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Es weihnachtet sehr im beschaulichen Örtchen Rosefield. Während Elisabeth alles festlich dekoriert, sehnt sich ihre Freundin Margret nach kriminalistischer Spannung! Dieser Wunsch erfüllt sich, als Ernest Bancroft vor der Tür steht, ein alter Schulfreund der betagten Damen und zudem ein begnadeter Koch. Er soll auf dem Anwesen Oak Hall in Rye ein Weihnachtsdinner zubereiten. Die Sache hat allerdings einen Haken. Denn Ernest hat einen anonymen Warnbrief erhalten. An Weihnachten soll in Oak Hall ein Mord geschehen. Keine Frage, dass er die Reise nicht ohne seine Schulfreundinnen antritt. Können Margret und Elisabeth den Mord verhindern und den Mörder entlarven?
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Seitenzahl: 411
für meine Arnold Sister
We wish you a merry christmas, we wish you a merry christmas, we wish you a merry christmas and a happy new year!«, trällerte ich vergnügt, während im Hintergrund meine jahrzehntealte Weihnachtslieder-CD aufgrund diverser Kratzer aus dem letzten Loch pfiff. Ich hatte sie Mitte der 80er an einem Stand auf dem Weihnachtsmarkt erworben. Mit Rabatt! Seitdem war sie ein fester Bestandteil meiner Vorweihnachtszeit. Und obwohl Margret bereits im letzten Jahr, und auch in dem davor, ihren Unmut mehr als deutlich kundgetan hatte, musste ich in diesem Punkt einfach unnachgiebig bleiben. Ab dem ersten Adventswochenende hörte ich die von mir heiß geliebten Lieder nach meiner ganz eigenen Tradition täglich! Mehrmals! Während draußen die Schneeflocken vom Wind aufgewühlt wie ein verwirrter Schwarm Fruchtfliegen, dem man die faulen Äpfel weggenommen hatte, kreuz und quer durch die Luft stieben, bemühte ich mich um die Entwirrung unzähliger Lichterketten, die einen ähnlich unkoordinierten Eindruck auf mich machten, wie das wilde Treiben vor dem Fenster. In einem schier undurchdringbaren Knäuel lagen die mit Glühbirnchen gespickten Fäden vor mir auf dem Tisch. Wie Margrets Wolle! Dennoch war ich blendender Laune. Der schicke Pullover, den ich vor einigen Tagen bei Mrs Scott im Textilgeschäft erstanden hatte, passte sich in fröhlichem Bordeaux dem weihnachtlichen Läufer auf dem Esstisch an und schmiegte sich samtig an meine nicht minder weichen Arme. Das lag weniger an meiner zarten Haut, sondern an überschüssigem Körpermaterial, mit dem ich mich allerdings inzwischen abgefunden hatte.
Eine mit goldenem Lack überzogene Kerze brannte heimelig neben einem Turm aus Kartons auf einem Gesteck aus Tannenzweigen, getrockneten Zimtstangen und Orangenscheiben. Ich stopfte mir in genüsslicher Regelmäßigkeit eines von Lucys frisch gebackenen Ingwerplätzchen in den Mund. Mein Gaumen jubilierte. Die Weihnachtszeit war doch etwas Herrliches! Mit geschlossenen Augen sog ich die lockend durch den Raum wabernden Gewürznoten tief in mich ein, um dann erneut in das den Raum füllende Lied einzufallen. »We won´t go until we get some, we won´t …«
»Elisabeth Wilson, bist du von allen guten Geistern verlassen?«, donnerte es in mein Idyll und beinahe hätte ich mich an einem Kekskrümel verschluckt, weil ich bei diesem Ausruf reflexartig nach Luft geschnappt hatte.
Margret stand in Stricksocken im Türrahmen, tannengrün waren sie, wie die Zweige des Gestecks. Ihre behandschuhten Hände hatte sie in die Hüften gestemmt, die Nase war von der winterlichen Luft auf den Straßen gerötet und den Schal hatte sie immer noch so weit über das Kinn gezogen, dass er ihren Mund komplett verdeckte. Ich wusste trotzdem, dass ihre schmalen Lippen so fest aufeinandergepresst waren, dass ihnen alle Farbe entwich. Wir hatten schon zusammen die Schulbank gedrückt, somit kannte ich jeden ihrer Gesichtsausdrücke in- und auswendig. Die Farbe kehrte grundsätzlich dann in voller Intensität in ihre Lippen zurück, wenn sie diese wieder lockerte, was wiederum eine entspannte Grundhaltung voraussetzte. Dann war kein Lippenstift mehr nötig, was eine Margret Miller aber sowieso nicht kümmerte. Ob ihre Lippen rot schimmerten oder sich ihr heller Teint kaum von ihnen abhob, interessierte sie in etwa so viel wie die neue Schaufensterauslage von Mrs Scott, sprich, überhaupt nicht!
Margrets Mütze war von ihrem strengen Haarknoten, den sie täglich – und wahrscheinlich auch jede Nacht – trug, ausgebeult und von einer hauchdünnen Schneeschicht bedeckt. Die Bommel zierte eine Eishaube, die nun zu schmelzen begann. In Kombination mit der Falte über ihrer Nase wirkte sie in diesem Moment wie ein Kobold. Fehlte nur noch, dass sie mit dem Fuß aufstampfte. Ich musste ein Grinsen unterdrücken. Ihr Mantelkragen stand an der einen Seite hoch, an der anderen nicht. In der Mulde der aufragenden Seite hatte sich Schnee angesammelt. Resolut zog sie sich den rechten Handschuh von den an den Knöcheln geröteten Fingern und hämmerte auf den Pausenknopf meines alten CD-Spielers. Fast wäre er bei dieser unsanften Behandlung vom Beistelltisch gestürzt. Während Madame Rumpelstilzchen Schimpftiraden vom Stapel ließ, wickelte sie sich aus ihrem meterlangen Schal, den sie im vergangenen Winter aus Wollresten gestrickt hatte. Die konnte man schließlich nicht einfach so verkommen lassen! Margret verwertete alles! Insbesondere Wolle, denn sie strickte den lieben langen Tag. Auch wenn sie gleichzeitig etwas anderes tat, wie beispielsweise die Zeitung auswendig zu lernen.
»Du beschallst die ganze Hauptstraße mit deinem Gejaule! Ich habe dich schon hundert Meter vor dem Haus gehört, obwohl die Fenster geschlossen sind!« Margret tippte zur Untermalung ihrer Worte mit den Zeigefingern an ihre Ohrläppchen, die ziemlich weit herunterhingen, obwohl sie niemals Ohrringe trug. »Da bekommt man es ja mit der Angst zu tun!«
»Aber ich liebe die Weihnachtszeit!«, maulte ich. Durfte man nicht einmal mehr in Weihnachtsstimmung kommen?
»Kein Grund, so zu kreischen, als würde dich jemand zum Schafott schleifen! Willst du etwa, dass Miss Shaw überall herumposaunt, ich würde dich misshandeln? Du kennst Elvira! Sie scheut vor nichts zurück! Und Inspector Brown, dieser Komiker, würde es obendrein noch fertigbringen, mich deshalb festnehmen zu lassen!« Mit ausgebreitetem Arm deutete sie auf die Wand. Vermutlich wollte sie die Richtung von Elviras Domizil anzeigen, oder die des Hauptsitzes von Inspector Brown. Vielleicht auch beides. Meine geografischen Fähigkeiten gaben eine genaue Angabe dazu nicht her.
»Der ist nur für Mordfälle zuständig!« Ich presste meine Lippen aufeinander und schnaubte. »Und er ist in London!«
»Zum Glück! Aber wenn du weiter jaulst, sind wir hier nicht weit von einem Mord entfernt!« Der freundschaftliche Rempler, mit dem Margret offenbar ihren Worten die Schärfe nehmen wollte, konnte mich nur bedingt besänftigen. Ich beschloss, das Thema zu wechseln.
