Das BGB - Hans-Peter Haferkamp - E-Book

Das BGB E-Book

Hans-Peter Haferkamp

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Beschreibung

Das BGB von 1900 gilt einerseits als Kodifikation mit klarem „liberalem“ bzw. „unsozialem“ Profil. Es galt andererseits im Kaiserreich, in Weimar, während des Nationalsozialismus, in der DDR bis 1976 und gilt bis heute in der Bundesrepublik. Wie kann ein rechtspolitisch so festgelegtes Gesetz so völlig unterschiedlichen Werteordnungen dienen? Wurde das BGB den wandelnden Umständen angepasst? Wer tat dies? Der Gesetzgeber, die Judikatur oder die Rechtswissenschaft? Das vorliegende Studienbuch zeichnet die Entstehung und die Geltungsgeschichte der deutschen Privatrechtskodifikation nach. Ziel ist es, der scheinbar zeitlosen Welt des BGB eine historisch-politische Dimension zurückzugeben. In den Blick geraten dabei die Kodifikationsgeschichte, Dogmengeschichte, Justiz- und Wissenschaftsgeschichte und die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Zielpublikum sind Studierende und Privatrechtwissenschaftler.

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Seitenzahl: 725

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Wege zur Rechtsgeschichte

Ulrike Babusiaux

Hans-Peter Haferkamp

Sibylle Hofer

Peter Oestmann

Johannes Platschek

Tilman Repgen

Adrian Schmidt-Recla

Andreas Thier

Jan Thiessen

Hans-Peter Haferkamp

Das BGB

2., überarbeitete Auflage

BÖHLAU

Hans-Peter Haferkamp hat den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Neuere Privatrechtsgeschichte und Deutsche Rechtsgeschichte an der Universität zu Köln inne.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb.de.

Umschlagabbildung:

2 Per. 26-64, S. 412, urn:nbn:de:bvb:12-bsb11307652-1.

© 2023, 2022 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA;

Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland;

Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink,

Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich

geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen

bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Korrektorat: Anja Borkam, Jena

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: büro mn, BielefeldEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Druck und Bindung: Plump Druck & Medien GmbH, Rheinbreitbach

Printed in the EU

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

UTB-Band-Nr. 5818 | ISBN 978-3-8463-6119-1

Inhaltsverzeichnis

1 Einführung

2 Das BGB als Privatrechtskodifikation

2.1 Privatrecht – Eine kleine Begriffsgeschichte

2.1.1 Rom

2.1.2 Ius publicum und ius privatum im Alten Reich vor 1780

2.1.3 Privatrecht als Ausdruck der Trennung von Staat und Gesellschaft

2.2 Kodifikation

2.2.1 Rechtseinheit

2.2.1.1 Rechtsvereinheitlichung durch Rechtswissenschaft

2.2.1.1.1 Rechtsreform durch Ausbildungsreform: Savignys Reformmodell von 1808

2.2.1.1.2 Wege zum Volksgeist zwischen Rationalität und Intuition

2.2.1.1.3 Exegese

2.2.1.1.4 Vertiefung: D. 12, 1, 18, pr. und 41.1.36 und der dingliche Vertrag in § 929 S. 1 BGB

2.2.1.1.5 Geschichte

2.2.1.1.6 System

2.2.1.1.7 Vertiefung: Puchtas Klassifikation der Servituten

2.2.1.1.8 Die Pandektenvorlesungen als Symbol der nationalen Einheit

2.2.1.1.9 Einfluss der Pandektenvorlesungen auf das BGB

2.2.1.2 Rechtsvereinheitlichung durch Rechtsprechung

2.2.1.3 Rechtsvereinheitlichung durch Gesetzgebung

2.2.1.3.1 Rechtseinheit und Reform

2.2.1.3.2 Rechtsvereinheitlichung in der Kommissionsarbeit

2.2.2 Vollständigkeit

2.2.2.1 Vollständige Regelung des Privatrechts?

2.2.2.2 Lückenlosigkeit?

2.2.2.3 Lückenfüllung durch Prinzipien

2.2.2.4 Vertiefung: Die Materialien zum BGB

2.3 Ergebnis: Das BGB als Kodifikation des Privatrechts

3 Eine Kodifikation in Zeiten des Übergangs (1870 – 1914)

3.1 Politik: Von frei zu sozial

3.1.1 Zwischen zwei Epochen: Gründerjahre und Gründerkrach

3.1.2 Das „unsoziale BGB“?

3.1.3 Kodifikation und Sondergesetze

3.1.4 Vertiefung: „Rechtsmissbrauch“

3.1.5 Die Krise der Form als „Zwillingsschwester der Freiheit“

3.2 Rechtswissenschaft: Von den Pandekten zum Gesetz

3.2.1 Der Sturz vom Thron

3.2.2 Abschied vom Volksgeist

3.2.3 Neue Wege

3.3 Justiz: Richterkönig oder Subsumtionsautomat?

3.3.1 Das BGB als Gefängnis des Richters?

3.3.2 „Richterrecht“

3.3.3 Richterlicher Umgang mit dem BGB vor 1914

3.3.4 Vertiefung: Die „Entdeckung“ der positiven Vertragsverletzung

3.4 Leitperspektiven auf das weitere 20. Jahrhundert

4 Epochen des BGB im 20. Jahrhundert

4.1 Erster Weltkrieg (1914 – 1918)

4.1.1 Krieg als Labor der Intervention

4.1.2 Zweifel am Gesetzgeber

4.1.3 Neue dogmatische Lösungen

4.2 Weimarer Republik (1918 – 1933)

4.2.1 Verfassungsprivatrecht?

4.2.2 Das BGB und der soziale Wandel in Ehe und Familie

4.2.3 „Sozialisierung“

4.2.4 Vertragsfreiheit?

4.2.4.1 Die organisierte Wirtschaft

4.2.4.2 Vertiefung: Abkehr vom Willensbezug in der Dogmatik

4.2.5 Krisendogmatik

4.2.5.1 Weiterdenken der Kriegsprobleme

4.2.5.2 Generalklauseln als dogmatische und rechtspolitische Herausforderung

4.2.5.2.1 Die Aufwertungsfrage

4.2.5.2.2 Die „Flucht in die Generalklauseln“

4.2.6 „Gesetzesdämmerung“?

4.3 Nationalsozialismus (1933 – 1945)

4.3.1 Privatrecht im Nationalsozialismus?

4.3.2 Vertiefung: Folgenreiche Diskussionen um den nationalsozialistischen Vertragsbegriff

4.3.2.1 Vom Anspruch zur Pflicht

4.3.2.2 Von der Willensübereinstimmung zum sozialtypischen Verhalten

4.3.3 Umwertung des BGB

4.3.3.1 Wertungsjurisprudenz I

4.3.3.2 Politisierung der Generalklauseln

4.3.3.3 Richterliche Umwertungen des BGB

4.3.4 Sonderrecht

4.3.4.1 Spezialnormen

4.3.4.2 Ungleichheit als Rechtsprinzip

4.3.4.3 Neue Gesetzestechnik: Generalklauseln, Auslegungsvorschriften und Missbrauchsvorbehalte

4.3.5 Das Projekt eines Volksgesetzbuches

4.3.6 Das BGB im Zweiten Weltkrieg

4.4 DDR (1949 – 1989)

4.4.1 Privatrecht im Sozialismus?

4.4.2 „Restzivilrecht“

4.4.3 Umwertung des BGB

4.4.4 Das ZGB der DDR

4.5 Besatzungszeit und Bundesrepublik Deutschland (1945 – 2002)

4.5.1 Entnazifizierung des Zivilrechts?

4.5.1.1 Judikatur und Oberster Gerichtshof für die Britische Zone

4.5.1.2 Versöhnung mit dem BGB? – Die Privatrechtswissenschaft und das Erbe der NS-Zeit

4.5.1.3 Wertungsjurisprudenz II

4.5.2 Die „Naturrechtsrenaissance“ des Bundesgerichtshofes

4.5.3 Vertiefung: Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht

4.5.4 Verfassungsprivatrecht

4.5.5 Das neue Familienrecht

4.5.6 Herausforderungen durch die Sozialwissenschaften

4.5.7 Verbraucherrecht

4.5.8 Die Schuldrechtsreform 2002

5 100 Jahre Bürgerliches Gesetzbuch

Abkürzungsverzeichnis

Register

Personenregister

Sachregister

Paragraphenregister

1 Einführung

Dieses Lehrbuch beschäftigt sich mit dem Wissen zum BGB, das selten gelehrt wird. In den dogmatischen Vorlesungen fehlen Grundlagenperspektiven nahezu immer. In den historischen Vorlesungen ist das BGB oft nur ein Nebenthema. Rechtstheorie, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie nehmen das BGB in Vorlesungen meist kaum wahr.

Dieses Buch möchte einerseits das Konzept eines Bürgerlichen Gesetzbuches erklären. Warum hat man ein solches Gesetzbuch verfasst? Und wie wollte man es verfassen, welche Sprache, welchen Aufbau, welche Themengebiete wählte man und warum? Andererseits möchte es der BGB-Dogmatik eine historische Dimension zurückgeben. Im Studium des „geltenden“ Rechts wird Privatrecht überwiegend so behandelt, als wäre es sozusagen gestern in einer Sekunde entstanden. In den Fußnoten der Hausarbeiten werden manchmal Urteile zu Ketten verknüpft, die 100 Jahre Rechtsprechungsgeschichte historisch einebnen. Das stabilisiert juristische Konstruktionen, behindert aber ihr Verständnis. Man versteht die strenge Halterhaftung im Straßenverkehrsgesetz (StVG) besser, wenn man sich klarmacht, dass 1909, bei Inkrafttreten dieses Gesetzes, überwiegend Chauffeure am Steuer der Autos saßen.

Bei näherer Betrachtung verkapseln die Rechtsinstitute, dogmatischen Lösungen, richterlichen Leitentscheidungen, die Jurastudierende heute so lernen, als seien sie gestern plötzlich alle gleichzeitig da gewesen, Geschichte. Vieles, was wir heute dem BGB zuschreiben, hatte da nie drinstehen sollen, war nie geplant gewesen. Der Wandel des BGB und seiner Interpretation reagierte meist nicht einfach auf die ewige Welt juristischer Dogmatik, sondern auf einen Wandel des Kontexts: Neue ökonomische, soziale, technische Probleme, neue politische Ziele, wissenschaftstheoretische Neuausrichtungen, aber auch schlicht andere Juristen veränderten das BGB-Recht. Juristische Dogmatik ist in diesem Sinne immer geschichtlich. Und diese Geschichte zu verstehen ist notwendig, wenn wir die Probleme verstehen wollen, die irgendeine juristische Aussage lösen will. Das kann bedeuten, dass wir Dinge mitschleppen, die eigentlich gar kein Problem mehr finden, das sie lösen sollen. Das kann bedeuten, dass juristische Aussagen scheinbar konstant sind, in Wahrheit aber durch den Wandel der Probleme, die sie lösen, auch ihren Inhalt verändert haben. Das Buch lebt also vom Glauben daran, dass man ein besserer Jurist ist, wenn man Gesetze, Dogmatik und richterliche Urteile auch als Ergebnis historischer Situationen versteht.

