Das Band der Liebe - Catherine Cookson - E-Book

Das Band der Liebe E-Book

Catherine Cookson

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Beschreibung

Die Baileys, Vater Bill, Mutter Fiona und die fünf Kinder, sind eine glückliche Familie. Als der zwölfjährige Sammy Love nach dem Tod seines Vaters plötzlich ganz allein dasteht, nehmen sie ihn bereitwillig in ihr Haus auf. Doch Sammy wuchs bisher in äußerst ärmlichen Verhältnissen auf. Sein mangelhaftes Benehmen und sein zweifelhafter Umgang sind immer häufiger der Grund für heftige Auseinandersetzungen. Bis Sammy eines Tages die Chance erhält, zu beweisen, was wirklich in ihm steckt…

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CATHERINE COOKSON

DAS BAND DER LIEBE

Roman

Aus dem Englischen

von Elisabeth Shulte-Randt

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Die Baileys sind eine glückliche Familie. Bills Geschäfte gehen gut, Fiona kümmert sich liebevoll um das Haus, ihre vier eigenen Kinder und die Pflegetochter. Als Sammy Love, der Freund von Sohn Willie, nach dem Tod seines Vaters plötzlich ganz alleine dasteht, nehmen ihn die Baileys bereitwillig in ihr Haus auf. Doch Sammy wuchs bisher in äußerst ärmlichen Verhältnissen auf. Sein mangelhaftes Benehmen und sein zweifelhafter Umgang stellen die Familienharmonie auf eine harte Probe, und es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen. Bis Sammy eines Tages die Chance erhält, zu beweisen, was wirklich in ihm steckt …

Die Autorin

Catherine Cookson wurde in Nordengland geboren und wuchs – wie so viele ihrer Romanfiguren – in einfachsten Verhältnissen auf. Bereits als Sechzehnjährige schrieb sie Kurzgeschichten, doch der Durchbruch als Autorin kam erst 1950. Seitdem hat sie fast 90 Romane veröffentlicht, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Durch ihre treue Leserschaft wurde sie eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Welt. 1993 wurde ihr der Titel »Dame of the British Empire« verliehen. Im Wilhelm Heyne Verlag sind zahlreiche ihrer Romane erschienen.

HEYNE ALLGEMEINE REIHE Band-Nr. 01/13134

Titel der Originalausgabe THE BONDAGE OF LOVE

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Redaktion: Verlagsbüro Dr. Andreas Gößling und Oliver Neumann GbR

Deutsche Erstausgabe 7/2000 Copyright © 1997 by Catherine Cookson Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2000 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 2000 Umschlagillustration: John Harris/Arena/Agentur Schlück Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

eISBN: 978-3-641-18102-4V001

http://www.heyne.de

www.randomhouse.de

Für Norreen, die während der vergangenen sechzehn Jahre für mein Zuhause gesorgt und mit ihrer Fröhlichkeit manchen trüben Tag erhellt hat. Ihr spreche ich von ganzem Herzen meinen Dank aus.

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorinCopyrightWidmungTEIL 1
PrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16
TEIL 2
Kapitel 1Kapitel 2
TEIL 3
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5

TEIL 1

Prolog

Die Geschichte zwischen Katie Bailey und Sammy Love hatte an dem Tag begonnen, als Sammys Vater Davey begraben wurde. Sammy hatte damals versucht, Katie zu trösten, und gesagt, daß er auf Wunsch seines Vaters mit ihr sprechen würde.

Nachdem Sammy sich allein in seinem Zimmer ausgeweint hatte, war er zu Katie hinübergegangen, um ihr genau das zu sagen. Er würde mit ihr reden, weil sein Vater vorausgesehen habe, wie einsam sie sich fühlen mußte. Die Dankbarkeit, die Katie bei diesen Worten empfand, kam ihr seltsam vor. Denn sie und Sammy waren jahrelang wenn auch keine Feinde, so immerhin Gegner gewesen – seit Willie, Katies jüngerer Bruder, sich mit Sammy Love angefreundet hatte, einem neunjährigen Jungen, der lautstark fluchte, freche Reden führte und keine Bemerkung unkommentiert ließ. Die Beziehung hatte die Familie in zwei Lager gespalten, und Fiona, Willies Mutter, war entsetzt über den Umgang ihres Sohnes gewesen.

Fiona stammte aus der Mittelschicht, und natürlich wollte sie nicht, daß ihre Kinder sich mit jemandem wie Sammy Love abgaben, einem Rotzjungen aus Bog’s End, dessen Vater im Gefängnis von Durham gesessen hatte. Doch der schlaue Bursche hatte es verstanden, sich nützlich zu machen und war Bill Baileys Lebensretter geworden. Danach hieß man ihn im Kreis der Familie willkommen, genau wie seinen Vater.

Die Familie hatte Davey Love, diesen stämmigen Iren von offenbar einfältigem Gemüt, der jeden zum Lachen brachte, sobald er den Mund aufmachte, so liebgewonnen, daß er in das Haus der Baileys geholt wurde, als sein Tod nahte, damit er dort die letzten Tage verbringen konnte. Damals hatten alle die wohltuende Anwesenheit von Davey Love gespürt, angefangen bei der kleinen Angela, Bills und Fionas mongoloider Tochter, über Mamie, ihre Adoptivtochter von mittlerweile neun Jahren, den jetzt zwölfjährigen Willie, die vierzehnjährige Katie und den sechzehnjährigen Mark, Mrs. Vidler, der Mutter von Fiona und vor kurzem noch Bills Todfeindin, bis sich ihr Charakter durch ein dramatisches Ereignis zutiefst veränderte, und schließlich Bert und Nell Ormesby. Nell stand Fiona hilfreich zur Seite und verbrachte viel Zeit im Haus der Baileys, seit vor einigen Jahren tragische Umstände ihr eigenes Leben verändert hatten, und Bert war einer von Bills Vorarbeitern. Diese Menschen bildeten alle zusammen die engere Familie, und unter ihnen war niemand, dem der grobschlächtige, laute, aber auch weise Ire nicht tief im Inneren nahegestanden hätte.

Damals hatte Katie Trost wirklich bitter nötig. Ihr Stiefvater Bill hätte sie beinahe aus dem Haus geworfen, nachdem durch ihr Verhalten seine enge Freundschaft zu Rupert Meredith zerbrochen war. Rupert war ein Verwandter von Sir Charles Kingdom, der Bill geholfen hatte, seine jetzige Position in der Baubranche zu erreichen.

Katie war erst dreizehn gewesen, als sie sich, fast mit der reifen Liebe einer Erwachsenen, in Rupert verliebte und ihn nackt mit seiner Freundin im Bett entdeckte. Der Besitz der Baileys grenzte an das Grundstück, auf dem das Landhaus dieser Freundin stand. In einem Anfall von Eifersucht schleuderte Katie der jungen Frau einen schweren Holzzuber an den Kopf. Das Wurfgeschoß verfehlte ihr Auge nur knapp. Auch Rupert, der Katie schließlich an den Haaren packte und nach draußen auf den Gartenweg zerrte, trug Verletzungen davon.

Natürlich brach Rupert sofort jeden Kontakt zum Haus der Baileys ab. Aber er behielt seinen Posten als Leiter einer Werkstatt, die Bill gehörte, und so war es unvermeidlich, daß sich die beiden Männer weiter begegneten.

Bill konnte Katie ihre Tat nicht verzeihen. Die Freundschaft mit Rupert hatte ihm viel bedeutet, da sie durch Sir Charles und Lady Kingdom zustande gekommen war. Nach dem Tod von Sir Charles hatte sie sich sogar noch vertieft.

Am Tag von Davey Loves Begräbnis, inmitten der zahllosen Trauergäste draußen vor der Kirche, war Rupert zu Fiona getreten und hatte zum ersten Mal seit dem Vorfall wieder das Wort an sie gerichtet. Katie stand neben ihrer Mutter, und Rupert sagte nach einigem Zögern:

»Hallo, Katie.«

Katie starrte ihn an und antwortete ebenso knapp: »Hallo.« Gleichzeitig wurde ihr voller Verwunderung bewußt, wie dumm sie in der Vergangenheit gewesen war. Was für ein Impuls hatte sie getrieben, als sie vor Eifersucht beinahe den Verstand verlor? Worum ging es dabei überhaupt? Die Liebe, die Katie für Bill empfand, kam gleich nach ihrer Liebe zu Rupert, und Katie war in tiefe Verzweiflung gestürzt, als Bill sie nach dem Vorfall wie Luft behandelte. Sie sprach mit fast niemandem mehr, und wenn, machte sie nur einsilbige Bemerkungen.

An jenem Tag, als sie vom Begräbnis nach Hause zurückkehrten, stand Bill im Eingang seines prächtigen Hauses, auf das er zu Recht stolz war. Er sah Katie an, sein Stiefkind, das er von allen Mitgliedern seiner adoptierten Familie am meisten liebte, und sie erwiderte seinen Blick. Dann schrie sie, wie aus den Tiefen ihrer Seele:

»Oh, Dad! Dad! Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«

In diesem Augenblick schloß er Katie in die Arme. Fiona sah es, wie auch der Rest der Familie, und alle waren erleichtert. Das Leben würde wieder in seine normalen Bahnen zurückkehren.