»Unser Fenster neben der Eingangstür muss dringend erneuert werden. Es ist vermutlich noch eins von den ersten, oder? Ich sage nur Einfachverglasung! Hast du die Eisblumen gesehen? Mag ja sein, dass sie ein hübsches Design abgeben, aber …«
»Mrs Wilson, um Himmels willen, ist Ihnen nicht gut?« Lucy stürmte in den Raum, als sei Graf Dracula höchstpersönlich hinter ihr her. Ihr Schwung wurde gerade noch durch die Lehne eines Stuhls abgebremst, als sie mit ausgestreckten Armen gegen sie stieß. Voller Protest wankte das Möbelstück hin und her und um ein Haar wäre Lucy mit ihm der Länge nach zu Boden gestürzt. Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrem geflochtenen Zopf gelöst und fiel dunkel und glänzend in ihr hübsches Gesicht, das vor Aufregung gerötet war. Sie schob die volle Unterlippe vor und pustete die Strähne gehetzt zur Seite. »Soll ich Dr. Hastings rufen? Brauchen Sie Hilfe? Warten Sie, ich hole mein Handy!«
Unsere gute Seele war immer zur Stelle, wenn jemandem etwas fehlte, selbst dann, wenn dem eigentlich nicht so war. Ich liebte sie heiß und innig. Sie war wie eine Tochter, sowohl für Margret als auch für mich. Wir hatten uns so an sie gewöhnt, dass ich schon gar nicht mehr wusste, wie wir jemals ohne sie hatten auskommen können. Wie eine unsichtbare Fee kümmerte sie sich um Haus und Hof.
»Sie singt nur!«, kommentierte Margret gespielt beiläufig und schälte sich aus ihrem Mantel.
»Wie bitte? Aber diese Schreie …«
Anstelle einer Antwort zog meine Freundin lediglich vielsagend die Augenbrauen hoch und schürzte die Lippen. Dabei gab sie einen abschätzigen, zischenden Laut von sich. Empörung bahnte sich ihren Weg durch meinen Magen hinauf und pulsierte schließlich in meinem Hals.
»Oh …!« Lucy schlug sich peinlich berührt die Hand vor den Mund und riss die Augen auf, als habe sie soeben erfahren, dass unser Pfarrer nachts im Pub einen Striptease hinlegte.
Mir reichte es langsam. So ein Theater wegen Weihnachtsliedern! Mit unter der Brust verschränkten Armen schob ich mit einer Fußspitze die Fransen des Teppichs hin und her, der unter unseren Sesseln vor dem Kamin lag.
»Ich weiß wirklich nicht, was ihr wollt. Ich habe in bester Laune diese Kartons hier ausgepackt und dazu ein fröhliches Lied geträllert! Und nun zerstört ihr meine herrliche Stimmung, indem ihr meinen Gesang als Kreischen abtut. Also, ich muss schon sagen, das finde ich wirklich unsensibel!« Abweisend reckte ich meine Nase in Richtung Zimmerdecke. Wenn ich ihnen meine kalte Schulter zeigte, würden sie schon sehen, was sie davon hatten. Sie wäre so frostig wie die Eisblumen am Fenster neben der Haustür. Jawohl! Der Vergleich passte hervorragend, denn wahrscheinlich hatten das Fenster und ich sogar das gleiche Baujahr.
»Entschuldigen Sie, Mrs Wilson, ich dachte wirklich …«
Meine zur Abwehr erhobene Hand gebot Lucy Einhalt.
»Singe ich denn tatsächlich so schrecklich, dass man davon ausgehen muss, ich hätte Schmerzen? Das kann unmöglich euer Ernst sein!«
»Schlimmer!«, posaunte es aus Margrets Richtung.
Ich plusterte meine Wangen auf, weil ich nicht wusste, wohin mit der vielen Luft, die ich zischend eingeatmet hatte! Lucy positionierte sich in Verteidigungshaltung!
»Ich habe mir wirklich bloß Sorgen gemacht. Ich meine, in der Küche … möglich, dass es dort etwas verzerrt wirkte, vielleicht kam ja auch noch das Geräusch des Handmixers dazu. Da hört man einfach schlecht. Und dann ist da ja auch noch der Schneesturm draußen und …«
»Jaja! Das genügt! Zukünftig werde ich mich beim Singen im Keller einsperren.«
»Also ich für meinen Teil habe mir keine Sorgen gemacht!« Margret zwirbelte an einem Bündel Lametta herum. »Höchstens um mich selbst. Ich möchte nicht der Quälerei bezichtigt werden!« Wie schon vorhin knuffte sie mir kameradschaftlich in die Seite. »Davon abgesehen schneit es zwar draußen, aber es stürmt nicht, liebe Lucy. Es ist lediglich windig. Also schieb es nicht auf eingeredete Geräusche!«
Ich verzichtete auf einen Kommentar und blickte stattdessen trotzig aus dem Fenster. In meinem Alter musste ich mir so etwas doch nicht mehr gefallen lassen! Ich war über 70 und durfte singen, wann und wo ich wollte! Aber meine Körperhaltung passte nicht zu meinem Gemütszustand, denn mein Zorn hatte bereits die ersten scharfen Konturen verloren und begann, langsam zu verblassen. Das war bei mir immer so. Wie sehr ich mir auch einredete, wahnsinnig wütend zu sein, es war immer nur ein kurzes Aufbäumen, das ebenso schnell verging, wie es gekommen war.
»Nun sei nicht beleidigt, das passt nicht zu dir!« Margret zwinkerte mit dem rechten Auge, wobei sich ihr linker Mundwinkel nach unten schob. Sie wusste genau, dass dies das Tüpfelchen auf dem i war, das mir noch fehlte, um gänzlich zu kapitulieren. Ich seufzte tief und meine Fassade stürzte ein wie das Haus aus Bierdeckeln, das ich neulich im Pub von Mr Moore während einer Gemeinderatssitzung gebaut hatte, um mich wach zu halten. Weder schmollen noch streiten waren in meiner Natur verankert.
Lucy grinste.
»Also wenn hier alles wieder in Ordnung ist, gehe ich mal zurück an den Herd. Ich probiere nämlich gerade ein Rezept aus.« Sofort zeigte sich die Sonne in ihren Pupillen. »Ein wirklich fabelhaftes – vorausgesetzt, es gelingt mir! Gesund und lecker! Alles regionale Produkte!« Sie nickte in Selbstbestätigung und rieb dabei ihre Hände aneinander.
»Oh, wundervoll!« Bei der Erwähnung von neuen Gerichten hoben sich meine Mundwinkel automatisch. Wie auf Knopfdruck. Lucy war nämlich nicht nur unser Au-pair-Mädchen mit Omabetreuung statt mit Kinderbetreuung, sondern auch eine hervorragende Köchin. Und mit Kulinarik kochte man mich immer weich. Aber Lucy hatte noch mehr Talente. Beispielsweise fotografierte sie nicht nur gut, sondern auch mit Begeisterung. Daher hatte ich ihr Anfang des Jahres den Rat gegeben, ein Kochbuch zu schreiben und die Gerichte selbst in Szene zu setzen. Auf diese Weise konnte sie zwei Leidenschaften miteinander kombinieren. Ich lobte mich täglich selbst für diese Idee, denn nun bekamen wir schon seit Monaten die fantastischsten Köstlichkeiten vorgesetzt. So musste sich das Paradies anfühlen! Die drei Kilo mehr, die meine Waage mit Dyskalkulie inzwischen verbuchte, ignorierte ich ganz unaufgeregt und beschloss, das Teufelsding zu entsorgen. Viel zu viel negative Energie!
Positive Energie brachte hingegen Constable Dale, insbesondere Lucy. Solange die beiden glücklich liiert waren, trat unsere Glücksfee ihre geplante Weltreise vielleicht nicht an und begann auch nicht mit einem Studium. Wir wollten schließlich, dass sie blieb.
Margret nahm mit den Fingerspitzen ein kleines Stück der Lichterkette, das ich schon entwirrt hatte, vom Tisch, als handele es sich um ein Haar in einer klaren Gemüsebrühe.
