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Das babylonische Wörterbuch E-Book

Joaquim Maria Machado de Assis

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Beschreibung

«Der großartigste lateinamerikanische Autor aller Zeiten.» Susan Sontag

Was wäre geschehen, hätte nicht Jesus die Bergpredigt gehalten, sondern der Teufel? Was, wenn Männer und Frauen ihre Seelen und Rollen tauschten? Joaquim Maria Machado de Assis, berühmtester Klassiker Brasiliens und Vorbote des Magischen Realismus, stellt in seinen Erzählungen ironisch alle Konventionen auf den Kopf. Lustvoll spielt er mit den Erwartungen seiner Leser und lotet Grenzen aus: von Gut und Böse, Vernunft und Wahnsinn, bürgerlichem Schein und Sein. Dieser Auswahlband versammelt Machado de Assis' beste Geschichten – allesamt Neu- und deutsche Erstübersetzungen – zu einem Panorama kompromissloser Originalität.

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Seitenzahl: 209

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«Hinter García Márquez steht Borges und hinter Borges als Quelle und Ursprung von allem Machado de Assis.»

Was wäre passiert, hätte nicht Jesus die Bergpredigt gehalten, sondern der Teufel? Was, wenn Männer und Frauen ihre Seelen und somit ihre Rollen tauschten? Lustvoll und aberwitzig spielt Joaquim Maria Machado de Assis, «der großartigste lateinamerikanische Autor aller Zeiten» (Susan Sontag), mit den Erwartungen der Leser. Seine Geschichten führen uns mitten hinein in die Paradoxien des Daseins, an die Grenze zwischen Schein und Sein, Wahn und Wirklichkeit, Gut und Böse. Auch seine hier versammelten dreizehn Erzählungen – allesamt Neu- und Erstübersetzungen – brechen spielerisch mit wohlvertrauten Konventionen.

Joaquim Maria Machado de Assis (1839–1908) wurde in Rio de Janeiro geboren. Aus einfachsten Verhältnissen stammend, arbeitete er als Journalist und im Staatsdienst. Sein vielseitiges literarisches Werk umfasst Lyrik, Theaterstücke, über 200 Erzählungen und 9 Romane, darunter «Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas» und «Dom Casmurro». Er war Mitbegründer und erster Präsident der Brasilianischen Akademie für Sprache und Dichtung.

Joaquim Maria Machado de Assis

DAS BABYLONISCHE WÖRTERBUCH

Erzählungen

Aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt von Marianne Gareis und Melanie P. Strasser

Nachwort von Manfred Pfister

MANESSE VERLAG

Die Akademien von Siam

Kennen Sie die Akademien von Siam? Natürlich weiß ich, dass es in Siam nie Akademien gegeben hat. Aber lassen Sie uns annehmen, es hätte sie gegeben, und zwar vier an der Zahl; und jetzt hören Sie mir zu.

I

Wenn die Sterne des Nachts viele milchfarbene Glühwürmchen durch das Dunkel aufsteigen sahen, pflegten sie zu sagen, das seien die Seufzer des Königs von Siam, der sich gerade mit seinen dreihundert Konkubinen vergnüge. Und sie fragten sie augenzwinkernd: «Königliche Seufzer, was treibt der schöne König Kalaphangko gerade?»

Worauf die Glühwürmchen mit feierlichem Ernst antworteten: «Wir sind die erhabenen Gedanken der vier Akademien von Siam; und wir führen das gesamte Wissen des Universums mit uns.»

Eines Nachts waren es so viele Glühwürmchen, dass die Sterne sich verängstigt in ihre Alkoven flüchteten und die Glühwürmchen einen Teil des Weltraums in Besitz nahmen, wo sie für immer unter dem Namen Milchstraße verblieben.

