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Das Bernsteinmädchen E-Book

Hans Meyer zu Düttingdorf

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Beschreibung

Mein Herz in deinen Händen.

Neu Boltenhagen, 1938: Als Helena sich in den deutschen Matrosen Karl verliebt, verlässt sie ihre argentinische Heimat und zieht zu ihm an die Ostsee. Doch in den Wirren des Zweiten Weltkriegs werden die Liebenden getrennt, und Helena gebärt einen Sohn. Über siebzig Jahre später erhält dieser ein rätselhaftes Erbe von seiner Mutter. Mit einem Bernstein und dem Auftrag, seinen deutschen Wurzeln nachzuspüren, reist Robert von Buenos Aires in das vorpommersche Dorf seines Vaters und ist wie vom Donner gerührt. Warum steht auf dem Familiengrab, dass er und Helena hier im Jahr 1945 begraben worden seien? Und wer ist die zweite Frau auf den alten Fotos?

Ein berührender Roman über eine Reise in die Vergangenheit und die Rückkehr in ein anderes Leben.

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Über das Buch

Mein Herz in deinen Händen

Neu Boltenhagen, 1938: Als Helena sich in den deutschen Matrosen Karl verliebt, verlässt sie ihre argentinische Heimat und zieht zu ihm an die Ostsee. Doch in den Wirren des Zweiten Weltkriegs werden die Liebenden getrennt, und Helena gebärt einen Sohn. Über siebzig Jahre später erhält dieser ein rätselhaftes Erbe von seiner Mutter. Mit einem Bernstein und dem Auftrag, seinen deutschen Wurzeln nachzuspüren, reist Robert von Buenos Aires in das vorpommersche Dorf seines Vaters und ist wie vom Donner gerührt. Warum steht auf dem Familiengrab, dass er und Helena hier im Jahr 1945 begraben worden seien? Und wer ist die zweite Frau auf den alten Fotos?

Ein berührender Roman über eine Reise in die Vergangenheit und die Rückkehr in ein anderes Leben.

Über Hans Meyer zu Düttingdorf

Hans Meyer zu Düttingdorf wurde 1967 in Bielefeld geboren. Er ist Hochschuldozent, Unternehmenscoach und Musiker. Für seine deutschsprachigen Chansons wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet. Durch seinen Partner, Juan Carlos Risso, lernte er Argentinien lieben. Gemeinsam entwickelten sie die Idee zu »Das Bernsteinmädchen« sowie zu den ebenfalls im Aufbau Taschenbuch erschienenen Romanen »Das Bandoneon« und »Unsere Seite des Himmels«. Die beiden leben in Berlin und in der Küstenstadt Necochea am argentinischen Atlantik.

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Hans Meyer zu Düttingdorf

Das Bernsteinmädchen

Roman

Nach einer gemeinsamen Idee mit Juan Carlos Risso

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Danksagung

Impressum

Prolog

Robert schenkte sich nach und ließ sich in einen der Sessel sinken. Er war wieder zu Hause. Durch die Scheiben schillerte die Skyline des nächtlichen Buenos Aires. Die Terrasse auf der anderen Seite der Schiebetüren war sanft erleuchtet. Ob er eine gute Reise gehabt habe, hatte ihn der Portero unten am Eingang gefragt und ihm die Post der vergangenen Wochen überreicht. Robert hatte nicht gewusst, was er darauf antworten sollte.

Der Dorfpastor hatte ihm vor seiner Heimreise ein Stück Papier in die Hand gedrückt. Vielleicht gefalle ihm die Geschichte, hatte der gemeint. Nachdem er die Gasflammen des Sandsteinkamins eingeschaltet hatte, flogen Roberts Augen erneut über die Zeilen:

Die Geschichte des weinenden Bernsteinmädchens

Vor langer Zeit lebte ein junges Mädchen an den Küsten dieses Meeres. Es war von solcher Schönheit, dass selbst die Wellen es nicht wagten, seine Füße zu benetzen. Auch die Götter hatten das Kind mit einer besonderen Gabe ausgestattet: das Gold des Meeres zu finden, den Bernstein. Deshalb nannten sie alle im Dorf das Bernsteinmädchen.

Doch dort, wo Gabe und Glanz sind, wächst die giftige Pflanze, die Missgunst genannt wird. Denn als das Mädchen mit jedem Tag schöner wurde und immer mehr Bernstein sein Eigen nannte, wurden die Menschen im Dorf neidisch. Das könne doch nur mit dem Teufel zugehen, raunten schon die Ersten und andere stimmten ihnen zu. Immer wilder wurden die Gerüchte: Das Mädchen sei auf einem Besen geritten und habe der Müllerin das Fieber ins Kindbett gehext. Den Bauern habe es die Ernte verregnet und gar den Fischern einen Sturm auf die See geschickt. So könne es doch nicht weitergehen, da müsse man was tun!

Und so geschah es, dass in jener Nacht der Vollmond ein grausiges Verbrechen beschien. Entschlossen machten sich die Männer des Dorfes auf den Weg. Sie trieben das Bernsteinmädchen bis an den Strand und hinein ins bitterkalte Wasser.

Doch das Meer beschloss, diese Untat zu sühnen. Seine Wellen peitschten weit über den Strand und griffen nach den Hütten des Dorfes. Sieben Tage und sieben Nächte tobte das Meer, bis alle Männer und Frauen des Dorfes umgekommen waren.

Und wer ganz genau lauscht, der kann noch heute in jeder neuen Vollmondnacht ein sanftes Wimmern hören, das von den Wellen für ewig in die Dünen getragen wird. Das Weinen des Bernsteinmädchens.

Kapitel 1

»Sie erlauben?« Der Steward klappte den Tisch vor Robert auf und legte eine weiße Decke darüber. »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Nacht, Señor Schnitter.«

»Danke, ja«, erwiderte Robert. »Allerdings schien es mir, dass es doch recht unruhig war.«

»In der Tat, Turbulenzen über dem Atlantik. Aber nun haben wir wieder schönstes Flugwetter. Wollen Sie die Sonnenblende aufschieben?«

Gleißendes Licht brach herein und zwang Robert, seine Augen zusammenzukneifen.

»Wann werden wir landen?«

»In gut einer Stunde erreichen wir Frankfurt. Was darf ich Ihnen zum Frühstück servieren, Kaffee oder Tee?«

»Kaffee, bitte!«

Während der Steward das aufgeklappte Plastikbrett in einen Frühstückstisch verwandelte, schweiften Roberts Gedanken ab. Fast vierzehn Stunden hatte der Flug von Buenos Aires gedauert. Von Frankfurt nach Berlin würde es dann nur noch ein Katzensprung sein. Schon oft war er in Deutschland gewesen, aber diesmal sollte es das erste Mal ohne beruflichen Hintergrund sein.

Was wäre wohl aus seinem Leben geworden, wenn damals nicht jener ungewöhnliche Kunde in dem kleinen Elektrogeräteladen aufgetaucht wäre?

»Ach, Sie sprechen Deutsch?«, hatte dieser erfreut festgestellt, und Robert dann nach seinem Werdegang ausgefragt. Kurz darauf kam das Angebot, das Roberts Leben unwiederbringlich verändern sollte. Alles basierte auf diesem einen Augenblick, diesem Zufall, der so unerklärlich eintraf, wie Zufälle es nun einmal tun. Und doch verbarg sich insgeheim hinter jedem die stille Frage nach dem Warum. Warum gerade ich? Warum gerade in jenem Augenblick? Während wir uns das Hirn über den tiefen Sinn des Zufalls zermartern, seine Regeln und Mechanik zu verstehen versuchen, verlieren wir gerne die Unberechenbarkeit des Zufalls aus dem Blick. Zufälle waren nun einmal verrückt. Verrückt wie die Welt, bei der alles, was auf ihr kreucht und fleucht, eben nur diesem einen Prinzip folgt: Prinzipienlosigkeit genannt Evolution. Zufall eben.