»Und was hast du hiermit vor? Willst du die Royal Albert Hall ausleuchten?«
»Nun hör schon auf, Margret! Du hast einfach keinen Sinn für das Weihnachtsfest und seine Bräuche! Ich erhelle die dunkle Jahreszeit mit Lichtern! Das ist doch schön! Nur, weil du nicht …«
»O doch, ich habe sehr wohl Sinn für Weihnachten in seiner wahren Bedeutung, aber bei einem Haus, das so bestrahlt wird, als käme jeden Moment der Premierminister, um eine alles entscheidende Rede zu halten, hört es bei mir auf! Nun sieh dir nur diesen ganzen Firlefanz an!« Sie hielt mit der anderen Hand ein Räuchermännchen in die Höhe und begutachtete es wie eine ausgewachsene Kakerlake.
»Das ist von Harry! Du weißt ganz genau, dass es für mich dazugehört! Weihnachten ohne Harrys Räuchermännchen ist kein Weihnachten!« Mein Versuch, es Margret zu entreißen scheiterte, weil ich ihre Reaktionsfähigkeit unterschätzt hatte. Meine Hand griff ins Leere.
»Diese Stinkbomben verpesten nur die Luft!«
»Ich nehme Tannenduft. Der verpestet gar nichts! Habe ich schon immer so gemacht«, schnaubte ich und wühlte in dem Konglomerat an Weihnachtsutensilien. »Wo sind nur diese kleinen Kegel, die man unter das Männchen stellt? Da waren noch drei Stück in einem Tütchen. Gib es zu, du hast sie weggeworfen!«
»Tannenduft …« Margret hob skeptisch eine Augenbraue. »Ist das etwa das gleiche Zeug wie im letzten Jahr? Es riecht nach allem, aber nicht nach Tanne! Und fürs Protokoll, ich werfe nichts weg!«
»Nun gib schon das Männchen her! Und natürlich riecht es nach Tanne! Geh in den Wald, dann merkst du es!«
»Muffiger Kellerschrank kommt der Sache wohl näher!«
»Das ist doch gar nicht wahr!«
»Dann eben Toilettenstein! Aroma Bahnhofsklo! Such es dir aus!«
Mit der Geschwindigkeit der Zunge einer Kröte, die eine Fliege aufgespürt hat, schnappte ich nach Harrys Räuchermann und stellte ihn energisch auf die Fensterbank. Wir hatten eine wundervolle Ehe geführt und obwohl er nun schon eine ganze Weile tot war und ich bereits seit knapp drei Jahren bei Margret in ihrem Cottage wohnte, hing ich an solchen Erinnerungen.
Meine Freundin stöhnte mit geschlossenen Augen, wie so oft, wenn ihr etwas zu viel wurde. Dann begab sie sich in den Flur, vermutlich, um ihre Plüschpantoffeln anzuziehen, die sie immer dort abstellte, wenn sie das Haus verließ.
»Haben Sie eigentlich etwas von dieser Einbruchserie mitbekommen, Miss Miller?«, hörte ich Lucy aus der Küche rufen.
»Nun, es stand ja in der Zeitung. Man kam gar nicht daran vorbei!«, schallte es aus dem Flur zurück. Ich dachte angestrengt nach, aber mir sagte das alles gar nichts. Obwohl – bei näherem Überlegen konnte ich mich an einige Satzfragmente erinnern, wenn auch nur schwammig. Doch, es hatte einen Artikel gegeben. Aber groß konnte er nicht gewesen sein. Und so detailliert hatte ich ihn gar nicht gelesen. Mich hatten die beiliegenden Prospekte in der Zeitung mehr interessiert. Margret gegenüber durfte ich das allerdings nicht erwähnen, sonst hielt sie mir wieder einen ihrer gefürchteten Vorträge. »Der Artikel war groß, erstreckte sich fast über eine ganze Seite!«, sprach meine Freundin mehr zu sich selbst. Ups! Da hatte ich mich wohl gründlich vertan. »Aber irgendetwas war eigenartig. Ich überlege schon seit Tagen, was es war. Diese Berichterstattung und so untypisch … Es war nicht … wie soll ich sagen? Es hatte nicht … Fünf!« Ich rollte die Augen. Margret sah es ja nicht! Sie war allem Anschein nach wieder einmal geistig abgedriftet. Wenn sie mitten im Satz abbrach und man nur noch das Klappern aus der Küche hörte, war das ein eindeutiges Indiz dafür. Achselzuckend beschloss ich, die Gelegenheit zu nutzen und meine CD mit Lied Nummer drei wieder in Gang zu setzen. Noch funktionierte das Gerät schließlich!
»Here comes Santa Claus, here comes Santa Claus, right down Santa Claus Lane …«, flüsterte ich im Chor mit Doris Day und wippte dazu leicht im Takt.
»Elisabeth!«
»Ist ja schon gut!« Nie konnte man in diesem Haus machen, was man wollte!
»Ich muss mich jetzt konzentrieren!«, erklärte Margret sachlich, als sie wieder zurück ins Wohnzimmer kam und dabei ihre knochigen Hände aneinander rieb. »Also sei so gut und versuche, dein Lichterzeugs ohne Brunftschreie zu entwirren.«
»Brunftschreie?«
»Es gibt wichtige Dinge zu überlegen! Eigenartige Dinge!« Bei der letzten Beschreibung malte sie Gänsefüßchen in die Luft.
»Hört, hört! Was denn zum Beispiel? Die Einbruchserie?«
Es kam keine Antwort, aber ich wusste genau, wenn Margret sich konzentrieren musste, gab es dafür einen triftigen Grund! »Die, von der Lucy gesprochen hat? Was meintest du denn vorhin?« Immer noch keine Reaktion. Margret hatte sich in ihrem Sessel niedergelassen und saß nun dort wie eine von Madame Tussauds Wachsfiguren. Mit dem Kaminfeuer im Hintergrund, das einen flackernden Schimmer über eine ihrer Gesichtshälften huschen ließ, erinnerte sie mich an ein Aquarell. Irgendetwas lag in der Luft. Ein Unheil? Am Morgen hatte sie in dem Buch »Ein Mord wird angekündigt« von Agatha Christie gelesen. War es ein Omen, dass sie ausgerechnet heute zu diesem Roman gegriffen hatte und nicht zu einem anderen? Denn die Worte des Titels sollten nur allzu bald auch in unserem Leben eine unliebsame Rolle spielen und sich an jeden meiner Gedanken wie Kletten heften, die sich nicht mehr abschütteln ließen …
Margret legte ihre mit Plüsch ummantelten Füße auf dem Hocker ab, der vor ihrem Sessel stand. Ihre Hände griffen mechanisch nach dem Strickzeug auf dem Beistelltisch. Meine Freundin saß nie ohne Strickzeug in ihrem Sessel, ebenso wenig wie sie sich die Zähne ohne Zahnbürste putzte. Das waren Dinge, die einfach zusammengehörten. Wie Weihnachtsbaum und Christbaumkugeln. Oder wie Eisblumen und unser Fenster neben der Haustür. Sie blickte in die lustig tanzenden Flammen, als könne sie deren Sprache verstehen und ihren Gesprächen folgen. Auch Lucy war gut darin, Ungeschriebenes zu lesen und Unausgesprochenes zu hören, und zwar ganz ohne Glaskugel. Sie wusste genau, wann sich welcher Wunsch in uns regte. Auch jetzt brachte sie unaufgefordert eine Kanne Tee ins Zimmer, während das Klappern von Margrets Stricknadeln den Raum erfüllte. Was für eine gemütliche Atmosphäre! Sollte Lucy jemals wegwollen, würde ich leider kriminell werden und sie anbinden müssen.
»Es ist ein Weihnachtstee!«, raunte sie mir zu und zwinkerte verschwörerisch. »Ich habe ihn gestern bei Sally Kinsley im Gemischtwarenladen gekauft. Eine ganz neue Sorte. Riechen Sie mal! Vanille ist besonders intensiv!« Sie öffnete den Deckel und wedelte den aufsteigenden Dunst abwechselnd zu ihrer und zu meiner Nase. Das war definitiv der Duft von Weihnachten!
