Das Birnenfeld - Nana Ekvtimishvili - E-Book

Das Birnenfeld E-Book

Nana Ekvtimishvili

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Beschreibung

Der Geschichtslehrer muss sterben, die Kinder sollen über das Birnenfeld in die Freiheit rennen – das ist Lelas Plan. Im Internat für geistig behinderte Kinder in Tbilissi, einem Relikt aus Sowjetzeiten, hat das zornige Mädchen die Rolle der Beschützerin übernommen. Die Lehrerinnen sind mit den „Debilen“ überfordert. Behindert sind die wenigsten ihrer Schützlinge, im Stich gelassen, abgehängt sind sie alle.

So mörderisch Lelas Hass auf den Geschichtslehrer, so schwesterlich ihr Verhältnis zu Irakli: Sie begleitet ihn in eine Hochhauswohnung in der Nachbarschaft, wo er einmal in der Woche mit seiner Mutter in Griechenland telefonieren darf. Irakli will nicht wahrhaben, was Lela längst weiß: Seine Mutter wird nie zurückkehren, sie wird ihn auch nicht zu sich holen. Lela zwingt ihn, Englisch zu lernen, unterstützt seine Hoffnung, nach Amerika zu gehen. Ein Traum, der eines Tages, als ein Ehepaar aus den Südstaaten anreist, wahrzuwerden droht…

Es sind die rebellischen Mädchen und Frauen in der georgischen Gesellschaft, denen Nana Ektvimishvili Gesicht und Stimme gibt.

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Seitenzahl: 232

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Nana Ekvtimishvili

Das Birnenfeld

Roman

Aus dem Georgischen von Julia Dengg und Ekaterine Teti

Suhrkamp

Das Birnenfeld

1

In einem Außenbezirk von Tbilissi, dort, wo die Straßen keine Namen haben, sondern das Viertel in Blöcke und Nummern unterteilt ist, stößt man auf eine, die doch einen Namen hat: die Kertsch-Straße. Sehenswürdigkeiten, historische Bauwerke, Denkmäler, Springbrunnen sucht man hier vergeblich. Der ganze Schmuck dieser Plattenbauwüste besteht aus Gebäuden wie dem Institut für Leichtindustrie, einem langgestreckten Marmorpalast auf einer mit Tannen gesäumten Anhöhe, zu der große, breite Treppen hinaufführen, oder den in die Jahre gekommenen Bauwerken wie dem Kindergarten, der Mittelschule, der ehemaligen ATS-Telefonzentrale, dem Einwohnermeldeamt, dem Kaufhaus und der Debilenschule, die in Wirklichkeit Internat für geistig beeinträchtigte Kinder heißt.

Wer weiß, wem es damals, 1974, im sowjetischen Georgien eingefallen ist, die Straße nach Kertsch zu benennen − jener Stadt auf der ukrainischen Halbinsel Krim, die berühmt dafür ist, dass dort eines schönen Oktobertages im Jahr 1942, als eine Brise das noch sommerwarme Meer kräuselte, die Nationalsozialisten 160 000 Menschen als Geiseln nahmen und töteten. Hier aber sind weder Schiffe zu sehen, noch weht ein Wind vom Schwarzen Meer herüber. Es ist Frühsommer, die Sonne brennt herab, Hitzeschwaden steigen vom Asphalt auf, die paar spärlichen Ahornbäume verdorren. Ab und zu fährt ein Auto vorbei, und wenn einem der herumliegenden Hunde danach ist, rennt er kläffend neben dem Fahrzeug her, bis zur nächsten Kurve, bleibt stehen, schaut ihm wehmütig nach, um dann umzukehren und sich wieder zu seinen Brüdern in den Staub zu legen.

Anders als in Kertsch gibt es in der Kertsch-Straße keine Helden. Damals, als die Wehrmacht anfing, die Einwohner der Stadt, die jüdischen und die nicht-jüdischen, zu vernichten, leisteten die in Kertsch eingekesselten sowjetischen Soldaten erbitterten Widerstand. Doch am Ende wurden sie besiegt, und das war vielleicht der Grund, weshalb die Sowjetregierung der Stadt nach Kriegsende keinen Heldenstatus zuerkannt hat. Sie bekam keine Hilfsgelder vom Staat und musste aus eigener Kraft wieder aufgebaut werden. Erst drei Jahrzehnte später wurde Kertsch zur Heldenstadt erklärt, und in Tbilissi wurde die Tianeti-Schnellstraße in Kertsch-Straße umbenannt, vermutlich weil Tianeti bis dahin keine sowjetischen Heldentaten vollbracht hatte.