Für das BGB stellt sich daher hier nicht nur die Frage, was es wollte, sondern auch, was daraus geworden ist. Wer hat das BGB wie und warum verändert? Das BGB galt im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, während des Nationalsozialismus, in der DDR bis 1976, und es gilt bis heute in der Bundesrepublik. Geht man davon aus, dass ein Gesetzbuch eine Gesellschaft steuert: Wie kann man ein solches Phänomen erklären? Das gleiche Gesetz regelt eine Monarchie, zwei Republiken, eine Diktatur „des Proletariats“ und eine Diktatur Adolf Hitlers? Das BGB wurde geändert, es wurde uminterpretiert, es wurde durch Spezialgesetze an den Rand gedrängt. Und doch ist es nie ganz abgeschafft worden. Was blieb von den Konzepten der Verfasser? Was lernen wir über das Verhältnis des Juristen zu seinem Text? Was können Gesetze und was können sie nicht? Der nachfolgende Text stellt also „große“ Fragen, ohne immer den Anspruch zu erheben, auch sichere Antworten zu liefern. Das Nachdenken darüber anregen, will er aber schon.

Die beschränkte Perspektive bitte ich mitzudenken. Das Buch ist, besonders in seinem Abschnitt zum 20. Jahrhundert, keine Privatrechtsgeschichte, sondern nur ein Teilausschnitt, der immer wieder nur danach fragt, welche Rolle das BGB in dieser Geschichte spielte. Neben dieser Leitfrage werden im Kapitel 3 drei präzisierende Perspektiven entwickelt. Es geht um „frei“ und „sozial“, „Wirklichkeit“ und „Wert“, Richterrecht und Gesetzesanwendung und zugleich um die drei hier akzentuierten Akteure: den Gesetzgeber, die Rechtswissenschaft und die Justiz. Das ist der gedankliche Rahmen, der meine Stoffauswahl bestimmt hat.

Das Buch ist für Studierende und Nachwuchsforscher geschrieben und will daran gemessen werden. Das umfasst Zuspitzungen, Verkürzungen und klare Schwerpunktsetzungen. Es ist undenkbar, den gesamten inhaltlichen, dogmatischen und methodischen Wandel, den das BGB erlebt hat, abzubilden. Jedem Spezialisten wird etwas fehlen, viele hätten andere Schwerpunkte gesetzt, einige werden kleine Mängel aus ihren Spezialgebieten aufspießen und sich ärgern, dass sie nicht zitiert werden. Auch eine zu starke Betonung der Entwicklung dogmatischer Einzelfragen hätte die Linienführung zerstört. Meine Schwerpunkte folgen dem, was mich interessiert, was ich für didaktisch wertvoll halte und was ich fachlich beherrsche. Solch ein Buch ist ein persönliches Buch und kann als solches nie den Anspruch haben, allen zu gefallen. Es wurde seit 2003 in Vorlesungen, die ich an der Universität zu Köln halte, vorbereitet: Die Vorlesung „Historische und methodische Grundlagen des BGB“ für das Hauptstudium war der Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Daneben halte ich eine Schwerpunktbereichsvorlesung zur „Privatrechtsgeschichte im 20. Jahrhundert“. Für beide Vorlesungen habe ich nie ein taugliches Lehrbuch gefunden. Daher habe ich dieses geschrieben.

Didaktisch werde ich es folgendermaßen nutzen: Im Buch steht die große Linie, die Vorlesung vertieft, greift heraus, problematisiert. Sie wird daher ein Stück weit von der Stoffvermittlung entlastet und kann das sein, was eine Vorlesung im Idealfall ist: ein Ort zum gemeinsamen Denken und Verstehen. Für die besonders Interessierten kann dieses Buch so auch ein, im juristischen Studium leider sehr seltenes, Tor zur Wissenschaft sein. Literaturangaben laden daher zum Vertiefen ein. Hier wird bewusst kaum Ausbildungsliteratur verwendet, sondern anspruchsvolle Forschungsliteratur. Es soll auch ein Buch sein, das bis zu einer Promotion begleiten kann.

Ein Hinweis zur Literaturverwendung: Lehrbücher können nicht komplett auf eigener Forschung beruhen. Durchweg habe ich mich bemüht, den aktuellen Forschungsstand zu einem Gesamtbild zu verweben. Sehr viele hier vorgestellte Deutungen beruhen daher auf fremden Forschungen. Es entspricht eigentlich wissenschaftlicher Redlichkeit, diese Übernahmen fremder Ergebnisse immer konkret auszuweisen. Dies in einem Lehrbuch zu tun, hätte es mit einem umfangreichen Fußnotenapparat belastet, der die Lesbarkeit für Studierende zu stark beeinträchtigt und das Buch nochmals deutlich dicker gemacht hätte. Ich habe mich daher dazu entschieden, die von mir verwendete Literatur im Anschluss an den Text jeweils en bloc anzuhängen. In Fußnoten nachgewiesen werden nur Zitate oder unverzichtbare Fundstellen. Kein von mir verwendeter Text bleibt jedenfalls unerwähnt.

Literatur zum Einstieg: Wer sich mit der Geschichte des BGB beschäftigen will, sollte mit Überblicksartikeln beginnen. Ich empfehle auch wegen der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung: Werner Schubert, Das Bürgerliche Gesetzbuch von 1896, in: Herbert Hofmeister (Hg.), Kodifikation als Mittel der Politik, Wien u. a. 1986, S. 11 ff.; Tilman Repgen, Art. Bürgerliches Gesetzbuch, in: Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte I, 2. Aufl. Berlin 2008, S. 752 ff.; Hans-Peter Haferkamp, Art. Bürgerliches Gesetzbuch, in: Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts I, Tübingen 2009, S. 229 ff. Für die Geschichte einzelner Paragraphen und dogmatischer Konzepte helfen der Historisch-kritische Kommentar zum BGB (HKK), momentan sechs Bände (AT, SchR-AT, SchR-BT, FamR), Tübingen 2003 – 2019 sowie Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, 2 Bde., München 1985, 1989. Daneben existiert eine Synopse, die es ermöglicht, die Veränderung des Textes des BGB im Untersuchungszeitraum auf einen Blick nachzuvollziehen: Tilman Repgen, Hans Schulte-Nölke u. Hans-Wolfgang Strätz (Hgg.), Staudinger. Kommentar zum BGB, BGB-Synopse 1896 – 2005, Berlin 2006. Eine moderne Privatrechtsgeschichte existiert momentan nicht. Für das Öffentliche Recht gab eine prägnante Zusammenfassung seines vierbändigen Hauptwerkes: Michael Stolleis, Öffentliches Recht in Deutschland. Eine Einführung in seine Geschichte 16. – 21. Jahrhundert, München 2014. Viele Einzelfragen, insbesondere allgemeinhistorischer Art, klären sich über Lexika: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 2. Aufl. momentan 3 Bde., Berlin 2008 ff.; Enzyklopädie der Neuzeit, 16 Bde., Stuttgart 2005 ff. Ein Gebiet, das generell in diesem Buch mitschwingt, ist die juristische Methode. Hierzu empfehle ich als Arbeitsbuch: Joachim Rückert u. Ralf Seinecke, Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, 3. Aufl. Baden-Baden 2017; unverzichtbar daneben Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933), 2 Bde., München 2021; eine gute Darstellung der historischen Perspektive für den heutigen Rechtsanwender gibt Oliver Lepsius, Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, in: Juristenzeitung 2019, S. 793 ff.

Für die zweite Auflage wurde der Text komplett durchgesehen und einige Nachweise in den Fußnoten sowie Literaturangaben ergänzt. Neugefasst wurden die letzten Absätze von Kap. 2.1.3.

2 Das BGB als Privatrechtskodifikation

Das BGB ist eine Privatrechtskodifikation. Was heißt das? Zwei Fragen schließen sich an: Was ist eine Kodifikation? Was ist Privatrecht? Beginnen wir mit der zweiten Frage:

2.1 Privatrecht – Eine kleine Begriffsgeschichte

Im Studium lernt man die Dichotomie zwischen Privatrecht und Öffentlichem Recht als logische Abgrenzungsfrage kennen. Der gesamte Rechtsvorrat ist danach aufgeteilt, jede Norm ist grundsätzlich entweder dem Privatrecht oder dem Öffentlichen Recht zuzuordnen. Nach verschiedenen Theorien (Interessentheorie, Subordinationstheorie, strenge oder modifizierte Subjektstheorie, Subjektionstheorie etc.) werden die beiden Bereiche voneinander abgegrenzt. Die Abgrenzung hat u. a. praktische Relevanz in der Rechtswegzuweisung zu den ordentlichen Gerichten oder zum Verwaltungsgericht. Hinter dieser technischen Frage verbergen sich jedoch viel tiefergehende, rechtspolitische Fragen. Im Begriff des Privatrechts transportiert die Rechtssprache grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit, also zur Gesamtgesellschaft, zur Obrigkeit oder neuzeitlich zum Staat. Der schon sehr alte Begriff umfasste von Anfang an Kontexte, seine Definition und sein Verständnis waren von einem beständigen Wandel bestimmt, der bis heute anhält. Ein Blick in die verschlungene Begriffsgeschichte von „Privatrecht“ ist daher besonders gut geeignet, um die Welt des BGB kennenzulernen. Warum grenzte man diesen Rechtsbereich im Jahr 1896, als man das BGB im Reichstag beschloss, so explizit vom sonstigen Recht ab? Und schließlich: Wie denken wir heute darüber? Teilen wir noch den gleichen Privatrechtsbegriff mit den Verfassern des BGB oder zeigt schon ein Blick in die Gegenwart des Begriffs viel über die Geschichte des BGB im 20. Jahrhundert, die in diesem Lehrbuch erzählt werden soll?

