie gehörten einer ökologisch engagierten Gruppe von Schülern an, die schon durch Demonstrationen gegen alles, was der Abwehr des Klimawandels zuwiderlief, von sich reden gemacht hatte. Sicherer Schulweg. Tempo 30, Radwege gehörten zu ihren Anliegen, ebenso Baumfällungen und Tierquälerei.

Sogleich fühlten sie sich wie zu Haus, schalteten den Fernseher an und amüsierten sich über die Nilpferde eines Zoos, verglichen das größte mit ihrer Mitschülerin, Nadine. „Also Freunde, so nicht,“ ermahnte Wilfried sie.

„Herr Isenfeldt, können Sie uns schon die Zensuren vom Diktat sagen?“

Wilfried schüttelte den Kopf.

„Herr Isenfeldt, Sie haben doch nächste Woche Geburtstag.

Wie alt werden Sie eigentlich?“

„Neunundvierzig!“

„Haben Sie vielleicht einen Ball? Wir würden gern etwas Fußball spielen.“

Er holte einen Ball und ging mit ihnen in den Garten, auch Rico schloss sich dem Spiel an. Jacob geriet schnell außer Atem und traf den Ball oft nicht. Das tat dem Spaß keinen Abbruch. Jacob lachte mit, wenn sein weit ausholendes Bein ins Leere stieß und sein Schwung ihn zu Boden riss.

Da geschah etwas Erschreckendes. Jacob stand nicht wieder auf. Statt dessen blieb er mit aufgerissenen Augen langgestreckt liegen. Schaumiger Speichel drang aus seinem Mund, seine Beine zuckten wild umher, und er gab unartikulierte Laute von sich, sein ganzer Körper wand sich in Krämpfen. Entsetzt beugten sie sich über ihn. Wilfried, der nicht zum ersten Mal Jacob von einem solchen Anfall heimgesucht sah und wusste, was zu tun und lassen war, redete beruhigend, aber wirkungslos auf ihn ein. Nach zwei oder drei Minuten wurden die Krämpfe weniger, doch Jacob atmete schwer.

Als er aufzustehen versuchte, griffen sie ihm unter die Arme und trugen ihn ins Haus. Er war sehr müde und wusste nicht, wo er war. Seine Mutter kam. Sie strich ihrem auf dem Sofa liegenden Sohn das Haar aus der Stirn und legte den Arm um seinen Kopf. Sie erfuhren, dass er die Krankheit wahrscheinlich ererbt hatte. Sein Großvater habe schon unter dieser Krankheit gelitten, und auch sie, seine Mutter, sei nicht frei davon. Schließlich hatte er sich soweit erholt, dass Wilfried sie nach Hause fahren konnte.

Eine illustre Gesellschaft hatte sich zu Wilfrieds Geburtstag eingefunden. Ein von gedämpfter Musik unterlegtes Stimmengewirr erfüllte die Räume und drang durch die offene Terrassentür nach draußen.

Neben seinen Eltern waren auch seine Schwester gekommen, Arbeitskollegen und Freunde. Sie unterhielten sich angeregt, das hieß, in erster Linie war es sein Vater, ein pensionierter Lehrer und begeisterter Bergwanderer, der die Gesprächsführung übernommen hatte. Es war wohl nicht das erste Mal, dass er von seinen Bergtouren erzählte, denn seine Frau unterbrach ihn wenig taktvoll, indem sie ihm direkt sagte, dass sie nun genug von seinen Bergen gehört hätten, worauf er seine Schilderungen mitten im Satz beendete.

Unter den vielen Fremden und umgeben vom undurchdringlichen Gewirr fremder Laute, fühlte sich Rico, trotz des ihm entgegengebrachten Wohlwollens, allein und hielt sich unauffällig im Hintergrund.