Die Augenzeugen des »Großen Vaterländischen Krieges«, die in der Kertsch-Straße und Umgebung wohnten, nahmen langsam Abschied von ihrem Leben. Alte Menschen, die den Krieg durchgemacht hatten, legten an Feiertagen ihre ordensgeschmückte Uniform an, gingen auf die Straße, um dem Sonnenlicht die hagere Brust entgegenzustrecken und mit bedächtigen Schritten auf und ab zu spazieren.

Bei vielen hing ein Stalin-Foto im Wohnzimmer. Sie waren stolz auf den Sieg, und wenn wieder einer von ihnen diese Welt verlassen musste, blickte er voll Sorge auf die Zurückbleibenden. Sie, die Sterbenden, hinterließen ihnen eine wüste Heimat.

Ihre Kinder und Kindeskinder setzten in den Wohnblocks an der Kertsch-Straße, in den umliegenden Plattenbauten tschechischer und Moskauer Bauart oder in den Chruschtschowkas mit den niedrigen Decken ihr Leben fort, und die Wege, die sie zurücklegten, beschränkten sich immer noch auf den täglichen Gang zwischen Wohnung, Kindergarten, Schule und Arbeit.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion gerieten diese Wege durcheinander: Manche Menschen setzten den Fuß nicht vor die Tür, andere waren gern draußen im Hof und auf der Straße oder verbrachten Tag und Nacht auf Kundgebungen und Streiks, einige nahmen das Stalin-Foto von der Wand, und andere sind vorzeitig aus dem Leben gegangen.

An einem Frühsommertag steht Lela im Badehaus unter dem heißen Wasserstrahl, den Kopf gesenkt, die Schultern leicht hochgezogen.

»Ich töte Wano.«

Sie kneift die Augen zusammen und rührt sich nicht.

»Sollen sie ruhig kommen und mich verhaften!«

Lela dreht den Wasserhahn zu. Im Badehaus dampft es. Auch ihr dünner, geröteter Körper dampft. Wie ein Drahtseil zeichnet sich ihre Wirbelsäule ab, die das schmale Becken und die viel breiteren Schultern verbindet.

»Ich bring ihn um …« Sie zieht sich ihr khakifarbenes Hemd über den Kopf. Auf dem schäbigen Holzstuhl, der vom Rumstehen im Bad morsch geworden ist, liegt ein Stückchen Seife und ein Kamm mit ausgebrochenen Zinken. Sie nimmt die Hose von der Lehne und schlüpft hinein, steckt ihr Hemd fest und schnallt den Gürtel zu.

»Niemand wird mich verhaften, sie werden sagen, die ist nicht ganz dicht … Höchstens bringen sie mich ins Irrenhaus. Na und? Da war Ghnazo ja auch … Und jetzt läuft er wieder frei herum …« Lela fährt sich mit den Fingern durch das kurze Haar und schüttelt sich wie ein nasser Hund.

Mit einem Knall fliegt die Tür auf. Lela erkennt eine kleine, zarte Silhouette.

»Bist du da?« Es ist Irakli, der sich an der Türklinke festklammert. Lela zerrt sich die Socken über die nassen Füße.

»Dali ruft dich, schon die ganze Zeit!«

»Was will sie denn?« Lela bindet sich die Turnschuhe zu. Der Luftzug zerstäubt den Dampf, in der Tür steht der kleine Junge mit seinen komischen Spitzohren, die Augen aufgerissen. Er ringt nach Atem.

»Komm, schnell … Die Kinder sind oben im Vierten, in den Betten, sie kommen nicht runter … Dali schafft es nicht mehr.«

Draußen brennt die Sonne, kein Mensch weit und breit. Sie laufen über den Sportplatz zum Hauptgebäude.

In der Halle mit den Mosaikfliesen empfängt sie angenehme Kühle. An den Wänden hängen ein paar leere Schaukästen. In einem ist ein roter Feuerlöscher befestigt.

Lela nimmt die Treppe in den vierten Stock und rast durch den langen Gang, aus dem hintersten Zimmer gellt Dalis schrille Stimme.

Vor ein paar Monaten hatte das Internat vom Ministerium neue Holzbetten erhalten – als humanitäre Hilfe. Die alten, schweren Eisenbetten wurden in den vierten Stock verfrachtet, in ein Zimmer, wo es von der Decke tropfte. Das ging schon lange so, auch damals, als das Zimmer noch wie ein Zimmer aussah und die Kinder dort schlafen mussten. Arbeiter wurden gerufen und reparierten das Dach, doch es half nichts. Sie kamen ein zweites Mal, ein drittes Mal – sobald es regnete, sickerte Wasser durch die Decke, und nach und nach fanden sich alle damit ab. Die Kinder liebten es, bei Regenwetter hinaufzulaufen und einander durch die Pfützen zu jagen. Seitdem stehen überall Wannen und Eimer, um das tröpfelnde Wasser zu sammeln, das dann mit Schwung aus dem Fenster oder vom Balkon geschüttet wird. Nachdem die alten Eisenbetten sich bei den Eimern und Wannen eingefunden hatten, wurde der Raum Bettenzimmer getauft. Jetzt war es völlig unmöglich, die Kinder aus dem Zimmer zu vertreiben, weil im Internat nichts größeren Spaß machte als auf diesen Eisenbetten zu hüpfen, am liebsten bei Regen.