2.1.1 Rom

Klingt das für uns ganz vertraut, so zeigt ein genauerer Blick, dass die römische Rechtswelt sich einschneidend von dem unterschied, was wir heute als Privatrecht verstehen. Die römische Welt war von Ungleichheit geprägt. Die mit dem Privatrecht angesprochenen „Privatmänner“ waren im Kern der jeweils älteste Mann der Familie, der als pater familias einzig die volle Rechtsfähigkeit besaß, während regelmäßig seine Ehefrau und auch die volljährigen Kinder seiner Hausgewalt (patria potestas) unterstanden. Nicht nur die vielen Unfreien in Rom, die Sklaven, waren also ausgeschlossen, sondern auch weite Teile der frei geborenen Bewohner Roms. § 1 BGB, der alle Menschen für rechtsfähig erklärt, macht bereits deutlich, wie fundamental unser heutiges freiheits- und gleichheitsbasiertes Privatrecht sich von dem unterscheidet, was die Römer damit verbanden. Und das sollte sich auch sehr lange nicht ändern.

Literatur: Max Kaser, Ius publicum und ius privatum, in: ZRG RA 103, 1986, S. 1 ff.; Nils Jansen, Staatliche Gesellschaftspolitik und juristische Argumentation im römischen Privatrecht, in: Holger Altmeppen u. a. (Hgg.), Festschrift für Rolf Knütel zum 70. Geburtstag, Tübingen 2009, S. 493 ff.; Tilman Repgen, Art. Privatrecht, in: Staatslexikon, Bd. 4, 8. Aufl. Freiburg 2020, Sp. 1028 ff.

2.1.2 Ius publicum und ius privatum im Alten Reich vor 1780

1756 definierte die Bayerische Zivilrechtskodifikation (Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis):

Gesetze, welche nicht so viel den Staat selbst und den Nexum Reipublicae als die Privathandlungen und die Gerechtsamen betreffen, machen das Bürgerliche Recht (Ius Privatum) eigentlich aus.3

Der Verfasser des Gesetzes, Wiguläus Xaver Aloys Freiherr von Kreittmayr, verstand Ulpians eben gezeigte Unterscheidung zwischen ius publicum und ius privatum für uns heute eigenartig. Alles, was nicht den Staatsaufbau im engeren Sinne betraf, sei Privatrecht. Vieles, was wir heute im Öffentlichen Recht verorten, unterfiel damit dem Privatrecht: Gebiete wie das Verwaltungsrecht, das Strafrecht, das Prozessrecht und das Zwangsvollstreckungsrecht waren Privatrecht. Dies hing zusammen mit den Lehren vom Gesellschaftsvertrag, die das Staatsdenken seit dem 17. Jahrhundert dominierten. Das ältere Vernunftrecht (z. B. Thomas Hobbes, Hugo Grotius, John Locke, Samuel Pufendorf) hatte den Staat stets als Folge eines Gesellschaftsvertrages gedacht. Dieser Vertrag machte aus dem Naturzustand die bürgerliche Gesellschaft. Bis etwa 1780 wurden daher die Begriffe „bürgerliche Gesellschaft“ (societas civilis) und „Staat“ (civitas, res publica) synonym verwendet. Da man nun aber den Gesellschaftsvertrag eng als Staatsgründungsvertrag verstand, der nur den Staatsaufbau und das Handeln des Staates gegenüber anderen Staaten umfasste, blieb der Mensch in vielen Bereichen weiterhin im Naturzustand. Dieser Bereich außerhalb des – wie wir heute sagen würden – Staatsorganisations- und Völkerrechts war so viel größer als der Bereich des ius publicum, dass sich eine Trennung des Rechts in zwei Teile vor 1780 gar nicht durchsetzte. Beide Teile waren viel zu unterschiedlich groß, als dass eine solche Unterscheidung eine hinreichende Ordnungsfunktion für das Verständnis des Rechts entwickelt hätte.

Kann man daher auch begrifflich für die Zeit vor 1780 von einer Dominanz des Privatrechts sprechen, so war die Rechtswirklichkeit ganz gegenteilig von dem dominiert, was wir heute als Öffentliches Recht verstehen.

Was, wie ja auch in Rom, bereits fehlte, war die heute in § 1 BGB als Ausgangspunkt des Privatrechts statuierte allgemeine Rechtsfähigkeit. Bis weit in das 18. Jahrhundert bestimmte Ungleichheit den Aufbau der Gesellschaft. Rechtsfähigkeit richtete sich nach Geburt (frei, unfrei), Stand (Adel, Bauern und Bürger) und Familie (Frauen, Minderjährige, aber auch Alte waren rechtlich eingeschränkt). Bisweilen hing der Grad der rechtlichen Freiheit von einer Verleihung bestimmter Rechte (Privilegien) ab, etwa bei Juden. Am ehesten fand man das Konzept der allgemeinen Rechtsfähigkeit noch bei städtischen Bürgern mit Bürgerrecht. Auch diese konnten die Rechtsfähigkeit aber wieder verlieren, etwa durch ansteckende Krankheiten (z. B. Lepra), durch gerichtliche Rechtlosstellung (Acht) oder durch Ehrverlust (Infamie).

In Bereichen, in denen die Handelnden gleich rechtsfähig waren, insbesondere unter in ihrem Rechtsstatus nicht eingeschränkten Männern, war Vertragsfreiheit bereits im Mittelalter durchaus anerkannt. Auch wenn der Satz „pacta sunt servanda“ als Prinzip der Klagbarkeit aller Verträge erst im 13. Jahrhundert durch das Kirchenrecht formuliert wurde, herrschte Einigkeit, dass insbesondere im Kauf-, Miet- und Dienstleistungsrecht Abschlussfreiheit und die Pflicht zum Worthalten bestanden. Lediglich die sittlichen Grenzen wurden im Vergleich zu heute enger gezogen. Auch das passt aber am besten für Städte. Auf dem Lande war vieles anders, schon weil die Ökonomie weitgehend über Grundherrschaft, also Unfreiheit, organisiert war. Auch die Besitzverhältnisse auf dem Land waren nicht privatautonom gedacht. Seit dem Mittelalter gaben Grundstücke primär Nutzungsbefugnisse, nicht Verfügungsrechte. Im Lehensrecht bekam der Vasall Land gegen Abgaben und das Versprechen der Unterstützung und Treue in Krisenzeiten. Sein Lehensherr wiederum konnte das Lehen nicht frei entziehen und bekam es oft nicht einmal im Fall des Todes des Vasallen zurück (sog. Heimfall), war also ebenfalls nicht frei in seiner Verfügungsmacht. In der Grundherrschaft erhielt der Hörige in manchen Regionen ein kleines Landstück zur Eigennutzung gegen dingliche oder persönliche Abgaben (Dienste). Auf dem Land waren die Grundbesitzverhältnisse daher oft statisch.

In der Neuzeit nahmen die rechtlichen Eingriffe in die freie Selbstorganisation der Individuen nochmals massiv zu. Hintergrund war eine Rationalisierung der Herrschaft in den Städten und in Territorien, die wie Preußen nach französischem Vorbild einen modernen Staat errichten wollten, in dem der Herrscher als Souverän seine Herrschaft organisierte. Der Aufbau einer modernen Verwaltung bot den Rahmen für die Vorstellung, man könne eine Stadt oder einen Staat wie eine Maschine steuern. Steuerungsmittel war das Recht, das nun in tausenden „Policeyordnungen“ das Zusammenleben in der frühneuzeitlichen Gesellschaft regelte. Hierzu griffen die Herrscher in das private Leben der Rechtsunterworfenen ein, wann immer dies ihrer Vorstellung des Gemeinwohls entsprach. Man sprach von der „guten Policey“. Deren Regelungsfeld war denkbar breit:

Gotteslästerung, Sonntagsheiligung, Aufwand und Luxus, gesellschaftliche Randgruppen und Unterschichten, Sexualität, Ehe und Familie, Vormundschafts- und Erbschaftswesen, Glücksspiel, Tanzen und Festkultur, öffentliche Sicherheit, Zensur, Gesundheits- und Erziehungswesen, Schule und Ausbildung, Armenwesen und Bettel, Landwirtschafts-, Forst- und Bodennutzung, Produktion und Arbeitsordnung, Handwerk und Gewerbe, Handel und Dienstleistungen, Geld- und Kreditwesen, öffentliche Einrichtungen und Bauwesen.4

Man hat das lange nur als „Sozialdisziplinierung“ gedeutet, also als Herrschaftssicherung im Sinne des „Absolutismus“. Heute weiß man, dass diese Fülle der Policeyordnungen auch dazu dienten, tradierte Formen des Zusammenlebens zu schützen. Untertanen waren daher bisweilen an der Entstehung dieser Normen beteiligt. Refugien individueller Privatheit konnte man gegenüber dem Steuerungsanspruch der „guten Policey“ gleichwohl nicht beanspruchen. Die Religionspolicey verfolgte Gotteslästerung und Fluchen und wachte über regelmäßigen Kirchgang und die Sonntagsruhe. In den Wirtshäusern wurde Zuprosten verboten, um den Alkoholkonsum zu senken. Bei privaten Festen, etwa Hochzeiten, wurde vorgeschrieben, wie viele Gäste geladen und wie lange gefeiert werden durfte. Die auszuschenkende Biermenge wurde ebenso festgelegt wie die Zahl der Spielleute und der Preis der erlaubten Geschenke, um übermäßigem Luxus entgegenzuwirken. Zahlreiche Kleiderordnungen legten die standesgemäße Tracht fest. Noch 1794 schrieb das Preußische Allgemeine Landrecht der Mutter vor, wie lange sie ihr Kind zu stillen habe (ALR II 2 §§ 67 – 69).

Die Kernbereiche des heutigen Privatrechts wurden tief von diesen administrativen Eingriffen geprägt. Im Vertragsrecht wurde der Verkauf von Gütern durch Abschlusspflichten und -verbote sowie Preisfestlegungen reguliert. Darlehensverträge waren für bestimmte Personengruppen (Soldaten, Studenten) untersagt, der Kauf von Luxusgütern eingeschränkt. Der Grundstückshandel wurde ökonomischen Gesamtnutzenerwägungen unterworfen, etwa indem der Verkauf an ungeeignete Landwirte verboten wurde. Die Familie wurde gegen Verfügungen über ihr Grundstück durch Vorkaufsrechte abgesichert, die Verfügung von Todes wegen entsprechend eingeschränkt. Im Eherecht wurden Heiratsverbote aufgestellt, wenn negative Folgen für die Allgemeinheit befürchtet wurden, etwa bei nicht hinreichender Berufsausbildung des Mannes. In der Rechtswirklichkeit des 18. Jahrhunderts fehlte es daher in weiten Bereichen an den privatautonomen Grundlagen, die wir heute dem Bürgerlichen Recht zuschreiben.