Auslöser für diese imposante Himmelfahrt von Gedanken war gewesen, dass die vier Akademien von Siam ein einzigartiges Problem lösen wollten: «Warum gibt es Männer, die weiblich, und Frauen, die männlich sind?» Das Naturell des jungen Königs hatte sie darauf gebracht. Kalaphangko war seiner ganzen Anlage nach eine Dame. Alles an ihm verströmte ausgesuchteste Weiblichkeit: Seine Augen waren liebevoll, die Stimme silberhell, seine Umgangsformen sanft und willfährig, und er hatte einen wahren Abscheu vor Waffen. Die siamesischen Krieger stöhnten, doch das Land freute sich. Es gab, nach Manier des Königs, der nichts anderes im Sinn hatte, nur noch Tanz, Komödien und Gesänge. Und so kam es auch zu jener Fantasie der Sterne.

Auf einmal präsentierte eine der Akademien folgende Lösung für das Problem: «Einige Seelen sind männlich, andere weiblich. Die beobachtete Anomalie ist eine Frage des falschen Körpers.»

«Einspruch», brüllten die anderen drei. «Die Seele ist geschlechtslos; mit der äußerlichen Unterscheidung hat sie nichts zu tun.»

Dies genügte, um die Gassen und die Wasser von Bangkok mit akademischem Blut zu färben. Zunächst war es nur eine Kontroverse, dann kam es zu gegenseitigen Vorwürfen und schließlich zu Prügeleien. Zu Beginn der Vorwürfe war alles noch harmlos; keine der rivalisierenden Parteien ließ sich zu einer Beleidigung hinreißen, die nicht streng vom Sanskrit abgeleitet worden wäre, der akademischen Sprache des Landes, des Lateins von Siam. Doch dann verloren sie jede Scham. Die Rivalität geriet außer Rand und Band, stemmte die Hände in die Hüften und ließ sich herab auf das Niveau der Schändlichkeit, der Beleidigung, der Fausthiebe und Übeltaten, bis die aufgebrachte, das Geschlecht der Seele proklamierende Akademie beschloss, die anderen zu vernichten, und einen unheilvollen Plan ausheckte … Winde, die ihr vorbeizieht, traget fort diese Seiten, damit ich nicht erzählen muss die Tragödie von Siam! Wie schwer fällt es mir doch – wehe mir! –, wie schwer fällt es mir, diesen unnachahmlichen Racheplan zu Papier zu bringen. Die Mitglieder besagter Akademie taten ganz geheim und begaben sich just in dem Augenblick zu den anderen Akademikern, als diese, über das berühmte Problem gebeugt, eine Wolke von Glühwürmchen in den Himmel sandten. Kein langes Gerede, kein Erbarmen. Vor Wut schäumend, stürzten sie sich auf die Gegner. Wer hatte fliehen können, war nur für kurze Zeit auf der Flucht; er wurde verfolgt und angegriffen und starb am Ufer des Flusses, auf einem der Boote oder in einer der dunklen Gassen. Alles in allem achtunddreißig Tote. Den gegnerischen Wortführern wurde jeweils ein Ohr abgeschnitten, woraus anschließend Ketten und Armbänder für den siegreichen Präsidenten, den erhabenen U-Tong, gefertigt wurden. Siegestrunken feierten sie ihre Tat mit einem festlichen Bankett und sangen dazu diese großartige Hymne: «Der Ruhm sei unser, denn wir sind der Reis der Wissenschaft und das Licht des Universums.»

Die Stadt erwachte bestürzt. Schrecken befiel die Menschen. Niemand wollte eine so rohe und hässliche Tat durchgehen lassen; einige trauten gar ihren Augen nicht … Ein einziger Mensch hieß alles gut: Es war die schöne Kinnara, Zierde der königlichen Konkubinen.

II

Sanft zu Füßen der schönen Kinnara liegend, bat der junge König um ein Lied.

«Ich schenke Euch kein anderes Lied als dieses: Ich glaube an die geschlechtliche Seele.»

«Dann glaubst du an das Absurde, Kinnara.»

«Eure Majestät glauben also an die geschlechtslose Seele?»

«Das ist ebenso absurd, Kinnara. Nein, ich glaube weder an die geschlechtslose noch an die geschlechtliche Seele.»

«Aber woran glauben Eure Majestät dann, wenn Ihr an keines der beiden glaubt?»

«Ich glaube an deine Augen, Kinnara, sie sind die Sonne und das Licht des Universums.»