Margret reagierte nicht auf diese Analyse, sondern fokussierte irgendeinen Punkt in der Glut, während die Maschen sich aneinanderreihten und Lucy unsere Tassen füllte. Obwohl sie diese auf den kleinen Beistelltischen neben unseren Sesseln abstellte, waberten die Noten von Zimt, Hagebutte und besagter Vanille bis zu meinem Lichterkettenknäuel und mir hinüber. Der erste Schluck glitt wohlig durch meine Kehle, als ich die geblümte Tasse, die einer Suppenschüssel glich, an meine Lippen setzte. Die Wärme, die sich daraufhin in meinem Bauchraum ausbreitete, glich einer Umarmung. Margret reagierte meist mit Unverständnis auf meine Schüssel-Tasse, aber ich mochte diesen Pott und musste nicht so häufig nachschenken. Meine Freundin trank aus Tassen, die die Größe von Fingerhüten hatten! Albern! Da passte doch gar nichts rein!
»Mhm, köstlich! Margret, diesen Tee solltest du versuchen, bevor er kalt wird!« Mein Fingernagel tippte gegen den gewölbten Tassenrand. »Glaub mir, dann kommst selbst du in Weihnachtsstimmung! Das geht gar nicht anders! Dieser Tee hat etwas Heimeliges, verstehst du? Er schmeckt nach Zuhause.« Ich rieb meinen linken Daumen an den anderen Fingerkuppen, um die Nuancen des Geschmacks zu unterstreichen. Nichts als klappernde Stricknadeln. »Stell dir vor, wie gemütlich es sein muss, diesen Tee morgens im Bett zu trinken.« Lucy lächelte und verschwand in Richtung Küche, während ich den nächsten Konversationsversuch startete. »Sally beweist immer ein gutes Händchen bei der Auswahl ihrer Teesorten, findest du nicht auch, Margret?« Starre Miene und Klappern. Neugierig trat ich vor sie und beugte mich zu ihr herunter, bis mein Gesicht dicht vor ihrem war und unsere Nasen sich fast berührten. »Margret Miller, bist du da?« Mein Ruf war möglicherweise etwas zu laut, aber anders war von ihr ja keine Reaktion zu erwarten und da sie immer noch nichts sagte, legte ich noch eine Schippe drauf. »Hallo! Erde an Miss Miller!« Das kam zugegebenermaßen jetzt einem Brüllen gleich, was für sich alleine bewertet vielleicht gar nicht so tragisch gewesen wäre. Das zusätzliche Fuchteln mit meiner freien Hand hätte ich mir allerdings sparen sollen, denn dadurch wäre ich um ein Haar von einer Stricknadel aufgespießt worden, die im selben Moment reflexartig hervorschnellte, als meine winkende Hand an Margrets Wimpern vorbeisauste.
»Grundgütiger!« Meine Freundin riss die Augen auf und ihre Brille sauste herunter bis auf ihre Nasenspitze. »Musst du mich so erschrecken?« Das Gestell blieb bei ihr selten an dem dafür vorgesehenen Platz, aber Margret sah keinen Bedarf, sich eine neue Brille zuzulegen, solange sie durch die alte sehen konnte. Sie war zweifellos der sparsamste Mensch, den ich kannte.
»Kein Grund, mich gleich zu erstechen!«, empörte ich mich.
Wenn Margret meinen neuen Flauschpullover registrierte, würde wahrscheinlich wieder eine ihrer Predigten auf mich niederprasseln. Da könnte ich zehnmal sagen, dass Mrs Scott ihn mir zu einem absoluten Freundschaftspreis überlassen hatte. Ein Schnäppchen! Aber dieser Begriff kam in Margrets Wortschatz nicht vor. Also half nur ein Ablenkungsmanöver. »Gibt es ein spannendes Rätsel zu lösen? Ein Geheimnis? Mord oder Totschlag im Affekt? Oder sind es einfach nur diese Einbrüche?«
Solche Fragen waren gut! Nicht unbedingt, weil ich scharf auf einen neuen von Margrets Kriminalfällen gewesen wäre – ich hatte von dem letzten noch genug -, sondern weil ihre Laune mit dem Schwierigkeitsgrad eines Rätsels proportional anstieg. Eines, das diesen Namen Margrets Definition nach auch verdiente. Denn was für mich ein unlösbares Problem darstellte, war für meine Freundin unter Umständen noch nicht einmal eine Herausforderung. Hatte Margret über einen längeren Zeitraum keine kniffelige Nuss zu knacken, konnte sie ziemlich missmutig werden. Inzwischen war sie seit dem letzten Frühjahr geistig nicht mehr so richtig gefordert worden und ich spürte von Tag zu Tag mehr, wie ihre emotionale Verfassung von einem neutralen zu einem gereizten Stadium kippte. Gar nicht gut! Und da mir ihr Wohl sehr am Herzen lag, bemühte ich mich stets mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln, das Blitzen in ihren Augen zu erzeugen, das mir so gut gefiel. Es zeigte sich eher selten und stand dann meistens mit der Aufklärung eines trickreichen Falles in Zusammenhang. Mich konnte die Weihnachtszeit in Hochstimmung versetzen, Margret ging sie auf die Nerven, wenn es nichts anderes zu lösen gab als verknotete Lichterketten. Verbrechen aller Art waren ihr Metier. Mord, Totschlag, Diebstahl, Betrug, Erpressung, die ganze Bandbreite! Je verworrener, desto besser für ihren scharfen Verstand. Ich bewunderte sie bereits mein ganzes Leben lang für ihre enorme Kombinationsfähigkeit. Olivia Stonecastle hatte sie vor zwei Monaten darum gebeten, herauszufinden, wer ständig Müll vor das Pfarrhaus warf. Der Ruf meiner Freundin war ihr inzwischen vorausgeeilt, sogar bis zu der meist griesgrämigen Pfarrersgattin. Jede und jeder hier bei uns in Rosefield wusste, was für ein geistiges Genie Margret war. Erst im vergangenen Jahr hatte sie eine haarsträubende Reihe an Missetaten aufgeklärt, nach deren Lösung die Polizei heute noch suchen würde. Aber das Überführen eines Mörders stand natürlich in keinem Verhältnis zu weggeworfenem Schokoladenpapier vor dem Pfarrhaus. So etwas konnte Margret in etwa so beeindrucken wie ein Regenwurm in unserem Vorgarten. Dennoch tat sie Mrs Stonecastle den Gefallen, sich mit dieser in ihren Augen nicht zu unterbietenden Banalität zu befassen und wusste bereits nach einer halben Stunde, dass der jüngste Spross der Mallowans der Täter war. Sie hatte sich schlicht und ergreifend zur rechten Zeit auf die Lauer gelegt. Kein Kunststück also und erst recht keine Herausforderung für ihre Synapsen. Bei Toby Mallowans Vater handelte es sich ausgerechnet um den Dorfschullehrer von Rosefield, der seine Kinder streng aber fair erzog. Meine gute Margret hatte den reumütigen Sünder nicht ans Messer geliefert, sondern ihren tief verborgenen weichen Kern aus der rauen Schale gepellt und geschwiegen. Olivia musste sich mit der Information begnügen, dass es von nun an keinen Müll mehr vor dem Pfarrhaus geben würde. Warum der junge Mallowan seitdem einmal pro Woche vor unserem Haus die Straße fegte, beziehungsweise seit einigen Tagen Schnee schippte, brauchte ja niemand zu erfahren …
Bei dem Gedanken an Toby Mallowan fiel mir etwas ein.
»Wusstest du, dass neulich sogar Ortsfremde nach dem Weg zu Mrs Gibson gefragt haben? Stell dir das mal vor! Die waren nicht aus Rosefield! Auch nicht aus Candleham! Hast du gehört, Margret? Sie wollten von Toby wissen, wo der Friseursalon ist. Hat er mir erzählt! Mrs Gibson ist berühmt!« Ich malte Anführungszeichen in die Luft.
»Ein Schlüssel ist verschwunden!«, dozierte meine Freundin in bestem Professorinnen-Tonfall, während sie mit ihren Händen eine Raute formte und die Flammen nun zur Abwechslung durch das dadurch entstandene Loch fixierte. Das Strickzeug war auf ihre Knie gesunken und drohte abzurutschen. Vorsichtig schob ich es etwas höher, sodass es fast ihren flachen Bauch berührte, der tatsächlich die Tendenz hatte, sich nach innen zu wölben. Unglaublich, dass so etwas überhaupt möglich war! Margret war zu dünn. Das sagte ich immer wieder! Aber sie gab sich eben häufig mit geistiger Kost zufrieden. Mein Bauch wusste im Gegensatz zu ihrem nicht einmal, was eine Innenwölbung überhaupt war.
