Das Blau der Veilchen - Susanne Arnold - E-Book

Das Blau der Veilchen E-Book

Susanne Arnold

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Beschreibung

Seit langem steht das Anwesen Old Mansion Hall im beschaulichen Örtchen Rosefield leer. Plötzlich verbreitet sich im Ort die Neuigkeit, dass der als verschollen geltende Erbe des Herrenhauses wieder dort eingezogen ist. Für die betagten Freundinnen Elisabeth und Margret eine willkommene Abwechslung in ihrem Alltag. Doch noch ehe sie dem Neuankömmling einen ersten Besuch abstatten können, geschieht ein heimtückischer Mord. Während die Polizei im Dunkeln tappt, entdeckt Margret eine Spur. Ist sie auf der richtigen Fährte? Und können sie und Elisabeth der Gefahr entgehen, die auf sie lauert?

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Susanne Arnold

Das Blau der Veilchen

Für meine Eltern

1

»Ein Geräusch ließ mich zusammenzucken. Ich fuhr herum und sah gerade noch einen Papierfetzen, der im seichten Wind tanzend zu Boden glitt. Eine Amsel, die sich genüsslich einem Regenwurm gewidmet hatte, suchte schockiert das Weite. Schwerfällig erhob ich mich aus meiner hockenden Haltung und rieb die Hände aneinander. Einige Bröckchen Erde, die beim Unkrautjäten hängenge­blieben waren, prasselten auf meine nagelneuen Gummi­stiefel mit Margeritendesign.

»Was ist denn los, meine Liebe?«

Margret saß auf einem der schmiedeeisernen Stühle unter dem Apfelbaum vor unserem Cottage und starrte missmutig auf die Kent News, die sie auf dem Tisch vor sich ausgebreitet hatte, um die Schlagzeilen des Tages zu studieren. Dies hatte sie bereits während des Frühstücks getan und am Mittag noch einmal, aber ganz offensichtlich brachte ihr der sonst so geliebte Zeitvertreib heute nicht die erwünschte Befriedigung, ganz gleich, wie häufig sie ihren geübten Blick über die Artikel, Werbungen und Anzeigen schweifen ließ. Der Papierfetzen, der nun im feuchten Gras lag, fehlte an einer Ecke ihrer Lektüre.

»Die Zeitung ist voll von Nichtigkeiten, es ist kaum auszuhalten!«, klagte sie bitter und hielt die bedauernswerte Schrift demonstrativ in die Höhe, bevor sie sie achtlos zurück auf den Tisch beförderte. Dabei segelte die Werbung eines Möbelladens heraus und bedeckte bei ihrer Landung die Spitze eines Maulwurfshügels.

»Kein Mord, kein Raubüberfall, keine krummen Geschäfte, einfach nichts! Nicht einmal ein Fahrrad wird gestohlen! Und hier bei uns in Rosefield passiert ja ohnehin schon seit einer halben Ewigkeit nichts mehr. Es ist einfach entsetzlich langweilig geworden.« Sie unterstrich ihre Worte mit einer wegwerfenden Handbewegung. Dabei kam mir wie so oft in den Sinn, dass sie viel zu dünn für ihre Größe war, ein Umstand, den ich mir selbst ehrlicherweise nicht zuschreiben konnte. Margret musste dringend mehr essen. Ihre Finger erinnerten mich an die abgenagten Knochen eines Hähnchens, während ich nicht einmal mehr meinen Ehering abnehmen konnte.

»Aber ist es nicht gerade gut, wenn niemand überfallen oder bestohlen wird?«, erkundigte ich mich vorsichtig und schnitt eine welke Anemone ab, die für meinen Geschmack als Hobbygärtnerin nicht in das Bild eines gepflegten Vorgartens passte.

»Natürlich ist es nie besonders erfreulich, wenn jemand zu Schaden kommt, aber mein Gehirn braucht einfach hin und wieder eine Herausforderung!« Sie tippte sich bedeutungsvoll an ihre hohe Stirn, auf die sich keine Haarsträhne jemals verirren würde. Margret trug ihr aschgraues Haar stets zu einem strengen Knoten gebunden. Noch nie hatte ich eine andere Frisur an ihr gesehen. »Ich habe die Befürchtung, dass die Zahnräder in meinem Oberstübchen allmählich einrosten und ganz dringend geölt werden müssen, verstehst du?«

Ungeduldig rückte sie ihre Nickelbrille zurecht, die ihr ständig auf ihre spitze Nase rutschte, lehnte sich resigniert zurück, nahm ihr Strickzeug wieder zur Hand und ließ die Nadeln lustlos klappern.

Ich wagte einen Vorstoß.

»Wie wäre es mit einem neuen Strickmuster?«

Dabei bemühte ich mich, meine Stimme so aufmunternd wie möglich klingen zu lassen. »Letzte Woche gab es ein recht ansprechendes in einer Illustrierten. Welche war es noch gleich?« In Gedanken ging ich sämtliche Zeitschriften durch, die ich in der Woche zuvor durchgeblättert hatte. »Ich wollte es eigentlich ausschneiden, habe es dann aber wohl doch vergessen. Es ging um einen modischen Poncho, der dir ausgezeichnet stehen würde und das Strickmuster dazu wirkte auf mich alles andere als einfach, sodass du etwas hättest, woran du dir die Zähne ausbeißen könntest.« Da keine Reaktion aus der Richtung des Apfelbaums kam, fuhr ich fort. »Und wie vorteilhaft wäre das Ganze dann noch in einer fröhlichen Farbe, beispielsweise in einem zarten Rosa? Würde dir das nicht gefallen?« Die einzige Antwort darauf war ein grauer Wollknäuel, der herunterfiel und über die Wiese rollte. Ich sah ihm dabei zu, bis er vor meinen Füßen zum Liegen kam. »Es wäre mal etwas anderes, als dieses ewige Grau, Schwarz oder Braun, das du immerzu trägst. Möchtest du, dass ich hineingehe und nach der Illustrierten suche? Hoffentlich hat Lucy sie nicht weggeworfen, sie ist eifriger, als mir lieb ist, wenn es ums Ausmisten und Entsorgen geht.«

Jetzt hob Margret tadelnd eine Augenbraue und erstickte damit meine Euphorie im Keim.

»Ich spreche von einer echten Herausforderung, meine liebe Elisabeth, nicht von Strickmustern! Und wie ein Poncho aussieht, interessiert mich auch nicht besonders, wie du weißt. Hauptsache, er hält warm! Kleidungsstücke sind dazu da, ihren Zweck zu erfüllen.« Unwirsch schleuderte sie ihr Strickzeug auf den benachbarten Stuhl, sodass eine Nadel herausrutschte und sich einige Maschen lösten.

»Oh Margret, die viele Arbeit, die du dir gemacht hast!«

»Ach, papperlapapp! Was bedeutet das schon? Diese Tristesse ist kaum auszuhalten. Ich schlafe, esse, lese, stricke und wieder von vorne. Wie lange ist es nun schon her, seit ich Inspector Brown zum letzten Mal behilflich war?«

Daran erinnerte ich mich noch lebhaft.