«Aber Ihr müsst Euch entscheiden: Entweder glaubt Ihr an die geschlechtslose Seele und bestraft die noch existierende Akademie, oder Ihr glaubt an die geschlechtliche Seele und sprecht sie frei.»

«Wie köstlich ist doch dein Mund, meine süße Kinnara! Ich glaube an deinen Mund: Er ist der Quell der Weisheit.»

Kinnara erhob sich erregt. So, wie der König ein weiblicher Mann war, war sie eine männliche Frau – ein Büffel mit Schwanenfedern. Und dieser Büffel lief nun in dem Schlafgemach umher. Doch gleich darauf war er wieder der Schwan, der innehielt, sich herabbeugte, den König zwischen zwei Zärtlichkeiten um einen Erlass bat und diesen auch erhielt. In diesem Erlass wurde die Doktrin der geschlechtlichen Seele für rechtmäßig und orthodox erklärt und die andere für absurd und pervers. Am selben Tag noch wurde das Dekret an die triumphierende Akademie geschickt, an die Mandarine und in die Pagoden, ins ganze Königreich. Die Akademie hängte Lampions auf; der öffentliche Frieden war wiederhergestellt.

III

Doch die schöne Kinnara heckte einen teuflischen Plan aus. Eines Nachts, als der König gerade ein paar Staatspapiere durchsah, fragte sie ihn, ob die Steuern pünktlich bezahlt würden.

«Ohimè!»,1 rief dieser aus, das Wort wiederholend, das er von einem italienischen Missionar gehört hatte. «Bisher sind nur wenige Steuern bezahlt worden, und ich wollte die Steuerzahler nicht köpfen lassen … Nein, niemals … Blut? Nein, ich will kein Blut …»

«Und wenn ich ein Allheilmittel für Euch wüsste?»

«Was für eines?»

«Eure Majestät haben verordnet, dass die Seelen weiblich und männlich sind», sagte Kinnara nach einem Kuss. «Angenommen, unsere Körper sind vertauscht. Dann muss man doch nur jede Seele wieder mit dem Körper vereinen, der ihr zusteht. Lasst uns die unseren tauschen …»

Kalaphangko lachte herzlich über diese Idee und fragte, wie der Tausch denn vonstattengehen solle. Sie antwortete, nach der Methode des Hindu-Königs Mukunda, der sich in den Körper eines Brahmanen hineinbegeben habe, während in den von Mukunda ein Narr geschlüpft sei – so hieß es jedenfalls in der den Türken, Persern und Christen überlieferten Sage. Ja, aber was war mit der Anrufungsformel? Kinnara behauptete, sie zu besitzen; ein alter buddhistischer Mönch habe eine Abschrift davon in einer Tempelruine gefunden.

«Abgemacht?»

«Ich glaube nicht an mein eigenes Dekret», erwiderte der König lachend, «doch was soll’s, falls es stimmt, dann tauschen wir …, aber nur für ein halbes Jahr, nicht länger. Danach tauschen wir die Körper wieder zurück.»

Sie vereinbarten, dass es noch in derselben Nacht passieren sollte. Während die Stadt schlief, ließen sie die königliche Piroge2 kommen, setzten sich hinein und ließen sich treiben. Keiner der Ruderer bemerkte sie. Als die Morgenröte sich zeigte und die golden glänzenden Kühe sich am Himmel abzeichneten, sprach Kinnara die geheimnisvolle Anrufung; ihre Seele löste sich und schwebte frei umher, darauf wartend, dass der Körper des Königs ebenfalls frei werde. Der ihre war auf den Teppich gefallen.

«Bist du bereit?», fragte Kalaphangko.

«Ja, ich bin in der Luft und warte. Eure Majestät verzeihen die Unwürdigkeit meiner Person …»

Doch die Seele des Königs hörte den Rest schon nicht mehr. Funkelnd schlüpfte sie aus dem eigenen Gefäß und drang in Kinnaras Körper ein, während Kinnaras Seele sich der königlichen Hülle bemächtigte. Beide Körper erhoben sich und sahen einander an – man stelle sich nur das Erstaunen vor. Es war wie bei Buoso und der Schlange3, wie beim alten Dante; doch sehet hier meine Kühnheit. Der Dichter gebietet Ovid und Lukan zu schweigen, weil er findet, die von ihm beschriebene Metamorphose sei wertvoller als die der anderen beiden. Ich befehle allen dreien zu schweigen. Buoso und die Schlange sind nicht mehr da, während meine beiden Helden, nunmehr körperlich vertauscht, weiterhin miteinander reden und leben – was natürlich, Bescheidenheit hin oder her, noch dantesker ist.

