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Hirnforschung, revolutionäre, neue Energieformen, Unsterblichkeit – die Forschungsgebiete, denen sich das Team um Louis Palm im Blauen Palais verschrieben hat, sind hochriskant und geheim. Der Quantenphysiker John Kevington will fragwürdige Experimente an der jungen Petra durchführen, die die Gabe hat, das Ergebnis von Pferderennen vorherzusehen. Um ihre parapsychologischen Fähigkeiten zu untersuchen, nötigt er sie, ihn ins Blaue Palais zu begleiten. Über Wochen hinweg wird sie dort auf ihre hellseherische Gabe getestet – und gerät dabei an den Rand des Erträglichen. Es scheint unumgänglich, zugunsten der Forschung Menschenopfer zu riskieren ... Das Blaue Palais ist eine alte Villa, hinter deren Mauern exzellente Forscher das Unmögliche möglich machen. Die genialen Wissenschaftler um Louis Palm geraten immer wieder in hochexplosive, illegale Situationen und müssen feststellen, dass ihre Forschungen einen Preis haben ... Und so bleibt kein Fortschritt ohne Konsequenzen – für das Leben der Wissenschaftler oder für das der ganzen Menschheit ... Der Blaue-Palais-Zyklus besteht aus fünf eigenständigen Romanen: • Das Blaue Palais. Das Genie • Das Blaue Palais. Der Verräter • Das Blaue Palais. Das Medium • Das Blaue Palais. Unsterblichkeit • Das Blaue Palais. Der Gigant Für die fünfteilige Verfilmung der Science-Thriller wurde Rainer Erler von der ESFS (European Science Fiction Society) als bester europäischer Science-Fiction-Drehbuchautor ausgezeichnet.
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Seitenzahl: 191
Rainer Erler
Das Medium
Roman
»Ist es noch weit?«
John Kevington hatte höflich gefragt, aber der Fahrer des Taxis gab keine Antwort.
Er zuckte nur andeutungsweise mit seinen breiten, massigen Schultern, die in einem muffigen, verschwitzten grünen Lodenmantel steckten.
Kevington sah auf seine Uhr und lehnte sich zurück.
Der Fahrer schaltete. Langsam dieselte der alte Wagen eine Anhöhe hinauf. Die schmale Landstraße war mit Schlaglöchern übersät – Frostaufbrüche eines extrem kalten Winters, der gerade zu Ende ging. Kevington spürte jeden Stoß durch die durchgesessene, abgewetzte Kunstlederbank im Fond des alten Wagens. Er fühlte jede einzelne dieser Spiralfedern. Und die Kuhle in der Mitte dieses Rücksitzes ließ keinen Zweifel daran, dass in den letzten zehn Jahren in erster Linie Einzelpassagiere befördert worden waren.
»Waren Sie schon öfter dort?« Kevington hatte sich wieder vorgebeugt, lehnte sich über die Trennwand. Die Scheibe war zur Seite geschoben. Dieseldunst kam ihm entgegen und dieser süßlich-saure Mief des alten Lodenmantels. Aber der Fahrer schüttelte den Kopf, fuhr sich mit der rissigen, schwieligen Hand über seinen Stiernacken, lüftete kurz die speckige Ledermütze, zog das Schild wieder einigermaßen gerade über seine Stirn und sagte schließlich: »Nein. Noch nie!«
»Ah ja. Aber Sie kennen die Strecke?«
Wieder schüttelte der Mann den Kopf. »Nur die Richtung. Ungefähr. Aber wir kommen an. Verlassen Sie sich drauf!«
Kevington lachte. »Sie fahren also mit PSI?«
»Womit fahr' ich?«
»Mit PSI. Mit Telepathie …«
Es war vermutlich kein besonders guter Scherz. Der Fahrer blickte kurz und irritiert auf diesen seltsamen Fahrgast: ein hagerer Ausländer, Engländer oder Amerikaner mit einem rötlichen Schnauzbart, der seinen Pepitahut stets auf dem Kopf behielt und schließlich, als vonseiten des Fahrers keine weitere Reaktion erfolgte, in korrektem Deutsch hinzufügte: »Sie wissen sicher nicht, wovon ich spreche?!«
»Doch. Weiß ich!« Wieder fuhr die Hand zum Nacken, zu der Ledermütze mit ihrem abgegriffenen Schild. »Weiß ich. Aber halt' ich nix von.«
Der Scheibenwischer kämpfte gegen den Regen an. Das ganze Land, diese wintergrauen Wiesen und Hügel, diese toten, kahlen Laubwälder, an deren Rändern noch Schneereste lagen, löste sich auf in diesem Regenschleier.