Während die Theorie vor 1780 die meisten Rechtsbereiche, wie gezeigt, als Privatrecht klassifizierte, könnte man mit Blick auf die Rechtspraxis und mit einem modernen Privatrechtsbegriff also eher von einer Herrschaft des Öffentlichen Rechts sprechen. Privatrecht wurde jedenfalls nicht als Freiheitsraum des Individuums auch gegen den Staat gedeutet. Die „individuelle Glückseligkeit“ blieb in nichtabsolutistischen Staatszwecklehren Ziel des Herrschers, aber nicht ein Recht der Untertanen. Wenn dennoch die Theorie nicht von einer Herrschaft des Öffentlichen Rechts sprach, lag dies daran, dass der Begriff, wie gezeigt, auf den Staat, nicht auf sonstige Obrigkeiten bezogen war. Und der moderne Staat übernahm erst sehr langsam die Steuerungshoheit über die Gesellschaft. Die meisten Eingriffe in das, was wir heute Privatrecht nennen, gingen bis in das 18. Jahrhundert nicht von einem „Staat“ mit Gewaltmonopol aus, sondern von sog. intermediärenGewalten, die neben dem Staat Recht setzten. Weder dem politisch schwachen Reich noch den politisch viel stärkeren Territorien (Preußen, Österreich, Bayern etc.) war es gelungen, die vielen rechtlichen Freiheiten ganz zu beseitigen, die seit dem Mittelalter das rechtliche Leben der Menschen prägten. Überall gab es lang gewachsene rechtliche Autonomie. Städte, Dörfer, kirchliche Gemeinden, Universitäten, Kaufmannsgilden, Zünfte der Handwerker gaben sich eigenes Recht. Das Gesinde gehörte zum Herrschaftsverband des Gutsbesitzers. Noch immer existierte vereinzelt die Privatvollstreckung durch Gewalt (Fehde). In Wirklichkeit waren bis in das 18. Jahrhundert weder der Kaiser noch die Herrscher in den Territorien Eigentümer ihres Landes, wie es das Märchenbild vom König, der die Hälfte seines Reiches an den Drachentöter schenkt, so gerne erzählt.

Literatur: Tilman Repgen, Die Sicherung der Mietzinsforderung des Wohnungsvermieters im mittelalterlichen Hamburgischen Stadtrecht, in: Pio Caroni, „Privatrecht“: Eine sozialhistorische Einführung, Basel 1999, S. 101 ff.; Albrecht Cordes (Hg.), Hansisches und hansestädtisches Recht (Hansische Studien XVII), Trier 2008, S. 141 ff.; Jan Schröder, Privatrecht und öffentliches Recht. Zur Entwicklung der modernen Rechtssystematik in der Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts, in: ders. (Hg.), Rechtswissenschaft in der Neuzeit: Geschichte, Theorie, Methode; ausgewählte Aufsätze 1976 – 2009, Tübingen 2010, S. 313 ff.; Andrea Iseli, Gute Policey. Öffentliche Ordnung in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2009; Hans-Peter Haferkamp, Art. Heiliges Römisches Reich, in: Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Bd. 1, Tübingen 2009, S. 822 ff.; Arndt Kiehnle, Art. Privatautonomie, in: HRG, 2. Aufl. 28. Lieferung, Berlin 2021, Sp. 789 f.

2.1.3 Privatrecht als Ausdruck der Trennung von Staat und Gesellschaft

Die Trennung des Rechts in Privatrecht und Öffentliches Recht war ein Thema des beginnenden 19. Jahrhunderts. Die Jahre zwischen 1780 und 1810 waren die Aufbruchszeit in die uns heute vertraute Welt. Man spricht von der Sattelzeit (Reinhart Koselleck). Das philosophische und politische Denken und damit auch viele Begriffe änderten sich schnell, und das galt auch für die Begriffe des Privatrechts und des Öffentlichen Rechts. Die alten, vom Staat unabhängigen Rechtswelten verschwanden. Seit 1781 wurde im deutschen Sprachraum schrittweise die Leibeigenschaft abgeschafft und durch die Bauernbefreiungen seit 1789 brach die Grundherrschaft zusammen. Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation im Jahr 1806 begann das langsame Absterben des Lehenswesens. Die sog. intermediären Gewalten wie Gilden, Zünfte, Universitäten, zuletzt auch freie Reichsstädte verloren im Verlauf des 19. Jahrhunderts weite Teile ihrer rechtlichen Autonomie. An ihre Stelle trat, in einem regional sehr unterschiedlichen Entwicklungsprozess, der Staat. Kant sprach 1797 als einer der Ersten dem Staat ein Gewaltmonopol zu.5 Er definierte das Recht bekanntlich als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit vereinigt werden kann“.6 Da ohne ein solches „allgemeines Gesetz der Freiheit“ kein Schutz vor Gewalt bestand, rutschten alle staatlichen Zwangsrechte, also Strafrecht, Prozessrecht und Vollstreckungsrecht, vom Naturzustand (= Privatrecht) in den gesellschaftsvertraglich-rechtlichen Zustand, mithin ins staatliche Öffentliche Recht. Damit war der Bestand des Öffentlichen Rechts in wenigen Jahren gewaltig gewachsen und nun erst bürgerte es sich ein, die Rechtsordnung in zwei Massen zu zerteilen: Öffentliches Recht als Staatsrecht, staatliche Zwangsrechte und den gesamten Rechtsschutz, und Privatrecht als die verbleibenden Rechte der Individuen unter sich. Da nun auch der gesamte Bereich der „guten Policey“ dem Öffentlichen Recht unterfiel, war Privatrecht sozusagen nur der kümmerliche Rest, den der Staat den Individuen zur Selbstverwaltung zuwies. Der Philosoph Gottlieb Fichte resümierte 1812: „Außer dem Staate ist kein Recht“.7

Man muss diese Vorbedingung kennen, um zu verstehen, worum noch die Verfasser des BGB kämpften: Einen bürgerlichen Freiheitsraum „ohne Staat“. Ausgangspunkt war der Aufstieg des Bürgertums. Die Zentralisierung der rechtlichen Macht in den Händen des Herrschers schuf den „Bürger“ als Bezeichnung für die Einwohner des Landes. „Bürger“ war zunächst der Bewohner der Burg gewesen, dann der mittelalterlichen Stadt. Er wurde vom Stand der Bauern und des Adels abgegrenzt. Nun wurde aus dem Untertanen unter verschiedenen Obrigkeiten der Staatsbürger. Herrscher und Bürger bildeten das personale Gerüst des Staates. Es war eine Kernforderung der europäischen Aufklärung, dass der Bürger die „unveräußerlichen“ Freiheitsrechte der Bürger vom Staat anerkannt werden müssten. Jean-Jacques Rousseau hatte dem Bürger eine doppelte Rolle zugesprochen: Er war Staatsbürger (Citoyen) und als solcher dem Staat unterworfen. Er war aber auch ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft (Bourgeois) und als solcher zu gesellschaftlicher Selbstorganisation berufen. Diese Trennung zwischen Staat und Gesellschaft tauchte um etwa 1780 überall auch im deutschen Naturrechtsdiskurs auf. Einflussreich war hier erneut Immanuel Kant, indem er den Gesellschaftsvertrag nicht als Unterwerfungsvertrag unter den Herrscher deutete, sondern als Instrument für den Schutz der Freiheitsrechte der Bürger. Der Staat hatte damit die Aufgabe, die Freiheit seiner Bürger zu schützen und zu gewährleisten. Mit der Trennung zwischen Staat und Gesellschaft entstand um 1800 die heutige Terminologie: Öffentliches Recht als Verhältnis des Bürgers als Citoyen zum Staat, Privatrecht als Verhältnis des Bürgers als Bourgeois zum Bürger. Erstmals war damit die Idee präsent, dass es Bereiche für eine Selbstorganisation der Gesellschaft geben müsse. 1862 beschrieb Ferdinand Lassalle, ein sehr bürgerlich lebender Sozialist, dieses Konzept polemisch als „Nachtwächterstaat“. Der Nachtwächter der frühneuzeitlichen Stadt hatte die Aufgabe, die Bürger vor Gefahr zu schützen, vor Kriminalität, Angriffen auf die Stadt oder vor, in den oft aus Holz gebauten Städten, besonders gefährlichem Feuer. Nach Lassalle beschränkte sich die Aufgabe des Staates in dieser von ihm kritisierten liberalen Perspektive solchermaßen darauf, die persönliche Freiheit des Einzelnen und dessen Eigentum zu schützen. Das Bild ist überspitzt. Der Staat hat im liberalen Modell nicht nur die Aufgabe, Freiheit freizusetzen, sondern auch, sie zu organisieren. Es geht um die Abgrenzung von Freiheitssphären, und das bedeutet, dass die Freiheit des einen in der Freiheit des anderen seine Grenze findet. Freiheit war also nie „individualistisch“, also schrankenlos gedacht, sondern diente als Mittel zur effizienten und gerechten Selbstorganisation einer Gesellschaft in bestimmten, staatlich definierten Bereichen. Schutzziel war die möglichst weitgehende Freiheit aller, nicht einfach die Freiheit des Einzelnen.

Die Trennung der Sichtachsen in Öffentliches Recht und Privatrecht stand zugleich für einen Kompromiss, der Deutschland von anderen Nationen unterschied: Der Versuch, über Verfassungen mit Grundrechten auch politische Teilhabe zu erreichen, stockte. Auch wenn es langsam zu einem Prozess der Konstitutionalisierung kam und das Volk nach und nach Teilhaberechte und Parlamente bekam, setzten sich auch im Deutschen Reich nach 1871 die alten Herrschaftsstrukturen weiter fort. Bis 1918 wurden die wichtigsten Regierungsämter vom Militär und vom Adel besetzt. Der Kaiser und sein Reichskanzler behielten, trotz der Entscheidungsrechte des Reichstags, eine politische Schlüsselposition. Eine Verfassung mit Grundrechten kam nach dem Scheitern der Revolution 1849 im Deutschen Reich (anders als zuvor in einigen Territorien) nicht zustande. Als Citoyen blieb der Bürger bis zum Ende des Ersten Weltkrieges weitgehend Untertan.