«Es ist wirklich merkwürdig», sagte Kinnara, «sich selbst anzusehen und plötzlich eine Hoheit zu sein. Spüren Eure Majestät nicht dasselbe?»

Beiden ging es nun gut, wie Menschen, die endlich das richtige Haus gefunden haben. Kalaphangko streckte sich genüsslich in Kinnaras weiblichen Kurven. Diese wiederum richtete sich in Kalaphangkos aufrechtem Oberkörper ein. Siam hatte endlich einen König.

IV

Die erste Amtshandlung Kalaphangkos (fortan sei darunter der Körper des Königs mit Kinnaras Seele verstanden und unter Kinnara der Körper der schönen Siamesin mit der Seele Kalaphangkos) war nichts Geringeres als die Verleihung höchster Auszeichnungen an die «geschlechtliche» Akademie. Er ließ ihren Mitgliedern nur deshalb nicht den Mandarin-Status zuteilwerden, da es eher Menschen des Denkens als des Handelns und Verwaltens waren, Menschen, die der Philosophie und Literatur zugeneigt waren; doch verordnete er zumindest, dass alle sich vor ihnen niederzuwerfen hätten wie vor den Mandarinen. Zudem beschenkte er sie großzügig mit seltenen und wertvollen Dingen, mit ausgestopften Krokodilen, Stühlen aus Elfenbein, smaragdbesetzten Servicen für das Mittagsmahl, mit Diamanten und Reliquien. Dankbar für all diese Begünstigungen, bat die Akademie ferner darum, fortan offiziell den ihr verliehenen Titel «Klarheit der Welt» tragen zu dürfen.

Als Nächstes kümmerte sich Kalaphangko um die Einnahmen der öffentlichen Hand, um Justiz, die Religion und die Kulte. Das Land begann, um mit dem erlauchten Camões4 zu sprechen, das mächtige Gewicht zu spüren, denn nicht weniger als elf säumige Steuerzahler wurden alsbald geköpft. Natürlich bezahlten die übrigen eilends ihre Gebühren, schließlich war ihnen ihr Kopf mehr wert als das Geld, und alles renkte sich wieder ein. Die Justiz und die Gesetzgebung erfuhren beachtliche Reformen. Neue Pagoden wurden errichtet, und auch die Religion schien neue Anregungen zu bekommen, seit Kalaphangko, in Anlehnung an die alte spanische Gepflogenheit, ein Dutzend armer christlicher Missionare hatte verbrennen lassen, die in der Gegend unterwegs gewesen waren; ein Akt, den die heimischen buddhistischen Mönche als das Glanzstück seiner Regierungszeit bezeichneten.

Nun fehlte noch ein Krieg. Unter einem mehr oder weniger diplomatischen Vorwand griff Kalaphangko ein anderes Königreich an und unternahm den kürzesten und glorreichsten Feldzug des Jahrhunderts. Als er nach Bangkok zurückkehrte, wurde er mit feierlichen Ehren empfangen. Dreihundert mit blauer und scharlachroter Seide ausgelegte Boote kamen, ihn zu begrüßen. Ein jedes hatte auf dem Bug einen goldenen Schwan oder Drachen und war mit den vornehmsten Menschen der Stadt besetzt; Musik und Beifall erschütterten die Luft. Nachts, als die Feierlichkeiten vorüber waren, flüsterte ihm seine schöne Konkubine ins Ohr: «Mein junger Krieger, belohne mich für die Sehnsucht, die ich während deiner Abwesenheit verspürt habe; sag mir, dass das schönste Fest deine sanfte Kinnara ist.»

Kalaphangko antwortete mit einem Kuss.

«Deine Lippen sind kalt wie der Tod und die Verachtung», seufzte Kinnara.