Der Mann im Laden hatte sich nur die Zeit vertreiben wollen, war zu früh am verabredeten Treffpunkt erschienen und hatte nicht unnütz herumstehen wollen. So war er in den kleinen Elektroladen gegangen, der hinter vergitterten Scheiben gebrauchte Fernseher und Radios anbot. Drinnen roch es nach ehrlichem Handwerk, Sparsamkeit und geringen Erwartungen an das Leben.

Als Robert den Mann auf der Türschwelle entdeckte, hatte er ihn sofort als Fremden erkannt. Nicht nur, weil er den Herren noch nie zuvor im Laden gesehen hatte – der Mann passte einfach nicht an diesen Ort, nicht in dieses Viertel, nicht in diese Stadt, deren Namen Gute Luft bedeutete, von der es in Roberts Viertel aber wenig gab. Ob er helfen könne, hatte er den Mann gefragt. Der Fremde hatte in einem katastrophal schlechten Spanisch mit deutschem Akzent geantwortet.

»Kann ich Ihnen helfen?«, hatte Robert wiederholt, diesmal auf Deutsch, und das erstaunte Gesicht seines Kunden genossen.

»Meine Mutter sprach gerne Deutsch mit mir«, hatte Robert erklärt, »und meine Abuelos Spanisch. So habe ich zwei Muttersprachen.«

Abuelos, das bedeute Großeltern, hatte Robert hinterhergesetzt. Der deutsche Begriff war ihm für die beiden so absurd und fremd vorgekommen, dass er ihn unbeabsichtigt unübersetzt gelassen hatte. Großeltern – dazu hätten sie ja überhaupt erst mal seine Großeltern sein müssen.

Als jener Mann, den der Zufall in Roberts Leben gebracht hatte, schließlich den kleinen Elektroladen wieder verließ, hatte Robert bereits das vage Gefühl, dass sich sein Leben verändern würde. Hatte er es tatsächlich gespürt, oder redete er sich das jetzt im Nachhinein nur ein? Unwissende dreiundzwanzig Lenze hatte er damals gezählt. Und heute, ein halbes Jahrhundert später, meinte er tatsächlich, sich seinem damaligen Ich eine Intuition zuschreiben zu müssen. Absurd.

Nein, er hatte nicht ansatzweise geahnt, was diese zufällige Begegnung in seinem Leben auslösen würde. Wie konnte er auch? Wie hätte er wissen können, dass dieser Mann zu Vertragsverhandlungen für seinen mächtigen deutschen Arbeitgeber über den Atlantik gekommen war? Damals, Ende der sechziger Jahre, sicherlich ein unerhörtes Unterfangen.

Als einige Monate darauf der Aufbau des neuen Elektrowerkes, eine Ausweitung der bereits bestehenden wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem deutschen Konzern und Argentinien, begann, wurde Robert als »Mädchen für alles« eingesetzt und hatte zwischen Aufgaben wie Sprachen gewechselt. Die Konzernführungsriege in Buenos Aires setzte sich fast ausnahmslos aus Deutschen zusammen. Scheinbar traute man den Ingenieuren vor Ort nicht.

Der fremde Kunde mit dem deutschen Akzent hatte ihn jedenfalls eingestellt: Robert scheine ein tüchtiger junger Mann zu sein und solle auf der Baustelle vermitteln. Robert hatte seine besondere Stellung im neuen Werk genossen. Er gehörte weder zur einen noch zur anderen Welt. Und er war ein Mann der ersten Stunde. Einer der wenigen, die danach geblieben waren.

Robert war schon immer so ehrgeizig gewesen, sich nicht mit dem zu begnügen, was er bereits hatte. Sonst würde er vermutlich noch heute selbstgestricktes Sportzeug und den Spott der Mitschüler ertragen müssen. Das Leben im Hafenviertel war hart und für ihn war es die Hölle gewesen: kein Vater, kein Geld. Gespuckt hatten sie auf ihn. Wer selbst nichts hatte, der suchte nach denen, die noch tiefer standen, denn nur nach unten konnte man erfolgreich treten. Und unten, da waren sie einst. Ganz unten.

Wenn er etwas von seiner Mutter gelernt hatte, dann war es, durchzuhalten. Niemals aufgeben, weitermachen, nach vorne schauen. Und auch den Fleiß hatte er von ihr geerbt, das war wohl der Anteil an Genen, die sie in ihrer deutschen Hälfte in sich getragen hatte.

Wie lange das alles her war. Ein ganzes Menschenleben bereits. Und heute reiste er mit seinen über siebzig Jahren wie selbstverständlich mit allem Luxus, den eine Reise zu bieten hatte. Rüstig würde man ihn auf Deutsch bezeichnen. Wie er fand, ein widerliches Wort. Etwas Demütigendes schwang darin mit. Ein unausgesprochener Nachsatz, der mit obwohl, trotz allem oder viel schlimmer noch auch wenn eingeleitet werden würde, und dessen Inhalt Robert sich lieber nicht ausmalen wollte. War er eitel? Nun ja, rüstig ließ kaum Platz für Eitelkeit, sondern schob stattdessen Bilder von Medikamenten auf Rollwagen vor sich her. Ja, er war eitel.

Nun schwebte er also wieder einmal deutschem Boden entgegen. Meist war er früher in München gewesen und nicht in Berlin, denn der Berliner Firmensitz war für seine Aufgaben nicht zuständig gewesen. Doch diesmal ging es in die deutsche Hauptstadt, diesmal war es etwas vollkommen Anderes, Neues, etwas – er hielt kurz in seinen Gedanken inne – Privates, was für eine unerhörte Verschwendung. Nein, das war es nicht. Ganz im Gegenteil, schließlich war es seine Mutter, die ihn zu dieser Reise aufgefordert hatte.

Doch welcher Teufel hatte ihn bloß geritten, tatsächlich diesen Weg anzutreten? Was wollte er in diesem winzigen Dorf irgendwo an der Ostseeküste? War es Neugier? Wahrheitssuche? Aber was für eine Wahrheit? Oder war es der verzweifelte Versuch, der Eintönigkeit seines Lebens zu entfliehen? Was hielt einen schon an einem Platz fest, wenn sich die Familie abgewandt und man die Arbeitswelt schon seit Jahren gegen den wohlverdienten Ruhestand getauscht hatte? Wohlverdient! Wie ein Hohn klang das Wort in Roberts Ohren. Er hatte immer gerne gearbeitet, sein Ruhestand dagegen war eine Kette, die ihn lähmte.

Er schüttelte die Gedanken ab und ließ sich vom gleichmäßigen Dröhnen des Flugmotors umhüllen. Robert fühlte sich seltsam geborgen in Flugzeugen. Gleich kurzes Umsteigen in Frankfurt und dann wäre er ja auch schon in Berlin.

Berlin. Zu seinen aktivsten Zeiten hieß die Hauptstadt Deutschlands noch Bonn, zumindest die Hauptstadt der Hälfte Deutschlands, zu der sein Arbeitgeber gehörte. West-Berlin war damals noch eine eingemauerte Insel gewesen. Einige seiner Freunde hatten dagegen für ein Unternehmen in Kuba gearbeitet. Sie hatte es immer wieder in die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, wie damals die andere Hälfte Deutschlands geheißen hatte, gezogen. Sie hätten leicht in dieses winzige Dorf reisen können, dieses nichtssagende kleine Etwas irgendwo kurz vor der Küste der Ostsee und an der Grenze zu Polen. Sie hätten es tun können, er nicht. Ihn hätte es viel Mühe gekostet. Doch versucht hatte er es nie. Eigentlich erstaunlich, dass er aber auch nie auf die Idee gekommen war.

Der Name des Dorfes stand in seinen Papieren. Geburtsort: Ambershagen. Das war es dann aber auch schon. Ein Baby hat keine Erinnerung, es gab keine Bilder in seinem Kopf zu diesem Fleckchen Erde. Es gab noch nicht einmal irgendwelche angegilbten Schwarz-Weiß-Aufnahmen in Kommodenschubladen, die mit aufkommender Rührseligkeit alle Dekaden wieder ans Licht befördert wurden, um dann für die nächsten Jahre in der muffigen Dunkelheit des Vergessens zu verschwinden. Nichts davon. Andere verbinden ja auch keine sentimentalen Gefühle mit dem Kreißsaal, in dem sie einst ihren ersten Schrei taten. In diesem Dorf wäre er ein Fremder unter Fremden, die nichts miteinander verband außer einem kurzen Stück gemeinsamer Weltgeschichte, einem verschwindend kurzen Stück.