Es zischte, knackte und knallte in unserem Kamin. Zwar gab ich keine derartigen Geräusche von mir, aber mein Begeisterungslevel glich dennoch dem des Funkenflugs. »Ein Schlüssel?« Verschwundene Schlüssel waren in etwa so aufregend wie der Müll vor dem Pfarrhaus. »Und ich dachte schon, du bekämst wirklich Arbeit! Was ist denn mit den Einbrüchen? Worüber hast du vorhin nachgedacht?«
Ein verlorener Schlüssel würde Margret nicht aus ihrem Tiefpunkt ziehen, da mussten andere Geschütze aufgefahren werden.
Leider konnte man ihrem Energielevel nicht mit herkömmlichen Kreuzworträtseln oder einer Partie Scrabble auf die Sprünge helfen. Hatten wir alles schon zum wiederholten Male ausprobiert. Zwecklos!
Margret zwirbelte gedankenverloren an einem Faden, der von ihrer mausgrauen Strickjacke abstand. Zwei Drittel ihrer Kleidungsstücke waren mausgrau und die wenigen, bei denen eine andere Farbe dominierte, bestachen durch Schwarz oder Dunkelbraun. Mit einer Ausnahme! Die grünen Stricksocken, die einer Farbexplosion in Margrets Schublade gleichkamen.
»Na ja, wer weiß … Vielleicht verbirgt sich dahinter ja mehr, als man zunächst glaubt.« Sie schürzte die Lippen und schnippte den Faden, den sie inzwischen abgerissen hatte, mit Daumen und Zeigefinger auf den Teppich, wo er auf den nächsten Einsatz des Staubsaugers wartete. »Es ist einfach zu offensichtlich, verstehst du? Ich meine, wie unkreativ kann man sein?«
»Unkreativ? Beim Verlieren eines Schlüssels?« Es war ja nichts Neues, dass ich ihren Gedankengängen nicht folgen konnte, aber irgendwie fehlte mir gerade auch der Elan, es überhaupt zu versuchen. Meine Freundin begradigte pädagogisch ihren Rücken.
»Und dann auch noch dieses Geplauder …« Sie rieb die Daumen an Zeige- und Mittelfinger. »Wie war noch dieses Sprichwort? Verflixt! Ich komme nicht drauf!«
»Wovon zum Kuckuck redest du eigentlich, Margret?«
Immer diese kryptischen Einwürfe!
»Er könnte auch gestohlen worden sein!«
»Wer jetzt?«
»Na der Schlüssel! Und mit einem gestohlenen Schlüssel kann man eine Menge anstellen, wie du dir unschwer vorstellen kannst.« Sie neigte den Kopf zur Seite und bedachte mich mit jenem Blick über ihren oberen Brillenrand, der fragte, warum ich das nicht einfach verstehen könne.
»Das ist doch jetzt reines Wunschdenken von dir, Margret Miller! Weil in Rosefield seit Monaten niemand mehr beraubt oder ermordet wurde – glücklicherweise wohlgemerkt!« Mein Zeigefinger wedelte vor ihrer Nase herum. »Aber in Wahrheit verliert in England nahezu täglich irgendwer einen Schlüssel! Das gehört zum Alltag!« Mit den Armen auf dem Rücken begann ich, Kreise in den Teppich zu laufen. »Erst letzte Woche hat mir Mrs Gibson erzählt, dass Mrs Johnson den Schlüssel des Friseursalons verlegt hat.« Ich hielt an und drehte mich wieder zu meiner Freundin um. Ihre Augen verengten sich, aber ich ignorierte es. Es konnte ohnehin alles und nichts bedeuten. »Kann passieren, wenn du mich fragst. Mrs Johnson putzt seit einer Weile für Mrs Gibson, wie du weißt. Sie wohnt seit letztem Jahr drüben in Candleham. Weiß der Kuckuck, wo sie herkam und was sie nach Candleham verschlagen hat, aber für Mrs Gibson war es ein Glücksfall, denn ihr wurde das Reinigen des Salons zu viel. Du weißt schon, all die Haare auf dem Boden, Farbspritzer, klebriges Haarspray und so weiter.« Margret nickte gedankenverloren, obwohl sie selbst noch nie einen Friseursalon betreten hatte.
»Noch ein Schlüssel, also … Erst das Geschwätz und nun noch ein Schlüssel. Und Mrs Johnson! Ein Zufall … nein, es gibt keine Zufälle!«, murmelte sie vor sich hin.
Es hatte keinen Sinn, nach ihren dubiosen Satzfetzen zu fragen, also redete ich einfach weiter.
»Zuerst hat sie sich ziemlich geärgert, also über den verlorenen Schlüssel, nicht über das Putzen. Aber dann hat sie einfach das Schloss austauschen lassen. Fertig, aus! Problem gelöst!« Ich zerschnitt die Luft vor mir mit der Handkante. »Ich meine, letztendlich gibt es in einem Friseurladen ja auch nicht großartig etwas zu klauen, möchte man meinen. Ich weiß gar nicht, wieso Mrs Gibson sich darüber so aufgeregt hat. Sie nimmt die Kasseneinnahmen doch ohnehin jeden Abend mit nach Hause.«
Margret beugte sich über die linke Armlehne ihres Sessels zu mir herüber.
»Menschen sind diebische Elstern, Elisabeth! Sie machen vor nichts Halt! Auch nicht vor einem Friseursalon!«
»Aber Föhnhauben und Lockenwickler? Ich bitte dich!« Empört wollte ich die Fäuste in meine nicht vorhandene Taille stemmen, aber sie rutschten ab bis auf die Hüften herunter. »Was soll man damit schon anfangen? Kauft einem doch niemand mehr ab, wenn das alles schon hundertmal benutzt wurde. Am Ende hängen da noch Schuppen oder sonst etwas drin.« Kein schöner Gedanke. Ich schüttelte mich. Margrets Nase schien mich durchbohren zu wollen.
»Die Abgründe der Menschen …«
»Sind tiefer als der Meeresgrund, ich weiß, ich weiß! Aber Bürsten und …«
»Sehr richtig!«
»Ach du meine Güte!« Ich schlug mir die Hand vor den Mund. »Da war neulich diese Reportage im Fernsehen über so eigenartige Vorlieben. Wie hieß noch dieses Wort?«
Der Haarknoten meiner Freundin wanderte ein Stück nach oben, als sie ihre Stirn in Falten legte.
»Du meinst Fetisch, Elisabeth!«
Woher kannte sie sich damit so gut aus? Auch nach drei Jahren des Zusammenlebens gab es noch Überraschungen.
»Stimmt, das war es! Meinst du, jemand hat eine … Vorliebe für gebrauchte Lockenwickler?« Ich verzog die Mundwinkel. »Aber was macht man denn mit …«
»So ein Unsinn! Du schaust zu viel Fernsehen!«
Unbeeindruckt begann Margret erneut, mit ihren Stricknadeln zu klappern. Ich sah schweigend auf das Weihnachtsgesteck mit der Goldkerze, bis mir ein Gedanke kam.
»Ha! Ich sage dir, was ich glaube!«, verkündete ich mit triumphalem Unterton in der Stimme. »Ich glaube, diese Mrs Johnson ist einfach nur total schusselig. Stell dir vor, nachdem Mrs Gibson das Schloss ausgetauscht hatte, hat sie zwei Tage später schon wieder ihren Schlüssel verlegt. Daran sieht man doch schon, wie verpeilt sie ist! Gleich zwei Mal hintereinander! Das schafft nicht einmal Elvira Shaw!«
Mir entfuhr ein Kichern. Margrets Augenaufschlag drückte jedoch nichts als Zweifel an meiner Zurechnungsfähigkeit aus! Er wurde mir immer dann zuteil, wenn ich etwas gesagt hatte, das in ihren Augen auf einen Intelligenzquotienten unter drei schließen ließ.