Erst kürzlich war der kleine Balkon, der einzige auf dieser Gebäudeseite, abgestürzt. Betonbrocken, das Balkongeländer, Schieferplatten donnerten in die Tiefe. Nur noch die Stahlträger ragten aus der Wand. Man konnte von Glück sagen, dass den Internatskindern, die auf dem Sportplatz Fußball spielten und ganz in der Nähe herumrannten, nichts passiert war. Die Direktorin und die Verwaltung waren viel zu erleichtert, als dass sie sich über den herabgebrochenen Balkon ärgern wollten. In den folgenden Tagen verschwand die Balkontür samt Rahmen. Vermutlich dachte jemand, wozu eine Balkontür, wenn der Balkon nicht mehr existiert. Im Bettenzimmer klaffte nun ein türgroßes Loch in der Wand, durch das der klare Himmel, die Pappeln und der benachbarte Wohnblock zu sehen waren.

Im ersten Moment scheint es Lela, als spielte Dali mit den Kindern Versteinern, doch schnell wird klar, dass sie verzweifelt hinter den Kindern herläuft, die ihr ständig entwischen. Die kleine kompakte Frau ist heute diensthabende Aufseherin. Das rotgefärbte lichte Haar umrahmt ihr Haupt wie ein Heiligenschein, und für das Martyrium, das sie mit den tobenden Kindern durchmacht, hätte sie längst zur Schulheiligen geweiht werden müssen.

»Bleib weg da!«, schreit Dali. Die Kinder lachen und jagen hintereinander her.

»Sieh dir das an … Ich sperre mit Draht ab, und sie kriegen es trotzdem auf! Die machen mich fertig!«

In der Ecke steht Waska und lächelt. Er ist fünfzehn, vom Körperbau her wirkt er jünger, ein Zigeuner. Als er ins Internat kam, war er acht. Sein Onkel hatte ihn hergebracht, ein Mann mit dunklem Teint und grünen Augen. Kettenraucher. Tätowierungen an den behaarten Händen. Er ließ sich nie wieder blicken.

Waska hatte sich, genau wie Irakli, vom ersten Moment an an Lela gehängt. Sie kümmerte sich um ihn und nahm ihn vor den anderen Bewohnern in Schutz, für die jeder Neuankömmling ein gefundenes Fressen war. Später ist dann etwas passiert. Lela weiß noch, dass sie an jenem Abend allein auf dem Sportplatz zurückgeblieben sind. Dali war damals süchtig gewesen nach einer südamerikanischen Fernsehserie, in der Schwiegertochter und Schwiegermutter einander bis aufs Messer bekämpften. Keine einzige Folge durfte versäumt werden, auch die Kinder wurden in das Beziehungsdrama hineingezogen und hockten mit Dali vor der Glotze.

Wie es passiert ist, weiß Lela nicht mehr. Sie erinnert sich nur noch, dass sie zu den Birnbäumen hinübergingen und die Hosen runterließen und wie weich Waskas Körper war, weich und vorsichtig … und dass seine spitzen Beckenknochen störten. Sie küssten sich. Waska wusste, wie ein Zungenkuss ging. Sie sprachen kein Wort. Nicht beim ersten Mal und auch nicht später, als sie sich immer wieder auf dem Birnenfeld trafen.

Lela hätte nicht sagen können, wann sich das alles zu ändern begann, seit wann sie Waska mit Verachtung begegnete oder weshalb sie ihn dauernd runtermachen wollte. Waska hat sich nie gewehrt und nimmt ihr Verhalten seelenruhig hin. Er lächelt. Dieses Lächeln kann Lela nicht ausstehen. Sie ist kurz davor, sich auf ihn zu stürzen und es ihm mit der Faust aus dem Gesicht zu schlagen. Sein Lächeln ist einfach nicht wegzukriegen.

In seiner ersten Zeit im Internat hatte er sich noch ganz unauffällig mit den anderen unterhalten, ohne dieses Grinsen im Gesicht. Er hielt sich auch noch nicht abseits, hatte noch nicht diesen merkwürdigen fernen Blick. Erst später setzte er plötzlich sein Lächeln auf, ein wenig höhnisch und undurchschaubar. Man weiß nie, ob er in sich hineinlächelt, ob er einen auslacht oder ob ihm in Wirklichkeit ganz und gar nicht zum Lachen zumute ist.