Als Katie die Treppe hinaufgestürmt war, um in ihrem Zimmer den Tränen freien Lauf zu lassen, bis sie von allein versiegten, hatte Sammy Love an ihre Tür geklopft, und da sah sie ihn mit völlig neuen Augen. Sammy war zwei Jahre jünger als sie, wirkte aber deutlich älter. Er war hochgewachsen und sehr dünn, ihr Stiefvater bezeichnete ihn als drahtig. Bills offensichtliche Sympathie für Sammy hatte Katies Abneigung gegen ihn nur verstärkt, und sie nutzte jede Gelegenheit, ihn anzugreifen. Ihr Stiefvater betrachtete Sammy, seit dieser bei ihnen lebte, nicht nur als vollwertiges Familienmitglied, sondern Katie wußte auch, daß Sammy Love für Bill Bailey selbst dann noch etwas Besonderes darstellte, wenn er fluchte und obszöne Wörter benutzte.

Dann gab es da noch Willie. Während all der Jahre hatte Willie wie eine Klette an Sammy gehangen. Sammy war sein Ein und Alles. Katie erinnerte sich an die Auseinandersetzungen im Haus, weil Willie einfach nicht von der Freundschaft zu diesem Jungen lassen wollte. Was hatte Sammy, das die Menschen dazu brachte, ihn zum Freund haben zu wollen? Vielleicht war es die gleiche Eigenschaft, die auch sein Vater besessen hatte, nur sehr viel ausgeprägter. Als gutaussehend hätte man Sammy nicht bezeichnen können. Bis jetzt waren ihr seine Augen nie aufgefallen, außer wenn sie und Sammy sich gegenseitig beschimpften. Dann hatten seine Augen wie schwarze Murmeln ausgesehen. Sie waren riesig, mit langen Wimpern, aber Nase und Mund waren zu groß geraten. Katie würde sein Gesicht, dessen Kinn manchmal nach vorn zu treten schien, als reizlos beschreiben.

In dem Augenblick, als Katie Sammys Hand in ihrer spürte, überkam sie eine merkwürdige Empfindung, als wäre sie jünger als er. Er wirkte beinahe wie vierzehn, während sie erst zwölf Jahre alt war und demnächst dreizehn wurde.

An jenem Tag wußte Katie, daß Mr. Love ihr fehlen würde. Mit ihm hatte sie reden können, und sie hatte entdeckt, daß er nicht der Einfaltspinsel war, für den ihn alle hielten. Er war ein unterhaltsamer Mensch, der mit seiner kuriosen Ausdrucksweise die Leute zum Lachen brachte. In seiner Nähe fühlte man sich jedes Mal herrlich erfrischt. Als Katie seinen Sohn anblickte, kam ihr der Gedanke, wie dumm Gefühle sein konnten. Zuerst liebte man einen Menschen bis zur Raserei, und dann verabscheute man ihn, weil man sich von ihm gedemütigt fühlte.

Oder, was Sammy betraf, so begann sie ihn mit einem Mal zu mögen, obwohl sie vorher nur Verachtung für ihn empfunden hatte. Wer sollte sich in der menschlichen Seele auskennen, wenn solche Kehrtwendungen möglich waren?

1.

Weniger als einen Monat nach Daveys Begräbnis tobte in der Freundschaft zwischen Katie und Sammy ein erster Sturm, der das sonst so ruhige Familienleben durcheinanderwirbelte. Bill war oben im Kinderzimmer, um wie jeden Tag eine halbe Stunde mit seiner Tochter zu spielen. Er hatte Angela auf seinen Arm genommen und lobte zum wiederholten Mal ihre Fortschritte beim Modellieren. Nell und Bert waren ebenfalls mit ihrem Neugeborenen oben, um das jüngste Meisterwerk seiner Tochter zu bewundern – eine recht gelungene Nachbildung ihres Plüschpudels, an dem die Kleine sehr hing.

Bill stand an der Seite eines niedrigen Tischs und richtete den Finger auf seine Frau. »Sag nur nicht, das wäre Zufall, Mrs. Bailey, oder daß ihr jemand geholfen hätte. Als ich hereinkam, hat sie gerade die Einzelteile zusammengefügt.«

Fiona breitete beschwichtigend die Hände aus. »Ich habe kein Wort gesagt.« Sie richtete den Blick auf ihre Freundin. »Aber es stimmt, die Figur ist wirklich gelungen. Behauptet jemand etwas anderes, Mr. Bailey?« fragte sie, den Namen betonend.

»Ja, ja …« Bill wandte sich an Bert, der sein »Gottesgeschenk«, wie er seinen neugeborenen Sohn nannte, spielerisch in die Höhe warf und wieder auffing. »Wir wissen schon, sie hat bei allem ihre Zweifel. Oh, verflixt! Laß uns nach unten gehen, Schatz. Ich bin seit einer Stunde zu Hause, und niemand interessiert sich dafür, daß ich eine trockene Kehle habe.«

»Ich habe dich gefragt, ob du eine Tasse Tee willst«, schaltete Nell sich ein, »aber du hast gesagt, du könntest zuerst etwas Stärkeres vertragen. Hast du es bekommen?«

»Ja, habe ich, liebe Nell. Aber jetzt würde ich gern eine Tasse Tee trinken.«

Lachend machten sich alle auf den Weg zur Tür, die in diesem Moment aufgerissen wurde. Dort stand Mark mit angespanntem Gesichtsausdruck und verdrehtem Kopf. »Dad, aus dem Fitneßraum kommt Lärm. Du weißt, mein Zimmer liegt direkt darunter. Das sind wieder Willi und Katie, vor allem Willie, wie es sich anhört. Jemand muß ihn zur Rede stellen. Er treibt es wirklich zu arg.«

»Warst du schon bei ihnen?«

»Nein. Ich hätte womöglich meine Fäuste gebraucht. Langsam reicht es mir mit dieser Bande. Nie herrscht hier Ruhe. Wie soll ich bei diesem Krach arbeiten?«

Bill senkte den Kopf, und Fiona blickte zur Seite. Beide schwiegen. Draußen auf der Galerie sahen sie sich an. Aus ihrem Blick sprach der gemeinsame Gedanke, daß es in dem großen Haus genügend ruhige Ecken gab, in die Mark sich zurückziehen konnte, wenn er ungestört sein wollte. Mark besaß sein eigenes Schlafzimmer, und der angrenzende frühere Ankleideraum diente ihm als Studierzimmer. Aber man konnte wohl kaum von dem jungen Herrn erwarten, daß er sich für die Prüfungsvorbereitungen einen anderen Platz im Haus suchte, oder?

Als sie in die Halle kamen, hörten sie den Lärm aus dem Fitneßraum, der am Ende des Korridors im Erdgeschoß lag. Das Gesicht schadenfroh verzogen, kam ihnen Mamie entgehen. »Oh, sie kämpfen wieder«, rief das Mädchen. »Wie die Wilden gehen sie aufeinander los. Dann hat Sammy Katie über die Schulter geworfen und zu Boden geschleudert.«

»W… wie bitte?« fragten Bill und Fiona gleichzeitig. Sie eilten den Korridor entlang und stürmten in den Fitneßraum.

Willie schrie: »Warum hast du die ganze Zeit geschwiegen? Wenn du es ihr erzählen konntest, warum dann nicht mir?«

Sammy schien die Neuankömmlinge nicht zu bemerken. »Ich habe es ihr erst kürzlich erzählt«, antwortete er. »Und dir habe ich nichts gesagt, weil ich manche Dinge für mich behalten wollte. Verstehst du das nicht? Nein, wohl kaum. Dazu bist du zu bequem. Du hattest es immer viel zu leicht.«

»Aber, aber! Jetzt hört mal zu! Worum geht es eigentlich?« Bill stellte Angela auf den Boden und fragte, an Sammy gewandt: »Was ist passiert? Warum hatte er es zu leicht? Und was ist es, das du für dich behalten mußt, und wovon er glaubt, er hätte daran teilhaben müssen?«

Sammys Gesicht war puterrot. Mit fest zusammengepreßten Lippen sagte er bitter: »Ich habe die Donnerstagabende für mich freigehalten.«

»Ja, Junge, das weiß ich.« Bills Stimme sollte beruhigend wirken. »Du bist jeden Donnerstag abends zur Beichte gegangen, und das tust du heute noch.«

»Ja, ich gehe auch jetzt noch jeden Donnerstag hin. Aber die Beichte dauert nicht den ganzen Abend. Danach habe ich etwas anderes gemacht und es für mich behalten.«

»Was immer es war, wußte dein Dad davon?«

»Ja, er wußte es, und er meinte, es ginge in Ordnung. Ein Mann sollte sich seinen persönlichen Freiraum bewahren und keine Rechenschaft ablegen müssen, wo und mit wem er seine Zeit verbringt.«

Bill nickte stumm. »Ich verstehe. Und es hat wohl keinen Sinn, dich zu fragen, was du außer der Beichte an den Donnerstagabenden getan hast?«

»Doch, fragen ist erlaubt.«

»Junger Mann!« Bills Stimme wechselte. »Nicht in diesem Ton! Du kennst mich, und ich kenne dich.«

Sammy ließ den Kopf hängen und murmelte schließlich: »Tut mir leid.«

Bills Blick wanderte hinüber zu seinem Stiefsohn. »Was hat das alles zu bedeuten, Willie?«

»Es ist, weil ich mit ihm gegangen bin.« Katies Stimme klang ruhig, beinahe tonlos. Alle starrten sie schweigend an. »Sammy hat gemeint, ob ich nicht in einen Verein gehen will, um Sport zu treiben, Tennis oder etwas ähnliches«, erklärte sie dann. »Und ich habe ihm geantwortet, das muß er gerade sagen, bei seiner Unsportlichkeit. Nicht mal für Fußball oder Kricket interessiert er sich. Da hat er mir alles gesagt und gemeint, wenn ich möchte, kann ich mitkommen, Donnerstag abends.«

»Mitkommen? Wohin, Katie?« Fiona war neben ihre Tochter getreten.