Und seine Mutter? Sie wollte zeit ihres Lebens nicht über die kurze Episode auf deutschem Boden sprechen.

»Man soll die Toten ruhen lassen!«, hatte sie auf sein Nachfragen in früheren Zeiten brüsk geantwortet und ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass das Dorf und ihre eigene Geschichte zwischen ihnen beiden kein Thema sein würde. Sein Vater sei nun mal im Krieg geblieben, sie habe ausreichend Tränen geweint und wolle das nicht alles noch mal durchleiden müssen. Das musste als Erklärung für ein lebenslanges Schweigen reichen.

Und doch würde er in nur wenigen Stunden in Berlin sein, das weder die Hauptstadt der DDR noch eine ummauerte westdeutsche Insel mehr war, sondern die Hauptstadt vom ungeteilten Deutschland. Dieses Deutschland, deren Bewohner mit sich selbst so seltsam haderten, und das doch für viele seiner Errungenschaften in Roberts Heimat Argentinien bewundert wurde. Und zwar für gerade die Eigenschaften, für die sich deren Bürger schämten. Seltsam. Und was noch viel seltsamer war, dass ihn seine Mutter selbst schickte. Warum?

Roberts Koffer war einer der ersten auf dem Gepäckband. Der Priority-Anhänger wirkte wie überall auf seiner Reise Wunder.

Was hatte er gekämpft für diesen Status. Seine Mutter mit Flickarbeiten an der Tischlampe, spätnachts, wenn sie glaubte, dass ihr kleiner Sohn schlief. Aber er konnte nicht schlafen. Die dunkle Kammer, die für sie beide Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer zugleich war, hatte ihm schon damals die Luft genommen. Während er Schlaf vortäuschte, hatte er die Hände zu Fäusten geballt, voller Zorn auf die Welt. Er wollte nicht, dass sie für andere Menschen so schuften musste, Wäsche flickte oder Hemden nähte. Es mache ihr nichts aus, hatte sie immer wieder beteuert, das sei doch ganz normal. Immerhin habe sie doch auch schon damals im Hotel gearbeitet, damals, als sie noch am Atlantik in Quequen lebte, für sie sei das alles gar nicht schlimm. Und er hatte gesehen, dass sie log.

Vor dem Gate wartete ein junger Mann im Anzug mit einem Schild, darauf stand Roberts Hotel und sein Nachname. Robert ging auf seinen Fahrer zu.

»Bu-en-os Dias, Se-ni-or!«, radebrach der junge Mann.

»Sie können ruhig Deutsch mit mir sprechen. Es ist meine zweite Muttersprache. Ich wurde hier geboren.«

»Puh, na, da bin ich aber echt mal froh!«, antwortete Roberts Gegenüber erleichtert.

Nicht viel später hatten sie ihr Ziel erreicht. Während seines gesamten Aufenthalts stünde er inklusive Auto für Robert zur Verfügung, erklärte der junge Fahrer, als er das Gepäck aus dem Kofferraum der Limousine hievte und an einen auf dem mit einem Baldachin überspannten roten Teppich bereits wartenden Hotelpagen übergab.

»Ohne Auto würde es ja auch wenig Sinn machen«, konstatierte Robert amüsiert. Direkt schob er hinterher: »Heute Abend werde ich Sie nicht mehr brauchen, vielen Dank.« Der junge Mann nickte zufrieden.

»Super!«

»Super«, wiederholte Robert murmelnd und lächelte still in sich hinein. Sicherlich hatte der junge Mann etwas anderes vor, als ihn durch die Gegend zu kutschieren.

»Wie erreiche ich Sie morgen?«, hakte er nach.

»Einfach über die Rezeption.«

»Gut. Dann einen schönen Abend.« Robert drückte ihm eine Banknote in die Hand, die die Augen des Fahrers erstaunt strahlen ließen. Man musste vorher das Trinkgeld geben, und zwar üppig, auf keinen Fall erst hinterher. Nur so sicherte man sich eine ordentlich erbrachte Dienstleistung. Die Welt war korrupt, so ging nun mal das Spiel. Insbesondere, wenn man das Geschäftemachen in Argentinien gelernt hatte.

Robert hatte schon in vielen Hotels gewohnt. Irgendwie ähnelten sie sich alle. Mal war das Bad größer, mal der Ausblick schöner, aber schließlich blieb es ein Hotel. Ein Zuhause auf Zeit, das es nie schaffen würde, ein tatsächliches Zuhause zu sein.

Er strich seine Unterhemden glatt und hängte die Anzüge in den Schrank. Auf dem kleinen Beistelltisch an der Sitzgruppe hatte man eine Schale mit Obst platziert, eine Flasche Champagner kühlte in einem Gefäß mit einem persönlichen Gruß der Direktion daneben, gedruckt versteht sich, vermutlich tausendfach in den Schränken des Housekeepings gelagert. Immerhin auf Spanisch. Nicht schlecht.

Robert schob den Vorhang zur Seite und ließ das angestrahlte Brandenburger Tor auf sich wirken. Noch immer tummelten sich Touristen davor, obwohl es schon spät war. Zeitweise erhellten Blitzlichter für Bruchteile von Sekunden den Platz. Was für eine Unsitte, sich immer und überall selbst ablichten zu müssen, um sich dann der Welt zu präsentieren: Ich hier, ich dort, mein Frühstück, mein Abendessen, mein Besuch im Konzert, mein Traumurlaub, mein Brandenburger Tor. Die Eitelkeit hatte die Menschheit im Griff. In der Beilage einer der Zeitschriften in der Frankfurter Lounge hatte er gelesen, dass für einen russischen Oligarchen gar in Hamburg eine Werft hatte vergrößert werden müssen, damit sich dieser die längste Privatyacht der Welt hatte bauen lassen können. Einen Meter länger als das Exemplar, das bis dato die Spitze angeführt hatte. Keulenschwingende Neandertaler mit Brillantine im Fell. Die Welt war voller Idioten.

Streng genommen war er selbst nicht viel besser. Vielleicht nicht ganz so idiotisch, aber vermutlich mindestens genauso eitel. Auch er hatte ein besseres Leben gewollt und dafür gekämpft. Er hatte seiner Familie alles bieten wollen und das auch schließlich getan. Aber wofür? Seine beiden Söhne meldeten sich nur zu Feiertagen. Seine Frau hatte ihm den Rücken gekehrt. Warum?

Und auch seine Mutter war ihm zeit ihres Lebens ein Rätsel geblieben. Nicht einmal über das Haus am Meer, das er doch eigentlich nur ihr zuliebe gekauft hatte, war sie glücklich gewesen.

Er seufzte gegen die Wehmut an, die ihm in die Augen steigen wollte. Früher war er nicht so rührselig, aber seitdem er die Siebzig passiert hatte, war er weicher geworden. Dazu kam diese verdammte Einsamkeit. Er ließ die schweren Vorhänge wieder sinken, Brandenburger Tor und Touristen wurden aus seinem Blickfeld und seinen Gedanken verbannt.

Robert ließ sich in einen der Sessel fallen, seine Finger fuhren am Hals der Champagnerflasche entlang und glitten dabei über die Tauperlen, die sich auf dem kühlen Glas bildeten. Was erwartete er von dieser Reise in eine Vergangenheit, die nicht seine war?

Seine Gedanken wanderten zurück zu jenem entscheidenden Moment vor gut einem Jahr. Er hatte von der Testamentseröffnung nichts erwartet. Denn alles, was seine Mutter besaß, hatte sie ohnehin von ihm. Der Notar hatte ihn zum Termin eingeladen. Nur ihn allein, wie ihm auf Nachfrage bestätigt wurde.

»Meine Söhne, oder meine Frau?«

»Nicht nötig!«, war die knappe Antwort gewesen.

»Wir wollen es schnell machen, Señor Schnitter«, eröffnete der Notar.