»Knapp ein Jahr. Es war kurz nachdem ich bei dir eingezogen bin. Mein armer Harry ist Anfang Januar des letzten Jahres gestorben und du hast mich im März gefragt, ob ich nicht Lust hätte, bei dir zu wohnen.« Ich schenkte ihr meinen dankbarsten Blick, denn ohne den Einzug in Margrets Cottage wäre ich ganz allein in meinem Haus früher oder später versauert. »Kurz darauf ist dieser Mord drüben in Candleham geschehen. War nicht die Beerdigung in der Woche vor Ostern? Sally hatte das Schaufenster des Gemischtwarenladens mit Ostereiern und Küken dekoriert. Einfach grandios, wie du damals den Fall gelöst hast! Der Inspector würde ohne dich heute noch im Dunkeln tappen. Er war auf der völlig falschen Fährte!« Bei der Erinnerung an die vergangene Geschichte schlug ich mir vor Begeisterung auf die Oberschenkel. »Du hast dich dabei selbst übertroffen! Seit ich dich kenne interessierst du dich für kriminalistische Fälle, aber die Aufklärung dieses Mordes war deine absolute Glanzparade.«

»Nun, du hast mir dabei in nicht unerheblichem Maße geholfen, meine Liebe.« Margrets Stimmung hellte sich bei dem Gedanken an ihre Detektivarbeit sichtlich auf. Erfreut sah ich, wie sich ihre Schultern strafften und sich ihre Körperhaltung von einem Kartoffelsack zu einer der kerzengeraden Ankleidepuppen von Mrs Lewis aus der Änderungsschneiderei formte. Ihre Augen funkelten und erinnerten mich an das von Sonne beschienene Wasser unseres Sees vor den Toren Rosefields.

Unwillkürlich musste ich schmunzeln.

»Ich habe doch nur getan, was du mir gesagt hast.«

Erinnere sie an ihre gelösten Fälle und alles ist wieder in Ordnung, dachte ich triumphierend und beschloss, dass es nicht schaden konnte, noch eine Schippe draufzulegen. »Ich könnte niemals so kombinieren wie du. Mir kommt dein brillanter Verstand immer wie eine riesengroße Lagerhalle mit hunderten Regalen, Schränken und Schubladen vor.«

»Wie eine Lagerhalle? Du neigst wahrlich zu amüsanten Vergleichen.«

»Naja, ich stelle mir gerne vor, dass du dort alle Gedanken geordnet ablegst, die dir relevant erscheinen. Und wenn du auf einen dieser Gedankengänge zurückgreifen möchtest, öffnest du einfach die entsprechende Schublade und schon weißt du wieder haargenau, was du irgendwann einmal irgendwo zu diesem Thema gehört, gesehen oder gelesen hast.« Das entsprach der Wahrheit. In meinen Augen war Margret ein Nachschlagewerk! »Du erinnerst dich ja sogar an Dinge, die dich zwischen irgendwelchen Zeilen angesprungen haben, wie du immer sagst, und auf die ich im Traum nicht kommen würde. Ich weiß nicht einmal, was wir vor zwei Tagen gegessen haben, und niemand kann behaupten, dass ich mich nicht für Essen interessieren würde.« Darüber mussten wir beide herzlich lachen, wodurch sich auch das letzte Fünkchen angespannter Atmosphäre in Luft auflöste. Ich hatte mich mit meiner Körperfülle abgefunden, als ich 40 wurde, daher lebte ich nun bereits seit 31 Jahren sehr entspannt damit und genoss jedes kulinarische Erlebnis, das sich mir bot, in vollen Zügen. Margret hingegen bevorzugte geistige Kost.

Wir nahmen unsere Tätigkeiten wieder auf, unter anderem auch deshalb, weil uns gerade einfach nichts Klügeres einfallen wollte. Margret rettete ihr Strickzeug vor dem weiteren Verfall und schwelgte dabei vermutlich in Gedanken an Verbrecherjagden, denn ihre Mundwinkel hatten sich zu einem versonnenen Lächeln gehoben, sodass sie einer liegenden Mondsichel glichen. Ich vertiefte mich in das Ausmerzen von Löwenzahn. Margrets Unausgeglichenheit war für mich durchaus verständlich, denn auch ich hatte mich an Tagen des trüben Winters, an denen man kaum eine Menschenseele zu Gesicht bekommen hatte, zutiefst gelangweilt. Wir konnten Scrabble, das wir noch im November mit Begeisterung gespielt hatten, inzwischen nicht mehr sehen.

Ich atmete die duftende Aprilluft wie ein Lebenselixier ein und freute mich an einer pelzigen Hummel, die mit ihrem ballonförmigen Körper gemütlich an mir vorbeiflog, um eine Narzisse anzusteuern. Die Sonne schien ihrer Frühlingsschwäche zum Trotz verheißungsvoll und ließ mich hoffen, dass die Zeiten der Langweile nun bald vorbei sein würden. Dann würde ich vom Vorgarten aus wieder dem geschäftigen Treiben zusehen können, denn obwohl unser Cottage außerhalb Rosefields lag, konnte man dennoch fast die ganze Hauptstraße überblicken, sofern man sich nahegenug am Gartenzaun aufhielt.

Als ob er meinen Wunsch nach Gesellschaft erraten hätte, tauchte Joe Mallowan auf seinem Fahrrad auf. Der große Eifer, mit dem er die Angebots-Flyer für den Dorfladen von Sally und George Kinsley verteilte, um sich etwas Taschengeld dazu zu verdienen, war meiner Ansicht nach dem Umstand geschuldet, dass er aus einem Lehrerhaushalt stammte, wo er schon früh Pflichtbewusstsein und Fleiß verinnerlicht hatte. Unser Dorflehrer erzog seine fünf Sprösslinge mit liebevoller Strenge, was ihnen offensichtlich nicht schlecht bekam. Mir erschienen sie alle ziemlich gut geraten. Als Joe näherkam, fiel mir wieder einmal auf, wie athletisch, groß gewachsen und gutaussehend er mit seinen 19 Jahren bereits war. Vom Fahrtwind erfrischt sauste er geradewegs auf mich zu, das dunkle Haar zerzaust und die Finger an den Gelenken gerötet. Die sportliche Kleidung, die er trug, verlieh ihm trotz seiner Jugendlichkeit etwas Maskulines und seine muskulösen Oberarme zeichneten Muster durch die Jacke. Die Mädchen mussten ihm scharenweise zu Füßen liegen. Vor dem Gartentürchen machte er eine Vollbremsung, bei der sein Hinterrad mit einem schabenden Geräusch zur Seite abdriftete.

»Hoppla! Nicht so stürmisch, junger Mann! Hast du es geschafft für heute?«

Die sich mir durch das Erscheinen des ältesten Dorfschullehrersohns bietende Gelegenheit für eine Pause nahm ich dankbar an, denn vom Zupfen und Hacken in gebeugter Haltung schmerzte mein Rücken bereits erheblich. Mein fortgeschrittenes Alter ließ sich häufig ignorieren, aber leider nicht immer. Ich streckte meine Schultern mit angewinkelten Ellenbogen so weit wie möglich nach hinten, bildete ein Hohlkreuz und versuchte mir den Stich, der mir durch den Lendenwirbel schoss, nicht anmerken zu lassen.

»Ja, Mrs Wilson, Sie sind meine letzte Anlaufstelle. Ich hebe mir ihr Cottage immer bis zum Schluss auf, weil es abseits liegt. Hier sind die Angebote der Kinsleys für die kommende Woche. Ich hoffe, Sie können etwas davon gebrauchen.« Er reichte mir einen bunt bedruckten Prospekt über den Gartenzaun, der nur so wimmelte von Bildern, durchgestrichenen Preisen und in plakativer Schrift korrigierten Zahlen, die eine verlockende Versuchung bildeten. Aus den Augenwinkeln sah ich unsere Lucy am Küchenfenster, die sich, halb hinter der Gardine versteckt, schier den Hals verrenkte, nur um einen Blick auf ihr Objekt der Begierde werfen zu können. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Sie war jung und frei wie ein Rehkitz, wieso sollte sie sich nicht den Kopf verdrehen lassen? In jungen Jahren lässt es sich doch viel unbefangener schwärmen als später, wenn der Ernst des Lebens erst einmal die Oberhand gewinnt.