Es stimmte, der König war nicht bei der Sache. Er sorgte sich und heckte eine Tragödie aus. Der Zeitpunkt für den Rücktausch der Körper nahte, und er erwog, die Abmachung zu unterlaufen, indem er die schöne Siamesin tötete. Er zögerte aber noch, weil er nicht wusste, ob ihr Tod ihm ebenfalls Schaden bringen würde, da sein Körper nun ja der ihre war, oder ob er vielleicht gar ebenfalls zu Tode käme. Solcherart waren Kalaphangkos Zweifel; doch der Todesgedanke verdüsterte ihm die Stirn, während er über das Fläschchen Gift an seiner Brust strich, das er den Borgias5 abgeschaut hatte.

Da fiel ihm die belesene Akademie ein; er konnte sie konsultieren, nicht offen zwar, doch zumindest verdeckt. Er ließ die Akademiker kommen; sie erschienen alle, außer dem Präsidenten, dem illustren U-Tong, der krank war. Es waren dreizehn. Sie warfen sich vor ihm nieder und sprachen nach der Tradition Siams: «Wir, die wir verachtenswertes Stroh sind, folgten eilends Kalaphangkos Ruf.»

«Erhebt euch», sprach der König wohlwollend.

«Staub gehört auf den Boden», beharrten sie, Ellbogen und Knie gegen den Untergrund gepresst.

«Dann seid der Wind, der den Staub aufwirbelt», erwiderte Kalaphangko und bot ihnen mit einer grazilen und großmütigen Geste die Hände dar.

Anschließend sprach er über verschiedene andere Dinge, damit sein Hauptanliegen sich wie von selbst ergebe; er sprach über die neuesten Nachrichten aus dem Westen und über das Gesetzbuch des Manu6. Als es um U-Tong ging, fragte er, ob dieser wirklich so weise sei, wie es den Anschein habe, doch als er sah, dass sie auf der Antwort herumkauten, gebot er ihnen, die Wahrheit zu sagen. Mit bemerkenswerter Einstimmigkeit gestanden sie, dass U-Tong einer der ausgemachtesten Dummköpfe des Königreichs sei, ein niedriger, wertloser Geist, der nichts wisse und unfähig sei, irgendetwas zu lernen. Kalaphangko war erschüttert. Ein Dummkopf?

«Es schmerzt uns, dies zu sagen, aber so ist es; er ist ein gemeiner und schwacher Geist. Sein Herz ist vortrefflich, sein Charakter rein, erhaben …»

Als Kalaphangko sich von diesem Schrecken erholt hatte, schickte er die Akademiker weg, ohne sie zu seinem Anliegen zu befragen. Ein Dummkopf? Es galt, ihn abzusetzen, ohne ihn zu kränken. Drei Tage später fand sich U-Tong auf den Ruf des Königs im Palast ein. Dieser erkundigte sich liebevoll nach seinem gesundheitlichen Befinden; dann sagte er, er wolle jemanden nach Japan schicken, damit er dort ein paar Dokumente studiere, ein Auftrag, den man nur einem wirklich klugen Menschen anvertrauen könne. Welcher seiner Akademie-Kollegen erscheine ihm für diese Aufgabe geeignet? Der listige Plan des Königs ist leicht zu durchschauen: Er wollte zwei bis drei Namen hören und dann zu dem Schluss kommen, dass er diesen allen doch U-Tong selbst vorzöge.

Hier sei gesagt, was dieser ihm antwortete: «Königliche Hoheit, verzeiht meine offenen Worte: Das sind dreizehn Kamele, nur dass Kamele bescheiden sind und diese Männer nicht. Sie vergleichen sich mit der Sonne und mit dem Mond. Aber Sonne und Mond haben wahrlich niemals größere Taugenichtse angestrahlt als diese dreizehn … Ich verstehe die Verwunderung Seiner Majestät, aber ich wäre meiner selbst nicht würdig, spräche ich dies nicht mit aller Loyalität, wenngleich im Vertrauen aus …»