Katie blickte zu ihrer Mutter hoch. »Zum Sport- und Freizeitzentrum Fickleworth.«

Fiona warf Bill einen Blick zu, und dessen Gesicht war angespannt. Bill sah wieder Sammy an. »Du gehst ins Fickleworth-Zentrum?«

»Genau … ja.«

»Wie lange schon?«

»Fast zwei Jahre.«

Bill nickte. »Nach der Beichte bist du dort hingegangen?«

»Ja.«

»Welche Sportart?«

»Judo.«

»Judo!«

»Genau, und außerdem etwas Karate. Ich dachte, Katie könnte auch mit Karate anfangen, weil es eine gute Methode zur Selbstverteidigung ist, falls sie einmal überfallen wird. Man nimmt dazu die Handkante, etwa so.« Er führte die Schlagtechnik vor.

»Moment mal! Du hast doch nicht … du hast sie eben zu Boden geworfen.«

Sammys Ton wurde wieder heftig. »Ich habe ihr die Technik gezeigt, aber ohne ihr weh zu tun. Oder etwa nicht? Wenn man Judo lernen will, gehört das richtige Fallen und Werfen zum Training. Ich habe ihr beim Fallen geholfen.«

»Ach, interessant! Wirklich sehr interessant!« Die Bemerkung kam von der offenen Tür, wo Mark stand. Er blickte zu Sammy und senkte den Kopf. »Stimmt das? Du machst Judo?«

»Ja, das stimmt.«

»Schon gut. Nur keine Aufregung. Ich wollte nur sagen, daß ich Judo für eine gute Sache halte. In meiner Klasse gibt es jemanden, der den Schwarzen Gürtel hat. Bist du im Club von Newcastle?«

»Nein, Mark. Ich trainiere im Fickleworth-Zentrum.«

»Aber das ist … in Bog’s End.«

»Stimmt, in Bog’s End.« Bill schaltete sich wieder ein. »Genau gesagt, am südlichen Rand von Bog’s End, und es handelt sich um ein ausgezeichnetes Sport- und Freizeitzentrum, wenn ich dich aufklären darf.«

»Niemand will sich mit dir darüber streiten, Dad.«

»Das stimmt«, pflichtete jetzt Fiona bei. »Deshalb fängst du jetzt auch nicht damit an. Darf ich mal etwas sagen?« Im selben Moment wurde ihr bewußt, wie dumm diese Frage klang. »Warum macht ihr so viel Aufhebens von der Angelegenheit? Ich finde die Idee ausgezeichnet, daß Katie sich mit Kampfsport fit hält.«

»Das sind keine Kampfsportler, sondern Waschlappen!« »He, he.« Bill hob beschwichtigend die Hand in Sammys Richtung. »Ruhig Blut! Hört auf, beide. Und du, Willie Bailey, bist ein Ignorant, wenn du behauptest, Karate und Judo wäre etwas für Waschlappen. Fußball und Kricket schon eher. Ja, vor allem Kricket, verglichen mit Judo oder Karate. Aber eigentlich geht es dir gar nicht darum, welche Sportart besser oder schlechter ist, stimmt’s, Willie? Du bist sauer, weil Sammy gewagt hat, Katie zu fragen, ob sie mit ihm ins Sportzentrum geht. Na ja, verstehen kann ich das sogar, denn dich hat er nicht gefragt.«

»Doch, habe ich. Schon vor Monaten. Aber nicht direkt. Ich wollte nur wissen, ob er Lust hat auf Fechten. Aber Willie hat mich ausgelacht. Fechten, wieder so ein Sport für Waschlappen. Katie dagegen hat gesagt, sie hätte schon immer Fechten lernen wollen.«

Bill senkte den Kopf. Sicher, Fechten. Das paßte zu Katie. Aber sollte sie wieder einen ihrer Wutanfälle bekommen, läge ein Säbel besser in ihrer Hand als ein Florett. Bill besaß selbst einige Erfahrung im Fechten. Er hatte vor Jahren damit angefangen und es dann wieder aufgegeben. Es war ihm zu kompliziert, vor allem die Fußarbeit. Den Blick wieder zu Sammy gewandt, fragte Bill ruhig: »Und sonst? Was machst du außerdem?«

»Immer noch Fechten. Gelegentlich. In der Fechtschule stehen die Leute immer Schlange.« Sammy nickte in Bills Richtung. »Auch wenn das Sportzentrum in der Nähe von Bog’s End liegt, ist es gut besucht, und nicht nur von den Leuten aus dem Viertel. Drei Sportfreunde von mir waren früher im Club von Newcastle …« Er wandte den Blick zu Mark. »Sie fechten jetzt im Fickleworth-Zentrum.«

»Das Zentrum ist eine gute Sache.« Zum ersten Mal sagte Bert etwas. Das Kind lag jetzt ruhig in seinen Armen. »Ja, eine gute Sache«, wiederholte er. »Die Stadt hat ihm viel zu verdanken. Durch die Aktivitäten des Zentrums sind aus jugendlichen Hooligans anständige Bürger geworden.«

Bill sah hinüber zu Bert. »Du kennst das Zentrum gut? Hast du damit zu tun?«

»Ja. Ich habe eine Jugendmannschaft im Schwimmen trainiert und junge Boxer betreut. Das Zentrum verfügt über einen guten Ring.«

»Man höre und staune!« Bill bewegte nachdenklich den Kopf. Dann wanderte sein Blick wieder zu Sammy. »Und du sagst, du gehst immer noch jeden Donnerstag zur Beichte? Wie es scheint, haben auch wir heute einige Bekenntnisse zu hören bekommen. Nur zu, alle sollen sprechen.« Den Blick erneut auf Bert geheftet, sagte er: »Mir scheint, über dich muß ich noch viel lernen.«

»Ach, Bill. Das ist nicht der Rede wert. Was glaubst du, wie ich meine Abende verbracht habe, als ich noch Junggeselle war? Ich bin kein Kneipengänger, und viele Sendungen im Fernsehen sind eine Beleidigung meiner Intelligenz. Damit wollte ich meine Zeit nicht totschlagen. Also bin ich ins Zentrum gegangen und habe mit verhaltensauffälligen Jugendlichen gearbeitet. Ich habe ihnen gezeigt, wie sie ihre Selbstachtung zurückgewinnen können, durch Boxen und das Einstehen für andere. Dabei hat Boxen mehr bewirkt als Schwimmtraining, denn Schwimmen vermittelt nur ein gutes Körpergefühl, mehr nicht, verstehst du?«

»Und die Teilnahme am Training ist kostenlos, wenn ich recht verstehe?«

»Ja. Für diejenigen, die kein Geld haben. Von anderen, die besser gestellt sind, wie unser Freund Samuel oder Katie, wird ein Beitrag erwartet. Ich glaube, die Jahresmitgliedschaft kostet fünf Pfund.«

Bill schüttelte den Kopf und versuchte, die Situation zu entschärfen. »Das könnten wir uns niemals leisten.« Ein Blick zu Willie zeigte ihm, daß sein Scherz die beabsichtigte Wirkung verfehlte. Bill sagte unvorsichtigerweise: »Ein Vorschlag. Laß dir doch von Sammy den Judogriff zeigen. Wenn er Katie auf den Boden werfen kann, schafft er es bei dir auch, und dann könntest du …«

»Vielleicht will ich gar nicht ins Zentrum gehen, und Sammy wird mich auch nicht anfassen. Wenn er will, daß Katie mitkommt, ist das seine Sache, aber ich lasse mich nicht zum Idioten machen.« Willie schob sich an Nell vorbei und verließ mit steifen Schritten das Zimmer. Unterwegs stieß er beinahe Angela um.

»Na, dieses Mal hast du es geschafft, Sammy.«

»Ich habe nichts getan, wofür ich mich schämen müßte oder was mir leid tun sollte, Mr. Bill. Ich dachte, ich könnte etwas für Katie tun … deshalb habe ich sie aufgefordert mitzukommen.«

»Das war ganz richtig, Sammy.« Fiona nickte ihm zu. Dann wandte sie sich an ihre Tochter: »Und … du möchtest eine dieser Sportarten lernen, Katie?«

»Ja, Mama, sehr gern. Aber es tut mir leid, daß dadurch Streit entstanden ist zwischen …« Sie sah Sammy an. »Würdest du versuchen, das wiedergutzumachen?«

»Nein. Oh, nein. Wie mein Dad zu sagen pflegte …« Sammy neigte den Kopf und ließ den Satz unvollendet. Auch ohne wiederzugeben, was sein Dad zu sagen pflegte, ahnten die Erwachsenen, daß Willies besitzergreifendes Verhalten Sammy manchmal auf die Nerven ging und er mit seinem Vater darüber gesprochen hatte. Die freien Donnerstagabende mußten vor Willies Besitzansprüchen sicher bleiben.