»Das käme mir durchaus gelegen, Señor.« Dafür hatte Robert mehrere Gründe. Nicht nur, weil er ein Freund schnellen Handelns war, sondern auch, da es unerträglich heiß im Büro war. In Buenos Aires war flächendeckend der Strom ausgefallen und das mitten im Hochsommer. Die Stadt brütete schon seit mehreren Tagen. Im Frühling hatte es in den Märkten für wenig Geld mobile Klimaanlagen zu kaufen gegeben. Chinesischer Tand, der kaum mehr als eine Saison überstehen würde, aber alle hatten sich darauf gestürzt. Das Wetter sollte diese Käufe zunächst rechtfertigen: Der Sommer war selbst für Buenos Aires ungewöhnlich heiß gewesen und so summten in den meisten Haushalten die weißen Kästen mit den asiatischen Schriftzeichen darauf. Aber nicht für lange: Das hoffnungslos marode Stromnetz der Stadt war restlos überfordert gewesen und brach unter der plötzlichen Last in sich zusammen. Wofür – außer für den Erwerb eigener ausgedehnter Latifundien und Luxusappartements an der Fifth Avenue und den Champs-Élysées – hatte die über Jahrzehnte regierende korrupte Präsidentenfamilie eigentlich die öffentlichen Gelder genutzt? Eine Millionenstadt ohne Strom! Und ohne Strom, das bedeutete auch ohne Wasser und Abwasser. Menschen steckten in ihren Hochhauswohnungen fest, Fäkaliengeruch begegnete einem an jeder Ecke, erste Tote wurden gemeldet, die Kriminalität stieg beängstigend. Wer konnte, verließ Buenos Aires.

Robert selbst hätte dem Ganzen leicht entfliehen und zum Beispiel nach Quequen gehen können. Am Atlantik direkt an der Küste herrschte immer ein angenehmer Wind und Strom gab es dort auch, aber seine Mutter hatte da bereits im Krankenhaus gelegen. Mit weit über neunzig war das Ende immer präsent und in jenem Sommer war es dann auch geschehen.

Und so litt er unter der allgegenwärtigen Hitze im Büro seines Notars. Selbst dessen alte Stadtvilla hatte sich aufgeheizt. Man versuchte mit Dunkelheit die hohen Räume erträglich zu halten, erfolglos. Roberts Schenkel klebten auf dem Ledersessel.

»Señor Schnitter, ich erspare uns das allgemeine Vorlesen der Gesetzestexte und was ich sonst noch alles zu tun hätte. Ich denke die aktuellen Bedingungen …«, der Notar hielt kurz inne und wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß aus dem Gesicht, »… rechtfertigen das. Einverstanden?«

Robert nickte.

»Ihre werte Frau Mutter hat mir vor langer Zeit einen Auftrag gegeben, den ich nach ihrem Tode ausführen sollte. Zum einen soll ich Ihnen das hier überreichen.« Er griff neben sich und platzierte ein kleines in ein Tuch eingeschlagenes Päckchen auf dem Tisch. »Zum anderen hat sie mich angewiesen, Ihnen Folgendes mitzuteilen.«

Er räusperte sich, holte von derselben Stelle, von der er gerade das kleine Päckchen entnommen hatte, einen Brief hervor und las ihn laut vor: »Geh ins Dorf deines Vaters!«

Für einen Moment herrschte eine unangenehme Stille.

Der Anwalt räusperte sich erneut. Robert spürte, wie ein Rinnsal von Schweiß seinen Nacken hinunterfloss. Schließlich reagierte er. Er sprach bedächtig, jedes Wort abwägend: »Sie hat bitte, was?«

»Sie sollen ins Dorf Ihres Vaters gehen. Das war’s.«

»Aber …«, hatte Robert gestammelt. Hatte ihn noch kurz zuvor die Hitze gelähmt, war es nun sein Unverständnis. Endlich fand er zu Worten zurück: »Aber, warum?«

»Keine Ahnung. Vielleicht erklärt ja das kleine Päckchen etwas.«

»Was ist denn drin?«

Der Notar schaute ihn gekränkt an.

»Ich habe es natürlich nicht ausgepackt, sondern so von Ihrer Mutter erhalten.«

Schon hatte Robert nach dem kleinen eingewickelten Gegenstand gegriffen. Er öffnete die Schnüre und wickelte Lage um Lage den Inhalt frei, bis etwas auf den Tisch purzelte.

Die beiden Männer starrten es an.

»Ein Bernstein?«, sagten der Notar und Robert beinahe wie aus einem Munde. Irgendwie meinte Robert etwas wie Enttäuschung im Gesicht des Testamentsvollstreckers zu erkennen. Vermutlich hatte dieser mit Wertvollerem gerechnet, Schmuck vielleicht oder echten Edelsteinen. Aber das?

»Ein Bernstein!«, wiederholte Robert stirnrunzelnd.

»Haben Sie eine Ahnung …«, der Notar musste nicht weiterfragen, denn Robert schüttelte schon den Kopf.

»Nicht im Geringsten.«

Nun lag jener Stein auf dem Beistelltisch zwischen Champagnerflasche und Obstkorb. Robert hatte ihn nach dem Notartermin in einem Schmuckkästchen verwahrt, darin hatte er mal einen Ring für seine Frau verpackt. Irgendwie hatte er das hellgrüne Schächtelchen dafür passend gefunden.

Robert hielt den Bernstein gegen die Lampe und betrachtete, wie sich das Licht seinen Weg goldgelb hindurch bahnte. Ein Relikt aus einer anderen Zeit, einer anderen Epoche der Weltgeschichte gar. Ein bisschen Harz, heruntergetropft von einem Baum, der nun nicht einmal mehr als ein Hauch der Erinnerung existierte. Aber das Zeugnis seiner Wunde hatte die Jahrtausende überdauert, und mit ihm der Moment Zeitgeschichte, den es umschloss. Ein schöner Stein, durchaus. Ein ungewöhnliches Stück, groß, ebenmäßig. Er war zwar geschliffen worden, aber wohl niemals Teil einer Fassung gewesen. Vermutlich. Überhaupt, alles nur Vermutungen. Was hatte seine Mutter veranlasst, diesen schönen, aber letztlich recht wertlosen Stein beim Notar zu hinterlegen?

Sie hätte ihn Robert doch auch so geben können, oder eben seiner Frau. Oder, wären seine Söhne verheiratet, vielleicht auch einer ihrer Frauen. Aber die beiden hielten es ja lieber mit wechselnden Bekanntschaften. Lächerlich in ihrem Alter, sie waren nun beide schon lange keine Jungs oder gar junge Männer mehr.

Und warum ins Dorf seines Vaters? Er hatte seinen Vater nie kennengelernt, gerade mal knapp anderthalb Jahre an der Ostsee gelebt, und selbst Mutter hatte ja nur wenige Jahre in Deutschland verbracht. Zeit ihres Lebens hatte sie nicht darüber sprechen wollen. Einige Male hatte er versucht, etwas von ihr dazu in Erfahrung zu bringen, aber sie hatte stets geblockt: zu schmerzhaft, zu lange her, sie wolle nicht an all die Dinge erinnert werden. An welche Dinge? Warum?

Seufzend legte Robert den Stein in die kleine Schatulle zurück. Es war Zeit zu schlafen, der Jetlag hatte ihn schon viel zu lange wachgehalten. Morgen wäre ein neuer Tag, er würde sich ins Dorf seines Vaters fahren lassen. Und dann?

Kapitel 2

Elena schmeckte das Salz auf der Zunge. Sand rieb an ihren Füßen, der Wind spielte mit ihrem Haar.

Viel zu selten waren diese Momente am Meer, in denen sie ihren Pflichten entfloh. Sie konnte sich kaum mehr an die Zeit erinnern, als es noch ihre Mutter war, die sich um die Angestellten der Hotelgäste gekümmert und für deren Unterkunft und Verpflegung gesorgt hatte. Die bunte Mischung aus Fahrern, Zofen, Mädchen und sogar auch mal einem Butler, die als Gefolge der Noblen und Reichen die Sommerwochen zwischen Weihnachten und Ostern hier am Meer verbrachten, war zwar weniger anspruchsvoll, als es ihre Herrschaften in den Zimmern und Suiten des Hotels Quequen zu sein pflegten, doch schließlich wollten auch sie neben der Arbeit mit ihrer eigenen Herrschaft ein bisschen Sommerfrische genießen und dabei gut versorgt werden.