»Du bist ein tüchtiger Junge, ich danke dir«, lobte ich, »mal sehen, was es nächste Woche Schönes gibt. Wobei man ja dann doch auf dem Heimweg immer wieder feststellt, dass man mindestens die Hälfte der Utensilien, die sich im Einkaufskorb befinden, gar nicht wirklich benötigt, nicht wahr?« Ich zwinkerte ihm zu.

Joe lachte und die eigensinnige Haarsträhne, die er sich gerade aus dem Gesicht gestrichen hatte, fiel ihm erneut in die Stirn. »Genau das sagt meine Mutter auch immer.«

Ob er sich seiner Wirkung, die er erzielte, auch nur ansatzweise bewusst war?

»Tja, das nennt man wohl menschliche Schwäche«, gab ich amüsiert und durchaus doppeldeutig zurück. »Sag mal, gefällt dir denn dein Job bei den Kinsleys? Hast du gute Arbeitsbedingungen?«

Verlegen blickte er unter sich und überdachte krampfhaft die Wahl seiner Worte. Ich sah deutlich die sorgenvollen Falten, die sich innerhalb von Sekunden auf seiner Stirn bildeten.

»Eigentlich schon.«

Das Thema schien ihm nicht sonderlich zu behagen, denn er hantierte nervös und ohne erkennbaren Grund an dem Zipper seines Reißverschlusses herum.

»Eigentlich?«

Ich wollte ihn nicht dazu drängen, sich mir gegen seinen Willen zu öffnen, aber Joes Wohl lag mir irgendwie am Herzen, schließlich hatte ich selbst zwei erwachsene Söhne. Und George Kinsley als Chef war keine schöne Vorstellung.

»Naja, wissen Sie, ich möchte Medizin studieren und dann später die Praxis von Doktor Hastings hier in Rosefield übernehmen. Ich wollte schon immer Arzt werden, etwas anderes kommt für mich nicht infrage!« Der Junge strahlte eine Entschlossenheit aus, wie ich sie noch bei keinem Gleichaltrigen erlebt hatte. »Zu meinem fünften Geburtstag bekam ich einen Arztkoffer geschenkt. Es war toll, das beste Geschenk von allen. Ich habe jeden untersucht, der mir über den Weg lief und die wildesten Diagnosen gestellt. Wahrscheinlich hat mich das geprägt.« Er nickte, um seine Worte zu bekräftigen. »Aber für das Studium brauche ich eine Menge Geld, weshalb ich mich bemühe, so viel wie möglich zu sparen. Da ist die Freude am Job eher zweitrangig. Manchmal muss man einfach Kompromisse eingehen, wenn man ein Ziel vor Augen hat.« Achselzuckend lächelte er mich an. »Außerdem ist momentan nichts anderes hier in der Gegend zu finden, also hatte ich keine große Wahl. Bei vier jüngeren Geschwistern können mir meine Eltern allenfalls etwas dazu geben, aber auf keinen Fall die kompletten Kosten übernehmen. Tja, und London ist ein verdammt teures Pflaster.«

»Da hast du leider recht. Die Mieten sind für Studenten im Grunde genommen kaum bezahlbar. Lucy erzählte uns davon. Sie kommt aus London, wusstest du das? Ich bin sicher, dass sie dir gerne bei der Suche nach einer geeigneten Unterkunft hilft, sie kennt sich ja bestens aus.« Er nickte dankbar. »Arzt möchtest du werden? Bravo, mein Junge, das ist ja toll! Und dass du in deinem Alter schon so gefestigt bist in deinen Plänen, beeindruckt mich ganz besonders. Du machst einen sehr erwachsenen Eindruck, Joe Mallowan!« Ich meinte es ernst. »Meinen allergrößten Respekt für deine Zielstrebigkeit! Doktor Hastings wird sich glücklich schätzen, von einem solchen Nachfolger beerbt zu werden. Er sagt immer, Arzt zu sein bedeutet, seiner Berufung zu folgen. Ich glaube, dass dies bei dir der Fall sein wird.«

»Nett von Ihnen, das zu sagen! Dr. Hastings ist ein großes Vorbild!«

»Hoffentlich bekommst du von den Kinsleys wenigstens ein anständiges Gehalt! Schließlich bist du bei Wind und Wetter für sie unterwegs und … nun ja, wir alle kennen George Kinsley.« Ich rollte vielsagend mit den Augen. Joe kaute unsicher auf den Innenseiten seiner Wangen, wobei er seine Lippen einzog. Sein Blick heftete sich düster an unseren Pfingstrosenstrauch.

»Ich möchte wirklich nicht gierig erscheinen, aber Mr Kinsley … naja, er zahlt nicht besonders gut, wenn ich ehrlich sein soll. Er ist auch nicht sehr freundlich und oft gereizt.« Seine Stimme klang hart und ich nickte wissend. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was er meinte. Dann schien ihm jedoch ein Gedanke zu kommen und seine Stirn glättete sich.

»Aber wissen Sie, was ich an der Arbeit wirklich mag? Die netten Plaudereien mit Menschen wie Ihnen! Da Ihr Cottage das letzte auf meiner Runde ist, habe ich immer einen positiven Abschluss und fahre gut gelaunt nach Hause.«

»Ach, das freut mich aber wirklich sehr.«

»Und mal von Mr Kinsley abgesehen ist Sally wirklich unglaublich nett. Ich mag sie. Manchmal steckt sie mir heimlich noch etwas zu.« Erschrocken schlug er sich die Hände vor den Mund und riss die Augen auf. »Das hätte ich lieber nicht verraten sollen. Die arme Mrs Kinsley hat es ohnehin nicht leicht mit ihrem Mann. Besonders in den letzten Tagen wirkte sie auf mich total bedrückt, fast schon verzweifelt. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie Angst hat. Irgendetwas stimmt da nicht. Ich wollte sie schon fragen, was los ist, denn sie tat mir so leid, aber dann dachte ich, dass mir das nicht zusteht.« Seine Stimmlage schwang in einen beinahe spöttischen Ton um. »Ich bin ja nur der Prospekt-Verteiler und daher geht es mich wohl nichts an.« Seine Betonung lag eindeutig auf dem Wörtchen »nur«. Er verschränkte die Arme und reckte trotzig das Kinn. Für einen Moment fragte ich mich, ob er lieber mehr wäre als nur der Botenjunge von Sally Kinsley. »Wenn ihr Mann erfährt, dass sie ohne sein Wissen und erst recht ohne seine Zustimmung meinen Lohn aufstockt, wird sie einen Riesenärger bekommen. Das will ich nicht, auf gar keinen Fall! Ich möchte nicht schuld daran sein, dass sie noch trauriger wird, als sie es ohnehin schon ist. Und glauben Sie mir, sie ist absolut deprimiert! Noch ein weiterer Tropfen in das Fass und es läuft über! Sie werden doch nichts sagen, Mrs Wilson, oder?« Halb ängstlich und halb flehend blickte er mich an.

»Aber natürlich nicht!« Ich tätschelte seine Schulter.

»Versprechen Sie das?«

»Hoch und heilig!« Mein aufmunterndes Augenzwinkern vertrieb zumindest einen Teil seiner Sorge, denn er lächelte erleichtert.