»Was stehst du da blöd rum!«, fährt sie ihn an. »Kannst du ihr nicht helfen?«

Waska schaut Lela mit seinen hellgrünen Augen an und murmelt etwas Unverständliches.

Vor dem Türloch drängeln sich die Kinder. Zwei stehen direkt an der Kante. Pako, ein sechsjähriger Knirps in kurzer schwarzer Hose und Mickymaus-T-Shirt balanciert auf den Stahlträgern wie ein Seiltänzer.

»Hab ich nicht gesagt, ihr sollt euch hier nicht mehr blicken lassen?«, schreit Lela. »Ich schnapp euch und schmeiß euch einzeln runter. Das geschieht euch recht!«

Die Kinder flitzen davon. Als Pako Lela sieht, verschwindet das Seiltänzerlächeln aus seinem Gesicht. Fast hätte er das Gleichgewicht verloren, doch mit seinen ausgestreckten kleinen Händen findet er sofort wieder Halt in der Luft und balanciert auf den schmalen Stahlträgern vorsichtig in Richtung Zimmer. Er ist noch nicht am Rand angelangt, da packt ihn Lela schon am Kragen, hebt ihn hoch und hält ihn hinaus, als wollte sie ihn runterwerfen. Pako wird blass, er verzieht das Kinn, als fiele ihm etwas vom Gesicht, und strampelt hilflos im Leeren.

»Soll ich dich loslassen? Soll ich?« Lela schüttelt ihn. Er versucht, sich an sie zu klammern.

»Willst du dir das Genick brechen?«

Sie zieht Pako herein und lässt ihn los. Er rast davon, ein kleiner, schnellfüßiger Käfer, mit dem man ein Spielchen auf Leben und Tod getrieben hat und der sich nun, in die Freiheit entlassen, aus dem Staub macht.

»Ich werd’s euch zeigen! Warum hört ihr nicht auf Dali!«, brüllt Lela.

Waska ist verschwunden. Irakli treibt die Kinder wie Schafe aus dem Zimmer, die Letzte ist Stella mit ihrem abstehenden Popo und den krummen, dünnen Beinen. Den Rollkragenpulli hat sie in die Strumpfhose gestopft. Dali setzt sich auf eines der Eisenbetten, unter ihrem schweren Hintern gibt das Gitter nach, sie versackt fast bis zum Boden und rudert haltsuchend mit den Armen. Irakli hilft ihr hochzukommen. Ihr roter Heiligenschein ist zerrupft, ihr Gesichtsausdruck noch gequälter als sonst, sie atmet schwer.

»Geh schon, worauf wartest du, sag Zizo, sie soll mir ein Schloss besorgen … seit Ewigkeiten reden wir davon. Wir müssen die verdammte Tür zusperren, sonst fallen sie uns noch hinunter, und dann hilft auch kein Gezeter!«

Irakli läuft los. Dali taucht die Hand in einen Regeneimer und kühlt sich die Stirn: »Ich kann nicht mehr …«, seufzt sie, doch plötzlich fällt ihr etwas ein.

»Wenn dir jemand über den Weg läuft«, kreischt sie Irakli hinterher, »sag ihnen, sie sollen sofort in den Speisesaal kommen!«

Lela steht am Rand und blickt in den Abgrund. Sie stellt sich vor, wie sie Wano hinunterstößt. Erst wundert er sich, eine Sekunde lang denkt er, ein Unfall … Dann aber, als er den Boden unter den Füßen verliert und die Leere im Rücken spürt, sieht er Lela an. Durch die Brillengläser will er sich an sie klammern, doch in ihrem Gesicht kann er kein Bedauern erkennen. Lela steht ruhig da und sieht zu, wie der Geschichtslehrer vom vierten Stock in die Tiefe stürzt. Wano verzieht das Kinn wie Pako – als fiele ihm etwas vom Gesicht. Sein Blick ist hilfesuchend auf Lela gerichtet, als wäre es für seine Rettung noch nicht zu spät, doch Lela sagt nur: »Stirb, du Wichser!« Wano knallt auf den Zementhaufen, röchelt.

»Hier, das Schloss«, hört sie Iraklis Stimme. Als sie sich umsieht, ist Dali verschwunden.

»Sie hat gesagt, wer zusperrt, soll ihr den Schlüssel bringen. Na ja … das Schloss hier taugt auch nicht viel, Zizo hat es vom Briefkasten abgenommen.«

Lela begutachtet das winzige Schloss.