Kalaphangko blieb der Mund offen stehen. Dreizehn Kamele? Dreizehn, dreizehn. U-Tong lobte lediglich ihre unübertrefflichen Herzen; charakterlich käme ihnen nichts gleich. Kalaphangko entließ den erhabenen U-Tong mit einer edlen Geste der Willfährigkeit und verfiel ins Grübeln. Welcherart seine Überlegungen waren, hat niemand je erfahren. Bekannt ist nur, dass er die anderen Akademiker rufen ließ, diesmal jedoch einzeln, damit es weniger auffiel und er ein umfassenderes Bild erlangte. Der erste, der kam und nichts wusste von U-Tongs Haltung, bestätigte diese voll und ganz – mit dem einzigen Unterschied, dass er von zwölf Kamelen sprach beziehungsweise von dreizehn, wenn man U-Tong miteinbeziehe. Der zweite war derselben Ansicht und ebenso der dritte wie auch alle weiteren Akademiker. Sie formulierten es auf unterschiedliche Weise; einige sprachen von Kamelen, andere verwendeten Umschreibungen und Metaphern, die aber auf dasselbe hinausliefen. Keiner jedoch zog die moralischen Eigenschaften dieser Menschen in Zweifel. Kalaphangko war sprachlos.

Dies war indes nicht der einzige Schrecken für den König. Da er die Akademie nicht um Rat fragen konnte, suchte er für sich selbst nach einer Entscheidung, worauf er zwei Tage verwendete, bis die schöne Kinnara ihm verriet, dass sie ein Kind erwartete. Diese Nachricht ließ ihn von seinem verbrecherischen Vorhaben Abstand nehmen. Wie hätte er das Gefäß zerstören können, das diese im nächsten Frühjahr erblühende Blume gewählt hatte? Er schwor beim Himmel und bei der Erde, dass das Kind geboren und leben werde. Das halbe Jahr ging zu Ende; der Augenblick für den Rücktausch der Körper war gekommen.

Wie beim ersten Mal setzten sie sich nachts in das königliche Boot und ließen sich flussabwärts treiben, beide widerwillig und an dem Leib hängend, den sie nun dem anderen zurückgeben mussten. Als langsam die golden glänzenden Kühe am Morgenhimmel in Erscheinung traten, sprachen sie die geheimnisvolle Formel, und jede Seele ging wieder in ihren früheren Körper ein. Kinnara, die in den ihren zurückkehrte, verspürte die mütterliche Rührung so, wie sie, noch in Kalaphangkos Körper steckend, die väterliche erfahren hatte. Sie fühlte sich, als wäre sie gleichzeitig Mutter und Vater des Kindes.

«Vater und Mutter?», wiederholte der in seinen früheren Zustand zurückversetzte König.

Da wurden sie von einer lieblichen, noch fernen Musik unterbrochen. Es musste sich um eine flussaufwärts fahrende Dschunke oder Piroge handeln, denn die Musik kam rasch näher. Schon überflutete die Sonne das Wasser und die grünen Ufer mit ihrem Licht, wodurch sie dem Ganzen einen Anstrich von Leben und Wiedergeburt verlieh, der die beiden Liebenden ihre körperliche Rückverwandlung vergessen ließ. Die Musik kam näher und näher, war nun deutlicher zu hören, und schließlich tauchte in einer Flussbiegung ein prächtiges, mit Federn und Wimpeln geschmücktes Boot auf. Darin saßen die vierzehn Mitglieder der Akademie (U-Tong eingeschlossen), und sie schickten im Chor die alte Hymne gen Himmel: «Der Ruhm sei unser, denn wir sind der Reis der Wissenschaft und die Klarheit der Welt!»

Die Augen der schönen Kinnara (ehemals Kalaphangko) weiteten sich vor Erstaunen. Sie konnte einfach nicht verstehen, wie diese vierzehn in der Akademie vereinten Männer gemeinschaftlich die Klarheit der Welt und getrennt eine Ansammlung von Kamelen sein konnten. Kalaphangko, den sie dazu befragte, fand dafür auch keine Erklärung. Falls der geneigte Leser jedoch eine finden sollte, so erweise er bitte einer der anmutigsten Damen des Orients den Gefallen und lasse ihr diese in einem verschlossenen Briefumschlag zukommen, und zur Sicherheit in Kopie auch unserem Konsul in Shanghai, China.