Als der Vater ihn erblickte, wandte er sich ihm, dem „ausländischen Gast,“ zu. Er erzählte, dass er Wilfrieds Vater sei und aus Kassel komme, wo auch Wilfried geboren sei und bis zu seinem Schulabschluss gelebt habe. Er fragte Rico nach seinem Geburtsort, dessen Name ihm nichts sagte, und wo er ungefähr liege. Die Topografie des Gebiets, aus dem Rico kam, interessierte ihn sehr. Ihr Gespräch drehte sich im folgenden um den Vulkanismus dort. Kopfschüttelnd reagierte er auf die verbreitete Art, den Lebensunterhalt durch eigenhängigen Schwefelabbau zu bestreiten. Der werde doch längst industriell hergestellt, meinte er.

Nach dieser Unterhaltug verloren sich Ricos gemischte Gefühle, und er schloss sich den sich am Buffet Bedienen- Bedienenden an.

Whisky/Cola! Das schmeckte und wirkte angenehm belebend. Sobald Rico sein Glas geleert hatte, begab er sich wieder zum Tisch mit den Getränken, die in einem nicht endenden Überfluss vorhanden waren. Bald schien ihn eine Leichtigkeit auf Flügeln zu tragen. Wie in einem Traum bewegte er sich zwischen den Gästen, stellte sich vor und schüttelte Hände. Wie herzlich, wie freundschaftlich verbunden sie ihm entgegen traten. Alle mochten ihn und er mochte alle. Vor Glück hätte er weinen mögen. Mit einem der Gäste, einer jüngeren Frau, kam er ins Gespräch. Sie wollte wissen, wie das Leben in seinem Land sei, aber aus irgendeinem Grund verfiel er in seine Sprache. Dass sie ihm sagte, sie verstehe ihn nicht, konnte seinen Redefluss nicht bremsen. Sie war sehr groß, größer als er, und es belustigte sie, dass ihn ihre hochhackigen Schuhe zu faszinieren schienen. Sie zog sie aus und ermunterte ihn, in ihnen ein paar Schritte zu machen. Sich von einem Gast zum anderen hangelnd, stolperte er vorwärts, sehr zum Vergnügen der Umstehenden. Schon wollte sich der ebenfalls anwesende Jacob in dieser Übung versuchen, da setzte der Vater dem Spiel ein Ende.

Sein anfängliches Gefühl von Einsamkeit und Verlorenheit im allgemeinen Gelärme hatte nach ein paar Gläsern seines Getränks nachgelassen und war nach weiteren gänzlich verschwunden.

Rico fühlte sich ungewohnt frei und leicht und tat das Seinige, um diese schöne Stimmung zu erhalten. Der Tisch, auf dem die Getränke und Gläser standen, wirkte wie ein Magnet auf ihn. Anfangs verstohlen, dann entgegen der ihm eigenen Bescheidenheit, ungeniert, bediente er sich.

Doch was war das? Der Boden begann zu schwanken. Ein Erdbeben? Er musste sich festhalten, um sein Gleichgewicht zu halten. Zudem begann sich das Zimme drehen, oder war er es, der sich drehte? Gott sei Dank, der Schrank gab ihm Halt. In seinem Kopfsauste es, und eine schmutzige Übelkeit drängte nach oben. Kaum, dass er es in den Garten schaffte, kam der Schmutz unter schmutzigen Geräuschen heraus.

Er fand sich auf dem Rasen liegend wieder, schaute in den wolkengrauen Himmel. Bilder seiner Mutter, seines Zuhauses, desVulkans kamen und gingen. Dann war der Gedanke an seine unsichere Lage, sein in vierzehn Tagen ablaufendes Visum, die alte Schwere wieder da. Sein Kopf drückte und brummte. Musik und Stimmengewirr drangen in den Garten. Schleunigst rappelte er sich auf, bevor ihn jemand sah. Er ging zurück ins Haus, wo sich Wilfried angeregt mit einigen der Gäste unterhielt. Noch etwas benommen, setzte er sich in eine Ecke des Zimmers und betrachtete die Deutschen in ihrer Unterhaltung. Er beneidete sie. Wussten sie, wie gut sie es hatten? Ohne etwas riskieren, ohne sich anstrengen und sich um den nächsten Tag sorgen zu müssen, ganz selbstverständlich lebten sie in diesem Wohstand und in Sicherheit. Verschiedene Welten auf demselben Planeten. Bruchstückhaft gelangten zwischen den Klangwellen der Musik einige Worte der Unterhaltung an sein Ohr. Er hörte etwas von einem Trampeltier. Es lebte in Amerika, wo es über die Grenzen hinaus sein Unwesen trieb. Es trampelte nieder, was andere mühevoll errichtet hatten. Es schien gefährlich zu sein für alle Menschen und die ganze Welt.