»Wen bitte soll das aufhalten …«

Sie sperrt die Tür mit dem kleinen Briefkastenschloss ab und gibt Irakli den Schlüssel. Sie rüttelt ein bisschen an der Tür, nicht stark, nur so wie zum Beispiel Stella mit ihren kleinen Kräften es tun würde.

Nebeneinander gehen sie den Gang entlang. Irakli reicht ihr bis zur Schulter. Lela zündet sich eine Zigarette an. Aus einem Zimmer kommt Stella gelaufen, verängstigt, sie weiß nicht, wo sie hin soll.

»Ab in den Speisesaal!«, ruft Irakli. Das Mädchen saust davon.

»Kommst du mit telefonieren?« Irakli schaut Lela an.

»Du gehst mir langsam auf den Sack, merkst du das nicht? Kriech ihr doch nicht dauernd in den Arsch! Mach dich nicht so klein!«

Draußen auf dem breiten Gehsteig hat der Turnlehrer Awto seinen hellblauen Fourgon geparkt. Aus dem Verwaltungsgebäude kommt Sergo, einen rosafarbenen Stoff unter dem Arm, gefolgt von Kolja, der die Füße schleppt und mit dem Kopf zuckt. Sein Alter ist schwer zu schätzen, er könnte zehn oder auch fünfzehn sein. Bei ihm sieht man gleich, dass er schwachsinnig ist, denkt Lela, manchen sieht man es an, manchen nicht. Sergo sieht man es zum Beispiel nicht an, Irakli auch nicht.

»Ab in den Speisesaal, sofort! Sergo, Kolja!«

Sergo tut so, als hätte er Irakli nicht gehört, und geht weiter.

»Wo gehst du hin?«, ruft Lela.

»Zum Kiosk!«, antwortet er, ohne sich umzudrehen.

»Was willst du denn beim Kiosk?«

»Ich bring ein Kleid hin. Zizo hat mich gebeten.«

Plötzlich zieht er den Stoff unter seinem Arm hervor wie ein Zauberkünstler, dreht sich auf der Ferse um und stellt sich vor Lela, als wäre er selbst ein Hergezauberter.

»Glaubst du mir nicht?« Er hält sich das Kleid an. »Steht mir, oder?«

»Pass auf, dass du nicht entführt wirst!« Lela geht weiter.

Zizo, die Internatsdirektorin, und die Nachbarin Saira, die auf der anderen Straßenseite ihren Kiosk hat und Billigwaren verkauft, machen häufig kleine Geschäfte miteinander. Sairas Schwägerin fährt regelmäßig in die Türkei und bringt allen möglichen Krimskrams mit, und Zizo kauft hin und wieder bei Saira. Auch das rosa Kleid hatte ihr gefallen, aber dann stellte sich heraus, dass es ihr nicht passt, sie will es ihr zurückbringen.

Sergo faltet das Kleid geduldig zusammen und rennt zum Tor.

Schwaden von Mief und der Geruch nach Bratkartoffeln mit Zwiebeln strömen aus dem Speisesaal. Lela zieht ein letztes Mal an ihrer Zigarette und wirft den Stummel in die Ecke, als sie einen Aufprall und ein scharfes Bremsgeräusch hört. Sie dreht sich um und versucht, durch die Tannen hinauf zur Straße zu sehen. Irakli läuft zum Tor. Aus dem Wärterhäuschen kommt Tariela gehinkt, den Schaffellmantel umgehängt, den er sommers wie winters trägt. Ein entsetzter Aufschrei.

Draußen wird Lela von den Hitzeschwaden des Asphalts verschluckt. Die Nachmittagssonne knallt vom Himmel und weist den wenigen Passanten schmale und nervös zitternde Schatten zu. Ein Auto, leicht von der Straße abgekommen. Ein Mann ist ausgestiegen. Er lässt die Autotür offen und steuert wie benebelt irgendwohin. Lela läuft hinter Tariela und Irakli her. Dann sieht sie Sergo, er liegt am Bordstein, wie hingeworfen, er rührt sich nicht. In der Nähe hält ein anderes Auto, jemand steigt aus. Zuschlagen der Tür, eilige Schritte. Lela starrt Sergos leblosen Körper an, er liegt mit dem Gesicht nach unten, scheint sich ganz leicht zu bewegen.

»Ich bin einfach gefahren und dann … er ist mir vors Auto gerannt … ich bin Arzt … ruft den Krankenwagen …«

Tariela und Irakli fassen Sergo vorsichtig an.

»Serosch, Serosch!«, ruft Irakli, als versuche er, ihn von weit her zurückzuholen.