Ich griff in die Tasche meiner Gartenschürze und förderte eine Schokoladentafel zutage.

»Hier, für dich als Stärkung nach deinem Arbeitstag! Ich hoffe, sie ist noch nicht zerbröselt. Es ist deine Lieblingssorte, die mit Marzipan. Ich wusste ja, dass du heute irgendwann hier vorbeikommen würdest.«

Joe Mallowan strahlte jetzt über das ganze Gesicht, sodass sich auf beiden Wangen jeweils ein Grübchen bildete. Jung müsste man noch mal sein, dachte ich unwillkürlich und schaffte es gerade noch, einen Seufzer der Verzückung zu unterdrücken. »Vielen Dank, Mrs Wilson, Sie wissen ja, für Marzipan sterbe ich!« Als er sich gerade wieder auf sein Fahrrad schwingen wollte, bemerkte er Margret unter dem Apfelbaum. »Ach, Miss Miller, ich hatte Sie gar nicht gesehen. Geht es Ihnen gut?« Er winkte grüßend zu unserer kleinen Sitzecke hinüber.

»Aber ja, mein Lieber.«

Margret erhob sich und bildete mit der Hand ein Dach über ihren Augen, da sie geradewegs in die sich durch die aufziehenden Wolken kämpfenden Sonnenstrahlen blinzelte. »Ganz im Gegensatz zu unserer armen Sally, wenn ich dich richtig verstanden habe.«

Joe runzelte die Stirn.

»Ja, sie scheint Sorgen zu haben. Sicher liegt es an der Art, wie ihr Mann sie behandelt. Wer möchte schon eine solche Ehe führen?« Es war nicht zu übersehen, dass seine Wangen immer röter wurden, während er sich langsam in Rage redete. »Ich stelle mir das für mein Leben auf jeden Fall einmal anders vor. Ich würde nie mit einer Frau so umgehen, niemals! Das hat Sally, ich meine Mrs Kinsley, auch nicht verdient! Mr Kinsley ist … er ist Abschaum! Verstehen Sie? Aber ich werde mich um sie kümmern! Ich werde für sie da sein!« Er ballte die Hände zu Fäusten und presste die Lippen aufeinander. Dieser emotionale Ausbruch war ihm bereits eine Sekunde später sichtlich peinlich, denn sein Kopf begann nun, in sämtlichen Rottönen einer Farbpalette zu leuchten und er hatte es plötzlich sehr eilig, fort zu kommen. »Entschuldigung, das hätte ich nicht sagen dürfen. Ich sollte lieber fahren. Ich muss ohnehin los.«

»Schönen Feierabend, Joe! Und mach dir nicht so viele Sorgen!« rief ich ihm nach. Margret trat neben mich an den Gartenzaun. Gemeinsam sahen wir dem hastig davonradelnden angehenden Arzt von Rosefield nach, während der Wind sich drehte und die Luft nach nahender Veränderung roch.

2

»Was für ein höflicher und gutaussehender junger Mann!« Ich hätte endlos schwärmen können. »So etwas erlebt man heutzutage nur noch selten. Wie kultiviert er sich ausdrückt und dann auch noch dieses überaus reife Verhalten mit gerade einmal 19 Jahren!« Das Wort, das er für seinen Chef gewählt hatte, entschuldigte ich gedanklich, denn insgeheim stimmte ich ihm zu.

Anstatt auf meine Lobeshymne einzugehen, kam Margret nochmals auf die Kinsleys zurück.

»Sally hat wirklich ein hartes Los mit ihrem Mann.« Sie drehte sich zu mir um. »Und machen wir uns nichts vor, auch für Joe wird es nicht gerade ein Zuckerschlecken sein, unter diesem Tyrannen zu arbeiten, selbst wenn er nur die Prospekte verteilt. George Kinsley ist ein Ekel, da nützt keine Beschönigung etwas! Die Frage ist, was ihn derart hat verbittern lassen, schließlich war er früher ganz anders.«

Ich nickte zustimmend und mir fiel mein Einkauf in der vergangenen Woche wieder ein.

»Sally wirkte neulich regelrecht eingeschüchtert, als ich bei ihr im Geschäft war. Ständig blickte sie sich ängstlich um, als erwarte sie jeden Moment ein Donnerwetter aus diesem kleinen angrenzenden Raum, in dem ihr Mann immer die Abrechnungen macht.« Ich spürte, wie in mir wieder die gleiche Empörung aufstieg, die ich auch in der letzten Woche empfunden hatte. Ich mochte Sally und fand die Art, in der ihr Mann seine Launen an ihr ausließ, einfach nur unmöglich! »Es ist kaum vorstellbar, dass ­George mal ein angenehmer Mensch war, aber wir kennen ihn schließlich seit vielen Jahren und wissen, dass es so war. Und Sally hat ihn geheiratet, obwohl sie mehr als genug Angebote hatte.«

Tatsächlich hatten wir ihn als begehrten Junggesellen in Erinnerung, lustig und bei Weitem nicht unattraktiv, auch wenn man das heute kaum noch glauben wollte. Was seinen Charakter einer derart radikalen Wandlung unterzogen hatte, war mir schleierhaft. »Man kann es drehen und wenden, wie man will, Sally ist die eigentliche Seele des Gemischtwarenladens. Würde George ihn alleine führen, gingen sämtliche Einwohner Rosefields mittlerweile drüben in Candleham zum Einkaufen und er könnte den Laden dichtmachen, so viel steht fest. Dieser Griesgram sollte seiner Frau wirklich dankbarer sein!« Ich stemmte die Hände in meine Hüften. »Wenn du mich fragst, tut er gut daran, die meiste Zeit in seinem Abrechnungszimmer zu bleiben! Arme Sally! Sie hat etwas Besseres verdient!«

»Arm hin oder her, sie sollte ihr Leben überdenken!« Entschieden fegte Margret ein welkes Blatt von einem Pfosten des Gartenzauns.

»Ja, das sollte sie wohl.« Die Vorstellung, dass sie ihre wahrscheinlich besten Jahre vergeudete, betrübte mich. »Sie gibt sich so viel Mühe mit dem Laden. Diese netten Dekorationen, die sie überall im Geschäft arrangiert, sehr geschmackvoll und gespickt mit liebevollen Details. Wusstest du, dass sie erst kürzlich eine Tee-Ecke eingerichtet hat?«

»Tatsächlich? Nette Idee, aber davon wird ihre Situation auch nicht besser.«

»Es gibt drei kleine Tische, ganz entzückend! Man bekommt Earl Grey, English Breakfast und viele weitere Sorten und dazu reicht Sally ihr köstliches Gebäck, das sie nach ihren eigenen Rezepten zubereitet! Die Tische sind mit niedlichen Blumengestecken ausgestattet, überall leuchten Teelichter und die letzten Male, als ich dort war, habe ich immer jemanden getroffen und mich nett unterhalten.«

Margret schmunzelte.

»Nun meine Liebe, das ist ja genau das Richtige für dich.« Sie zwinkerte mir schelmisch zu.

»Was soll das denn heißen?«

»Ach, was würdest du denn ohne deine Dorfgeschichten tun? Du würdest eingehen wie der verkümmerte Krokus dort drüben!« Ich ließ keine Gnade walten und schnitt die Blüte radikal ab.