Elenas Gerichte waren deftig, die Portionen reichlich. Und die Abende, die in der Regel dann begannen, wenn sich gnädige Frau und edler Herr zur Ruhe begeben hatten, dauerten meist bis spät in die Nacht und verliefen oft feuchtfröhlich. So manches Mal musste Elenas Vater seine Gäste zur Ruhe mahnen, damit das Gejohle nicht zum Hotel hinüberscholl.

Seit einigen Jahren schon war Elena diejenige, die die einfachen Zimmer richtete und für Mahlzeiten am langen Tisch der Gesindeunterbringung sorgte. Währenddessen kümmerte sich ihr Vater als Hausmeister um das Hotel, angetrieben vom stets hektischen Direktor, der die ausgefallenen Wünsche seiner Gäste an ihn weitergab.

»Ich bin froh, dass ich die nicht auch noch bedienen muss«, hatte Elenas Vater mal gesagt. Ihm reiche es schon, das Hotel am Laufen zu halten. Unzählige goldglänzende Wasserhähne durften nicht tropfen, Badeöfen mussten gewartet und der Springbrunnen im Patio kontrolliert werden. Dazu kamen noch die Pferdeställe und Kutschenremisen, für die zwar ein Schirrmeister zuständig war, der ihren Vater bei handwerklichen Dingen aber gerne zurate zog. Einige der Gäste reisten mit dem eigenen Automobil an, und deren Fahrer nächtigten nicht nur in der Angestelltenunterkunft, sondern fragten auch nach dem ein oder anderen Werkzeug, manchmal sogar nach Ersatzteilen, die allerdings in Quequen, sechshundert Kilometer von Buenos Aires entfernt, nicht immer leicht zu besorgen waren.

Das Hotel Quequen gehörte zu den ersten Adressen, wenn es um Urlaub am Meer ging. Prachtvoll erstrahlte es unter der argentinischen Sonne. Die Zimmer und Suiten des Hotels reihten sich entlang einer weiß getünchten Klausur um einen Innenhof, in dessen Mitte ein Springbrunnen plätscherte. Ein ausladender Eukalyptusbaum spendete Schatten. Die Gäste verbrachten dort gerne die heißen Stunden des Tages bei Tee, Kaffee und Petits Fours, plauderten angeregt oder lauschten den Pianoklängen, die durch die offenen Fensterflügel des Salons in den Hof drangen. Weiß livrierte Kellner huschten lautlos zwischen Korbsesseln hin und her, räumten ab, schenkten nach und lasen den verwöhnten Augen Wünsche ab.

Das Hotel Quequen war das Zuhause von Elenas Familie. Vater und Mutter hatten sich hier kennengelernt. Er war damals neu eingestellter Hausmeister, sie zu der Zeit noch Zimmermädchen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Kurz darauf meldete sich bereits Elenas Ankunft an. Schnell wurde geheiratet. Als sich die vorherigen Betreiber der kleinen Angestelltenpension zur Ruhe setzen wollten, zögerten die zwei keinen Augenblick, ergriffen die Chance und übernahmen die Pension.

Und so wuchs Elena zwischen Gesindetisch und Hotelwerkstatt auf. Sie half beim Auftragen des Essens, stand an der Spüle und schüttelte die Gästebetten auf. Wenn in der Pension für sie nichts zu tun war – doch diese Momente waren selten –, so lief sie an den Strand. Ihre Liebe galt dem Meer. Die ewigen Wellen, die den Strand streiften, die Möwen, die in der Luft über den Klippen standen, und der ständige Wind, der hier in der Bucht der Winde, der bahia des los vientos, niemals schwieg. Die Bucht trug diesen Namen aufgrund eines bemerkenswerten Wetterphänomens: In den Sommermonaten passierte es, dass der Wind innerhalb weniger Stunden seine Richtung wechselte und sich einmal um sich selbst drehte. Eben noch blies er kalt vom Meer und trieb die Erinnerung des Südpols vor sich her, dann kam er schon heiß und trocken vom Land, wo er zuvor den Arbeitern auf den Feldern der Estancia den Staub auf die Haut geklebt hatte, um am Abend wieder aus der Richtung des ewigen Eises über den Ozean zu wehen.

Bei den Seefahrern war die Bucht der Winde und deren Einfahrt zum Hafen von Quequen ob ihrer schweren Schiffbarkeit berüchtigt. Felsen knapp unter der Wasseroberfläche lauerten darauf, den Männern bei stürmischer See ein kaltes Grab zu bereiten. Es waren nicht wenige Schiffe, die im Laufe der Zeiten hier gekentert waren.

Der Wind brachte aber nicht nur Wellen und Gefahr. Wenn die Strömung günstig stand, so schenkte er Elena das Gold des Meers, vor allem in den Wintermonaten. Sie hatte eine besondere Gabe, Bernstein zu finden. Schon als Kind funkelten ihr die kleinen Steine zwischen dem Sand und Kies entgegen, bevor die Wellen drohten, sie wieder ins Meer zurückzuziehen. Elena kniete sich auf den Strand und legte ihren Kopf so flach auf den Sand wie es nur eben ging, ohne dabei nass zu werden. Im Gegenlicht der Sonne entdeckte sie die winzigen Spitzen, die nur für wenige Augenblicke aufleuchteten. Es war, wie auf die Pirsch zu gehen, der Bernstein war das Wild, Elena die Jägerin.

»Du bist mir ein rechtes Bernsteinmädchen, Helena!«, hatte Mutter ihr einst gesagt. H-elena, mit einem stimmhaften H am Anfang. Niemand sonst sprach ihren Namen so aus. Es erinnere ihre Mutter an Deutschland, das Herkunftsland ihrer Ahnen, hatte sie einst gesagt. Sie hatte immer sehr viel Wert auf ihre Herkunft gelegt. Schließlich hatte sie sich sogar bei der Schreibweise des Namens im Geburtsregister gegen ihren Mann durchgesetzt: Helena – mit einem H am Anfang. Elena lernte Deutsch als zweite Sprache. Sie sprach es perfekt. Deutsch war nicht nur die Sprache ihrer Mutter, es wurde zu einer Art Geheimcode zwischen ihnen beiden. Vater tat verärgert, wenn die zwei auf Deutsch tuschelten, letztlich aber war es ihm nicht wichtig.

Diese schöne Zeit lag aber schon Jahre zurück. Mutters Tod hatte ihrer aller Leben grundlegend verändert. Elena musste viel zu früh erwachsen werden und Vater fand nie wieder zu seiner alten Fröhlichkeit zurück. Wenn es doch wenigstens noch Großeltern oder andere Verwandte gegeben hätte, Geschwister vielleicht, Onkel oder Tanten. Aber Mutter hatte Elena und ihren Vater allein zurückgelassen.

Über vier Jahre war das her. Noch vor ihrem Tod hatte Mutter erzählt, dass ein gewisser Hitler jetzt in Deutschland die Führung übernommen habe. Es wurde darüber nicht allzu viel in Argentinien berichtet, zudem hatten sie alle ohnehin keine Zeit, um über Politik nachzudenken, über Weltpolitik schon gar nicht. Mutter hatte nur gemeint, dass sie hoffe, dass es dem Land ihrer Vorfahren nun besser ergehen würde. Dieser Hitler versprach Besserung, versprach Arbeit, versprach dem Hunger drüben ein Ende zu bereiten.