Sie legen ihn auf den Rücken. »Serosch!« Lela betastet Sergo vorsichtig an der Schulter. Dann wird sie grob zur Seite gestoßen. Ein Mann kniet sich neben ihn, legt ihm zwei Finger an den Hals und hält inne. Aus dem offenen Hemd des Mannes riecht es nach Schnaps, seinen schmutzigen Zeige- und Mittelfinger hat er in Sergos weichen, zarten Hals gebohrt, ein Pfeil, der Sergo zwingen soll, ein Geheimnis preiszugeben. Sergo rührt sich nicht, weder der Pfeil noch die Leute, die ihn umringen, machen ihm Angst, er hat nicht vor, das Geheimnis zu verraten.

»Was ist passiert?!« Lela erkennt die Stimme und sieht im Tor des Internats Zizo. Die Direktorin läuft so schnell sie kann, die dicken, schwarzen Klunkern tanzen über der grünlichen Rüschenbluse. Auf den Stöckelschuhen kommt sie mühsam voran.

»Er ist mir reingerannt … Ich bin einfach gefahren, und er ist mir vors Auto gerannt …«

Entsetzt starrt Zizo auf Sergo und die Blutspur. Dort auf dem Asphalt liegt auch das rosafarbene Kleid, gerade läuft jemand drüber. Auch das Kleid ist blutverschmiert.

Männer scharen sich um Sergo, irgendwer sagt, der Junge atme noch.

Aus einem Garten weht eine Männerstimme herüber wie zur Beruhigung der Versammelten, sie gibt der Rettungsstelle am Telefon die Adresse durch: »Kertsch-Straße, Richtung Tianeti, immer geradeaus, dann sehen Sie es schon … ein Kind …«

Aus dem Nichts tauchen Menschen auf, als hätten sie sich irgendwo abseits der verlassenen, von der Sonne versengten Straße versteckt und nur auf den Unfall gewartet, um aus ihren Löchern zu kommen und sich über die Straße zu verteilen. Plötzlich fragt eine spindeldürre, wuselige Frau in Kittelschürze nach Wasser. Saira ist in Ohnmacht gefallen, sie sitzt auf dem Gehsteig, die dicken, willenlosen Beine gespreizt. Ihren fleischigen Rücken stützt Awto – der Turnlehrer ist ebenfalls aus dem Nichts aufgetaucht. Jemand fordert die Schaulustigen in aggressivem Ton auf, auseinander zu gehen, der Verletzte braucht Platz zum Atmen. Sergo wird auf die Jacke eines Fremden gebettet.

»Wir haben den Krankenwagen gerufen«, sagt Tariela zu Zizo.

»Gott steh uns bei …« Zizos Augen füllen sich mit Tränen. »Was fehlt ihm? Ist es schlimm?«

»Ja, es ist schlimm«, antwortet Tariela und verlässt den Kreis.

»Beruhigen Sie sich, gnädige Frau.« Ein unbekannter Mann mit Glatze und roten Wangen hat sich offenbar vorgenommen, seine Ruhe auf die Anwesenden zu übertragen.

»Keine Panik! Man wird sich schon um ihn kümmern. Und bitte kein Gedrängel, sonst kriegt das Kind keine Luft. Um wen sollen wir uns kümmern? Um den Jungen hier oder um die da …« Er deutet mit dem Kopf auf Saira, die ein wenig zu sich gekommen ist, auch wenn sie noch immer wie eine Betrunkene auf dem Bordstein hängt und von Awto gestützt wird. Auch die spindeldürre Frau hockt noch neben ihr, mit einem Wasserglas in der Hand.

Zizo steht eine Weile da, Gesicht und Hals voll scharlachroter Flecken. Dann macht sie ein paar Schritte, bückt sich, hebt das Kleid auf und faltet es schnell zusammen, um sich die Hände nicht blutig zu machen. Sie merkt, dass Lela sie beobachtet.

»Hier, schnell, nimm das, Vorsicht … Geh, leg es in meine Schublade! Und kein Wort, zu niemandem, egal, was man dich fragt, verstanden?«

Lela mustert Zizos verschwitztes Gesicht. Sie versucht ihre Gedanken zu ordnen und etwas zu sagen, doch es gelingt ihr nicht. Sie nimmt das Kleid und rennt los. Sie rennt, als könnte sie mit ihrem Rennen zu Sergos Rettung beitragen. Im Tannenhof kommt ihr Dali entgegen. Auch sie rennt, so schnell sie kann, ein Trupp Kinder folgt ihr wie eine Pfarrgemeinde, aber sie rasen wie die Verrückten, in einem halsbrecherischen Galopp überholen sie Dali, die in der Kinderschar untertaucht.