»Was ist denn so schlimm daran? Ich interessiere mich eben für meine Mitmenschen!«

»Oh, gar nichts, es kann sogar überaus nützlich sein. Ohne dich hätte ich von vielem, was hier so vor sich geht, vermutlich gar keine Kenntnis. Aber wenn du keine Möglichkeit bekommst, den neuesten Tratsch zu erfahren, wirst du mindestens ebenso missmutig, wie ich es vorhin war. Das durfte ich im verregneten Januar mehr als einmal erfahren, meine liebe Elisabeth.« Sie sah wichtigtuerisch über ihren Brillenrand. »Und auch wenn dir deine Frisur überaus am Herzen liegt, so vermute ich doch stark, dass der fragwürdige Informationsaustausch bei deinen wöchentlichen Friseurbesuchen im Salon von Mrs Gibson eine mindestens ähnlich starke Gewichtung aufweist. Korrigiere mich gerne, wenn ich mich irre.«

»Und wenn schon! Du könntest ruhig auch mal zu Mrs Gibson gehen!« Ich war ein wenig gekränkt. »Seit ich dich kenne, trägst du diesen strengen Haarknoten. Was hältst du von etwas Farbe oder einem modischen Schnitt? Du könntest so viel mehr aus dir machen.«

»Ich finde meine Frisur sehr praktisch. Keine Strähne hat die Chance, mich zu stören. Die Optik ist mir dabei herzlich egal, Hauptsache, mir fallen beim Stricken oder Lesen keine störenden Haare vor die Augen. Eine entsetzliche Vorstellung!«

Seit meinem Einzug in Margrets Elternhaus versuchte ich, das äußere Erscheinungsbild meiner Freundin etwas aufzupeppen, aber sie war durch und durch praktisch veranlagt. Damit würde ich mich wohl abfinden müssen.

Plötzlich kam mir meine Überlegung von vor einigen Minuten wieder in den Sinn.

»Denkst du, Joe Mallowan ist in Sally Kinsley verliebt? Er schien vorhin so besorgt um ihr Wohlergehen und wurde regelrecht emotional, als es um ihre Ehe und ihre momentane Gemütslage ging.«

»Gut möglich. Diese jungen Burschen schwärmen häufig für unerreichbare Frauen, die sowohl älter als auch erfahrener sind als sie selbst, und brechen damit gleichaltrigen Mädchen, die verfügbar wären, das Herz.« Margrets Blick wanderte vielsagend in Richtung unseres Küchenfensters.

»Aber ist Sally nicht viel zu alt für ihn? Ich meine, sie müsste doch sicher inzwischen Mitte 30 sein, oder nicht?«

»Nun, es wäre nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Wie gesagt, es wird wohl seinen gewissen Reiz haben, gerade weil sie nicht zu haben ist. Ich bin da allerdings die am wenigsten geeignete Person, um das zu beurteilen.«

Damit wandte sie sich wieder dem Apfelbaum zu und ging zielstrebig in dessen Richtung mit der unverkennbaren Absicht, sich aller Nichtigkeiten zum Trotz ein viertes Mal für den heutigen Tag dem Studium der Kent News zu widmen, ein klares Zeichen dafür, dass zunächst nicht an eine weitere Konversation mit ihr zu denken war. Ich blickte ihr nach und beschloss, dass der Gartenarbeit genüge getan war. Es war Zeit für die verdiente Tea Time sowie für das endgültige Einläuten des Wochenendes. Also bückte ich mich und suchte meine Utensilien zusammen, um sie dann in den Geräteschuppen links vom Haus zu bringen. Als ich mich wiederaufrichtete, fiel mein Blick auf unser Cottage. Es erinnerte mich an einen Märchenfilm, den ich einmal im Fernsehen angeschaut hatte, und ich überlegte, ob ich mich vielleicht an einen Sender wenden und es als Drehort bewerben sollte. Die unzähligen Kletterrosen, die sich liebevoll an die alten Mauern schmiegten, passten meiner Meinung nach perfekt zu Dornröschen. Das Cottage wirkte tatsächlich auf seine Art kulissenhaft, mit dem alten Baumbestand, den Wiesen und den Schafweiden drum herum. Margret hatte in ihrem ganzen Leben noch nie woanders gewohnt und inzwischen konnte ich das auch absolut nachvollziehen. Ich hatte mich vom ersten Tag an wohl gefühlt. Manchmal stand ich einfach nur an den Gartenzaun gelehnt und betrachtete beglückt die Blumen, die den gewundenen Pfad zur Haustür säumten, unseren Kiesplatz mit der geschmackvollen Sitzmöglichkeit unter dem Apfelbaum, wo wir an sonnigen Tagen so gerne unseren Tee einnahmen, und die dunklen, geschichtsträchtigen Steine des Hauses, die so viel zu erzählen hätten, wenn sie nur sprechen könnten. In diesen Momenten breitete sich eine tiefe Zufriedenheit in mir aus.

Knirschende Schritte auf dem Weg ließen mich aufhorchen.

»Guten Tag, die Damen!«, erklang die tiefe und freundliche Stimme unseres Pfarrers und übertönte die Kirchturm­uhr, die gerade vier Uhr schlug.

»Ach, Mr Stonecastle, wie schön, Sie zu sehen. Wie geht es Ihnen heute? Möchten Sie zum Tee bleiben? Wir würden uns geehrt fühlen und unsere Lucy backt vorzügliche Scones.« Ich wischte mir die Hände an meiner Gartenschürze ab. »Sofern mich mein Geruchssinn nicht trügt, wird es sie heute geben. Bemerken Sie den Duft?«

Der Pfarrer reckte seine Nase in die Luft wie ein Maulwurf und atmete genüsslich ein, während ich bereitwillig die Gartenpforte öffnete und ihn mit einer einladenden Geste aufforderte, näher zu treten. »Kommen Sie doch herein. Selbstverständlich reichen wir auch Sandwich mit Lachs oder Gurke, falls Ihnen der Sinn eher nach etwas Herzhaftem steht. Kresse haben wir ebenfalls im Haus. Ich pflanze sie mit Vorliebe an. Mir sind die Menschen einfach ein Rätsel, die ein Sandwich lediglich mit Gurke und nicht zusätzlich mit Kresse belegen.«

Mr Stonecastle war beliebt in Rosefield. Er versprühte einen Altherrencharme, der ihm allerorts Sympathien einbrachte, unter anderem auch meine, seine übellaunige Frau Olivia hingegen konnte ich nicht leiden.

Ich glaubte, in der Stimme unseres Pfarrers tatsächlich eine Spur von Bedauern zu hören, als er antwortete: »Oh, sehr liebenswürdig von Ihnen. Ich würde wirklich gerne bleiben, aber ich bin unterwegs nach Old Mansion Hall und möchte nicht zu spät dort eintreffen.«

In Wahrheit war bei uns im Ort allgemein bekannt, dass seine Frau ihm kulinarische Freuden wie Scones an den meisten Tagen verbot, seit Dr. Hastings bei einer Routineuntersuchung seinen angewachsenen Bauchumfang getadelt hatte. Ginge es danach, dürfte ich nur noch pure Gurken ohne Sandwich essen … Die Erwähnung von Old Mansion Hall entfachte allerdings in diesem Moment meine ungeteilte Neugierde, sodass ich mir keine weiteren Gedanken über die Einschränkungen machen konnte, die unserem armen Pfarrer auferlegt worden sein mochten, so bedauernswert ich diesen Umstand zu einer anderen Gelegenheit ganz sicher empfunden hätte.