»Warum schaust du denn jetzt schon wieder so?«
»Sie hat den Schlüssel wieder verloren? Zwei Tage später? Und du möchtest mir etwas von reiner Schusseligkeit erzählen? Elisabeth Wilson, ich bitte dich! Sei vernünftig!«
»Aber sie hat ihn doch einen Tag später wiedergefunden. Tada! Was sagst du nun? Er war gar nicht weg. Sie hatte ihn einfach nur verlegt.« Herausfordernd reckte ich das Kinn.
Margrets rechte Augenbraue hob sich.
»Es macht keinen Sinn, dir etwas über die verdorbene Seite der menschlichen Natur zu erklären. Sie hat ihn nicht einfach verlegt! Nie und nimmer!« Das Strickzeug sank auf die Beine. »Noch mal verloren und wiedergefunden. Zwei Tage später!« Ihrem Mund entwich ein zischender Laut, der so ähnlich klang wie der abschließende Haarsprayschub von Mrs Gibson, kurz bevor man mit neuer Frisur in die Welt entlassen wurde. Einige Sekunden schwiegen wir. Dann hob sie erneut an. »Du wirst nicht erraten, wen ich heute im Gemischtwarenladen getroffen habe.«
Da war ein Funkeln in ihren Augen. Nicht so hell wie das Blitzen, wenn sie einen Fall gelöst hatte, aber immerhin eine kurze Sternschnuppe. Ich nannte es das Rätselfunkeln. Sie liebte diese Fragen, auf die ich keine Antwort hatte. Es war für sie ein Mordsspaß! Allerdings ausschließlich für sie!
»Och Margret!« Ich verschränkte die Arme und die Fingerspitzen meiner linken Hand spielten auf meiner rechten Armbeuge Klavier. »Nach deinen Ratespielen steht mir heute wirklich nicht der Sinn.« Sie wusste genau, dass ich in den meisten Fällen ohnehin nicht auf die Lösung kam. Gerade das fand sie ja so lustig! Sie genoss diese Triumphmomente jedes einzelne Mal. Hätte ich in diesem Augenblick allerdings geahnt, wie viele Rätsel tatsächlich noch auf uns zukommen würden, so hätte ich jedem von Margrets Spielchen den Vorrang gegeben.
Und was hat das überhaupt mit Mrs Gibson zu tun?«, lenkte ich ab. Es wurde langsam frisch im Wohnzimmer. Das Feuer war heruntergebrannt und ich warf einen prüfenden Blick auf den Inhalt unseres Holzkorbs neben dem Kamin. Zum Glück hatte Lucy heute schon für Nachschub aus dem Schuppen gesorgt, in dem die Holzscheite lagerten. Margret grinste mich erwartungsvoll an und reckte ihren Hals. Sie war offensichtlich immer noch gespannt auf meinen Rateversuch. Mir entfuhr ein Stoßseufzer. »Nun sag schon, wen du getroffen hast. Ich komme sowieso nicht drauf. Wie sollte ich auch? Brrr, wir müssen unbedingt noch etwas Holz im Kamin nachlegen. Die Kälte zieht einem ja bis in die kleinen Zehen. Bald werden wir vor lauter Eisblumen nicht mehr aus dem Fenster sehen können.« Behände schleuderte ich ein Stück beste englische Eiche in die Glut, was einen Funkenflug verursachte. Es knackte und knarzte. Margrets Grinsen erstarb.
»Du machst den Schamott kaputt!«
»Schamott?«
»Na im Kamin! Du musst das Holz langsam hineingleiten lassen! Wenn du die Brocken wirfst, werden die Steine früher oder später reißen.«
Missbilligend schüttelte sie den Kopf, als wäre ich ein Kind, das sich vor dem Abendessen gerade noch einen Schokoriegel in den Mund geschoben hatte.
»Ich will mir aber auch nicht die Finger verbrennen! Was sicher passiert, wenn ich ein Holzstück in Zeitlupe in die Glut lege und ihm dort noch ein gemütliches Lager bereite.«
»Seit wann bist du Expertin im Schwarz-Weiß-Denken?«
»Bin ich doch gar nicht!«
»Wie dem auch sei! Eloise Padmoore!«
»Wie bitte?«
»Spreche ich Chinesisch? Eloise Padmoore! Ich habe sie getroffen! Bei Sally im Gemischtwarenladen! Du hättest es wenigstens versuchen können! Schwaches Bild, meine Liebe!« Erneut wackelte ihr Haarknoten tadelnd hin und her, wobei er an ihrer Rückenlehne entlangschrubbte und trotzdem so stabil wie Beton blieb. »Ein bisschen mehr Ehrgeiz, wenn ich bitten darf.«
»Aber ich kenne überhaupt keine Eloise Padmoore! Der Name sagt mir rein gar nichts! Wenn ich schon etwas erraten soll, dann muss ich auch eine realistische Chance haben, auf die Lösung kommen zu können! Das ist sonst unfair!«
Margret reckte ihre spitze Nase in die Höhe wie ein Maulwurf.
»Elisabeth Wilson! Dein Gehirn lässt nach! Erinnere dich an den Besuch bei unserem Schulfreund Ernest Bancroft in Rye im vergangenen Sommer. Das kannst selbst du unmöglich vergessen haben, besonders, da es sich um eine Einladung zum Essen handelte. Es war im August, weißt du nicht mehr? Vor knapp vier Monaten.«
Das konnte ich so nicht stehen lassen.
»Natürlich weiß ich das noch! Als ob ich täglich tausend Dinge vergessen würde! Aber was hat das denn mit Eloise Padmoore zu tun? Die Frage wird ja wohl noch gestattet sein, zumal hier jeder jeden kennt, weshalb klar ist, dass sie nicht aus Rosefield kommt und trotzdem im Gemischtwarenladen war.« Ich überlegte.
Als sie aufblickte, saß ihre Brille schon wieder auf ihrer Nasenspitze.
»Das stimmt! Deshalb sagte ich ja eben, dass es eigentlich nicht sein kann, dass du es vergessen hast.«
Ich überging das. Irgendwo hatte ich neulich gelesen, dass es die eigene Entscheidung war, ob man sich über etwas ärgern wollte oder nicht. Ich wollte nicht! Also ließ ich meine Gedanken in eine andere Richtung laufen.
Der gute Ernest. Er hatte ein fünfgängiges Menü für uns gezaubert und es in seinem von Kräuterbeeten und Blumen umsäumten Garten aufgetischt. Eine Atmosphäre zum Niederknien!
»Erinnerst du dich an das Bilderbuchwetter?«
»Meinst du das Winter-Wonderland draußen?«
»Nein, das an dem Tag bei Ernest! Strahlend blauer Himmel, ein laues Lüftchen und lediglich ein paar Schäfchenwolken. Wir konnten den ganzen Abend draußen sitzen«, schwärmte ich. Als Reaktion musste ich mit einem Brummen vorliebnehmen. »Und die Geschichten aus der Schulzeit, die wir uns erzählt haben. Es hat so viel Spaß gemacht, findest du nicht auch? Aber das Beste an dem Abend war unangefochten das Essen! Ein Gedicht!« Ich presste Daumen auf Zeigefinger und küsste die Verbindungsstelle. Auch jetzt noch konnte ich jedes Detail des Menüs glasklar vor meinem geistigen Auge heraufbeschwören. Ein Kunstwerk der Kulinarik! »Ernest mag ja ein eigenartiger Geselle sein, aber kochen kann er! Das steht mal fest!« Seine Dinnerabende waren inzwischen in ganz Sussex und auch in Kent berühmt, galten sogar als legendär! Man konnte ihn buchen. Ganz offiziell! Angeblich machten insbesondere ältere Damen von diesem Angebot Gebrauch und überboten sich mit horrenden Summen, um einen Termin bei Ernest Bancroft zu ergattern. Zumindest hatte er uns diese Geschichte mit geschwollener Brust aufgetischt, als wir nach dem Dessert zum Brandy übergegangen waren. Wie ein eitler Gockel. Ich hatte in mich hinein gelächelt und nicht weiter nachgefragt. Vielleicht stimmte es, vielleicht auch nicht. Das Essen ließ auf jeden Fall auf einen nicht unerheblichen Wahrheitsgehalt der Aussagen der gierigen Damen schließen. Ernest als Mann hingegen … nun ja, das war Geschmackssache. »Oh, dieser Hummerschaum … Eine Geschmacksexplosion! Und das Soufflé! Ernest hat sich selbst übertroffen.«
»Du denkst wieder nur ans Essen!« Margret zog missbilligend die Mundwinkel nach unten.