»Dann werde ich mit ihm sprechen.« Verwundert starrten alle Katie an. Zwischen ihr und Willie hatte Dauerkrieg geherrscht, seit ihrer frühesten Kindheit. Nach Angelas Geburt kam es zu einer leichten Besserung, doch auch dann war die Situation angespannt geblieben. Jetzt wirkte Katie mit einem Mal völlig verändert. Wieder ein Beispiel dafür, daß man seine Kinder niemals wirklich kannte, dachte Fiona. Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, daß sich ihre Tochter Katie, dieser eigenwillige, starrsinnige Hitzkopf, tatsächlich bei ihrem Bruder Willie entschuldigen könnte.

Ähnliche Gedanken gingen Katie durch den Kopf, als sie die Treppe hinaufstieg und durch den breiten Korridor zu Willies Zimmer ging. An der Tür zögerte sie eine geschlagene Minute, bevor sie klopfte. Es kam keine Antwort. Sie klopfte noch einmal, dieses Mal lauter. Schließlich öffnete sich die Tür, und ihr Bruder stand mit rotem Gesicht und feuchten Augen vor ihr.

»Was willst du?« schnauzte er sie an.

»Das sage ich dir, wenn du mich hereinläßt.« Katies Antwort war so überraschend, daß Willie sich umdrehte und zurück in sein Zimmer ging. Sie folgte ihm und schloß leise die Tür hinter sich.

Katie beobachtete, wie Willie sich hinter seinen Schreibtisch setzte, der unter dem Fenster stand. Er hob eines der drei Bücher hoch, die darauf lagen, und warf es auf die Tischplatte zurück. »Verzeih mir, Willie«, drang Katies Stimme zu ihm. »Ich hätte nicht gesagt, daß ich gern mitgehen würde, wenn mir klar gewesen wäre, daß dadurch Unfrieden zwischen euch entsteht. Und … ich versichere dir, er hat mich nur gefragt, weil … na ja, ich habe ihm leid getan, wegen der Sache im letzten Jahr, als Dad nicht mehr mit mir reden wollte und ich bei allen im Haus schlecht angeschrieben war. Ich habe mich furchtbar gefühlt bei dem Gedanken, daß ich dieses Mädchen hätte umbringen können, und dann die Vorstellung, welche Folgen das nicht nur für mich, sondern für die ganze Familie gehabt hätte. Ich weiß, es war auch so schon schlimm genug für uns alle, und Sammy hatte einfach Mitgefühl mit mir.«

Willie fuhr auf seinem Stuhl herum. Seine Antwort kam leise: »Wir waren jahrelang gute Freunde.«

»Ja, das weiß ich, Willie. Ihr wart wie Brüder und habt euch sehr nahegestanden. Du hast … regelrecht mit Mam darum gekämpft, daß er zu uns ins Haus kommen darf, weil sie am Anfang nichts mit ihm zu tun haben wollte. Erst als Dad beinahe ermordet wurde und er ihn gerettet hat, hat sie Sammy akzeptiert. Aber … du hast die ganze Zeit zu ihm gehalten. Ich … weiß, wie dir zumute ist.« Katie sah, daß Willie den Kopf hängen ließ.

Er murmelte gebrochen: »Jetzt … will er … sicher nichts mehr mit mir zu tun haben, nicht nach diesem Auftritt. Außerdem hat er dich.«

Katies Stimme wurde laut. »Er hat mich nicht. Sammy tut nichts weiter, als mich mitzunehmen und mich mit dem Karatelehrer bekanntzumachen. Außerdem glaube ich, daß es sehr vernünftig ist, Selbstverteidigung zu lernen, denn … ein paar Mädchen aus meiner Klasse sind bereits auf der Straße belästigt worden. Aber wenn du dich nicht mit Sammy versöhnen willst oder nicht mitkommst ins Zentrum, werde ich hierbleiben.«

»Du wirst gehen müssen. Wegen dir hat der ganze Ärger doch angefangen. Na ja, eigentlich nicht … angefangen hat Sammy. Und ich verzeihe ihm sein Schweigen nicht. Er hätte was sagen müssen.«

»Ja.« Katie nickte ihrem Bruder zu. »Eigentlich finde ich das auch. Vielleicht hat er geschwiegen«, suchte sie nach einer Erklärung, »weil das Zentrum so nahe bei Bog’s End liegt, und aus der Familie sollte niemand denken, er hätte etwas mit den Leuten aus dieser Gegend zu tun. Du weißt, wie stolz sein Vater war, als du dich mit Sammy angefreundet hast.«

Willie stand auf. Er fuhr sich mit der Daumenspitze über den Mund und fragte: »Hat es weh getan, als er dich zu Boden geworfen hat?«

»Nein. Aber ich war völlig verblüfft, das kannst du mir glauben. Es war komisch, wirklich. Nicht, daß ich zu Boden ging, sondern wie er es gemacht hat. Sammy meint, ich sollte einen anderen Sport wählen, wenigstens am Anfang. Jiu-Jitsu wäre besser. Stell dir vor« – Katie lächelte ihren Bruder an – »er hat gesagt, das bedeutet ›sanfte Berührung‹.«

Beide sahen sich ziemlich hilflos an, bis Katie ruhig fragte: »Kommst du jetzt mit uns? Ich möchte wirklich eine Beschäftigung neben der Schule.«

Als wäre er am Nachdenken, blickte Willie zur Seite. »Mal sehen«, murmelte er schließlich. »Aber eines merk dir.« Er sah wieder geradeaus. »Mit diesem albernen Kram fange ich gar nicht erst an.«

»Nein, mußt du ja auch nicht«, gab Katie ihm rasch recht. »Beim ersten Mal kannst du dich einfach umsehen, ganz unverbindlich, wie ich auch.« Wieder entstand eine Pause. »Jetzt komm mit nach unten«, bat Katie schließlich, doch Willie entgegnete sofort:

»Nein, ich kann nicht. Noch nicht. Ich habe das Gefühl, ich habe mich lächerlich gemacht. Was mir öfter passiert, oder?« Willies Stimme war lauter geworden. »Nein, ich mache mir nichts vor, Katie. Bis jetzt war es so. Wie ich mich an diesen bäurischen dickköpfigen Iren geklammert habe … Immer kam er an erster Stelle.«

»Das ist ihm bewußt, und er weiß es zu schätzen. Wie ich schon sagte, ohne dich wäre er heute nicht bei uns. Das hat er mir anvertraut.«

»Tatsächlich?«

»Ja, allerdings.« Es tat gut, zugunsten einer anderen Person zu lügen. Man kam sich irgendwie vor wie ein besserer Mensch. »Dir gegenüber würde er nie ein Wort darüber verlieren«, fuhr Katie fort, »aber es brach aus ihm heraus, als wir uns wieder einmal gestritten haben … bis die Fetzen flogen.«

Willie schüttelte den Kopf, und Katie sprach weiter: »Wenn du nach unten in den Fitneßraum gehst, sind die anderen wahrscheinlich wieder im Wohnzimmer. Sollte Sammy nicht da sein, dann warte auf ihn. Er wird gleich kommen.«

Wortlos starrte Willie sie an. Katie nickte ihm zu und lächelte. Dann wandte sie sich um und ging nach unten.

Ihre Mutter trat aus dem Wohnzimmer, Mamie vor sich her schiebend. »Ich nähe keine Pailletten auf dieses Kleid. Es ist hübsch und sieht festlich genug aus. Außerdem gehst du nur auf eine Party.«

»Nancy hat auf ihrem Kleid überall Pailletten.«

»Es ist mir egal, was Nancy hat. Du bekommst keine Pailletten. Auf dieses Kleid nicht.«

»Warum?«

Fiona holte tief Luft. Nie hätte sie geglaubt, daß einmal der Moment kommen würde, in dem sie ihre Adoptivtochter haßte, doch während der vergangenen zwei Jahre war das Mädchen zu einer Last geworden. Schon als kleines Kind hatte Mamie immer ihren Kopf durchsetzen wollen, doch seit sie wußte, daß sie eigenes Geld besaß, das von ihrem Großvater verwaltet wurde, benahm sie sich einfach … abscheulich. Sie hatte sich zu einer widerwärtigen kleinen Person entwickelt. Dankbar sah Fiona zu Katie, die Mamies Frage beantwortete:

»Weil eine Frau mit Pailletten billig aussieht.«

»Das stimmt nicht! Nancy sieht wunderbar damit aus.«

»Schrei mich nicht an!«

»Ach, du!« Empört wandte sie sich zur Treppe, halblaut etwas vor sich hin murmelnd. Das brachte Fiona in Rage. »Wag es nicht, kleines Fräulein. Nicht wieder die Geschichte mit deinem Großvater. Ich habe dir schon einmal gesagt, wenn du lieber bei deinem Großvater leben willst, ist mir das recht, und allen anderen im Haus auch. Merk dir das. Ich bin jederzeit bereit, deine Koffer zu packen.«

»Ärger dich nicht über sie, Mam. Sie fordert dich nur heraus und hat Sehnsucht nach ein paar Ohrfeigen. Ich wette, sie besitzt mehr Kleider als du, ich und Angela zusammen.«

»Das mag stimmen.«

Im Wohnzimmer sprach Bill Katies Empfindungen aus, nur sehr viel deutlicher. »Dieses Mädchen legt es darauf an, daß ich ihr den Hintern versohle«, sagte er zu Fiona. »Lange reicht meine Geduld nicht mehr, dann mache ich Ernst. Und eines ist sicher, sie ähnelt weder ihrem Vater noch ihrer Mutter. Manchmal wünsche ich mir fast, sie wäre bei dem Unfall mit ihnen ums Leben gekommen.«

»Oh, Bill.«

»Nein, nicht ›oh, Bill‹.« Er wies mit dem Finger auf Fiona. »Du bist es, die mit ihr fertig werden muß. Halt dich mit Worten zurück und mach lieber von deinen Händen Gebrauch. Du wirst sehen, das wirkt.«

»Ist es, weil Nancy etwas Neues zum Anziehen bekommen hat?« fragte Nell dazwischen.