Lela betritt das Verwaltungsgebäude und steuert auf Zizos Büro zu. Anders als im Wohnhaus sind die Türen hier mit weichem Leder überzogen und gepolstert. Drinnen zieht sie die Schreibtischschublade auf, und eine große, aufgerissene Tafel Schokolade springt ihr ins Auge. Sie verstaut das Knäuel und schiebt die Lade wieder zu. Zizos Tisch ist fast leer: Am Bleistifthalter lehnt eine laminierte Ikone vom heiligen Georg, in einem Trinkglas versucht eine dickblättrige Pflanze Wurzeln zu schlagen, daneben liegt ein Klassenbuch. Unter die Glasplatte, die den Schreibtisch schonen soll, hat Zizo nicht nur ihren Kalender und einen Stundenplan geklemmt, sondern auch ein Schwarzweißfoto von Gregory Peck und Passbilder von ihren beiden Kindern.

Lela kehrt zur Unfallstelle zurück. Sergo ist fort, auch von Saira keine Spur. Jemand hat den Fahrer zur Seite genommen und spricht leise mit ihm – Bezirksinspektor Pirus, ein Mann aus Charagauli, dessen sanftes, gutmütiges Gesicht mit den tieftraurigen Augen nicht zu einem Milizionär passt. Alle anderen stehen immer noch herum, ein paar junge Männer sind dazugekommen, auch Koba, Lela kann ihn nicht übersehen, seine hohe kahle Stirn, die längliche Nase, das beleidigte Vogelgesicht.

»Wir verbieten es ihnen, natürlich verbieten wir es ihnen!« Zizos aufgeregte Stimme, wie bei einer Ansprache auf einer Versammlung. »Aber wir haben nicht genug Personal. Wir haben es dem Ministerium gemeldet. Dali kann nicht den ganzen Tag allein auf so viele Kinder aufpassen.«

Waska steht neben dem Gehsteig, abseits von den anderen, und beobachtet die Umstehenden mit ernstem Gesicht.

»Wir brauchen mehr Leute, alle wissen das, aber keiner kümmert sich.« Zizo klingt immer weinerlicher. »Vielleicht kommen sie uns jetzt endlich zu Hilfe!«

Koba hat Lela gesehen, doch sie grüßen einander nicht. Die kleine, tobende Schar ist auch da, und zum ersten Mal im Leben gehorchen die Kinder, denn Dali weint. Stumm gehen sie mit ihr über die Straße und verschwinden im Tannenhof.

Abends kommt die Meldung, dass Sergo gestorben ist.

Es herrscht Stille.

Am nächsten Morgen fällt der Unterricht aus.

Wano kommt ins Internat, ein großer, hagerer Mann mit sorgfältig gestutztem schwarzen Schnurrbart, die Glatze mit Haarsträhnen überkämmt. Sein ewiger dunkelgrauer Anzug ist mit ihm verwachsen, nur an frostigen Tagen trägt er unter dem Sakko eine Weste mit Rautenmuster, und wenn die Kälte durch Mark und Bein geht, zieht er einen grauen Mantel an und bindet sich einen Schal mit Rautenmuster um.

Er redet nicht gern. Ob er aus dem Klassenzimmer kommt und sich in den Pausen durch die Pulks von Kindern im Gang schiebt oder an den Lehrerinnen vorbeigeht, die im Hof sitzen, nie sagt er ein Wort, er senkt nur leicht den Kopf mit der verlogenen Frisur.

Sergos Leichnam wird in der Turnhalle aufgebahrt, im Souterrain des Verwaltungsgebäudes, Fenster auf Straßenhöhe mit Eisengitter davor. Bis auf die Sprossenwände und ein paar alte Sportgeräte ist die Halle leer, jedes Wort, jeder Laut vergeht wie Rauch, der sich in die leeren Ecken verflüchtigt. Auf einer Langbank an der Wand sitzen die Kinder und wagen nur durch Lippenbewegungen, sich etwas mitzuteilen. Sie starren in die Mitte der Halle. Dort, auf dem Schreibtisch des Turnlehrers, liegt Sergo unter einem Leintuch.

Draußen im Hof steht der Fahrer. Auf den ersten Blick wirkt er ruhig, auch die vier Männer, seine Begleiter, die um ihn herumstehen, machen einen unaufgeregten Eindruck. Sie stehen jetzt zwar hier, auf diesem schmutzigen, verrottenden Internatsgelände, aber es ist, als wären sie nicht da. Sie gleichen Menschen, die versehentlich an der falschen Haltestelle ausgestiegen sind und nun geduldig auf den erstbesten Bus warten, um schnell wieder wegzukommen.