Es ging ihm schon besser. Die Übelkeit war fast weg. Eine Müdigkeit befiehl ihn. Die Musik und die Stimmen entfernten sich weiter und weiter. Schon wollten ihm die Augen zufallen, da kam ein kleiner Junge zu ihm und fragte, ob er mit ihm Eisenbahn spielen wolle. Auf sein zögerndes, fragendes Lächeln ergriff der Kleine seine Hand und führte ihn über den Flur, die Treppe hinauf in Emmis Zimmer. Dort lagen auf dem Fußboden verstreut Schienen, ein paar davon waren schon zu einer Geraden mit anschließender Kurve zusammengesetzt. „Komm!“ sagte der Kleine, indem er sich auf den Boden setzte „wir bauen eine schöne Strecke.“

Rico folgte seinem Beispiel, und zusammen fügten sie Schiene an Schiene zu einem der Geometrie unbekannten Gebilde. Die erste Probefahrt mit der batteriebetriebenen Lokomotive verlief sehr zufriedenstellend und weckte den Wunsch nach Erweiterung, auch bei Rico, den diese spielende Beschäftigung unvermutet wieder munter machte. Als von den umher liegenden Schienen keine mehr übrig war, hob der Kleine triumphierend den Deckel einer Truhe hoch, die bis zum Rand mit Schienen, Waggons, kleinen Häusern, und Holztieren gefüllt war. Der Inhalt der Truhe bot der Entfaltung ihrer Fantasie alle Möglichkeiten. Am Ende erstreckte sich ihr Schienennetz, über die gesamte Boden- fläche des Zimmers, verlief unter dem Bett, über einen durch Zeitschriften gebildeten, sacht ansteigenden Hügel, am Regal entlang, in einer Schleife mittels einer Brücke über das Gleis hinweg, unter dem Schrank hindurch, mit einer durch Weichen ermöglichten Abzweigung diagonal in die gegenüberliegende Ecke, um dort wiederum mittels einer Weiche in die ursprüngliche Strecke einzufädeln, während an der ersten Weiche die Weiterfahrt auch geradeaus zum Bahnhof, dem Ausgangspunkt, möglich war.

„Wie heißt du?“ wollte der Kleine wissen. „Rico. Und du?“ „Max! Spielst du gern Eisenbahn?“ „O ja, sehr gern!“ Der

Kleine nickte zufrieden.

„Wir brauchen einen Tunnel!“ stellte er nach einigen gefahrenen Runden fest, und schon hatte er ein paar aufgeschlagene Bücher über das Gleis gestellt. Der Zug verschwand unter ihnen und tauchte wieder auf.

Eine Weile waren sie so zufrieden, verfolgten den Zug mit ihren Blicken. Kühe und Pferde säumten nun die Strecke, eine Schranke, an der Menschen und Autos warteten, Häuser und Bäume waren dazu gekommen. Je nachdem wie Max die Weiche stellte, fuhr der Zug diagonal oder machte die Runde.

Um sich sehend, entdeckte Max eine weitere Lokomotive. Zwei Züge auf einer Strecke machte das Ganze noch interessanter, um nicht zu sagen spannend, da nun durch beherztes Weichenstellen Zusammenstöße abgewendet werden mussten. Über eine Stunde hatte sie ihr Spiel beschäftigt. Überrascht stellte Rico fest, dass während ihres Spiels die Ungewissheit seiner Zukunft in seinem Kopf keine Rolle mehr gespielt hatte.