»Old Mansion Hall? Verzeihen Sie mir die Frage, es geht mich im Grunde genommen ja nichts an, aber was führt Sie zu dem Anwesen? Soweit ich informiert bin, lebt dort doch nur noch ein sehr überschaubarer Teil des Personals, seit die arme Mrs Murphy von uns gegangen ist.«

Wir alle waren stolz auf das anmutige Herrenhaus mit seiner aufwendig gestalteten Ziegelfassade und den großen Säulen vor dem Eingangsbereich. Es war das unangefochtene Prunkstück von Rosefield! Dass es rein geographisch eigentlich außerhalb der Ortschaft lag, erwähnten wir einfach nicht. Es war in der romantischen Phase des viktorianischen Baustils etwa Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut worden, einer Zeit, in die ich gerne einmal für einige Tage geschlüpft wäre. Auch wenn es inzwischen an verschiedenen Stellen renovierungsbedürftig war, strahlte es mehr Eleganz und Hoheit aus als alle Anwesen dieser Art, die ich in meinem Leben gesehen hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemals ein Mensch die großen Treppenstufen zum Eingang einfach nur achtlos hinaufgegangen war. In meiner Vorstellung schritt man anmutig Stufe für Stufe empor, während das Gebäude jede Person mit einem prüfenden Blick bedachte, um abzuwägen, ob sie sich auch als würdig erwies. Margret reagierte auf solche Phantasien meinerseits in der Regel mit einem verständnislosen Kopfschütteln. Sie war Realistin! Von der Rückseite unseres Cottage, wo sich unser Gemüsegarten befand, konnten wir nach Old Mansion Hall hinüberschauen und erkannten bei klarer Sicht sogar manchmal den angebauten Wintergarten und das benachbarte Gewächshaus. Als seine Besitzer noch lebten, war es eines der wenigen Anwesen in der Grafschaft gewesen, die noch über einen beachtlichen Stamm an Personal verfügten. Seit dem Tod der Herrschaften war dieser jedoch erheblich geschrumpft. Ganz Rosefield hatte sich in einer Art Schockstarre befunden, als zuerst Oberst Reginald Murphy nach einem Sturz vom Pferd starb und dann wenige Wochen später auch noch seine Frau das Zeitliche segnete. Man erzählte sich, ein Fieber habe sie dahingerafft, aber so ganz genau wusste das niemand. Von den Angestellten hatte sich daraufhin einer nach dem anderen eine neue Stelle gesucht und so blieb zuletzt nur noch der harte Kern übrig, von dem sich einige bereits seit vielen Jahren dem Haus und der Familie treu verbunden fühlten, was ihnen in Anbetracht der in finanzieller Hinsicht unsicheren Zukunft hoch anzurechnen war, wie ich fand.

»Ach, haben Sie es denn noch gar nicht gehört? Der Sohn der Murphys, der 25 Jahre in Amerika war, ist zurückgekehrt. Er hat die Absicht, fortan hier zu leben. Ich halte es für meine Pflicht, ihn in unserer Gemeinde willkommen zu heißen und hoffe, ihn morgen in der Kirche zu sehen. Ich hätte es schon gestern tun sollen, solche wichtigen Angelegenheiten schiebt man einfach nicht auf die lange Bank, doch ich war leider verhindert. Grace hatte sich mal wieder in der Gegend herumgetrieben und ich musste sie suchen. Sie ist eine wahre Herausforderung!« Geschäftig klopfte sich Mr Stonecastle etwas Staub von der Hose, um von seiner Verzweiflung in Bezug auf das Mädchen abzulenken, die seiner Stimmlage jedoch deutlich zu entnehmen war.

»Richard?«, schaltete sich nun auch Margret interessiert ein, die der Unterhaltung bislang nur zugehört hatte. Jetzt fiel mir der Sohn der Murphys ebenfalls wieder ein.

»Ach ja, nun erinnere ich mich an den Kleinen! Richard, ja so hieß er! Mir wollte sein Name gerade nicht einfallen.«

»Nun, klein dürfte er inzwischen nicht mehr sein, meine liebe Mrs Wilson.« Der Pfarrer zwinkerte mir amüsiert zu und schien erleichtert, das Thema Grace nicht weiter vertiefen zu müssen.

»Natürlich, wie dumm von mir. Er ist selbstverständlich inzwischen ein erwachsener Mann.«

»In der Tat, er war vermutlich so um die 20, als er fortging, vielleicht ein oder zwei Jahre jünger und blieb dann 25 Jahre weg«, erläuterte Margret in demselben Ton, wie Mr Mallowan ihn bei seinen Dorfschülern anzuschlagen pflegte, und hob dabei gewichtig den rechten Zeigefinger. »Den Kontakt zu seinen Eltern brach er ab und auch sonst hat nie wieder jemand etwas von ihm gehört. Wie überaus erstaunlich, dass er sich nun doch dazu entschlossen hat, nach England zurückzukehren. Wer hätte das gedacht?« Sie konnte sich verständlicherweise noch wesentlich besser an den lebhaften Jungen mit dem dunklen Haarschopf erinnern als ich, da sie ihn aufgrund der nachbarschaftlichen Nähe ganz einfach häufiger zu Gesicht bekommen hatte. Als er jedoch älter wurde, hatte auch sie ihn nicht mehr allzu oft gesehen. Wie viele andere pubertierende Jugendliche war er in der Versenkung verschwunden und irgendwann wurde allgemein berichtet, Richard sei nach Amerika ausgewandert.

Mir kam eine Idee.

»Auch wir sollten ihn begrüßen, wo wir doch quasi Nachbarn sind!« Nach der Eintönigkeit der letzten Wochen schien hier doch eine erfreuliche Abwechslung auf uns zu warten. »Ich kann einfach nicht glauben, dass wir nichts von seiner Ankunft in Rosefield mitbekommen haben, dabei liegt es doch auf der Hand, dass eine Sensation wie diese unter normalen Umständen Thema Nummer eins sein müsste.«

»Nun, ich habe selbst erst gestern davon erfahren, meine Liebe.« Der Pfarrer schien das Gefühl zu haben, sich verteidigen zu müssen. »Ebenfalls entzieht es sich meiner Kenntnis, wie lange er schon hier ist. Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Er zog die Schultern als Zeichen seiner Unwissenheit hoch. »Mich würde auch interessieren, ob ihm bekannt war, dass seine Eltern nicht mehr leben. Ich schätze, man hat ihn informiert, er ist schließlich der Erbe.«

»Margret, gleich morgen gehen wir rüber, nicht wahr? Wir wollen doch nicht unfreundlich erscheinen.« Meine Freundin mochte es nicht, wenn ich sie so mit einem Anliegen bedrängte und quengelte wie ein Kind, aber ich wollte sicher gehen, dass sie mir zustimmte.

»Natürlich nicht«, antwortete sie kurz und knapp und richtete die nächsten Worte wieder an den Pfarrer.

»Also, dann lassen Sie sich nicht aufhalten und besuchen Sie uns doch gerne ein anderes Mal zum Tee. Wir würden uns überaus freuen.«

»Dieser Einladung werde ich mit dem größten Vergnügen folgen. Erzählen Sie nur meiner Frau nichts davon. Sie denkt, jedes Stückchen Gebäck bringt mich um. Dabei sind es doch gerade die kleinen Freuden, die das Leben bisweilen lebenswert erscheinen lassen – der Herr möge mir verzeihen.« Dabei neigte er sich zu mir vor, als teile er gerade ein überaus wichtiges Geheimnis mit mir.

Ich setzte einen verschwörerischen Gesichtsausdruck auf und legte die Hand an meinen Mund.

»Wir werden Sie nicht verraten!«

Mr Stonecastle lächelte mir dankbar zu.