Ein paar Nachbarsfrauen, die sich ebenfalls im Internatshof versammelt haben, beobachten die Gruppe neugierig. Sie wollen herausfinden, wer der Mörder sein könnte. Tina, eine der älteren, mit einem zu kurzen Bein und auf einen Stock gestützt, bleibt mit ihrem Adlerauge an dem Fahrer haften und mustert ihn aufmerksam. Sein massiges Doppelkinn, das den Hals verkürzt, und die Ader, die auf seiner geröteten Stirn hervortritt, lassen ihn wie eine aufgeblasene Kröte aussehen. Auch die anderen Frauen sehen den Fahrer an. Die Tatsache, dass dieser Mann hier im Blickfeld aller so gefasst dastehen kann, unterstreicht seinen Mut und nötigt den anderen Respekt ab.

»Es war wohl nicht seine Schuld …«, sagt Wenera, eine Frau um die sechzig mit kurzen, grauen Haaren und Perlenkette. Tina kneift die Augen zusammen, als glaubte sie den Worten der Nachbarin nicht, und achtet auf das Verhalten des Mannes.

»Er scheint kein schlechter Mensch zu sein … Den Zinksarg hat er abgelehnt, er hat auf einem Holzsarg bestanden und sogar die Grabkosten übernommen. Sonst hätte man den Jungen anonym bei den Armen beerdigt, ohne Stein und ohne Namen.«

»Ah ja …« Tina wirkt beeindruckt, ihren Mund mit den spitzen, grauen Zähnen lässt sie wie ein Fisch offenstehen.

»Ein anderer hätte sich nicht mal nach ihm erkundigt«, führt Wenera aus. »Warum auch? Wenn einem weder die Eltern noch die Miliz im Nacken sitzen.«

»Wohl wahr!«, bestätigt Tina.

Während die Menschen sich im Hof versammeln, stehen Wano und Zizo besorgt beieinander. Offensichtlich hat niemand damit gerechnet, dass man Sergo tot ins Internat zurückbringen würde. Dem Plan nach sollte sein letzter Weg vom Krankenhaus direkt auf den Friedhof gehen.

Die beiden betreten die Turnhalle. Zizo ist nervös, mal steckt sie die Hände in die großen Rocktaschen, mal nimmt sie sie wieder heraus, um im Gespräch aufgeregt zu gestikulieren. Dabei schaut sie zu Awtos Schreibtisch, als läge dort eine Bombe, die jeden Augenblick explodieren kann.

Lela setzt sich neben die Kleinen. Die verängstigte Stella weicht ihr nicht von der Seite:

»Ist er tot? Ist Sergo tot?«

Stella zieht die Augenbrauen hoch, mit ihrem verschmierten Gesicht steht sie fassungslos vor ihr.

Lela nimmt sie vorsichtig am Arm, setzt sie neben sich:

»Ja, er ist tot.«

Stella verstummt, als säße sie im Theater und wartete, dass der Vorhang aufgeht.

Die Kinder sitzen wie Ersatzspieler auf der Bank und versuchen, etwas von den Gesprächen der Lehrer aufzuschnappen. Wano und die Direktorin haben die Köpfe zusammengesteckt, Zizo zeigt hinüber zu den Kindern, erklärt ihm etwas und verlässt mit forschem Schritt die Halle. Wano bittet Awto, die Kinder aus der Turnhalle zu scheuchen und niemanden mehr hereinzulassen.

»Gleich kommt der Priester, und es geht auf den Friedhof«, sagt Wano, auch er will gehen, doch ein platter Basketball kommt ihm in die Quere, verfängt sich zwischen seinen Füßen, fast wäre er gestürzt. Lewana, einer von den Zwölfjährigen, kann sich das Lachen nicht verbeißen. Wano gibt dem Ball einen wütenden Tritt und schießt ihn zur Seite. Den Kindern wirft er einen bitterbösen Blick zu, sagt aber nichts und verschwindet aus der Halle.

Irgendwoher hatte sich das Gerücht verbreitet, dass Sergo in die Hölle kommt, weil er nicht getauft ist, und dass Feuer und Teufel mit Peitschen, Ruten und heißen Glüheisen auf ihn warten – eine Vorstellung, die Dali den Kindern schnell austreiben möchte: Sie erklärt ihnen, dass Vater Jakob gleich ein Ritual vollziehen wird, damit Sergos Seele ins Paradies auffahren kann.

Jakob trifft ein. Über seinem lebensvollen, dichten Bart blitzen ebenso schwarze, strenge und lebhafte Augen. In Begleitung von Zizo und Wano segnet er die Internatsgebäude und zeichnet mit dem Öl ein Kreuz über die Türen. Die Kinderhorde folgt ihnen, und zum Schluss gehen sie auch hinüber zum Badehaus. Der Priester schreitet das Gebäude von allen Seiten ab, er stapft durchs Gestrüpp und spendet dem Badehaus Gottes Segen. Kletten bleiben an seinem Priesterrock hängen, wie kleine, feste, haarige Wesen, die Vater Jakob anflehen, sie zu erlösen und von hier wegzubringen.