Der wahre Grund

Garcia, stehend, schnipste mit den Fingernägeln; Fortunato, im Schaukelstuhl, starrte zur Decke; Maria Luísa, am Fenster, beendete gerade eine Strickarbeit. Bereits fünf Minuten herrschte Schweigen. Sie hatten über das Wetter geredet, das hervorragend gewesen war, über Catumbi, wo das Ehepaar Fortunato wohnte, und über eine Klinik, auf die wir später noch zu sprechen kommen werden. Da diese Figuren inzwischen alle tot und beerdigt sind, ist es an der Zeit, ihre Geschichte zu erzählen, und zwar ohne jede Beschönigung.

Sie hatten auch noch über etwas anderes geredet, über etwas, das so hässlich und schwerwiegend war, dass sie nun keine große Lust mehr hatten, über das Wetter, das Viertel oder die Klinik zu reden. Das Gespräch war beklemmend gewesen. Maria Luísas Finger schienen noch immer zu zittern, während Garcias Gesicht eine für ihn untypische Ruhe ausstrahlte. In Wahrheit war das, was passiert war, so ungeheuerlich, dass man, wollte man es verständlich machen, zur Ausgangslage zurückkehren musste.

Garcia hatte im Vorjahr, also 1861, sein Medizinstudium beendet. 1860, als er noch an der Fakultät studierte, begegnete er Fortunato zum ersten Mal, es war am Eingang zum Krankenhaus Santa Casa gewesen; er ging hinein, Fortunato kam heraus. Der Mann beeindruckte ihn; dennoch hätte er ihn wohl vergessen, wäre da nicht wenige Tage später dieses zweite Zusammentreffen gewesen. Garcia wohnte in der Rua Dom Manuel. Zu seinen wenigen Zerstreuungen zählte es, ins Theater São Januário zu gehen, das ganz in der Nähe, zwischen seiner Straße und dem Strand, gelegen war; er besuchte es ein- bis zweimal im Monat, und niemals traf er dort mehr als vierzig Menschen an. Nur die Unerschrockensten wagten es, ihre Schritte in diesen Winkel der Stadt zu lenken. Eines Abends, er saß im Parkett, tauchte Fortunato auf und setzte sich neben ihn.

Es wurde ein Melodram gegeben, in dem es von Messerstechereien, Flüchen und Gewissenskonflikten nur so wimmelte, das Fortunato jedoch mit außerordentlichem Interesse verfolgte. Bei den qualvollen Szenen wuchs seine Aufmerksamkeit, seine Augen wanderten begierig zwischen den Schauspielern hin und her, was den Studenten zu der Vermutung veranlasste, das Stück wecke alte Erinnerungen in dem neben ihm sitzenden Mann. Auf das Drama folgte eine Farce, die Fortunato jedoch nicht abwartete; er verließ vielmehr den Saal. Garcia folgte ihm. Fortunato ging durch den Beco do Cotovelo und die Rua de São José zum Largo da Carioca. Er schritt langsam und gesenkten Hauptes dahin, wobei er mehrmals innehielt, um einem schlafenden Hund einen Stockhieb zu verpassen; die Hunde jaulten, und er ging weiter. Am Largo da Carioca stieg er in einen Tilbury1 und setzte seinen Weg in Richtung Praça da Constituição fort. Garcia kehrte nach Hause zurück, ohne Näheres herausgefunden zu haben.

Es verstrichen einige Wochen. Eines Abends, es war neun Uhr und er war zu Hause, hörte er auf der Treppe Stimmen. Sogleich stieg er von dem Dachboden, in dem er wohnte, in den ersten Stock hinab, wo ein Angestellter des Königlichen Zeughauses wohnte. Dieser wurde gerade von ein paar Männern die Treppe heraufgeführt. Er war blutüberströmt. Sein schwarzer Diener eilte herbei, um ihm die Tür zu öffnen; der Mann stöhnte, alle redeten durcheinander, es brannte nur ein schwaches Licht. Als der Verletzte schließlich im Bett lag, sagte Garcia, man müsse einen Arzt rufen.

«Er ist schon unterwegs», erwiderte jemand.