Kurz darauf hatten sich erste Anzeichen der Krankheit gezeigt. Anfangs war es nur schleppend gewesen: Mutter hatte über Rückenschmerzen geklagt, mal eine Schwäche hier, ein Schwindelgefühl dort. Manchmal war ihr nur leicht übel gewesen, an anderen Tagen bekam sie kaum einen Löffel Suppe herunter. Sie hatten es auf die viele Arbeit geschoben, die Anstrengung sei einfach zu groß. Alle hatten das gesagt und sie drei hatten eifrig genickt. Sie hatten den anderen glauben wollen. Selbst noch zu dem Zeitpunkt, als Mutter immer häufiger das Bett hatte hüten müssen. Es gab Tage, da verließ sie es gar nicht mehr. Und auch die Schmerzen im ganzen Körper nahmen zu. Schließlich wurden die Zeiten, in denen sie auf war, zur Ausnahme. An jenem Tag, den Elena nie vergessen würde, hatte Mutter ihr übers Haar gestrichen und matt gelächelt.

»Meine Kleine. Meine Helena. Es tut mir leid, dass ich euch so im Stich lasse.«

»Mutter, du lässt uns doch nicht im Stich«, hatte Elena erwidert. »Das wird doch bestimmt wieder gut. Schau mal, Mutter, ich nehme dir so viel Arbeit ab, wie es eben nur geht. Dann kannst du dich erholen.«

Ihre Mutter hatte mit aufeinandergepressten Lippen gegen ihre Tränen gekämpft. Dann hatte sie Elena hinausgeschickt. Sie solle an den Strand gehen und ihr einen Bernstein suchen, hatte sie gemeint und sich von ihrer Tochter weggedreht.

»Das mache ich, Mutter!«, war Elena aufgesprungen. »Ich bin gleich zurück. Und du wirst sehen, ich werde den schönsten Bernstein für dich finden, den du je gesehen hast.«

Elena war mit bloßen Füßen zum Meer gelaufen. Es war früher Sommer, hoffentlich würde sie überhaupt einen Bernstein sehen. Zur warmen Jahreszeit stand die Strömung schlecht, da wurden nur selten Steine aus dem Meer angespült.

Sie kniete sich dorthin, wo der Spülsaum sich über den Strand erstreckte. Ihren Kopf senkte sie so weit hinunter, dass ihr Ohr nass wurde. Das Wasser war noch kalt, aber das machte ihr gar nichts. Sie wollte ihr Versprechen halten und für Mutter den schönsten Bernstein finden, den diese je gesehen hatte.

Der nasse Sand schien wie eine Fläche aus unruhigem Silber. Die Sonne ließ ihn glitzern. Elena kniff die Augen zusammen und ihr Blick glitt prüfend über die winzigen Steine, aber kein Bernstein feuerte sie an. Plötzlich ließ sie eine Stimme aufhorchen.

»Helena, Liebes, was machst du denn da?«

»Mutter!« Mit einem Satz war Elena auf den Beinen. »Mutter, du bist auf? Wie herrlich.«

Und tatsächlich kam ihre Mutter den Hang herunter. Sie zog ihre Schuhe aus und winkte Elena damit zu. Wie frisch und jung sie aussah, beinahe jugendlich. Sie strahlte übers ganze Gesicht, als ihre Tochter ihr entgegenlief. Elena umarmte sie fest.

»Meine Kleine, du erdrückst mich ja. Komm, lass uns nach Bernstein suchen.«

»Ich habe schon geschaut, Mutter, aber es ist nicht leicht jetzt im Frühsommer.«

Ihre Mutter ging am Strand entlang, Elena an ihrer Seite. Unvermittelt blieb sie stehen und schaute ein ganzes Stück vor sich. Ihr Finger wies in Richtung des Punktes, den sie im Blick hatte.

»Schau doch mal, Helena. Da hinten, das könnte einer sein, oder?«

In geübter Manier kniff Elena die Augen zusammen.

»Ich lauf gleich hin, Mutter.« Sie eilte dem goldglitzernden Punkt entgegen. Die Füße platschten im Wasser. Wenn das, was sie gerade fixierte, wirklich ein Bernstein war, dann würden sie in der Tat gerade den schönsten Bernstein finden, den sie und ihre Mutter je gesehen hatten.

Sie hatte die Stelle erreicht. Schnaufend bückte sie sich und griff nach dem edlen Fund.

»Mutter, schau nur!« Triumphierend riss Elena ihren Arm empor und drehte sich zu ihrer Mutter um. Aber als sie zurückschaute, war diese nicht mehr da.

»Mutter?«, rief Elena gegen den Wind, doch niemand antwortete. War sie nach Hause zurückgegangen? Elena umfasste den Stein und lief los. Sie wollte ihre Mutter unbedingt einholen, doch obwohl sie so schnell rannte, wie sie konnte, fand sie sie nicht. Schon hatte Elena den Sandstrand verlassen und stob über den vornehmen Rasen des Hotels in Richtung der Angestelltenunterkunft.

»Mutter?«, rief sie laut, als sie den Flur betrat.

»Oh, Elena, mein Kind. Oh Gott, Elena …« Elenas Vater kam ihr entgegen.

»Vater? Was ist denn? Wo ist denn Mutter hin? Ich habe einen Bernstein für sie.«

»Ach, Kind, es tut mir so leid, es tut mir so …« Er konnte nicht weitersprechen, sein Schluchzen schnitt ihm die Worte ab.

Hinter ihm folgten Angestellte des Hotels. Eine von ihnen hatte ein schwarzes Tuch in der Hand und hängte es über den kleinen Spiegel im Flur. Dann wandte sie sich zu Elena: »Elena, Liebes, mein herzliches Beileid.«

Elena verstand nicht, was um sie herum geschah. Was hatte das alles zu bedeuten? Warum war Mutter nicht hier?

»Elena.« Wieder war es die Angestellte, die zu ihr sprach. »Du wirst jetzt sehr tapfer sein müssen und deinem Vater eine Stütze sein. Noch mehr, als du es ohnehin schon warst.«

»Aber, was meint ihr denn alle? Warum weint ihr so? Wo ist Mutter?«

»Elena, deine Mutter ist vor zehn Minuten zu Gott heimgegangen.«

»Nein, das kann doch gar nicht sein. Sie war doch gerade noch unten bei mir am Strand. Schau doch nur, was wir gemeinsam gefunden haben.« Sie öffnete die Hand und zeigte den neuen Schatz darin, aber niemand achtete darauf.

»Elena, Liebes. Es ist leider wahr, Mutter ist tot«, sagte ihr Vater und schloss Elena in seine Arme.

»Nein, nein, nein!«, Elena wehrte sich mit aller Kraft gegen die Umarmung, aber er ließ sie nicht los. Schließlich gab sie auf und sackte heulend an seine Schulter.

»Ist ja gut, mein Kind«, er streichelte ihr über das Haar. »Alles wird gut, alles wird wieder gut.« Aber sein Trost klang hohl.

Elena musste mit diesem Tag erwachsen werden, dabei hatte sie gerade erst ihren dreizehnten Geburtstag gefeiert. Die Tage vergingen, aus Tagen wurden Monate und Monate zu Jahren. In den vier Jahren seitdem hatten Vater und sie nicht mehr über Mutter gesprochen. Nicht mal über ihr Erlebnis am Strand wollte er etwas hören. Wenn sie nur die geringste Andeutung machte, gebot er ihr, zu schweigen.

Doch trotz allen Schmerzes und aller Trauer kehrte der Alltag in ihr Leben zurück: Jedes Jahr nach Weihnachten kamen die Hotelgäste und mit ihnen ihre Angestellten. Das Hotel und die Pension waren dann voll bis zum letzten Bett. Bis zum Ende der Saison, meist nach Ostern, ging das so. Gäste kamen und gingen. Wie das Meer in seiner unermüdlichen Ewigkeit den Strand wusch, so schwappten die Menschen in die Pension hinein und wieder hinaus und hinterließen ihre flüchtigen Spuren. Morgens in aller Frühe stand Elena auf und bereitete das Frühstück. Kaffee war zu kochen, Tee aufzusetzen. Einige Gäste fragten nach Spiegeleiern, andere wollten gebratenen Speck. Der Tag begann, wenn es noch fast dunkel war. Sie alle mussten früh raus, um sich gleich nach dem Aufstehen um ihre Herrschaft kümmern zu können.