»Pailletten.«

»Pailletten?«

»Ja, Pailletten. Offensichtlich hat sie ein Kleid, das überall mit Pailletten besetzt ist, und unser kleines Fräulein möchte, daß ihr Partykleid genauso aussieht.«

»Aber es ist doch so ein hübsches Kleid. Du meinst ihr neues Kleid, oder?«

»Ich nehme an, daß es neu ist. Ganz auf dem laufenden bin ich nicht. Aber es ist eines ihrer Ausgehkleider. Im vergangenen Jahr hat sie drei bekommen.«

»Komische Sache«, sagte Bill und senkte den Kopf. »Wenn es um ihre Kleider geht, sitzt dem alten Herrn das Geld merkwürdig locker, aber beim Schulgeld knausert er herum. Ich weiß nicht, was er nächstes Jahr tun wird, wenn Mamie in die Oberstufe wechselt. Dann steigen die Kosten um das Dreifache. In seinem letzten Brief hat der Alte gefragt, ob diese Schule wirklich nötig wäre. Heutzutage würde man überall eine gute Ausbildung bekommen. Übrigens, diese andere Familie, was für Leute sind das eigentlich? Mamie geht seit Monaten dorthin, jeden Freitag zum Tee, nicht wahr?«

»Ja, aber du kennst die Leute doch. Du hast sie bei dem Fest kennengelernt, das die Eltern gegeben haben. Erinnerst du dich nicht? Die Frau hat sich als Mrs. Polgar vorgestellt, aber hinzugefügt, sie würde meist Gertie genannt.«

»Ja, natürlich erinnere ich mich. Ziemlich redselige Person. Gewitzt, und sah auch nicht übel aus.« Leicht zur Seite gewandt, blinzelte er Bert zu, der prompt konterte. Fiona und Nell brachen in Gelächter aus, während Bill warnte: »Sei vorsichtig, was du sagst, alter Junge.« Denn Bert hatte ihn gefoppt: »Boß, daß sie dir nur nicht auf dem Bordstein entgegenkommt und du ins Schleudern gerätst. Immerhin nennt sie sich Gertie und trägt Glitzerkleider.«

»Laß uns gehen, Bert«, sagte Nell hastig. »Wir sind schon viel zu lange geblieben. Bis bald, Fiona.«

»Auf Wiedersehen, Fiona.«

Fiona nickte Bert zu, noch immer lachend, und Bill dröhnte hinter den beiden her: »Wenn ihr uns das nächste Mal besuchen wollt, laßt euch einen Termin geben.«

»Klar. Wird gemacht.« Bert und Nell wandten sich um und nickten, wieder ernst geworden. »Wir werden dran denken.« Und Bert fügte hinzu: »Schönes Wochenende, Boß.«

Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, warf Bill den Kopf in den Nacken und sagte: »Wie Menschen sich doch ändern können. Dieser Ormesby verblüfft mich wirklich. Er steckt voller Überraschungen. Bert hat mehr zu bieten, als ich jemals gedacht hätte. Ich … werde ihn in den Vorstand holen.« Den letzten Satz sagte er beiläufig, während er sich bückte und Angela hochhob, die auf dem Teppich mit ihrem Plüschpudel gespielt hatte. Bill setzte sich mit seiner Tochter auf das Sofa und fügte hinzu: »Er hat es verdient.«

»Oh, Bill!« Fiona rückte dicht neben Bill, legte ihm die Hand an die Wange und wandte sein Gesicht dem ihren zu. »Weißt du, manchmal habe ich dich wirklich gern. Wenn ich dich nicht liebe, mag ich dich; und wenn ich dich liebe, mag ich dich um so mehr. Ja, du gefällst mir, Bill Bailey. Nell wird vor Entzücken aus dem Häuschen sein.«

»Ja, das wette ich. Und für Bert ist es die Überraschung seines Lebens. Sicher, er wird einwenden, daß er das Angebot nicht annehmen kann. Er wäre nicht der Richtige für diese Position. Und ich werde ihm antworten, daß ich damals genauso gedacht habe. Aber sieh mich an, was heute aus mir geworden ist.«

»Ja, ich sehe es. Der Artikel in der Zeitung gestern über die Häuser war wirklich gut, und das von unabhängiger Seite: ›Die Leistung von Baileys Bauunternehmen wird kaum zu überbieten sein‹. Und dann haben sie etwas über das Mosaik geschrieben, das eine Käuferin in ihrer Wohnung anbringen läßt.«

»Ha!« Bill lachte. »Sie hält mich auf Trab, diese Dame. Muß Millionärin sein, mehrfache. Sie hat bereits den halben Kaufpreis gezahlt und drängt mich pausenlos zur Eile, weil sie einziehen will. Und ich muß jedes Mal sagen: ›Nein, Madam, schneller können wir nicht bauen‹. Das Mosaik hat sie aus Italien kommen lassen, das setzen zwei italienische Kunsthandwerker wieder zusammen. Es wird die gesamte Breite ihres Wohnzimmers einnehmen. Beinahe hätte ich der Dame vorgeschlagen, auch die Eingangshalle mit einem Mosaik zu verschönern, aber ich habe es dann gelassen. Ihre Wohnung wird ohnehin wie ein Palast aussehen, wenn alles fertig ist. Diese Vorstellung muß den Reporter fasziniert haben, der den Artikel geschrieben hat. Dabei ist das Mosaik erst zur Hälfte fertiggestellt.«

»Hat sie eine große Familie?«

»Keine Ahnung, Liebling. Aber zu ihrem Haushalt gehören drei Hunde. Zwei davon sind so groß wie Ponys. Der dritte, ein kleiner Pekinese, würde in meine Westentasche passen, und er reitet bei einem der Afghanen auf dem Rücken. Ach, ich habe übrigens noch eine Neuigkeit für dich.«

»Was denn? Heraus damit, Mr. Bill.«

»Wir sind zum Jägerball eingeladen.«

»Oh! Keine umwerfende Neuigkeit, aber eine erfreuliche.«

»Ja, vor allem, weil die Einladung von Mr. George Ferndale persönlich kommt.«

»Ferndale, der Anwalt?«

»Genau der, und einer der wichtigsten Männer im Trust von Sir Charles. Sie sind die eigentliche Macht, die hinter dem Vorstand die Fäden zieht, falls du verstehst, was ich meine.«

»Vollkommen. Hast du angenommen?«

»Ich habe ihm gedankt und zugesagt. Er meinte, seine Frau würde sich mit uns in Verbindung setzen.«

»Wie nett. Hoffentlich ruft sie an.«

»Das hoffe ich auch.« Sie neigten höflich den Kopf voreinander und lachten. Nachdenklich sagte Fiona: »Es ist wunderbar. Du bist wunderbar. Ich meine, was du erreicht hast.«

»Du vergißt dabei, was ich noch erreichen werde, Mrs. Bailey. Dieser große Auftrag wird noch ungefähr drei Jahre Arbeit garantieren. In der Zwischenzeit muß ich mich umsehen, denn es gibt nicht mehr viele große Flächen in und um Fellburn, die sich als Bauland eignen. Außerdem würde ich kaum wieder eine Crew wie meine jetzige zusammenbekommen, und bei allem, was ich unternehme, muß ich auch an die Männer denken, Liebling. Du weißt, in meinen Augen sind wir eine große Familie, alle elf. Ich habe etwas aus ihnen gemacht. Heute hat jeder von ihnen einen guten Job, und sie danken es mir auf ihre Weise, indem sie mich ›Big Boß Bill, der brüllende Bär‹ nennen, natürlich hinter meinem Rücken.«

»Der Spruch ist neu.« Fiona schüttelte sich vor Lachen.

»Früher hieß ich nur ›Bailey, der brüllende Bär‹, aber jetzt bin ich ›Big Boß Bill‹. Ich sollte wohl stolz auf den Titel sein, wie die akademischen Klugscheißer auf ihren Doktor.«

Fiona beugte sich vor, um mit einer langsamen Bewegung Angela eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. Mit lachenden Augen sagte sie: »Gerade gestern habe ich daran gedacht, was für eine Last wir für dich sein müssen. Na ja, keine echte Last, aber immerhin sind vier Kinder zu versorgen, mit Sammy natürlich. Und wie es aussieht, ist Mark wild entschlossen, als Mediziner die große Karriere zu machen. Nicht als einfacher Hausarzt. Er will Chirurg werden.«

»Chirurg? Das ist mir neu. Andererseits hätte ich mir denken können, daß aus ihm kein einfacher Arzt wird. Er wüßte überhaupt nicht, wie er mit den Patienten umgehen soll. Wahrscheinlich wäre er wie unser Arzt, der grußlos ins Haus stürmt, ans Bett tritt und fragt: »Und was fehlt Ihnen?«

Fiona lachte. »Ja, genau so. Das ist echt Dr. Pringle. Aber er ist trotzdem ein wunderbarer Arzt.«

»Allerdings. Bei ihr hat er sich auch wunderbar verhalten.« Bill zeichnete mit dem Zeigefinger die Gesichtszüge seiner Tochter nach. Die mongoloiden Merkmale waren erkennbar, aber kaum ausgeprägt, und Bill ließ sich von niemanden, auch nicht von Dr. Pringle, einreden, daß Angelas Verstand nicht richtig funktionierte. Eher noch war Angela manchen Kindern ihres Alters voraus, und sie würde sich ganz normal entwickeln.