Privatrecht war daher primär persönlicher und ökonomischer, nicht politischer Freiheitsraum. Hier herrschte das Individuum als Person und wirkte mit an der Gesellschaft der frei-gleichen Rechtssubjekte. Das war staatlich gewünscht, weil die Freisetzung der gesellschaftlichen Selbstorganisation als wirtschaftlich leistungsfähiger eingestuft wurde als eine Staatswirtschaft. Im Zentrum des Privatrechtsgedankens standen also das Schuld- und Sachenrecht, mithin der Markt. Privatrecht gerierte sich im jungen Kaiserreich konsequent als weitgehend unpolitische, innergesellschaftlich-ökonomische Sphäre. Offensichtlich politische Bereiche wie das Familienrecht waren schon im 19. Jahrhundert Randgebiete des Privatrechts. Die Politik mit ihren Eingriffs- und Verteilungsfragen wurde dem Öffentlichen Recht zugewiesen. Das BGB war tief von diesem Trennungsdenken geprägt, wie noch genauer zu zeigen sein wird.

1871 verschob sich die Perspektive dabei ganz entscheidend. Mit dem Nationalstaat trat erstmals ein echter Herrscher über das Recht auf den Plan. Im Deutschen Bund hatten nur wenige Territorien das Privatrecht wirklich durchgreifender Steuerung unterwerfen können. Die oft überterritoriale Vertragspraxis hatte gleichermaßen viel „privates Recht“ verschafft, wie die Justiz, die seit der Jahrhundertmitte versuchte, ein eigenes nationales Privatrecht auf der Grundlage des „heutigen römischen Rechts“ in die territorialen Rechte hineinzuinterpretieren.8 Mit dem Nationalstaat war es nun erstmals denkbar, das Privatrecht staatlich hinwegzuregulieren. Dies erklärt, warum die Gesetzesverfasser des BGB im folgenden so dezidiert für einen privatrechtlichen Freiheitsraum plädierten.

Wie scharf die Grenzen gezogen wurden, signalisierten 1896 Reichstagsdebatten um die Frage, ob – wie es gemeinrechtlicher und französischer Tradition entsprach – der spätere § 138 Abs. 1 BGB neben den guten Sitten auch die „öffentliche Ordnung“, den ordre public interne, als Schranke der Vertragsfreiheit enthalten solle. Dies wurde abgelehnt, weil nur so „die Möglichkeit eines Hereinziehens politischer und polizeilicher Erwägungen in privatrechtliche Entscheidungen vermieden“ 9 werde. Eingriffe in das Privatrecht sollten nur auf dem vorhersehbar gesetzlichen Wege, also über Verbotsgesetze des § 134 BGB, erfolgen, aber nicht über unbestimmte Rechtsbegriffe und richterliche Interpretation. Stattdessen waren die „guten Sitten“ eine klassische innergesellschaftlich definierte Grenze der Handlungsmacht: Verhaltensstandards, die durch Übung und allgemeine Akzeptanz entstanden, nicht durch staatliche Festsetzung.

Entscheidende Hebel des Privatrechts waren der Vertrag und das Eigentum. Zu beiden legten die BGB-Verfasser und auch das spätere Gesetz Bekenntnisse ab. Franz von Kübel, Redaktor des Vorentwurfs zum Schuldrecht, formulierte 1882:10

„Der die Rechtsordnung zur Anerkennung der rechtsgestaltenden Kraft der Willenserklärung bestimmende Grund beruht in der Erkenntnis der Notwendigkeit der Autonomie der Person im Privatrecht und der Vertragsfreiheit insbesondere im Verkehrsrecht und hat demgemäß die juristische Willenserklärung zu ihrem praktischen Zwecke, der Person die Möglichkeit zu gewähren, innerhalb gewisser Grenzen die von ihr gewollten Rechtsfolgen durch die Erklärung des Willens herbeizuführen, insbesondere also auch durch Vertrag sich beliebig zu verpflichten.“

In den „Motiven“ der Ersten Kommission für das BGB hieß es dann 1888:

„Vermöge des Prinzipes der Vertragsfreiheit, von welchem das Recht der Schuldverhältnisse beherrscht wird, können die Parteien ihre Rechts- und Verkehrsbeziehungen nach ihrem Ermessen mit obligatorischer Wirkung unter sich bestimmen, soweit nicht allgemeine oder bestimmte einzelne absolute Gesetzesvorschriften entgegenstehen, […]“ 11

In den Grenzen des zwingenden Rechts waren Verträge frei. Ganz ähnlich formuliert § 903 BGB 1900 für das Eigentum:

Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen.

Das Recht des Eigentümers, mit der Sache „nach Belieben“ zu verfahren, findet hier eine doppelte Grenze: Die „Rechte Dritter“ benennen die Selbstverständlichkeit, dass Freiheiten immer mit den Freiheiten anderer koordiniert werden müssen; ein typisches Modell der gesellschaftlichen Selbstorganisation. Das „Gesetz“ als Grenze belässt dem Staat die Regelungshoheit, verlangt freilich, dass Eingriffe in die bürgerliche Freiheit nicht willkürlich durch die Exekutive oder Judikative erfolgen dürfen, sondern die Hürde eines formellen Gesetzes nehmen müssen, was dem Bürger Rechtssicherheit bieten soll. Privatrecht ist insofern ökonomisches Prinzip, es konstituiert einen Markt, an dem alle teilnehmen dürfen. Öffentliches Recht ist als Eingriffsrecht an die Hürde des ex ante geschaffenen, mithin vorhersehbaren Gesetzes gebunden. Der damit konstituierte Freiheitsraum war dem Individuum zur freien Verfügung überwiesen.

Auch dies darf nicht überspitzt verstanden werden, wie es das heutige Bild des „Neoliberalismus“ gerne tut. Freiheit war im 19. Jahrhundert als Freiraum gegenüber dem Staat, nicht als schrankenloser Egoismus gegenüber dem Mitmenschen gedacht (v. Kübel: „innerhalb gewisser Grenzen“). Rücksichtnahmepflichten waren damit, je nach Freiheitsmodell mehr oder weniger weitreichend, fast durchweg verbunden.

Im Zentrum stand vielmehr die Idee eines gesellschaftlichen Freiheitsraumes ohne Staat. Ausgangspunkt war, dass alle an diesem Projekt teilnehmen durften, es ging um gleiche Freiheit der Person. Die Kodifikatoren fanden diese Entscheidung so selbstverständlich, dass sie in § 1 BGB nur das Spezialproblem des Beginns der Rechtsfähigkeit regelten, ohne ausdrücklich anzuordnen, dass jeder Mensch rechtsfähig und damit berechtigt ist, am Privatrechtsverkehr teilzunehmen. Zentrale Hebel, um die das BGB von 1900 dann kreiste, waren die hieran anknüpfenden Kernelemente der Privatautonomie: Eigentumsfreiheit, Vertragsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Freiheit der Eheschließung und Testierfreiheit.

Wie voraussetzungsreich dieses Konzept war, zeigt zunächst ein Blick in die Gesellschaft des Kaiserreiches, für die das BGB gelten sollte. Die für alle geltende Privatautonomie traf auf sehr unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen. Für den Adel war die Gewährung eines freien und gleichen Privatrechts mit dem Verlust von Privilegien verbunden. Mit der Gewerbefreiheit verlor das Handwerk das Recht, seine Märkte abzuschotten. Gleiche Freiheit produzierte also Verlierer bei all denen, die durch Sonderrechte privilegiert gewesen waren. Die in sozial prekären Verhältnissen lebende Arbeiterschaft zählte ebenfalls zu den Verlierern dieses Privatrechts. Mit der Vertragsfreiheit fielen staatliche Schutzvorschriften weg, und die überlegene Marktmacht der Arbeitgeber führte zu diktierten Arbeitsbedingungen und Ausbeutung. Wenn Kritiker später daher den Kodifikatoren vorwarfen, bewusst ein Gesetzbuch zugunsten des „Besitzbürgers“ geschaffen zu haben, also der Personen, die nach Bildung und Wohlstand besonders von gleicher Freiheit profitierten, dann war das gleichwohl unrichtig. Ein Eintreten für eine Bevölkerungsgruppe war den BGB-Verfassern völlig fremd, was sich dann auswirken sollte, wenn man von ihnen verlangte, bestimmte Gruppen als Marktteilnehmer innerhalb des BGB zu schützen 12. Die Probleme lagen eher darin begründet, dass die Gesellschaft, für die das Privatrecht kodifiziert wurde, um 1900 noch nicht existierte. Dies betraf zunächst die noch lange fortbestehende rechtliche Ungleichheit. Der Abbau ständischer Vorrechte, die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau, von ehelichem und unehelichem Kind, all dies beschäftigte das 20. Jahrhundert noch lange. Hinzu kam massive faktische Ungleichheit, die nur wenigen die Ausgangsbedingungen bot, um vom Marktversprechen des Privatrechts zu profitieren. Um 1900 lag die Zahl der Bildungs- oder Wirtschaftsbürger bei etwa 10 %. Erst für die 1970er Jahre geht die moderne Sozialgeschichte von einer auf einem breiten „Mittelstand“ fußenden „Verbürgerlichung“ 13 der Gesellschaft aus. Dem BGB fehlte um 1900 also noch die passende Gesellschaft.

Und heute? Hat die Vision einer Trennung zwischen Staat und Gesellschaft jetzt reüssiert? Nun scheint es umgekehrt. Der inzwischen von rechtlicher Ungleichheit weitgehend befreiten Gesellschaft ist das freiheitliche BGB abhandengekommen. Vergleicht man das BGB von 1900 mit dem heutigen BGB, so trifft man überall auf zwingendes Recht, das um 1900 fehlte. Im Dienstvertragsrecht, im Mietrecht, im Verbraucherrecht, im Reiserecht, beim Behandlungsvertrag, um nur einige prominente Beispiele aus dem BGB zu nennen, geht der Gesetzgeber davon aus, dass eine Vertragspartei generell schutzwürdig ist. Der Staat bestimmt daher den Inhalt der Verträge, und in weiten Teilen des BGB kann heute für die als stärker eingestufte Vertragspartei von Inhaltsfreiheit keine Rede mehr sein. Vertragsfreiheit heißt hier weitestgehend nur noch Abschlussfreiheit. Zudem dringen über die Grundrechte und EU-Einflüsse immer mehr Gemeinwohlinteressen in das Privatrecht ein. Beispiele sind der Umweltschutz oder Fragen der Inklusion. Der bürgerliche Freiheitsraum wird öffentlichen Interessen unterworfen. Ganz offenbar ist die Privatrechtsidee seit 1900 in die Krise geraten. Dies zu erzählen, wird Aufgabe der nachfolgenden Kapitel 3 und 4 sein.