Das bedeutete für Elena, dass sie noch zeitiger aufstehen musste. Waren die Pensionsgäste aus dem Haus, ging es an die Zimmer: Betten aufschütteln, Böden wischen, die Badezimmer am Ende des Flurs reinigen. War diese Arbeit getan, hieß es auch schon wieder, sich um das Abendessen zu kümmern. Zum Glück konnten sie ab und zu etwas aus der Küche des Hotels abstauben. Reste des Vortages, die der Koch dort nicht mehr verwerten wollte. Diese Tage gaben Elena wenigstens kurze Verschnaufpausen in dem ewigen Kreislauf unendlicher Arbeit. Sie nutzte diese Augenblicke, um an den Strand zu gehen. Und jedes Mal musste sie an jenen Tag denken – und an ihre Mutter.

In jenem schwarzen Jahr war ein Musiker aus Buenos Aires ihr Gast in der Pension gewesen. Er war als Pianist für den Sommer engagiert, damit er die Gäste mit sanfter Musik verwöhnte. Eduardo wurde zur Stütze für Elena. Er war der Schwarm aller weiblichen Angestellten: dunkle Augen, volles Haar und durch sein Hemd schimmerte ein Körper, der so manchem Athleten Konkurrenz gemacht hätte. Aber Elena war diese Schwärmerei fremd. Nicht nur, weil sie für derartige Dinge noch zu jung gewesen war, zumal ihr Vater ihr gehörig die Leviten gelesen und Eduardo des Hauses verwiesen hätte, sondern vor allem weil ihr der Musiker in ganz anderer Weise etwas bedeutete.

Eduardo hörte ihr zu, er gab ihrer Trauer ein Zuhause. Obwohl sie ihn kaum kannte und er ihre Mutter nur kurz kennengelernt hatte, konnte sie mit ihm über ihren Schmerz sprechen.

Eines Tages, es war unmittelbar nach dem Frühstück gewesen und die anderen Gäste waren bereits aufgebrochen, hatte er noch allein am Tisch gesessen.

»Eduardo, möchten Sie noch etwas?«, hatte Elena gefragt.

»Nein, danke, nur noch meinen Kaffee austrinken.« Er hatte den groben Becher erklärend in die Höhe gehoben. »Und Elena, duze mich ruhig. Ich bin zwar wesentlich älter als du, aber wir Musiker duzen uns schließlich auch alle untereinander, und die Angestellten hier doch auch.«

»Gerne.« Elena hatte ihm zugenickt.

Er beobachtete sie, während sie den Tisch abräumte. Sie spürte seinen Blick im Rücken. Der hatte aber nichts Verwerfliches, nichts, das ihr hätte unangenehm sein müssen, denn genau das Gegenteil war der Fall: Er spendete Trost und Wärme.

»Es tut mir wirklich leid für euch, Elena.«

Elena ließ kurz ihre Hände in das Spülwasser sinken. Statt einer Antwort nickte sie nur. Sie zwang ihre Gedanken auf das schmutzige Geschirr vor sich. Sie wollte nicht weinen. Mit Wucht ließ sie die Spülbürste wieder kreisen. Hinter sich hörte sie ihn über die Bank rutschen, die Küchentür quietschte, er war fort. Überrascht drehte sie sich um, die Küche war leer und auf dem Tisch stand noch die halb gefüllte Kaffeetasse. Kopfschüttelnd griff sie danach und hätte beinahe den Rest schon weggeschüttet, da war Eduardo zurück.

»Halt, ich trinke das noch.«

»Entschuldigung.« Elenas Blick fiel auf das Instrument, dass er mitgebracht hatte.

»Mein Bandoneon«, lächelte er sie an und schon platzierte er sich auf der Ecke der Sitzbank. Seine Hände griffen durch ledernde Halteschlaufen und fanden in oft geübter Manier die elfenbeinfarbenen Knöpfe, die an beiden Seiten des Balges eine Art Tastatur bildeten.

»Bandoneon? Aber Sie sind … Entschuldigung!«, korrigierte sie sich selbst »Aber du bist doch Pianist. So dachte ich zumindest.«

»Das hier«, der Musiker klappte mit der flachen Hand auf das Instrument auf seinem Schoß, »das ist meine wahre Musik. Das ist Leidenschaft, das ist Schmerz, Freude, Gefühl. Klavier ist Schöngeisterei, wohlgeformte Töne in kalkulierter Anordnung. Sauber und adrett, in ewig währender Monotonie, ohne Mut, aus dem vorgegebenen Raster auszubrechen. Aber das Bandoneon, das darf weinen und lachen, darf höflich sein und murren, darf sauber daherkommen wie ein Mädchen zur Kommunion oder angeschmutzt wie eine Straßendirne. Das Bandoneon ist wie das Leben, und der Tango füllt es mit Gefühl. Komm, setz dich zu mir, ich will es dir zeigen.«

Elena tat wie geheißen. Im Wasser wartete Geschirr darauf gereinigt zu werden, den Flur entlang reihten sich Zimmer, die gemacht, und Bäder, die geputzt werden wollten. Das alles war ihr in diesem Augenblick egal. Eduardo und sein Bandoneon zogen sie magisch an.

»Schau mal!« Seine Finger streiften die Knöpfe. »Sie haben keine Logik, keine Reihung, und doch können sie alle gemeinsam ein wunderbares Konzert geben.« Er spielte einige Töne. Um eine Tonleiter zu erzeugen, mussten seine Finger in einem scheinbar unkoordiniertem Zickzack über die Knöpfe jagen. »Jeder Ton für sich hat einen geheimen Bruder, einen dunklen Zwilling, ähnlich und doch anders.«

»Einen Zwilling?« Elena verstand kein Wort.

»Hör selbst!« Eduardo drückte eine Taste und zog den Balg weit auseinander, beinahe bis zum Anschlag. Elena musste sich zur Seite lehnen, damit er überhaupt genug Platz hatte. Eduardo brachte sie zum Lächeln, als er mit zitternden Bewegungen bei weit ausgestreckten Armen den Ton wimmern ließ.

»Und nun pass auf!« Er wechselte die Richtung und drückte den Balg wieder zusammen.

»Ah, ich verstehe«, lächelte Elena erneut. Obwohl es der gleiche Knopf war, den Eduardo gedrückt hielt, änderte sich der Ton. »Der unsichtbare Bruder, der Zwilling. Das gefällt mir.«

»Soll ich dir etwas vorspielen?«

»Oh ja, gerne!« Elenas Augen strahlten. Und Eduardo setzte an.

Sanft, beinahe zärtlich zauberte er die ersten Töne hervor. Sie schwebten auf seidenen Flügeln durch die Luft. Die einfache Küche verwandelte sich in einen Konzertsaal. Die Musik schwoll an, sie war von solch schöner Melancholie, dass es Elena schüttelte. Sie konnte nicht mehr an sich halten. Tränen schossen ihr in die Augen.

Eduardo hörte auf zu spielen und setzte das Bandoneon auf den Boden. Er legte den Arm um sie und Elena ließ sich an seine Schulter sinken. Sie konnte nicht aufhören zu weinen.

»Ist ja gut, ist doch alles gut, Kleine«, versuchte er sie zu trösten. Nach einiger Zeit beruhigte sie sich schließlich und setzte sich wieder auf. Sie zog die Nase hoch und trocknete sich mit dem Handrücken die nassen Augen. Verlegen lächelte sie ihn an: »Entschuldigung!«

»Aber nicht doch. Entschuldige dich doch nicht für deine Trauer. Oder entschuldigst du dich etwa auch, wenn du fröhlich bist?«

Elena schüttelt den Kopf.

»Na, siehst du. Trauer und Fröhlichkeit, die heimlichen Zwillinge und ungleichen Brüder. Sie sind der unterschiedliche Klang des gleichen Gefühls.« Er lächelte sie an und nickte ihr aufmunternd zu.