Fiona sprach weiter. »Aber er ist sich durchaus bewußt, daß zehn Jahre Schufterei auf ihn warten, wenn er nächstes Jahr von der Royal Grammar School abgeht. Und das Studium wird Geld kosten.« Fiona warf einen Blick zu Bill. »Mark sagt, er würde am liebsten in London studieren oder in Edinburgh. Aber ich habe ihm bereits erklärt, daß die Lebenshaltungskosten in London entsetzlich hoch sind. Er meinte, das wäre ihm klar und er wüßte nicht, wie er das Thema dir gegenüber ansprechen sollte.«

»Aha, er hat dir also aufgetragen, mich weichzukochen, wie?«

»Nein, nein. Das hat er nicht. Überhaupt nicht. Aber er sitzt am Schreibtisch und brütet vor sich hin. Als ich ihn gefragt habe, was mit ihm los ist, hat er geantwortet, er grübelt darüber nach, was er tun soll. Natürlich, auch hier gibt es eine medizinische Hochschule, und offenbar eine sehr gute, aber die Schulen in London und Edinburgh haben einen ganz anderen Namen. Sie sind angesehener und älter. Mark meint aber, daß er besser hierbleiben sollte.«

»So, meint er? Nur um die zusätzlichen Kosten zu sparen? Wenn du ihn das nächste Mal beim Grübeln überraschst, kannst du ihm sagen, Geld wäre kein Thema. Aber ich erwarte, daß er mir alles zurückzahlt und im Alter für mich sorgt.«

Fiona schlang den Arm um Bills Hals. »Vorsicht vor den Folgen, Frau!« warnte er sie. »Und keine Zärtlichkeiten vor dem Kind. Die Kleine merkt sich alles genau. Nicht wahr, mein Liebling?«

»Da…da. Mam…mam.«

»Hörst du? ›Da… da‹ und ›Mam… mam‹. Das ist deutlich, oder? Du sagst selbst, daß du kaum ein Wort gesprochen hast, bis du fünf warst. Na, und das mit Mark haben wir auch geregelt. Jetzt bleiben nur noch die anderen Kinder. Die beiden Jungen sind bei Dame Allen gut untergebracht, und es wird noch eine Weile dauern, bis wir uns über sie Gedanken machen müssen. Weißt du, ich finde noch immer, daß es sehr anständig von Sammy war, sich für Dame Allen zu entscheiden, als er zwischen der Royal Grammar School und Dame Allen wählen konnte. Wie Willie, der wußte, daß er auf der Royal Grammar School immer mit seinem großen Bruder verglichen würde.«

Merkwürdig, überlegte Fiona, dieses Bedürfnis von Bill, ständig nach Sammys guten Taten zu suchen und sie hervorzuheben. Wenn es um Mark oder Willie ging, fand er selten etwas Lobenswertes. Andererseits handelten die beiden auch kaum wie Sammy, der sehr selbstlos sein konnte. Mit einem winzigen Funken Eifersucht dachte Fiona, daß Bill diesen Jungen mehr liebte als ihre eigenen Söhne. Aber sie durfte nicht vergessen, daß er Sammy mehr verdankte als den beiden anderen zusammen. Außerdem wirkte Sammy mit seiner Schlagfertigkeit und dem frechen Mundwerk wie eine jüngere Ausgabe von Bill in seiner Kindheit und Jugend.

Bill küßte Fiona rasch auf den Mund und setzte das Kind wieder auf dem Teppich ab. »Ich muß noch einmal ins Büro, aber ich verspreche dir, es ist nur für eine Stunde. In der Zwischenzeit blättere du deine Modezeitschriften durch und überleg dir, in welcher Nobelboutique du ein Ballkleid für dich kaufen gehst. Aber bitte«, Bill hob warnend den Finger, »keine Pailletten.«

Fiona schwieg. Erst als Bill an der Tür war und sie hinter sich schließen wollte, murmelte sie halblaut: »Wer weiß, vielleicht jetzt erst recht.«

Bill wandte sich um und warf ihr einen langen Blick zu, bevor er die Tür weiter aufstieß und sie dann hinter sich ins Schloß warf. Fiona lehnte sich auf dem Sofa zurück. Ja, etwas Glitzerndes würde ihr gefallen, bildlich gesprochen. Hier saß sie, mit ihren sechsunddreißig Jahren, zog drei Söhne und drei Töchter groß und hatte einen Mann zu versorgen, der ihre ganze Liebe forderte und der mit einem Schwur bekräftigt hatte, was er mit ihr tun würde, falls sie jemals einen anderen ansah. Fiona wußte, daß Bill meinte, was er sagte. Sie hatte dieses wunderbare Haus und besaß alles, was eine vernünftige Frau sich wünschen konnte. Und doch … da gab es noch etwas. Aber was? Fiona hatte keine Ahnung. Aber früher, wenn Rupert früher vorbeigekommen war, hatten sie über andere Dinge gesprochen, nicht über die Kinder oder das Baugeschäft. An den Inhalt ihrer Unterhaltungen konnte Fiona sich nicht mehr erinnern. Sie wußte nur noch, daß sie diese Gespräche genossen hatte. Ruperts Gesellschaft wirkte anregend auf ihren Geist. Das war es.

Sie rutschte auf die Vorderkante des Sofas. Ja, in der Tat, das war die Antwort. Anregung für den Geist. Ihr Alltag bestand aus Bill und den Kindern. Bill tat alles, um ihr jede Last außerhalb des Hauses abzunehmen, während sie sich um die Kinder kümmerte; nur für sich selbst tat sie nichts. Warum sollte sie sich keine Beschäftigung außer Haus suchen? Sie schüttelte den Kopf. Nein, lieber nicht. Fiona hörte im Geiste schon Bills ohrenbetäubendes Gebrüll. Und wie sie selbst gesagt hatte, besaß sie nicht alles, was ihr Herz begehrte? Sechs Kinder und ihn, ein wunderschönes Zuhause, eine Mutter, die ein völlig anderer Mensch geworden war, Freunde wie Nell und Bert. Sie wurde zum Essen in teure Restaurants ausgeführt und war zum Jägerball eingeladen.

Aber ein Teil ihres Verstandes fragte, ob das alles war.

2.

»Versteh doch! Es ist in Ordnung, wenn ihr den Bus nehmt, aber wie kommt ihr dann in der Dunkelheit zurück?« Fiona redete mit Sammy, Katie und Willie standen daneben. Beide wußten, was Sammy jetzt vorbringen würde. Sie hatten sich vorher abgesprochen.

Jetzt sagte Sammy: »Ich schlage einen Kompromiß vor, Mrs. Bill. Wir fahren mit dem Bus hin, und auf dem Rückweg lassen wir uns irgendwo auf halber Strecke abholen. Aber wenn Sie uns mit dem Wagen hinfahren, verliere ich einige meiner Freunde.«

»Was meinst du damit, du verlierst sie?«

»Genau das, was ich sage. Dann bin ich in ihren Augen ein hochnäsiger Angeber.«

»Sei nicht albern, Sammy.« Ich wette, dort hat jeder ein Auto. Zumindest die Eltern.«

»Da irrst du dich gewaltig, Mrs. Bill. Längst nicht alle, die dort trainieren, haben ein Auto. Und der Rest … na ja, die Rostlauben kann man kaum als Autos bezeichnen.«

Sammy und Fiona blickten sich an. »Ist die Gegend so heruntergekommen?« fragte sie dann.

»Nein, keine Spur. Das Zentrum liegt auch nicht mitten in Bog’s End, sondern ein ganzes Stück außerhalb.«

»Aber Sammy, du hast selbst gesagt, daß die meisten Besucher« – sie betonte das Wort – »aus diesem Stadtteil kommen.«

»Ja, das stimmt.« Sammys Stimme klang plötzlich schroff, und er streckte das Kinn vor. Fiona beeilte sich zu sagen:

»Schon gut! Schon gut! Steig nur nicht aufs hohe Roß, Sammy Love.« Sie knuffte ihn kameradschaftlich in die Schulter, und Sammy ballte die Finger zur Faust, als wollte er ihre Geste erwidern.

»Also abgemacht. Wir nehmen den Bus, und später lassen wir uns mit dem Wagen abholen. Weißt du noch, wo meine alte Schule ist? Einmal hattest du die Güte, dort vorbeizufahren.« Sammy verzog das Gesicht, als er zu Fiona blickte. »Und was mußten deine Augen sehen?« Er zeigte mit dem Daumen auf Willie. »Dein Sohn stand draußen und wartete. Was für ein Tag, nicht wahr, Willie?«

Willie bestätigte: »Allerdings.«

Seit dem Ausbruch am Samstag war Willie sehr schweigsam gewesen. Er kam an diesem Abend nur widerstrebend mit, und auch das nur, nachdem er unmißverständlich klargestellt hatte, nichts mit den Aktivitäten der anderen zu tun haben zu wollen. Sammy hatte erwidert, niemand im Zentrum würde auf die Idee kommen, ihn zu etwas zu zwingen. Für jede Sportart gäbe es lange Wartelisten, bis man einen freien Trainingsplatz bekam.