Bereits hier kommen die dabei diskutierten Veränderungen aber erstmals in den Blick: Versteht man Privatrecht als die Anerkennung der gleichen Freiheit der Person und das davon abgeleitete Recht gesellschaftlicher Selbstorganisation, so kann man heute schwerlich vom BGB als Privatrechtskodifikation sprechen, weil darin kaum noch Privatrecht geregelt wird. Weite Teile des BGB werden als zwingendes Recht dann zu öffentlichem Recht. Und so wird es in weiten Teilen der Staatsrechtswissenschaft auch gedeutet. Michael Stolleis hat die Entwicklung im 20. Jahrhundert konsequent als „Siegeszug des öffentlichen Rechts“ bezeichnet. Für Privatrecht bliebe danach heute kaum noch Raum: „Die Komplexität der Industriegesellschaft, die nach meiner Überzeugung heute weder soziologisch noch rechtlich ‚bürgerliche Gesellschaft‘ genannt werden kann, verlangt komplexe Steuerungsmittel, und diese sind gegenwärtig wohl im wesentlichen ‚öffentlichrechtliche‘ Mittel“ 14. Privatrecht wurde aus dieser Perspektive ein Sondergebiet staatlicher Regulierung, selbst die verbleibenden Freiräume sind staatliche Zuweisung und damit schon im Ausgangspunkt nicht „staatsfrei“. Privatrecht wäre eine Freiheitsillusion, hinter der sich politische Verteilungsfragen verstecken.

In der Privatrechtswissenschaft fand das noch in den 1990er Jahren durchaus Widerstand 15. Inzwischen wird hier die Abgrenzung zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht aber kaum noch diskutiert. Am ehesten finden sich solche Debatten, soweit ich den zersplitterten Privatrechtsdiskurs übersehe, in der Rechtstheorie. Hier dominieren soziologische Beobachterperspektiven, die den Aufstieg des Öffentlichen Rechts nicht in Zweifel ziehen.16 Wenig Verteidiger findet ein freiheitsbasierter Privatrechtsbegriff auch bei denen, die sich an ökonomischer Theorien ausrichten. In der Ökonomie dominieren als Orientierungswerte einer Gesellschaft Effizienz und Gerechtigkeit und nicht individuelle Freiheit, was ebenfalls zu einer Sympathie für staatliche Verteilungsorganisation führt. In der überwiegenden, nicht grundlagenorientierten Privatrechtswissenschaft werden solche interdisziplinären Zugriffe freilich nur selten verarbeitet. Hier scheint die Debatte über den Privatrechtsbegriff fast eingeschlafen und auf die bekannten Theorien zur Rechtswegabgrenzung reduziert. Ein äußeres Zeichen ist, dass der Begriff des „subjektiven Rechts“, mit dem diese Fragen seit dem 19. Jahrhundert adressiert wurden, aus der Literatur und auch aus den Lehrbüchern zum BGB weitgehend verschwunden ist. In einer Art Traditionsbegriff wird als Privatrecht meist nun das bezeichnet, was im BGB steht, und in traditionellen Gebieten des Sonderprivatrechts, wie sie sich in Lehrstuhlbezeichnungen an den Universitäten als zum Privatrecht gehörig finden. Privatrecht ist das, was man üblicherweise als privatrechtlich klassifiziert. Der konkrete Freiheitsbezug wird ausgeblendet und Abgrenzungen zum Öffentlichen Recht auf die bekannte Dichotomie „Bürger-Bürger“ vs. „Bürger-Staat“ reduziert.

Wie ließe sich die Gegenwart beschreiben, wenn man einen freiheitsbasierten Privatrechtsbegriff beibehalten will? Ein Konzept für einen freiheitlichen Privatrechtsbegriff, der versucht, staatliche Steuerung aus diesem Blickwinkel zu integrieren, hat – in Anlehnung an Überlegungen von Friedrich August v. Hayek – Joachim Rückert vorgelegt 17. Er differenziert zwischen emanzipatorischen und bevormundenden, „staatssozialen“ Eingriffen. Emanzipatorische Eingriffe gleichen dem Sprichwort „Gib mir nicht den Fisch, sondern lehre mich angeln“ und wären damit Staatsintervention als Teil des Privatrechts. Die staatliche Gewährung von Wohngeld dient in diesem Sinne einer Ermöglichung der Teilnahme am Markt und wäre dem Privatrecht zuzurechnen. Die Zuweisung einer Wohnung ist dagegen staatliche Verteilung, ein Ersatz der Selbstorganisation durch den Staat, also öffentliches Recht. Das Beispiel zeigt, dass der Privatrechtsbegriff weiter in Bewegung ist. Das BGB von 1900 war Ausdruck eine Privatrechtskonzepts, dass heute so nicht mehr existiert. Wie stark dieser Privatrechtsgedanke war, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass man ein Privatrechtsgesetzbuch verfasste und nicht, wie noch das preußische ALR von 1794 es war, ein Gesetzbuch, welches das gesamte Recht einer Nation regeln sollte. Die Privatrechtsidee prägte also auch die Form des BGB, der wir uns jetzt zuwenden. Das BGB ist eine Kodifikation. Was bedeutet das?

Literatur: Sten Gagnér, Über Voraussetzungen einer Verwendung der Sprachformel „Öffentliches Recht und Privatrecht“ im kanonistischen Bereich, 1966; Wiederabdruck in: Joachim Rückert, Michael Stolleis u. Maximiliane Kriechbaum (Hgg.), Sten Gagnér. Abhandlungen zur Europäischen Rechtsgeschichte, Goldbach 2004, S. 121 ff.; Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, S. 135 ff.; Dieter Grimm, Zur politischen Funktion der Trennung von öffentlichem und privatem Recht in Deutschland, in: ders. (Hg.), Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1987, S. 84 ff.; Konrad Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, Karlsruhe 1988; Michael Stolleis, Die Entstehung des Interventionsstaates und das öffentliche Recht, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 1989, S. 129 ff.; ders., Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1800 – 1914, München 1992, S. 51 f.; ders., Auferstanden aus der Wende: Die bürgerliche Gesellschaft und ihr Recht?, in: RJ 1992, S. 502 ff.; ders., Öffentliches Recht und Privatrecht im Prozeß der Entstehung des modernen Staates, in: Wolfgang Hoffmann-Riem u. Eberhard Schmidt-Aßmann (Hgg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnung, Baden-Baden 1996, S. 41 ff.; HKK/Joachim Rückert, Vor § 1, Bd. I, Tübingen 2003, Rn. 43 ff., 86 ff., 102 ff.; Hans Schulte Nölke, Die späte Aussöhnung mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch. Wandlungen im Verhältnis der Deutschen zu ihrer Zivilrechtskodifikation, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1996: Das deutsche Zivilrecht 100 Jahre nach Verkündung des BGB. Erreichtes – Verfehltes – Übersehenes, Stuttgart u. a. 1996, S. 11 f.; Sibylle Hofer, Freiheit ohne Grenzen? Privatrechtstheoretische Diskussionen im 19. Jahrhundert, Tübingen 2001; Joachim Rückert, Art. Privatrecht, in: Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe, Stuttgart 2006, Sp. 1851 ff.; ders., „Frei und sozial“ als Rechtsprinzip, Baden-Baden 2006; Hans-Peter Haferkamp, Der ordre public interne in der Rechtsprechung zum Rheinischen Recht, in: Barbara Dölemeyer, Heinz Mohnhaupt u. Allessandro Somma (Hgg.), Richterliche Anwendung des Code civil in seinen europäischen Geltungsbereichen außerhalb Frankreichs, Frankfurt a. M. 2006, S. 105 ff.; ders., The Science of Private Law and the State in Nineteenth Century Germany, in: Nils Jansen u. Ralf Michaels (Hgg.), Beyond the State. Rethinking Private Law, Tübingen 2008, S. 245 ff.; Sibylle Hofer, Art. Privatrecht, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 10, Stuttgart 2009, Sp. 375 ff.; Christian Bumke u. Anne Röthel, Auf der Suche nach einem Recht des privaten Rechts, in: dies. (Hgg.), Privates Recht, Tübingen 2012, S. 1 ff.; Oliver Lepsius, Der Privatrechtsdiskurs der Moderne aus Sicht des öffentlichen Rechts, in: Michael Grünberger u. Nils Jansen (Hgg.), Privatrechtstheorie heute, Tübingen 2017, S. 82 ff.; Gerhard Wagner, Zivilrechtswissenschaft heute – zwischen Orakeldeutung und Maschinenraum, in: Horst Dreier (Hg.), Rechtswissenschaft als Beruf, Tübingen 2018, S. 67 ff.; Tilman Repgen, Art. Privatrecht, in: Staatslexikon, Bd. 4, 8. Aufl. Freiburg 2020, Sp. 1027 ff.; Johanna Croon-Gestefeld, Gemeininteressen im Privatrecht, Tübingen 2022 mit Rez. von Marietta Auer in: JZ 5, 2023, S. 200 ff.

2.2 Kodifikation

Das BGB ist eine Kodifikation. Was bedeutet das?

Das Wort Kodifikation (codification) stammt von einem berühmten Engländer: Jeremy Bentham, Philosoph und engagierter Vorkämpfer für Reformen des Rechts. Bentham arbeitete seit 1782 in einer Reihe von Schriften seine Idee einer Kodifikation als „a complete body of law“ aus.18 In Kodifikationen solle das gesamte Recht einer Nation einheitlich und lückenlos in Gesetzesform gegossen werden. Die Richter seien streng an dieses Gesetz zu binden. Sie dürften sich weder auf vermeintliches Gewohnheitsrecht noch auf frühere richterliche Entscheidungen, ja nicht einmal auf wissenschaftliche Kommentare zu dem Gesetz, in ihren Entscheidungen stützen. Um dies zu ermöglichen, solle das Gesetz auf klaren Prinzipien beruhen und widerspruchsfrei sowie präzise formuliert sein. Bleibe dem Richter ein Zweifel über den Willen des Gesetzgebers, so müsse er den Gesetzgeber um Aufklärung ersuchen.

Bentham formulierte eine Idee, die sich, wenn auch meist weniger radikal, bei vielen zeitgenössischen Autoren findet. Seit dem 16. Jahrhundert war immer wieder die Vorstellung aufgetaucht, man müsse ein einheitliches Gesetzbuch an die Stelle der vielen bisherigen, oft unklar konkurrierenden Rechtsquellen setzen, die das Leben der Menschen sehr uneinheitlich regelten.

Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts arbeitete man in einigen Teilen Europas an solchen Gesetzbüchern. 1751 waren in Bayern bereits eine Kodifikation des Strafrechts, 1753 des Prozessrechts und, mit dem bis 1900 geltenden Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis, 1756 eine erste Kodifikation des Zivilrechts erschienen. Seit Ende des 18. Jahrhunderts liefen in den nun in vielen Ländern erarbeiteten Privatrechtskodifikationen zwei große Entwicklungen ineinander. Einerseits waren diese Kodifikationen Ausdruck des staatlichen Rechtsetzungsmonopols. Der Souverän steuerte die Grenzen der bürgerlichen Freiheit durch zwingendes Recht. Dieser letztlich absolutistischen Vorstellung, den Staat als Eigentum des Monarchen zu verstehen („l’etat c’est moi“), trat zunehmend die aufklärerische Idee entgegen, dass genau diese Gesetzeszentrierung nicht nur Freiheit, sondern auch Bindung des Monarchen sei. Eine Kodifikation schreibe fest, was gelte, und biete dem Bürger so Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit für sein Handeln. Mit dem in der zeitgenössischen Philosophie herausgearbeiteten Unterschied zwischen Recht und Moral konnte der Staat von seinen Bürgern nur die „äußere“ Legalität ihres Handelns erzwingen, nicht weitergehend eine „innere“ moralische Überzeugung oder Einstellung. Das Individuum als Teil der Gesellschaft sollte sich auch ethisch frei entwickeln können. Alles, was das Gesetz nicht verbot, wurde nun zum Freiheitsraum des Bürgers erklärt, im Zweifel für die Freiheit (in dubio pro libertate). Andererseits gewährten Privatrechtskodifikationen Privatautonomie, also Freiheit zur rechtlichen Selbstorganisation. Die Bindung des Richters an das Gesetz hatte also eine speziell privatrechtliche Pointe: Der Freiheitsraum des Bürgers wird gesetzlich festgesetzt, und der Richter schützt diesen Freiheitsraum, indem er das Gesetz anwendet. Kodifikationen wurden so gleichermaßen zum Machtinstrument des Staates wie der Bürger. Sie waren Teil des bereits dargestellten Privatrechtskonzepts.

In dieser Geschichte war das BGB von 1900 eine im europäischen Vergleich eher späte Zivilrechtskodifikation. Nach den bayerischen Kodifikationen waren 1794 das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten, 1804 in Frankreich der Code civil, 1811 in Österreich das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch und 1865 das Bürgerliche Gesetzbuch für das Königreich Sachsen bereits Kodifikationen entstanden. Hinzu kam eine Vielzahl von Entwürfen in anderen Ländern und Territorien, die nicht umgesetzt wurden.

Als man seit einem entsprechenden Votum des Deutschen Juristentages 1860 begann, konkreter über ein einheitliches Bürgerliches Gesetzbuch zu diskutieren, befand man sich also schon in einer seit langem laufenden Debatte über die Funktion, den Inhalt, den Aufbau und die sprachliche Technik einer Kodifikation. Nun stand zunächst die Frage der Gesetzgebungskompetenz im Zentrum, weil insbesondere die kleineren Staaten fürchteten, den Interessen Preußens unterworfen zu werden. Die Frage der nationalen Kodifikation war für Zeitgenossen mit dieser Angst kleinerer Staaten, ihre Eigenständigkeit aufzugeben, verknüpft. Von Anfang an war die Idee der Kodifikation damit von der Frage der Rechtseinheit her gedacht worden. Sie wurde nur von wenigen auch mit einem sozialpolitischen Reformprojekt verknüpft. Dieser Linie folgte auch der Auftrag an die Kodifikatoren des BGB. 1873 setzte man eine sog. Vorkommission ein, die „über Plan und Methode“ der Ausarbeitung eines Entwurfs für das BGB beriet. Sie setzte den Gesetzesverfassern mit Übereinstimmung des Bundesrates zwei Aufgaben:

Die BGB-Kommission sollte unter Berücksichtigung aller in Deutschland geltenden Zivilrechtsordnungen und eines gewissen Vorrangs des ius commune 19 das Recht vereinheitlichen. Sie sollte dabei „auf richtige Formgebung und Anordnung die höchstmögliche Sorgfalt“ 20 verwenden.

Die Erste Kommission zur Ausarbeitung eines Bürgerlichen Gesetzbuches bekam kein politisches Reformprogramm diktiert. Es ging nicht um die Vision eines politisch neuen Privatrechts der Zukunft, sondern um die Vereinheitlichung des Status quo. Der politische Auftrag lautete: Rechtsvereinheitlichung, nicht Reform.

Literatur: Werner Schubert (Hg.), Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB – Einführung, Biographien, Materialien, Berlin u. a. 1978, S. 27 ff.; Rainer Schröder, Abschaffung oder Reform des Erbrechts. Die Begründung einer Entscheidung des BGB-Gesetzgebers im Kontext sozialer, ökonomischer und philosophischer Zeitströmungen, Ebelsbach 1981; Michael John, Politics and the Law in Late Ninetheenth-Century Germany. The Origins oft the Civil Code, Oxford 1989; Pio Caroni, Gesetz und Gesetzbuch, Basel 2003; Bernd Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikation, Tübingen 2004; Pio Caroni, Art. Kodifikation, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6, Stuttgart 2007, S. 855 ff.; Stephan Meder, Gottlieb Planck und die Kunst der Gesetzgebung, Baden-Baden 2010; Tilman Repgen, Das Gutachten der Vorkommission für ein Bürgerliches Gesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. April 1874, in: Thorsten Keiser, Peter Oestmann u. Thomas Pierson (Hgg.), Wege zur Rechtsgeschichte: Die rechtshistorische Exegese, Köln 2022, S. 432 ff.

2.2.1 Rechtseinheit

Rechtseinheit war kein kleines Ziel für das BGB. Ein „Deutsches Zivilrecht“ hatte es auch im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation nie gegeben. Das damals geltende Recht in den heute als „Zivilrecht“ bezeichneten Rechtsteilen war, oberflächlich betrachtet, ein Flickenteppich städtischer oder territorialer Gesetze und Verordnungen, bestimmter Gewohnheiten des Handels, daneben aber auch regionaler Gewohnheiten der Bevölkerung und lang eingespielter Rechtsprechung der Gerichte (sog. usus fori). Sogar Texte von Professoren hatten gesetzesgleiches Ansehen gehabt, besonders wenn man von einer herrschenden Meinung sprechen zu können glaubte (sog. communis opinio doctorum). Was weitgehend gefehlt hatte, waren Gesetze des Reiches, die das Leben der Untertanen nennenswert prägten. Die deutschen Kaiser in der Neuzeit hatten nie eine ähnlich starke Zentralmacht etablieren können wie die Könige von England, Spanien oder Frankreich. Die meisten Gesetze waren also von einzelnen Territorien, häufiger noch von kleineren Einheiten, insbesondere den Städten mit oft unterschiedlichem Privatrecht, ausgegangen.

Obwohl zwei Jahre zuvor die Gründung des Deutsches Reiches erreicht worden war, war 1873 die Rechtseinheit noch immer nicht geglückt. Nachdem 1806 das Heilige Römische Reich Deutscher Nation untergegangen war, hatte es bis 1871 gar keinen nationalen Zivilgesetzgeber mehr gegeben. Im Deutschen Bund (1815 – 1866) existierten 39 Territorien, die alle über ihr Zivilrecht entscheiden konnten. Noch 1896, also kurz vor dem Inkrafttreten des BGB am 1. Januar 1900, gab es daher große unterschiedliche Rechtsgebiete. So lebten etwa 21.000.000 Menschen nach preußischem Recht, etwa 14.000.000 nach „Gemeinem“, also römisch-kanonischem Recht,21 etwa 8.000.000 nach französischem Recht, etwa 5.000.000 nach sächsischem Recht. Daneben existierten Kleinstgebiete, so galt für etwa 50.000 Menschen dänisches bzw. jütländisches Recht und für 9000 friesisches Recht. Auch dies bedeutete jedoch keineswegs, dass in einem Territorium ein einheitliches Zivilrecht anwendbar war. Im Alten Recht hatte gegolten: Stadtrecht bricht Landrecht bricht (All-)Gemeines Recht. Der kleinste Rechtskreis ging allen größeren vor. Nur in einzelnen Gebieten verdrängten auch später Kodifikationen die älteren Rechte ganz. Es ergab sich für den Richter häufig die schwierige Vorfrage, welches Recht überhaupt einschlägig war. So galt es etwa in Mainz, in schwierigen Zuständigkeitsabgrenzungen festzustellen, ob der französische Code civil oder doch Mainzer Landrecht, Solmser Landrecht, Pfälzer Landrecht oder das österreichische ABGB anwendbar waren. Wie schwierig es sein konnte, überhaupt das maßgebliche Recht zu ermitteln, zeigt eine Aufstellung für das Amtsgericht Erlangen.22 Dort war zusammengetragen, welche Häuser in bestimmten Dörfern um Erlangen herum nach welchem Recht zu behandeln waren. Dabei galten für die nahe Erlangen liegende kleine Ortschaft Hüttendorf (1810 etwa 250 Einwohner), die nicht nach Straßen, sondern nur nach Hausnummern organisiert war: Hausnummer 13, 14, 15: Ansbacher, subsidiär preußisches Recht; Hausnummer 18 – 22, 30, 35, 36, 42: Nürnberger Recht als Gewohnheitsrecht, besonders in Erbfällen; alle anderen Hausnummern: Bayreuther, subsidiär Preußisches Recht. Nachbarn lebten also Haus an Haus nach unterschiedlichem Recht.

In einigen Bereichen, insbesondere im Familien- und Erbrecht, führte die Rechtszersplitterung zu äußerst unterschiedlichen Lebensbedingungen. So schätzte man um 1900 etwa 200 unterschiedliche Güterrechtsordnungen. Die vermögensrechtliche Position der Ehegatten konnte daher von Dorf zu Dorf, ja sogar innerhalb eines Dorfes variieren. Nähert man sich dem nun anstehenden Verfahren der Rechtsvereinheitlichung aus dieser Perspektive, so scheint die Aufgabe kaum zu bewältigen gewesen zu sein: Wie sollte man so viele unterschiedliche Regelungen zu einer zusammenführen?