»Weißt du«, traute sich Elena nun zu sprechen, »ich vermisse Mutter so schrecklich. Es ist nicht wegen der vielen Arbeit, die habe ich zuvor auch schon machen müssen, sie war ja schon einige Zeit sehr krank. Aber sie war in gewisser Hinsicht meine beste Freundin. Zu ihr konnte ich mit allen Problemen kommen. Dann nahm sie mich in den Arm und sagte mir, dass alles wieder gut würde. Gerade so, wie du es jetzt getan hast. Aber im Gegensatz zu allen anderen war bei ihr dann, und das ist seltsam, auch wirklich alles wieder gut.«

»Das ist eine Gabe, die nur Mütter besitzen, Elena, alles gut werden zu lassen. Wer weiß, vielleicht hat ja sogar eben gerade deine Mutter durch mich oder durch das Bandoneon zu dir gesprochen, um dir zu sagen, dass alles wieder gut wird.«

Wieder brach Elena in Tränen aus. Eduardo griff in seine Tasche, zog ein Tuch hervor und reichte es ihr. Sie nahm es dankbar an. Als sie sich wieder beruhigt hatte, streckte sie ihm das Tuch entgegen. Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern.

»Es ist nass.«

Eduardo lachte.

»Das ist gut, dafür ist es ja da.«

Jetzt sammelte Elena all ihren Mut, atmete kurz durch und dann fing sie an zu sprechen. Den Blick richtete sie stur geradeaus, denn eines wusste sie, würde sie ihn ansehen, verließe sie vermutlich der Mut.

»Eduardo. Ich habe eine Frage. Gibt es wirklich Dinge zwischen Himmel und Erde, die, so wie das Sprichwort sagt, nicht zu erklären sind, aber dennoch stattfinden?«

Da Eduardo nicht antwortete, setzte sie nach.

»Ich meine, können Dinge geschehen, die unmöglich geschehen können, die nicht zu erklären sind und dennoch passieren?«

Und da er immer noch nichts sagte, erzählte sie ihm nach kurzem Zögern, was seinerzeit am Strand geschehen war. Als sie endete, schwieg er noch immer. Elena war der Verzweiflung nahe. Hatte sie sich gerade zum Narren gemacht?

»Eduardo, glaube mir, sie war da. Ich habe mit ihr gesprochen, ich habe sie sogar umarmt. Und es ging ihr wunderbar, sie war gesund, frisch und munter, wie in den guten Zeiten. Und doch ist sie genau zur selben Zeit …« Elena wollte diesen Satz nicht beenden. Erst jetzt bemerkte sie, dass der Musiker Tränen in den Augen hatte. Er schluckte schwer und seine Stimme klang rau.

»Oh, Kind, wie wunderbar. Das ist das Schönste, was ich in meinem Leben hören durfte.«

»Wie meinst du das?«

»Aber begreifst du denn nicht? Deine Mutter hat sich von dir verabschiedet.«

»Du meinst …?«

»Aber natürlich. Selbstverständlich hast du das erlebt, selbstverständlich ist das wirklich geschehen und selbstverständlich passieren Dinge auf dieser Welt, die wir nicht erklären können. Bewahre die Erinnerung an diesen wundervollen Augenblick gut auf. Deine Mutter hat dir das größte Geschenk deines Lebens gemacht.«

Elena lächelte befreit. Einem spontanen Gefühl folgend griff sie in die Tasche ihrer Schürze und zog den Bernstein jenes Tages hervor. Eduard betrachtete ihn eine ganze Weile. Dann sagte er leise: »Der ist wunderschön. Woher hast du den?«

So erzählte sie ihm auch den Rest der Geschichte. Als sie geendet hatte, schaute er sie lange an, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich lächelte er.

»Elena, was du da erlebt hast, ist ein Wunder. Es ist wirklich ein echtes Wunder. Dieser Stein wird das Wertvollste sein, das du in deinem Leben je besitzen kannst. Weder Gold noch Silber können das aufwiegen. Weißt du, dass Bernstein auch die Träne des Meeres genannt wird?«

Er beugte sich vor und nahm das Bandoneon wieder auf den Schoß. Wenige Augenblicke später schwebten die ersten Zeilen eines Tangos sanft durch den Raum. ¡Pa’qué lagrimear! – Wozu Tränen vergießen?

Kapitel 3

»Was für ein geiler Tag heute.«

»Wie bitte?«

»Na, das Wetter und so. Perfekt fürs Meer!«

»Ah, ja, in der Tat, wirklich …«, amüsiert hielt Robert kurz inne, »… geil!«

Der Fahrer hatte ihn in der Hotellobby bereits erwartet. Der Wagen sei in der Tiefgarage, er werde ihn gleich vorfahren, sagte der Mann. Und er heiße Rico.

»Das ist nicht nötig, gehen wir einfach zusammen in die Garage.«

Kurze Zeit später nahm Robert im Fond Platz. Während Berlin an seinem Fenster vorbeizog, musste er sich zusammenreißen, nicht einzuschlafen. Der Zeitunterschied machte ihm zu schaffen. Früher hatte er leichter damit umgehen können. Seine Gedanken wanderten wie am Vorabend wieder zu dem Bernstein, der jetzt sicher im Gepäck verstaut im Kofferraum mitreiste. Er würde es tatsächlich tun. Robert war überrascht über sich selbst, er reiste ins Dorf seines Vaters. Verrückt! Absolut verrückt. Irgendwie war es aber auch schön, mal etwas Verrücktes zu tun. Er fühlte sich dadurch jünger. Und das tat ihm gut. Lange hatte er sich auf seine gute Kondition verlassen können. Eine Kondition, die er sich in einer Jugend mit täglichem Überlebenskampf in den Gassen des Hafenviertels antrainiert hatte. Überleben, nicht kleinkriegen lassen, durchhalten. Haken einzustecken gehörte dazu. Dieses Durchhaltevermögen hatte ihn stets begleitet.

In den vergangenen Jahren ging es jedoch bergab. Nach außen war er zwar noch immer fit und gesund, aber so manch ein Zipperlein und Nachts-raus-aus-dem-Bett gehörten schon lange zum täglichen Leben. Kein Wunder mit über siebzig. Älter werden ist, wie auf einen Berg steigen: Je höher man kommt, desto mehr sind die Kräfte verbraucht, aber mit jedem Meter sieht man weiter. Angeblich hatte das Ingmar Bergman einst gesagt. Recht hatte er, dachte Robert. Aber was, wenn es mit der Weitsicht gar nicht mehr weit her wäre, wenn ihm eines Tages sein Geist einen Streich spielen würde? Man konnte seinem Kopf schließlich nicht entkommen. Ich glaube, was ich sehe!, war doch letztlich nur: Ich glaube, was mein Gehirn mir sagt, dass ich es sehe. Und das musste nicht immer richtig sein. Davor hatte er Angst.

»Haben Sie gut geschlafen?«, riss der Mann am Steuer ihn aus den Gedanken.

»Bitte? Ach so, ja, danke, gut.«

»Ich auch.«

»Fein.« Robert betrachtete den jungen Mann im dunklen Anzug. Und die, die noch unten am Berg stehen, haben nichts davon, dass man ihnen von der Aussicht ganz oben berichtet, sie müssen es selbst erleben. Wie alt mochte der Fahrer sein? Gute zwanzig vielleicht. Er konnte sein Alter schlecht schätzen, dafür war der Altersunterschied einfach zu groß. Fünfzehn Jahre plus oder minus könne man einigermaßen genau treffen, alles darüber oder darunter sei dann einfach alt oder jung. Das hatte Robert mal in einer Zeitschrift beim Friseur gelesen. Für ihn war der Fahrer demnach also einfach jung. Und für den Fahrer war Robert dann also … Er führte den Gedanken nicht zu Ende.

»Und Sie sind also beim Hotel angestellt?«, fragte Robert, mehr um höflich zu sein als tatsächlich interessiert.

»Was, ich? Aber nein. Ich geh zur Uni.«

»Ah, interessant. Was studieren Sie denn?«

»Na ja, also derzeit noch nichts so richtig. Ich weiß nicht so recht, was ich machen will.«

»Soso. Nicht einfach, oder?« Eine solche Haltung war Robert in Wirklichkeit aber vollkommen fremd.

»Ich lass mir Zeit.«

»Und Sie haben ansonsten keine Verpflichtungen, können tatsächlich mehrere Tage aus Berlin fort?«

»Klar, hält mich ja nicht viel. Und so ein bisschen Extrageld kann man ja immer gebrauchen.«