»Übrigens finde ich es wirklich großartig und auch mehr als selbstlos von Ihnen und Ihrer Frau, dass Sie sich Grace angenommen haben. Das zeigt wieder einmal Ihre grenzenlose Nächstenliebe und Großherzigkeit.«

Sowie ich die Worte ausgesprochen hatte, dämmerte mir, wie töricht eine erneute Anspielung auf das Mädchen gewesen war, da der Pfarrer sich doch zuvor so bemüht hatte, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. Ich hatte einfach nett sein wollen. Wie zu erwarten sorgte der abrupte Themenwechsel für eine sofortige Änderung seiner Züge und ließ sie angespannt und sorgenvoll erscheinen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Er atmete tief ein und schloss für einen Moment die Augen, um sich zu sammeln, was ihm nur bedingt gelang.

»Ach, wenn ich der Aufgabe doch nur gewachsen wäre«, stöhnte er und fuhr sich in schierer Verzweiflung mit der Hand über das Gesicht.

»Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer, ich hätte nicht auf das Thema zurückkommen sollen. Das war unsensibel von mir.« »Ach nein, ganz und gar nicht. Machen Sie sich bitte keine Gedanken. Es ist meine eigene Unzulänglichkeit, die mich inzwischen fast krank macht. Normalerweise finde ich für jedes Problem eine Lösung, habe immer einen plausiblen Plan, aber in diesem Fall muss ich kapitulieren. Ich weiß einfach nicht mehr weiter! Es ist so viel schwerer mit dem Mädchen, als ich es mir vorgestellt habe, eine unüberwindbare Hürde.«

»Sie tun zweifellos Ihr Bestmögliches.« Ich streckte die Hand aus und berührte ihn beschwichtigend am Arm. »Niemand in Rosefield hat so ein gutes Herz wie Sie und ist so uneigennützig! Jeder schätzt Sie für Ihre Zuverlässigkeit und Hilfsbereitschaft und ganz sicher wird auch Grace sich eines Tages dessen bewusst, was Sie alles für sie auf sich nehmen.«

»Ist das wirklich so? Könnte ich nicht viel mehr tun? Ständig stellt sie etwas an, läuft weg, beleidigt Menschen. Und ich? Ich bin einfach nicht dazu in der Lage, das zu verhindern!« Mr Stonecastle raufte sich die Haare, sodass sie in alle Himmelsrichtungen abstanden. Ich widerstand dem Impuls, sie zu glätten. »Mit normalen Erklärungen kommt man bei ihr nicht weiter. Verbote ignoriert sie! Wie oft habe ich schon versucht, vernünftig mit ihr zu sprechen!« Er breitete die Arme aus und blickte gen Himmel, wahrscheinlich in der Hoffnung auf Eingebung. »Aber sie steht dann einfach vor mir und starrt mich an, ohne irgendeine weitere Reaktion, als ob ihr Blick allein alles sagen würde. Kein Wort, keine Geste, einfach nichts! Und dann dreht sie sich um und verschwindet und wir wissen über Stunden nicht, wo sie ist.« Resigniert ließ er seine Arme fallen, sodass sie gegen seine Hüften schlugen. »Vielleicht war es töricht, sie aufzunehmen, wo wir nicht einmal eigene Kinder haben und in Erziehungsdingen über keinerlei Erfahrung verfügen, aber sie tat mir einfach so schrecklich leid. Zudem hielt ich es für meine christliche Pflicht. Die Welt wird von Tag zu Tag egoistischer, die meisten von uns sehen nur sich selbst und ihren eigenen Vorteil. Ich wollte es besser machen und diesem armen Geschöpf ein Zuhause geben.« Seine Augen blickten traurig auf die Platten unseres Weges, der zur Haustür führte. »Sie kommt aus Verhältnissen, die einen nicht nur fraglichen, sondern auch kriminellen Hintergrund aufweisen, wirklich entsetzlich! Ich möchte nicht einmal darüber nachdenken, was sie alles erlebt hat. Aber ich dachte, ich könnte sämtliche Hürden mit Verständnis und Fürsorge überwinden.« Er lachte kläglich. »Tja, so einfach scheint es leider nicht zu sein. Sie lässt einfach keine Hilfe zu, boykottiert sie, wo sie nur kann! Es ist zum Verzweifeln! Aber das verbiete ich mir selbst, denn Verzweifeln würde bedeuten, Gott den Rücken zuzukehren.«

»Sie sind zu streng mit sich, lieber Pfarrer. Wir alle sind doch nur Menschen mit Fehlern. Sie gehören zu der wundervollen und leider seltenen Sorte, die das Wohl der anderen immer über das eigene stellt. Geben Sie Ihrem inneren Kritiker nicht so viel Raum!«

»So ist es!«, stimmte Margret mir zu. »Es ehrt Sie, dass Sie Ihre Aufgaben als Pfarrer so ernst nehmen und dass Sie in jeder Minute des Tages bemüht sind, diese gewissenhaft auszuführen, aber Sie dürfen nicht derart mit sich ins Gericht gehen! Sie haben das Mädchen aus reiner Güte als Tochter einer mittellosen Verwandten, die Sie selbst nicht einmal kennen, bei sich aufgenommen, um ihr ein besseres Leben zu ermöglichen. Wenn Grace sich so wenig dankbar zeigt, so ist das ganz sicher nicht Ihr Fehler! Hören Sie, Mr Stonecastle? Sie können nichts dafür! Es ist eben, wie es ist. Sie haben getan, was Sie konnten!«

»Ich weiß, Miss Miller, ich weiß. Und doch habe ich das Gefühl, auf ganzer Linie zu versagen, und das täglich aufs Neue! Ich hatte mir ein richtiges Familienleben vorgestellt, wie naiv von mir.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Olivia und ich hatten keinerlei Bedingungen an Grace, sie sollte lediglich ein wenig im Haushalt helfen, bis wir etwas für sie gefunden haben, eine Ausbildung oder einen Job. Ist das denn zu viel verlangt?«

»Auf keinen Fall!« Margret fuhr mit ihrer Hand vom Brustkorb nach vorne, als durchschneide sie die Luft mit einem Säbel.

»Wir dachten, ein strukturierter Tagesablauf wäre gut für sie.« Der Pfarrer seufzte tief und ich hatte das Bedürfnis, ihm gut zuzureden.

»Das ist auch so, mein Lieber. Jeder Mensch tut gut daran, seine Tage einer gewissen Routine zu unterziehen, insbesondere Kinder und Heranwachsende. Das war ein ganz richtiger Gedanke von Ihnen.«

»Der aber nicht fruchtet! Bedauerlicherweise wurde auch auf ihre Bildung kein Wert gelegt, weshalb sie keinen Schulabschluss hat. Das erschwert die Suche nach einer geeigneten Tätigkeit natürlich immens. Aber ihr scheint ohnehin alles egal zu sein, sie rührt keinen Finger und treibt sich stattdessen den ganzen Tag nur herum. Und ständig erreichen mich Beschwerden über ihr ungehobeltes Benehmen und ihre Wortwahl.«

»Das alles muss Sie sehr belasten.« Ich blickte ihn mitfühlend an. »Aber wissen Sie, Grace ist noch nicht lange bei Ihnen und wahrscheinlich hat ihr nie jemand beigebracht, was richtig und was falsch ist. Sie muss sich ganz bestimmt ebenso an die neuen Gegebenheiten gewöhnen wie Sie und Ihre Frau. Sicher wird es bald besser funktionieren.«