Auf dem Weg zur Tür sagte Fiona zu Katie: »Schlag den Mantelkragen hoch, Liebes. Draußen ist es kalt. Ach, und … du hast gar keinen Schal umgebunden.«

»Ich trage meinen Rollkragenpullover unter dem Mantel, Mam. Für einen Schal ist kein Platz mehr.« Katie lächelte ihre Mutter an, und Fiona sagte:

»Paß auf dich auf, Liebes.«

»Das tue ich, Mam. Mach dir keine Sorgen.« Breit lächelnd fügte sie hinzu: »Ich brauche nur eine einzige Trainingsstunde, dann schleudere ich Willie und Sammy zu Boden, und zwar beide gleichzeitig. Verlaß dich drauf.«

Mit übermütigem Lachen folgte Katie den beiden Jungen nach draußen.

Sie nahmen den Bus an der Kreuzung, und fünfundzwanzig Minuten später stiegen sie in der Denham Road aus, denn dieser Bus fuhr nicht am Sportzentrum vorbei.

Die Denham Road befand sich beinahe am Rand von Bog’s End, das Katie daran erkannte, daß man mit dem Abriß der Häuser schon begonnen hatte und noch bewohnte Häuser teilweise mit Brettern vernagelt waren. Auf einem unbebauten Grundstück spielten kreischende und lachende Kinder mit einem Schrottauto.

Als Willie damals zum ersten Mal zu Sammys Schule gekommen war, hatte er unterwegs ähnliche Ecken von Bog’s End gesehen. Aber für Katie war die Verwahrlosung, die sie hier sah, neu. Sie wußte, daß Sammy pausenlos redete, um ihre Aufmerksamkeit von der Umgebung abzulenken.

Dann hatten sie den Straßenzug durchquert und gingen wieder durch ein ordentliches Wohngebiet. Hier seien von der Stadt neue Sozialwohnungen gebaut worden, erklärte Sammy.

Katie atmete tief durch. Sammy wandte sich zu ihr und sagte: »Hier ist es besser.«

Im Gehen innehaltend, starrte Katie ihn an. »Verstehe ich dich richtig? Du nimmst diesen Weg also nicht immer? Ich meine …« Sie reckte den Kopf nach hinten.

»Ja, du hast recht. Ich gehe nicht immer hier entlang. Ich dachte, ich sollte dir die andere Hälfte nicht vorenthalten. Aber bis jetzt hast du eigentlich nichts zu sehen bekommen. Willie kennt sich besser aus. Meine Schule und mein früheres Zuhause waren eine gute Einführung. Aber keine Sorge, wir werden diesen Weg nicht wieder gehen. Ich dachte nur, wenn du mit eigenen Augen siehst, unter welchen Bedingungen die meisten Jugendlichen hier leben, verstehst du besser, was für ein Segen das Zentrum ist.«

Welchen Eindruck Sammy erwecken wollte, indem er Katie das wirkliche Bog’s End zeigte, spielte keine Rolle. Hätte er geahnt, was in Katie vorging, wäre es mit Sicherheit zum Krach gekommen. Sie war wütend. Sammy behandelte sie wie ein verwöhntes Kind, das nie sein schützendes Zuhause verlassen hatte. Aber hatte er nicht recht? Verglichen mit den Menschen in dieser Gegend war sie ein verwöhntes Kind gewesen, bevor Bill Bailey in ihr Leben trat, und noch mehr, seit er ihr Stiefvater war. Ja, sie war verwöhnt, ebenso wie Mark und Willie. Nein, vielleicht nicht Willie. Schon in sehr jungen Jahren hatte er die Grenzen seiner sozialen Herkunft überschritten und sich um die Freundschaft mit Sammy Love, ihrem herrischen Begleiter, bemüht. Warum war das so? fragte Katie sich, während sie zwischen den neuerrichteten Sozialbauten weitergingen. Einige Häuser hatten gepflegte Vorgärten, in anderen lagerten inmitten von wucherndem Unkraut alte Kinderwagen oder ausgemusterter Hausrat.

Warum wirkte Sammy älter als sie? Schon bevor er in die Höhe geschossen war, hatte er sich benommen, als wäre er ihr um Jahre voraus. Seufzend gab Katie sich selbst die Antwort. Sammy war der Sohn seines Vaters und ein Einzelkind. Einzelkinder wirkten immer älter, und vor allem war Sammy der Sohn von Mr. Davey Love. Das konnte schließlich so schlecht nicht sein.

»Du bist doch nicht eingeschnappt, oder?« Sammy hatte sich herübergebeugt und blickte Katie an. Sie erwiderte sein Lächeln.

»Nein, natürlich nicht. Ich genieße jeden Augenblick unseres Spaziergangs. Es ist wirklich schön hier.« Sie knuffte Sammy in die Seite. »Über das Warum reden wir später, okay?«

»Ganz, wie das gnädige Fräulein wünscht.«

»Hallo, wie geht’s?«

Sie blieben stehen, und Sammy rief zurück: »Hallo, Jimmy.«

Als der hochgewachsene junge Mann vor ihnen stand, blickte er von einem zum anderen. Sein Lächeln verschwand, als er sich an Sammy wandte: »Was soll das bedeuten, daß du durch unsere Straße gehst?«

»Oh, ich wollte ihnen nur die Slums zeigen, Jimmy.«

»Paß nur auf!« Jimmys Lächeln kehrte zurück. Dann sagte Sammy:

»Das ist Mr. … das ist Jimmy, Jimmy Redding. Falls ihr Fechten lernen wollt, wird er euch zeigen, wie ihr die Füße einsetzen müßt.«

Sie waren weitergegangen, und der junge Mann sah Katie an. »Du willst auch zum Zentrum?«

»Sicher. Sonst würde sie wohl nicht durch diese verwahrloste Drecksgegend laufen.«

»Wieder auf dem hohen Roß, wie? Paß auf, ich habe dich gewarnt. Du weißt, wie meine Füße treffen.«

»Versuch es nur. Ach, übrigens, ich habe euch erst zur Hälfte vorgestellt. Das ist Katie, und das« – Sammy wandte sich zur Seite – »ist Willie. Beide Baileys.«

Der junge Mann blieb stehen, und die anderen mit ihm. Er streckte Katie die Hand entgegen. »Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.« Mit der gleichen Geste wandte er sich an Willie. »Das gilt auch für dich, Willie.« Beim Weitergehen sagte Jimmy zu Sammy: »Irgend etwas amüsiert dich anscheinend.«

Ja, es gab etwas, das Sammy amüsierte. Es war der Ausdruck in den Gesichtern von Katie und Willie, als Jimmy sie zum Stehenbleiben veranlaßte und ihnen die Hand reichte. Sammy mochte Jimmy. Er war ein prima Kumpel, und früher waren sie sogar befreundet gewesen. Irgendwann würde er Katie mehr von ihm erzählen. Es gab eine Geschichte über ihn, die sie kaum glauben würde.

Katie reagierte ebenfalls belustigt auf den Händedruck. Auch bei Willie hatte er seine Wirkung nicht verfehlt. Merkwürdig, ihm war, als würde sein altes Selbst zurückkehren. Er fühlte sich entspannt und irgendwie freundlicher gestimmt, wie schon seit Tagen nicht mehr. Eine komische Sache, wie dieser junge Mann sie auf der Straße anhielt und ihnen die Hand schüttelte, so kräftig, als wären sie alte Bekannte, die wiederzutreffen er sich freute.

An einer Straßenkreuzung endete die städtische Sozialsiedlung abrupt, und man hatte den Eindruck, als wäre die Kreuzung gleichzeitig das Tor zu einer anderen Welt, zumindest zu einer anderen Lebensweise. Hinter der Kreuzung, in einiger Entfernung vor ihnen, befand sich ein Park, dessen hohe Eisentore weit offen standen. Im rechten Winkel davon erstreckte sich ein Straßenzug hoher, solide gebauter Reihenhäuser mit kleinen umzäunten Vorgärten.

Als die Ampel auf Grün sprang, wollten sie die Straße überqueren, aber Jimmys Pfiff bremste ihre Schritte. Es war ein hoher, schriller Ton. Ein junges Mädchen am Parkeingang reagierte darauf und blieb stehen.

Zu Sammy herabblickend, sagte Jimmy: »Das ist Daisy.«

Statt einer Antwort lächelte Sammy, obwohl er hätte sagen können: »Natürlich ist das Daisy. Daisy ist nicht zu übersehen. Sogar ein Blinder würde sie sofort erkennen.«

Wieder sprang die Ampel auf Grün, und alle eilten auf das Mädchen zu, das direkt vor dem Tor wartete. Sie trug einen Superminirock. Schließlich erlaubte die Mode alles, Röcke bis zu den Knöcheln oder so kurz, daß sie kaum die Hüften bedeckten. Und Daisy hatte eindeutig ihre Wahl getroffen. Ihr Rock war leuchtend blau, und ein drei Zentimeter breiter Fransenstreifen am Saum verlängerte ihn gerade so weit, daß die Gesäßrundungen bedeckt waren. Darüber trug sie einen hautengen roten Pullover. Um den Hals hingen Perlenketten in mindestens drei Reihen übereinander, und von ihren Ohrläppchen baumelte ein Gehänge mit bunten Glasperlen.