Familienrecht war, neben Teilen des Erbrechts, jedoch ein Extrem. In den meisten Bereichen existierten derart große Unterschiede nicht. Die vielen territorialen Rechte hatten sich oft gegenseitig beeinflusst, und sie waren ihrerseits von rechtlichen Vorstellungen durchzogen, die sich seit dem Mittelalter in ganz Europa ausgebreitet hatten. Mit dem sog. GemeinenRecht (Ius Commune) existierte ein wissenschaftlich, von den Universitäten geprägtes gemeinsames Rechtsgespräch über das vom kirchlichen (kanonischen) Recht beeinflusste rezipierte Römische Recht, das jedoch, wie gezeigt, nur galt, wenn keine andere Regelung des territorial oder örtlichen Rechts existierte. Gleichwohl breiteten sich die dort entwickelten Lehren an den Gerichten, in der Vertragspraxis und in territorialer Gesetzgebung aus. Auch hier blieben aber deutsche Besonderheiten der Gegenwart stets im Blick. Gemeines Recht arbeitete nicht an einer Wiederkehr der Antike. Insbesondere in der Gerichtspraxis wurden nur solche antiken Sätze übernommen, die der Gegenwart angemessene Lösungen boten. Oft genug bedeutete das auch, dass man einen solchen Satz zwar übernahm, aber ganz anders verstand als die antiken Römer. Zwischen diesem Gemeinen Recht und den territorialen und regionalen Rechten fand zudem ein beständiger Austausch statt. Es existierten Literaturgattungen, die das Gemeine Recht mit den sonstigen Rechten verglichen und auch gemeinsam verarbeiteten. Seit dem 17. Jahrhundert erklärte die Differentienliteratur den Juristen die unterschiedlichen Lösungswege. Im 18. Jahrhundert traten ihr die sog. Institutionenlehrbücher an die Seite, die ebenfalls „deutsches“ und „römisches“ Recht zusammendachten. Im 19. Jahrhundert näherten sich die Lehr- und Handbücher zum „Deutschen Privatrecht“ dem nichtrömischen und die Lehrbücher des „heutigen römischen Rechts“ dem römischen Anteil des praktizierten Privatrechts. Immer wurde versucht, übergreifende Lösungen herauszuarbeiten. Rechtspluralismus war also ein ständiges Rechtsgespräch, kein getrenntes Dasein. Vieles war bereits einheitlicher, als es äußerlich schien. Die Rechtseinheit durch Gesetzgebung hatte demzufolge eine Vorgeschichte. Als die Arbeiten zum BGB begannen, lief bereits lange ein Prozess der Rechtsvereinheitlichung, der zunächst durch eine einheitliche Rechtswissenschaft, später immer stärker durch eine einheitliche Rechtsprechung vorangetrieben wurde. Hier bildete sich eine Rechtskultur aus, die Deutschland bis heute prägt. Es lohnt also ein genauerer Blick.

Literatur: Klaus Luig, Institutionenlehrbücher des nationalen Rechts im 17. und 18. Jahrhundert, in: Ius Commune III, 1970, S. 69 ff.; Diethelm Klippel (Hg.), Deutsche Rechts- und Gerichtskarte, Goldbach 1996; Claudia Schöler, Deutsche Rechtseinheit, Köln 2004; Gero Dolezalek, Differentienliteratur, in: HRG Bd. I, 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 1059 f.; Peter Oestmann, Rechtsvielfalt, in: Nils Jansen u. Peter Oestmann (Hgg.), Gewohnheit. Gebot. Gesetz, Tübingen 2011, S. 99 ff.

2.2.1.1 Rechtsvereinheitlichung durch Rechtswissenschaft

2.2.1.1.1 Rechtsreform durch Ausbildungsreform: Savignys Reformmodell von 1808

Deutschlands wohl überhaupt berühmtester Jurist, Friedrich Carl von Savigny, hatte 1808 darüber nachgedacht, wie man ein nationales Recht ohne Staat begründen könne, nachdem das Heilige Römische Reich Deutscher Nation 1806 untergegangen war. Konnte es Deutsches Recht ohne Deutschen Staat geben? Er fand die Lösung in der Vorstellung, dass die Deutschen, durch eine gemeinsame Sprache und Kultur verbunden, auch ohne Staat ein Volk, eine Nation seien. Und als ein solches Volk hätten sie ein gemeinsames Bewusstsein vom Recht. Die Idee war bestechend. Wenn solch ein gemeinsames Rechtsbewusstsein existierte – dem Savignys Anhänger Georg Friedrich Puchta 1826 den Namen „Volksgeist“ gab –, dann verstieß ein Territorialstaat, der anders entschied, gegen das eben doch nationale Rechtsgefühl seiner Bürger. Dieses Rechtsgefühl schuf eine nationale Einheit, die eines Staates gar nicht bedurfte, um ein gemeinsames Zivilrecht zu haben. Wie konnte man sich das konkret vorstellen?

Idealerweise konnte man sich eine Identität zwischen dem Rechtsbewusstsein und dem Recht denken. Dann besaß eine Nation ihr eigenes Recht. Für Deutschland sei, so Savigny, nun kennzeichnend, dass es ein solches eigenes Recht, das seinem Rechtsbewusstsein entspreche, nicht besitze. Es gab also eine Kluft zwischen dem einheitlichen Rechtsbewusstsein und dem tatsächlich geltenden Recht. Deutschland habe nur fremdes Recht. Es bestehe im Wesentlichen aus der Kombination zweier „ursprünglicher oder nationaler“, also „unmittelbar in einem Volke“ entstandener Rechte, des Römischen und des Germanischen, „dessen Ursprung im Mittelalter zu suchen ist“. Da das Germanische „nicht blos in Deutschland, sondern in allen germanischen Staaten sich entwickelt und ausgebildet hat“, galt, dass wir „kein eigenes, ursprüngliches Recht besitzen“.23 Die beiden Rechte, die Savigny so umschrieb, waren sehr unterschiedlich. Das Germanische Recht, von dem er sprach, war auch in den nordischen Ländern, aber auch in England und Teilen Frankreichs entwickelt worden. Es war stark von Gewohnheiten geprägt, durch unstudierte Schöffen in Laiengerichten ausgesprochen und erst spät verschriftlicht worden. Es hatte in Deutschland Einzug gehalten vor allem über das Gewohnheitsrecht der ländlichen Bevölkerung und das Recht der Städte. Demgegenüber stand das Römische Recht, dessen Kenner Savigny war. Es war maßgeblich durch eine Schicht von Rechtsspezialisten in der Antike gebildet und seit dem Mittealter neu interpretiert worden. Das Römische Recht war in seiner Wirkung auf Deutschland untrennbar verbunden mit dem Aufstieg einer europäischen Universitätsausbildung, die – von Oberitalien ausgehend – Juristen produziert hatte, die seit dem 15. Jahrhundert zunehmend in der Rechtspraxis Fuß fassten. Sie entwickelten als Notare Vertragsformulare, die es erlaubten, früher oft nur mündlich getroffene Vereinbarungen sicher und beweisbar zu speichern. Sie berieten Klienten, denen sie durchdachte Lösungen aus dem großen römischen Rechtsvorrat anboten, die den vorher üblichen oft überlegen waren. Sie fungierten als Rechtsberater (Syndici) der Städte und verschriftlichten die dortigen Rechtsgewohnheiten, was sie oft dazu nutzten, römische Regelungen einfließen zu lassen.

Mit dem Reichskammergericht stand seit 1495 erstmals ein höchstes Gericht des Reiches bereit, das von Juristen geprägt wurde und Römisches Recht berücksichtigte. Die gemeinsame Juristenausbildung schuf einen Juristenstand, der in ganz Europa ähnliches Recht verbreitete: Schriftlich, rational und inhaltlich Römisches Recht, wie man es zeitgenössisch verstand, durchsetzt von Regeln des Kirchenrechts (sog. Kanonischen Rechts), die im christlich grundierten Reich nicht durch antike Regeln verdrängt werden durften. Langsam bildete sich die Meinung, dass es sozusagen als gemeinsamer Boden aller so unterschiedlichen Privatrechte im Alten Reich ein sog. Gemeines Recht (Ius Commune) gebe. Es gelang diesem Ius Commune zu keinem Zeitpunkt, die vielen territorialen Rechte zu verdrängen. Es war, wie bereits angedeutet,24 stets „subsidiär“, also nur dann anzuwenden, wenn das Problem in anderen Rechten nicht geregelt war. Man nannte diesen komplexen Prozess bereits seit Hermann Conring 1643 „Rezeption des Römischen Rechts“: Ein Recht einer fremden Nation hatte, vermittelt durch die Juristen, in komplexen Prozessen langsam in der Rechtspraxis Fuß gefasst. In beiden Fällen hatten in Deutschland Rechte Einfluss gewonnen, die nicht unmittelbar aus dem deutschen Rechtsbewusstsein entstanden waren, sondern in den gemeinsam „germanisch“ geprägten Völkern einerseits und in Rom andererseits.

Aus diesem Befund Savignys, dass Deutschland kein Recht habe, das aus dem deutschen Rechtsbewusstsein entwickelt worden sei, resultierten nun die Aufgaben für eine Rechtswissenschaft, die sich dem Rechtsbewusstsein der deutschen Nation verpflichtet sah.

Ausgangspunkt war, dass alle territorialen Kodifikationen unklare Mischungen fremder Rechte waren und nicht beanspruchen konnten, dem deutschen Rechtsbewusstsein zu entsprechen. Das in Preußen seit 1794 geltende Allgemeine Landrecht, der im westlichen Deutschland verbreitete französische Code civil, das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch Österreichs: Alles bloße Mischungen fremder Rechte, geschaffen in einem „sehr schlechten Zustand unsrer Wissenschaft“. Der schlichte Blick in das, was in Deutschland als „positives“, also anzuwendendes Recht galt, stand damit unter dem Generalverdacht, Recht zu behaupten, das dem nationalen Rechtsbewusstsein widersprach. Hieraus resultierte Savignys Reformprogramm. Eine „Nation, die ein fremdes Recht hat, [kann] diesen Zustand nicht aufheben, aber sie kann ihn unschädlich machen durch glückliche Bearbeitung der gelehrten Jurisprudenz, und diese ist um so nöthiger, wenn durch eigene Gesetzbücher die Täuschung veranlaßt wird, als habe man ein eigenes Recht“. 25

Wenn ein Recht aus zwei fremden Wurzeln entstanden war, die sehr unterschiedlich waren, dann musste sich die Rechtswissenschaft aufteilen in Spezialisten für jedes dieser Ursprungsrechte. Man sprach von „Germanisten“ und „Romanisten“:

Alle Jurisprudenz, insofern sie eigenes, selbstständiges Daseyn haben soll, ist demnach entweder römisch oder germanisch.

Nun musste es zunächst darum gehen, die Ursprungsrechte zu verstehen. Deshalb meinte Savigny so entschieden, „gründliche Kenntniß des ursprünglichen Rechts, und namentlich des römischen, kann allein lehrreich seyn, jede andere ist so gut als keine“.26 Erst wenn man das Ursprungsrecht in seinem jeweiligen Bezug zum