»Ich denke nicht nur ans Essen, sondern weiß einfach diese Fähigkeit zu schätzen. Das ist doch ein Talent! Für mich ist Ernest Bancroft ein Künstler am Herd.«
»Sieh an, sieh an! Ein Künstler am Herd!« Warum Margret einen leicht spöttischen Unterton in ihrer Stimme mitschwingen ließ, verstand ich nicht.
»Jawohl! Und du solltest vielleicht etwas häufiger ans Essen denken, sonst wirst du irgendwann vom Fleisch fallen.«
»Ach, papperlapapp!« Sie fegte mit der Hand einmal quer durch die Luft. »Nun vergiss mal das Soufflé und erinnere dich lieber daran, wer Ernest beim Servieren half.«
»Beim Servieren?«
»Beim Servieren!« Beim Warten schlug sie die Stricknadeln aneinander, als wolle sie Morsezeichen versenden. »Nun komm schon, Elisabeth! Räum deine Schubladen im Gehirn auf!«
»Ach ja, stimmt, da war jemand. War es nicht diese Haushälterin?«
»Eloise Padmoore!«
»Woher soll ich denn wissen, dass sie so hieß?«
»Ernest hat sie uns vorgestellt, aber dein glasiger Blick klebte nur an der Ententerrine!«
»Das halte ich für ein Gerücht! Vielleicht hat er sie ja nur dir vorgestellt, als ich zwischendurch auf der Toilette war. Könnte doch sein«, plädierte ich im Rahmen der Verteidigung. »Ha! Und ich erinnere mich an noch etwas!« Mein Zeigefinger schoss hervor. »Nämlich an die enorme Tassensammlung. Groß, klein, gemustert, mit Goldrand, alles dabei! Weißt du noch, Margret? Da war dieses riesengroße Regal in der Küche, die ganze Wand war bedeckt.« Ich bemühte mich, mit meinen Armen das Ausmaß nachzuzeichnen. »Siehst du, ich vergesse nämlich nicht alles!«
»Natürlich weiß ich das noch. Wir wurden ja von all dem Porzellan schier erschlagen, als wir das Haus betreten haben. Ich habe Sammler noch nie verstanden! Was soll man mit so viel Firlefanz! Man kann doch nur aus einer Tasse trinken.«
»Hat Ernest uns nicht erzählt, dass er ungefähr 600 Stück hat? Sogar richtig wertvolle sind darunter! Er ist schon ein ulkiger Kerl! Aber er lebt seine Vorlieben voll und ganz aus. Ich mag solche Menschen! Sie nutzen ihr Leben für die Dinge, die ihnen am Herzen liegen. Würden mehr Menschen ihren Passionen folgen, wären sie insgesamt zufriedener und es gäbe weniger Unheil auf dieser Welt.«
Ich nickte in Selbstbestätigung. Glückliche Menschen wurden nicht zu Verbrechern, das stand für mich fest!
Margret sah über ihre Armlehne gebeugt versonnen aus dem Fenster. Vermutlich hatte sie meine letzten Sätze gar nicht wahrgenommen. In ihrem Vorstellungsvermögen kamen emotionale Bindungen zu Tassen ohnehin nicht vor.
Es war schon dunkel und die dicken Schneeflocken waren nur noch zu erahnen. Schwärze lag über unserem Gemüsegarten hinter dem Haus. Nur in der Ferne ließen ein paar Lichtpunkte darauf schließen, dass im Herrenhaus Old Mansion Hall jemand zu Hause war. Ich wartete ein paar Sekunden, doch meine Freundin schwieg beharrlich weiter. Auch Erklärungen, die Haushälterin unseres Schulfreundes betreffend, blieben aus. Das war für mich nichts Neues. Wenn Margret in irgendwelchen Überlegungen versank, konnte man nur hoffen, dass ihre geistigen Umwege nicht allzu verstrickt waren. Ich beschloss, dass es keinen Sinn machte, einen Kommunikationsversuch zu starten und widmete mich wieder meinem Lichterketten-Sammelsurium. Immerhin blieben mir so weitere Ratespielchen erspart. Den Lämpchen und Kabeln wurde ich allerdings rasch überdrüssig, da meine Bemühungen, aus dem chaotischen Knäuel gerade Schnüre zu fabrizieren, nicht von Erfolg gekrönt waren. Was für ein verhedderter Haufen! Sollte ich ihn tatsächlich im letzten Jahr so im Karton verstaut haben? Egal, Schluss für heute! Morgen war auch noch ein Tag für Erleuchtungen aller Art! Dann fiel mein Blick jedoch auf den Inhalt eines weiteren Kartons.
»Oh, das Weihnachtsdorf!«, rief ich und klatschte beglückt in die Hände. »Sieh nur, Margret!«
Liebevoll entnahm ich die kleine, batteriebetriebene Kirche, die Musik spielen konnte, wenn man einen Hebel auf der Rückseite betätigte. Dann kamen die wundervoll gestalteten Häuschen und Tannenbäume, die Frau mit dem Süßigkeiten-Wagen und die Kinder mit den Schlitten zum Vorschein – herzallerliebst. Das Dorf würde sich prächtig auf dem Kaminsims machen. Ob ich kurz testen konnte, ob die Kirche noch Jingle Bells spielte, ohne Margret damit auf die Palme zu bringen?
»Wie kann man nur so unachtsam sein?«, rief diese aus dem Nichts und fuhr herum wie ein Tornado. Unwillkürlich machte ich einen Satz nach hinten.
»Herrgott, Margret! Was hast du denn nun schon wieder? Ich habe die Kirche doch noch gar nicht eingeschaltet!« Mit dem Gotteshaus in der rechten Hand und einem Fachwerkhaus mit Mühlrad in der linken schnappte ich nach Luft wie ein gestrandeter Kabeljau.
»Nicht du! Miss Padmoore!«
Diese ominöse Haushälterin schien doch noch um ihren Platz in der Aufmerksamkeitsrangliste zu buhlen. Ich hatte sie scheinbar zu früh abgehakt!
»Also schön!« Ich stellte die Dorf-Utensilien auf dem Tisch ab und ließ mich kapitulierend neben meine Freundin in meinen Ohrensessel fallen. »Was ist mit Miss Padmoore? Und was wollte sie eigentlich in Rosefield? Ganz ehrlich Margret, du bringst mich noch ins Grab!«
»Sie war wohl verabredet. Das sagte sie zumindest. Mhm …«
»In Rosefield? Schön, das mag ungewöhnlich sein, aber wir haben auch kein verschlossenes Tor am Ortseingang, oder? Obwohl – vielleicht gibt Miss Shaw den Wachhund! Dann kehrt jede und jeder freiwillig wieder um.« Ich kicherte. »Oder Miss Padmoore ist die Drahtzieherin der Einbruchserie! Was hältst du davon?«
»Ich finde, dass du reichlich albern bist, Elisabeth Wilson!«
»Die große Unbekannte! Sie hat etwas Schlimmes verbrochen, sie war in Rosefield!« Bühnenreif riss ich die Augen auf. »Hilfe! Wir sollten Sergeant Willis verständigen!«
Margret hob eine Augenbraue.
»Sie hat einen Haustürschlüssel von Ernest!«, kommentierte sie im selben Tonfall wie der allabendliche Nachrichtensprecher. Wie sich zeigte, war nicht nur die Haushälterin, sondern das ganze Schlüsselthema noch nicht vom Tisch.