Die ursprüngliche Farbe ihrer Haare mußte Daisy längst vergessen haben, denn die bis auf die Schultern reichenden Strähnen leuchteten in einem Pinkton. Zur Haarwurzel hin veränderte sich die Farbe zu einem dunklen Blau, und der Scheitel schließlich zeigte ein deutliches Braun. Daisys Gesicht war stark und schlecht geschminkt. Während sie auf die anderen wartete, hatte sie einen kleinen Spiegel herausgeholt und versucht, den zu dick aufgetragenen Lippenstift von ihrer Unterlippe zu wischen, damit eine klare Kontur entstand. Sie ließ sich auch nicht stören, als die drei stehenblieben und ihr zusahen. Schließlich steckte sie den Spiegel und ihr Taschentuch in die Schultertasche zurück und sagte beiläufig: »Mußte Hals über Kopf los.«

Jimmy starrte sie einen Augenblick an. Dann sagte er: »Das sind Sammys Freunde, Katie und Willie Bailey.«

Daisy sah zuerst Willie und dann Katie an, die sie mit einem langen Blick musterte. Das war ihre Art der Begrüßung. Dann ging sie weiter, und die anderen begleiteten sie.

Nach einigen Minuten des Schweigens sagte Jimmy: »Warum die Eile?« Sie antwortete: »Zu Hause ist die Hölle los, wegen Lucy. Und Dad tobt wieder. Anscheinend hat der Erzengel Gabriel auch dieses Mal versagt, meint Mam. Und Oma sagt, man sollte Lucy die Unterhose mit Heftpflaster an den Beinen festkleben.« Daisy blickte seitwärts zu Jimmy und lachte. »Oma glaubt, Mädchen würden noch immer Schlüpfer mit langem Beinteil tragen. Dad wollte mit dem Gürtel auf Lucy losgehen. Und er hätte es getan, so wie er vor Wut raste. Mam hat Lucy gerettet und Dad sein Essen samt Teller ins Gesicht geklatscht. Er ist hingefallen. Dann mußte Mam flüchten. Wir sind auch abgehauen.«

»Wo seid ihr hin?« erkundigte sich Jimmy ruhig, doch seine Stimme bebte, und in seine Augen war ein Leuchten getreten, obwohl er nicht lächelte.

»Wo wir immer hingehen. Zu den Fräuleins nebenan, den Browns.«

»Sie müssen langsam die Nase voll von euch haben. Waren die Jungen zu Hause?«

»Die Nase voll? Nicht so sehr, wie von … deinesgleichen, Jimmy Redding. Nein, die Jungen waren nicht da. Und wenn sie dagewesen wären, hätten sie genug Verstand gehabt, ebenfalls zu verduften, denn sie wissen, wie Dad ist, wenn er sich aufspielt wie Vater Hankin und der liebe Gott in einer Person. Außerdem …« Daisy schüttelte den Kopf, und dann schrie sie aus voller Kehle: »Sieh dich doch selbst an! Zu dir kann man auch nicht gehen, weil kein Platz ist. Ja, sieh dich doch an!«

Sie waren stehengeblieben. Jimmy hatte Daisy bei den Schultern gepackt und schüttelte sie. Dabei sagte er: »Ich nehm’s mir zu Herzen, Daisy. Aber hör auf mit dem Gebrüll. Du willst doch nicht, daß alle im Park mitbekommen« – er senkte die Stimme, und wieder lag die Andeutung eines Lachens darin – »was für gewöhnliches Pack wir sind.«

Von Katie kam ein Geräusch, als würde sie halblaut lachen. Daisy fuhr zu ihr herum und sagte spitz: »Und du, vornehme Zicke, hör gefälligst auf, den Mund zu verziehen, sonst wische ich dir das Grinsen persönlich aus dem Gesicht.«

»Halt deine große unflätige Klappe, Mädchen.«

Obwohl Jimmy noch immer leise sprach, beobachtete Katie verblüfft, wie seine Worte auf die ordinäre Person mit dem pinkfarbenen Haar wirkten.

Der Park lag hinter ihnen, und unterwegs hatte niemand etwas gesagt. Auch nachdem sie scharf nach rechts abgebogen waren und das Sport- und Freizeitzentrum Fickleworth in Sicht kam, kommentierten weder Katie noch Willie den Anblick.

Es war ein imposantes Gebäude. Genauer gesagt bestand es aus mehreren flachen Trakten, die sich zu beiden Seiten des höheren Hauptgebäudes erstreckten. In diesem erhöhten Teil befand sich der von Säulen flankierte Eingang. Man ging durch zwei automatische Türen und betrat eine große Halle.

Sammy bedeutete Katie und Willie stehenzubleiben, während er zur Anmeldung ging. Der Empfangstisch war wie in einem großen Hotel gestaltet. Jimmy und Daisy hatten beschlossen, auf Sammy zu warten, und schlenderten in der Halle umher.

Sammy sprach mit dem jungen Mann hinter dem Schalter und wies auf Katie und Willie. Willie sagte leise: »Alles in Ordnung mit dir, Katie?«

»Ja, alles in Ordnung. Sie ist ziemlich ordinär, nicht wahr?«

»Ich bin froh, daß du die Sache so ruhig aufnimmst.«

Katie entgegnete nichts darauf. Nach einer Weile sagte sie: »Willie.«

Leise fragte er: »Ja?« Was er als nächstes hörte, war eine Überraschung für ihn.

»Wir haben ziemlich viel Glück gehabt, was? Ich meine, mit dem Zuhause, in dem wir aufwachsen.«

Willie konnte nichts entgegnen, denn Sammy schob sie zum Schalter. Der junge Mann dort fragte: »Sie … wollen sich einschreiben? Und Sie können den Beitrag bezahlen?« Bevor einer von beiden antworten konnte, ergänzte er lächelnd: »Das ist gut. Ich trage immer gern neue zahlungskräftige Mitglieder ein. Aber mit Geld oder ohne, hier sind alle willkommen.« Er sah zu Katie. »Für welchen Kurs interessieren Sie sich, Miß?«

»Ich … ich dachte, Judo wäre nicht schlecht.«

»Oh, Selbstverteidigung. Gut, in Ordnung. Und Sie?« Er wandte sich an Willie. Willie befeuchtete die Lippen, schluckte und sagte: »Eigentlich … bin ich nur gekommen, um mich umzusehen. Aber ich glaube, die Sache könnte … ziemlich interessant werden. Ich würde … wäre es möglich, daß ich mich später entscheide?«

»Später entscheiden? Natürlich können Sie sich später entscheiden. Stimmt doch, Sammy?« Mit vorgeschobenen Lippen blickte er in Sammys Richtung. »Sechs Tage in der Woche. Sie haben die Auswahl. Wir beginnen um neun Uhr morgens mit Schwimmen, und der letzte Termin um zehn Uhr abends ist Boxen. Dazwischen gibt es jede Menge andere Angebote. Ja, daran mangelt es nicht. Und wir haben sonntags geöffnet. Allerdings gibt es dann ein anderes Programm. Es finden Gespräche, Diskussionsrunden und jede Menge Aktivitäten statt. Auf diesem Faltblatt hier steht, was wir zu bieten haben.« Der junge Mann hinter dem Empfangsschalter sah zur Seite, wo Jimmy stand und mit Daisy sprach. Daisy blickte zu Boden. »Haben die beiden sich wieder in den Haaren gelegen?« fragte er. »Daisy hat ein freches Mundwerk, wie? Aber sie meint es nicht so. Die Gallaghers sind schon eine wilde Bande, die ganze Familie.« Er schüttelte den Kopf. »Was sie nicht daran hindert, jeden Sonntag vollzählig in der Kirche zum Gottesdienst zu erscheinen. Wenn sie auch in der letzten Reihe sitzen.« Er nickte Katie zu und fragte: »Katholisch?«

»Nein, wir sind nicht katholisch.«

»Gut. Dadurch wird das Verhältnis etwas ausgeglichener. Die Hälfte der Besucher hier ist katholisch. Vater Hankin lädt seine Schäfchen alle bei uns ab.«

»Du redest zu viel, Sandy.« Sammys Stimme klang barsch, und er schob Katie und Willie zu Jimmy und Daisy. »Kommt mit«, sagte er. »Wir machen jetzt die Runde. Sonst bleibt hinterher keine Zeit mehr zum Trainieren.«

Wie das Zentrum auf Willie gewirkt habe, könne sie nicht sagen, erstattete Katie später am Abend Fiona Bericht, doch sie sei verblüfft gewesen über das, was sie zu sehen bekam. Sie fuhr mit ihrer Beschreibung fort. Es gab einen Fechtraum, und um den Boxring erhoben sich wie in einem kleinen Amphitheater die Zuschauerränge. Außerdem verfügte das Zentrum über Räume für Badminton und Tischtennis, hatte ein Restaurant und einen Raum, den Jimmy stolz den Gemeinschaftsraum nannte. Dorthin konnte man sich zurückziehen, wenn man in Ruhe einen Brief schreiben oder sich erholen wollte. Im Zentrum gab es auch ein Schwimmbecken, dazu Gesundheitsbäder mit Salzwasser und Seetang. Dies alles bildete nur die erste Etage. Im zweiten Stock befand sich eine wunderbare Rollschuhbahn, und hier war auch ein großes Café, in dem man verschiedene kleine Mahlzeiten bestellen konnte. Zwei Mal pro Woche gab es Fish and Chips. Da sie an einem Dienstag abend gekommen waren – Dienstag war offenbar Fish-and-Chips-Tag –, war das Cafe voll besetzt gewesen.