»Sie haben wirklich ein gutes Herz, Mrs Wilson, und die schöne Gabe, in jeder Situation aufbauende Worte zu finden. Sie versprühen so unglaublich viel positive Energie. Wie machen Sie das nur?«

»Ach, Schnickschnack!« Margret ging diese Gefühlsduse­lei entschieden zu weit. »Grace hatte doch bereits mehrere Wochen Zeit, sich an die Situation zu gewöhnen. Irgendwann ist auch mal Schluss! Im Grunde genommen ist die Sache doch ganz einfach, entweder, sie reißt sich jetzt zusammen und zeigt ihren guten Willen, oder sie muss wieder gehen! Basta! Wahrscheinlich muss man ihr das einfach mal in aller Deutlichkeit so sagen.«

»Naja, Margret, vielleicht hast du recht, aber sieh mal …«

»Nein, nein, Mrs Wilson, lassen Sie nur, es stimmt schon, was Miss Miller sagt. Ich bin nur eben nicht besonders versiert in der Austragung von Konflikten und scheue derartige Gespräche. Meine Frau ärgert sich immer darüber. Sie findet, dass sie mit mir weder diskutieren noch streiten kann. Aber ich habe auch einen Vorteil, ich gebe nämlich ungern auf, wenn ich noch Hoffnung sehe, wobei ich im Fall von Grace inzwischen selbst nicht mehr weiß, ob sich die Mühe noch lohnt.« Der Pfarrer hob resigniert die Schultern.

»Sie haben viel mehr als nur einen Vorteil, mein Lieber!«, schob ich rasch ein, denn ich sah an Margrets resolutem Gesichtsausdruck, dass sie die Absicht hatte, eine weitere Belehrung anzubringen.

»Sie geben ungern auf? Wenn Sie bei Grace nicht langsam andere Seiten aufziehen, geben Sie sich selbst eines Tages auf, Herr Pfarrer!«

»Ich sehe ein, dass etwas geschehen muss. Danke für Ihre eindringlichen Worte. Seien Sie versichert, dass ich heute Abend mit Olivia darüber sprechen werde. Ich denke, sie tut sich leichter damit, dem Mädchen die Pistole auf die Brust zu setzen, als ich.«

Margret nickte.

»Tun Sie das!«

»Nun muss ich aber wirklich los nach Old Mansion Hall. Ich beneide Sie um Ihre Scones mit Clotted Cream und Marmelade. Lassen Sie es sich schmecken, meine Damen, und vielen Dank noch mal, sowohl für unser Gespräch als auch für die Einladung zum Tee!«

»Die Marmelade ist sogar aus eigener Herstellung, sie wird Ihnen schmecken, wenn Sie das nächste Mal vorbeikommen – die Früchte habe ich eigens geerntet.« Auf die Verwertung unserer Gartenerträge war ich tatsächlich etwas stolz, alle Welt schrie nach biologischen Erzeugnissen, wir hatten sie!

»Oh, das klingt ganz ausgezeichnet. Ich freue mich schon auf die Verkostung.«

Er zwinkerte uns zu, aber die Fröhlichkeit wirkte nicht echt, denn sein betretener Blick strafte ihn Lügen. Als er sich müde winkend von uns verabschiedete, schoben sich dichte Wolken vor die Sonne und verdunkelten den Himmel. Margret hatte einen siebten Sinn, den ich nie so ganz verstand. Sie spürte, wenn Gefahr in der Luft lag. Später erzählte sie mir, dass mit diesen Wolken bereits eine dunkle Vorahnung über sie gekommen sei. Sie waren die Vorboten eines bevorstehenden Unheils, das nicht mehr lange auf sich warten lassen sollte.

Wir blickten Mr Stonecastle nach, bis er von wildwachsenden Brombeerhecken verdeckt wurde.

3

Als wir uns am frühen Abend auf den Weg zum Gemischtwarenladen der Kinsleys machten, fegte bereits ein zugiger Wind durch die Straßen und blähte unsere Mäntel auf. Vor dem Kamin wäre es in jedem Fall gemütlicher gewesen, aber einige unserer Vorräte gingen zur Neige und da der nächste Tag ein Sonntag war, würden die Geschäfte geschlossen bleiben. Lucy hatte sich zwar freundlicherweise angeboten, trotz ihres freien Abends für uns einzukaufen, aber es wäre uns schäbig vorgekommen, ihre Gutmütigkeit derart auszunutzen. Außerdem war mir schon am Nachmittag der Gedanke gekommen, dass es vielleicht nett wäre, Richard Murphy ein kleines Begrüßungsgeschenk zu besorgen. Wir mussten uns allerdings beeilen, denn es dämmerte bereits und die Kinsleys würden ihr Geschäft bald schließen.

Das Glöckchen an der Ladentür zappelte wie ein Fisch am Angelhaken und verursachte dabei ein schrilles Rasseln. Die wohlige Wärme, die uns empfing, wurde untermalt durch unzählige Kerzen, die Sally auf den Tischen ihrer Teestube und auf der Ladentheke entzündet hatte und die mit ihren flackernden Flammen tanzende Schatten an die Wände warfen.

»Mrs Wilson, Miss Miller, wie schön, Sie zu sehen!«

Als hätte sie nur auf uns gewartet, schritt Mrs Kinsley mit einer handbemalten Schale in der Hand auf uns zu. »Sie kommen genau richtig, um diese Kekse hier zu ­kosten. Es ist ein ganz neues Rezept. Ich habe sie vorhin erst aus dem Ofen geholt. Heute ist mein Backtag!«

Bereitwillig ließen wir uns an einem der kleinen Tische nieder, auf den sie das verlockend duftende Gebäck abstellte. Ein Hauch von Anis und Zimt umspielte meine Geruchsknospen. Beherzt griff ich zu und schloss beim Kauen genüsslich die Augen.

»Mhm, Sie übertreffen sich immer wieder selbst, meine Liebe.« Ich hielt mir die Hand vor den Mund, um niemandem den Blick auf meine zermürbten Keksreste zuzumuten, während ich sprach.

Die barsche Stimme von George Kinsley ließ Margret und mich zusammenfahren. Ich verschluckte mich an einem Krümel.

»Es ist unzumutbar, Sally«, donnerte er aus dem Nebenraum. »Die Leute lassen immer mehr anschreiben und dann zahlen sie ihre offenen Rechnungen nicht. Wir sind doch nicht die Wohlfahrt! Was hast du hier wieder für Kredite gewährt?«

Erschrocken riss Mrs Kinsley die Augen auf. Sie sah aus wie ein verängstigtes Kaninchen, das einem Fuchs gegenübersteht.

»Entschuldigen Sie bitte. Mein Mann macht gerade die Abrechnungen. Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen, Mrs Wilson?« Ich nickte keuchend. Trotz meines anhaltenden Hustens war deutlich zu hören, dass Sallys Atemzüge schneller wurden. Angespannt drehte sie immer wieder ihren Kopf, als wüsste sie nicht, was sie zuerst tun sollte, das Wasser holen oder ihren Mann besänftigen. Margret schlug mir auf den Rücken und der Krümel löste sich. »Vielleicht hat George nicht mitbekommen, dass Sie hier sind. Verzeihen Sie, das ist mir sehr unangenehm. Ich werde ihm sagen, dass wir nicht allein sind. Wieso hat er die Glocke nicht gehört?« Rasch ging sie auf die einen Spalt breit geöffnete Tür des angrenzenden Raumes zu. Margret und ich sahen uns vielsagend an.

»George, ich komme gleich. Wir haben gerade Kundschaft.«