»Ja und? Was ist daran so besonders? Das haben Haushälterinnen doch meistens. Sie kommen schließlich nicht immer nur dann, wenn jemand zu Hause ist.« Das Thema ging mir langsam auf die Nerven. »Jetzt mal etwas anderes, denkst du, Lucy beginnt bald mit den diesjährigen Mince Pies?« Das waren doch viel entscheidendere Aspekte des Alltags! Ich war mir ziemlich sicher, dass Lucy im letzten Jahr pünktlich zum ersten Advent eine mit dem Gebäck gefüllte Dose bereitgestellt hatte. Davon war bislang nichts zu sehen. Nur Ingwerplätzen. Auch lecker. Aber in der dunklen Jahreszeit brauchte ich Mince Pies. Die aß sogar Margret – allerdings nur an Weihnachten und nicht schon am ersten Advent. Erst recht nicht am Samstag vor dem ersten Advent! Meine Freundin kräuselte die Nase, als könne sie ihr gewichtiges Schlüsselproblem erschnüffeln, wie ein Trüffelschwein die edlen Pilze.
»Miss Padmoore hat einen, Ernest hat einen und weil sie besonders schlau sein wollte, hat sie noch einen versteckt.«
Sie gab ein Geräusch von sich, das am ehesten einer alten Dampflok glich.
»Ach, nun lass doch diesen albernen Schlüssel, Margret. Versteckt, oder nicht! Das ist doch völlig egal!« Irgendwie saßen wir hier ziemlich auf dem Trockenen. Wo war nur die angebrochene Flasche Portwein von gestern? Während ich überlegte, sprach ich weiter. »Was meinst du nun zu den Mince Pies? Ob ich Lucy einfach mal fragen sollte?«
»Rosefield und dann dieses Gequatsche …«
»Wie bitte?«
»Unter der Fußmatte! Lächerlich … alles und jedem. Ein offenes Buch! Reden ist Silber und Schweigen ist Gold! Ja, genau das war es!«
Ich verstand nicht, was Margret mir sagen wollte. Aber es war mir in diesem Moment auch egal. Wahrscheinlich sprach sie ohnehin eher mit dem Kaminbesteck als mit mir. Suchend sah ich mich nach dem Portwein um. Margret, die immer genau das bemerkte, was sie eigentlich nicht mitkriegen sollte, schielte über ihren oberen Brillenrand zu mir hinüber.
»Es wird noch mal ein schlimmes Ende mit dir nehmen, Elisabeth Wilson! Ich weiß genau, dass du nach dem Rest Portwein Ausschau hältst, aber den hat dein herzallerliebster Dr. Hastings gestern ausgetrunken.«
»Ehrlich?« Enttäuscht sank ich in die Polster. »Da bekommt er aber was von mir zu hören!« Das war natürlich nicht ernst gemeint. Der liebe Jonathan und ich waren seit einigen Monaten so etwas wie ein Paar. Mein schlechtes Gewissen Harry gegenüber hatte ich bislang noch nicht ganz ablegen können, auch wenn ich wusste, dass das im Grunde genommen albern war. Die Sache mit Dr. Jonathan Hastings war etwas völlig anderes als meine jahrzehntelange Ehe. Zwei verschiedene Paar Schuhe.
»Aber wir haben noch eine Flasche.« Margret zwinkerte mir versöhnlich zu. »Lucy!«
»Ja, Miss Miller?«, schallte es aus der Küche.
»Hol doch mal den Portwein aus dem Keller und setz dich zu uns!«
»Ist gut! Kommt sofort!«
Kurz darauf stand Lucy mit erhitztem Gesicht und der Flasche in der Hand im Wohnzimmer. »Diese hier?«
Margret nickte.
Ich bemühte mich um die Entschlüsselung der Angaben auf dem Etikett. Aber da ich mich nicht sonderlich gut auskannte, musste ich mein Urteil anhand des noblen Designs treffen.
»Ich schätze, der war gar nicht so billig. Sollen wir ihn wirklich öffnen? Einfach so? Ohne Anlass?« Das war eine rhetorische Frage, denn natürlich würden wir genau das tun. Daher wartete ich nicht auf eine Antwort, sondern erhob mich, um drei Gläser zu besorgen, während Lucy sich einen Stuhl an den Kamin heranzog.
»Du sagst doch immer, man soll nichts für die angeblich wichtigen Tage aufheben!«, hörte ich Margrets Stimme hinter ihrer Rückenlehne. »Das habe ich von dir gelernt, Elisabeth Wilson.«
»Oh, wie schön, dass ich zur Abwechslung auch mal etwas zu deiner Horizonterweiterung beitragen konnte! Und es stimmt ja auch. Wer weiß schon, ob man das nächste Weihnachtsfest oder den nächsten Geburtstag noch erlebt? Jeder Tag kann zu einem besonderen werden.« Ich breitete die Arme auseinander wie Mr Stonecastle, wenn er predigte.
»Die Einstellung finde ich super, Mrs Wilson!« Lucy nickte anerkennend. »Übrigens ist mein Kochbuch fast fertig!« Die Begeisterung, die bei diesen Worten aus ihren Augen blitzte, war ansteckend.
»Tatsächlich? Das ist ja großartig!« Ich war richtig stolz auf unseren Schützling. Das Ergebnis konnte nur grandios sein! »Da haben wir doch den perfekten Grund, die Flasche zu öffnen, oder etwa nicht?«
Augenzwinkernd stupste ich sie an. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht.
»Ob sich ein Verlag dafür interessiert? Die haben doch sicher Besseres zu tun.«
»Wenn ein Rezept für Mince Pies dabei ist, bestimmt!«
Diesen Wink mit dem Zaunpfahl musste ich einfach anbringen, wenn sie mir schon eine solche Vorlage lieferte. Gespielt gleichgültig fegte ich einen nicht vorhandenen Fussel von meinem rechten Hosenbein.
»Ich backe morgen welche!«, war die von einem Lächeln begleitete Reaktion. Ziel erreicht! Zufrieden lehnte ich mich zurück. Wie gut, dass Lucy so eine schnelle Auffassungsgabe hatte.
»Das wollte ich doch nur hören.« Meine Gedanken wanderten wieder zu dem Menü von Ernest. Vielleicht hatte Margret recht. Ich dachte tatsächlich ziemlich häufig über Essen nach. Das Problem an der Sache war, dass ich es meist nicht bei bloßen Gedanken beließ. Aber in meinem Alter noch eine Diät anfangen? Nein danke! Und dann erst die ganzen Falten durch die erschlaffte Haut! Wer brauchte so etwas?
»Schade, dass Jonathan im Sommer nicht mit dabei war. Aber ich habe seitdem nicht nur im Friseursalon regelmäßig von Ernest und seinen Kochkünsten geschwärmt, sondern auch Jonathan jedes Detail bildhaft beschrieben! Könnt ihr mir glauben! Leider kann er sich an Ernest gar nicht mehr wirklich erinnern. Ist ja auch ein anderer Jahrgang, Jonathan war zwei Klassen über uns.«
Es klingelte an der Tür.
»Nanu! Kommt Patrick heute noch vorbei?«, erkundigte sich Margret. »Oder dein verehrter Doktor?«
Ich schüttelte den Kopf und auch Lucy verneinte, erhob sich aber sogleich, um nachzusehen, wer bei Wind und Wetter zu dieser späten Stunde bei uns hereinschneien würde. Wir hörten sie leise sprechen. Die antwortende Stimme war eindeutig männlich. Margret und ich sahen uns im Wohnzimmer fragend an. Kurze Zeit später trat Lucy mit unserem Besucher ein.
»Ernest!«, rief ich aus. »Was für eine Überraschung! Und auch ein echter Zufall! Wir haben vorhin noch von dir gesprochen. Setz dich doch! Möchtest du etwas trinken? So ein weiter Weg! Zieh doch erst mal den nassen Mantel aus.«
»Ihr Lieben, wie schön, euch zu sehen!«
Während ich mich daran machte, einen Stuhl für unseren Besucher von unachtsam abgelegter Weihnachtsdeko zu befreien, erkannte Margret im Gegensatz zu mir sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie fixierte ihn mit zusammengekniffenen Augen und gerunzelter Stirn, als sei Hypnose ihr tägliches Geschäft. Da meine Freundin nicht zu den Menschen gehörte, die um den heißen Brei herumredeten, kam sie ohne Umschweife zur Sache.