Garcia sah auf: Es war der Herr aus der Santa Casa und dem Theater. Er nahm an, dass er ein Verwandter oder Freund des Verletzten sei, doch als er ihn fragen hörte, ob dieser Mann Familie habe oder Menschen, die ihm naheständen, verwarf er die Vermutung wieder. Der Diener verneinte, und so übernahm der Herr die Organisation der Aufgaben: Er bat die Fremden zu gehen, bezahlte die Träger und erteilte erste Anweisungen. Als er erfuhr, dass Garcia Nachbar und Medizinstudent sei, bat er ihn, zu bleiben und dem Arzt zu assistieren. Anschließend erzählte er, was sich zugetragen hatte.

«Es waren die capoeiras2. Ich kam gerade aus der Moura-Kaserne, wo ich einen Cousin besucht hatte, als ich lautes Geschrei vernahm. Gleich darauf bildete sich ein Menschenauflauf. Offensichtlich haben sie noch einen weiteren Passanten verletzt, doch der verschwand in einer dieser Gassen. Ich habe nur diesen Herrn hier gesehen, der gerade die Straße überquerte, als einer der Banditen ganz dicht an ihn herantrat und einen Dolch in seinen Körper rammte. Er ging nicht sofort zu Boden, sondern konnte noch sagen, wo er wohnt, und da es nur ein Katzensprung war, hielt ich es für besser, ihn hierherzubringen.»

«Kennen Sie ihn?», fragte Garcia.

«Nein, ich habe ihn noch nie gesehen. Wer ist er?»

«Ein grundanständiger Mann, Angestellter im Zeughaus. Sein Name ist Gouvêa.»

«Das sagt mir nichts.»

Kurz darauf erschienen der Arzt und der stellvertretende Wachtmeister; der Mann wurde behandelt, und ein Protokoll wurde aufgenommen. Der Unbekannte erklärte, er heiße Fortunato Gomes da Silveira, sei Geschäftsmann, ledig und wohne in Catumbi. Die Verletzung erwies sich als schwerwiegend. Während der Behandlung, bei der der Student assistierte, betätigte sich Fortunato als Handlanger; er hielt die Waschschüssel, die Kerze, die Tücher, ohne je im Weg zu sein. Dabei blickte er kalt auf den heftig stöhnenden Verletzten. Am Ende besprach er sich mit dem Arzt, begleitete ihn bis zum Treppenabsatz und erklärte dem stellvertretenden Wachtmeister noch einmal, dass er bereit sei, die polizeilichen Ermittlungen zu unterstützen. Die beiden gingen, Fortunato und der Student blieben in dem Zimmer zurück.

Garcia war perplex. Er beobachtete, wie der Herr ganz ruhig Platz nahm, die Beine ausstreckte, die Hände in die Hosentaschen steckte und seinen Blick auf den Verletzten heftete. Er hatte helle, bleifarbene Augen, sie bewegten sich langsam, und ihr Ausdruck war hart und kalt. Ein schlankes, blasses Gesicht, unter dem Kinn und an den Schläfen ein schmaler Streifen Bart, kurz geschoren, rothaarig und licht. Er mochte vierzig Jahre alt sein. Hin und wieder wandte er sich an den Studenten und stellte eine Frage zu dem Verletzten, blickte jedoch, während der Student noch antwortete, sofort wieder in dessen Richtung. Dieses Verhalten löste bei dem Studenten Ablehnung und Neugier zugleich aus; es ließ sich nicht leugnen, dass er gerade einem Akt seltener Aufopferung beiwohnte, und wirkte der Mann auch noch so gleichgültig, galt es doch zu akzeptieren, dass das menschliche Herz ein Quell der Geheimnisse war.

Fortunato ging kurz vor eins; an den darauffolgenden Tagen kam er wieder, doch die Heilung schritt zügig voran, und noch ehe sie gänzlich abgeschlossen war, verschwand er, ohne seinem Schützling zu verraten, wo er wohnte. Der Student war es, der ihm Name, Straße und Hausnummer nannte.

«Sobald ich das Haus wieder verlassen kann, werde ich ihm für seine Aufopferung danken», sagte der Genesende.