Einzelstehende Gehöfte, hässliche niedere Häuser mit verkommenen Nebengebäuden, mit Ställen und Scheunen, duckten sich in dieser kalten Unwirtlichkeit. Hinter den winzigen Fenstern brannte gelbes Licht. Es war mitten am Tag.
Auch die wenigen Fahrzeuge, die ihnen entgegenkamen, fuhren mit Licht. Die Scheinwerfer glänzten auf dem nassen Asphalt, blendeten durch die Wasserschlieren auf der Windschutzscheibe. Gischt wirbelte hoch und nahm ihnen die Sicht. Und dann waren sie wieder allein auf der Straße, die sich durch diese abgelegene Landschaft schlängelte.
Es war kein Ende abzusehen. Der Taxameter zeigte bereits über einhundert Mark. Der Fahrer hatte ihn immer im Blick. Aber er schien keine rechte Freude an den weiterspringenden Zahlen zu haben. Schließlich nahm er nach einer viel zu langen Pause den Faden des Gesprächs wieder auf: »Instinkt! Daran glaub' ich. Alles Instinkt!« Er schaute wieder ganz beiläufig in Kevingtons Richtung, um herauszufinden, wie dieser lästige Ausländer mit seinem englischen Akzent, der immer wieder versucht hatte, mit ihm Konversation zu machen, auf diese Feststellung reagierte. »Und ich fahre auch mit Instinkt!«, fügte er abschließend hinzu. »Instinkt! Sehr richtig! Genau davon habe ich gesprochen«, sagte Kevington. »PSI – die Kraft der außersinnlichen Wahrnehmung, die Fähigkeit, Bilder und Gedanken zu erkennen, außerhalb von Raum und Zeit, unabhängig von unseren fünf Sinnen und ohne technische Hilfsmittel – das ist für mich nur erklärbar als eine Art ›Instinkt‹.« Er zupfte an den Spitzen seines rotblonden Schnurrbarts und fuhr fort, ohne seinem eigenen Instinkt zu folgen und die Konversation zu beenden, die diesem alten Fahrer offensichtlich wenig Vergnügen bereitete: »Ich bin Wissenschaftler, müssen Sie wissen, und ich mache mir Gedanken über gewisse Phänomene …« Aber dann verfolgte er den Blick des Fahrers zum Taxameter und brach mitten im Dozieren ab: einhundertsechzehn Komma fünfundachtzig.
Ich hätte ein Taxi direkt vom Flughafen nehmen sollen, dachte Kevington, wie man es ihm geschrieben hatte. Wesentlich mehr hätte das auch nicht kosten können. So war er, die langen Halte- und Wartezeiten eingerechnet, über zwei Stunden mit einem Vorortzug unterwegs gewesen – allerdings voller Stolz, so etwas selbst herausgefunden zu haben. Auch die winzige Bahnstation hatte er selbst ausfindig gemacht. Auf der Fotokopie einer Landkarte, die man ihm sicherheitshalber mitgeschickt hatte, beigelegt diesem Einladungsbrief, der ihn jetzt in diese entlegenste Gegend Deutschlands verschlagen hatte, wo die Menschen offenbar alle mufflige grüne Lodenmäntel trugen, von denen er bisher in seinen britischen Zeitungen nur in Glossen gelesen hatte.
Schließlich hatte er ein Taxi entdeckt. Es wirkte sehr antik und deshalb vertrauenswürdig und stand Seite an Seite mit einem Leichenwagen in einer Reparaturwerkstätte für Landmaschinen. Der schweigsame Mechaniker hatte den hageren jungen Mann mit dem Schnauzbart und dem nassen Trenchcoat lange angesehen. »Amerikaner?«, hatte er gefragt.
»Engländer …« Kevington hatte seinen Pepitahut abgenommen und den schwarzen Samsonite-Koffer auf die Werkbank gestellt.
Die Karte war feucht geworden, aber der Mechaniker hatte sowieso nur einen kurzen Blick darauf geworfen, nachdenklich genickt und eine unmissverständliche Geste mit zwei Fingern gemacht. Die Warnung vor einem sicherlich nicht geringen Fahrpreis. Schließlich hatte er Lodenmantel und Ledermütze vom Haken genommen – und jetzt waren sie bereits fünfzig Minuten unterwegs. Einhundertneunzehn Komma fünfzig zeigte der Taxameter.
»Glauben Sie eigentlich an Spuk? An Poltergeister? An okkulte Erscheinungen?« Kevington hatte wieder Mut gefasst. Schließlich war er zahlender Gast. Und er war in dieses Land gekommen, um bestimmte Verhaltensweisen, auch Meinungen, Urteile und Vorurteile zu erfahren. Er ließ sich auch nicht mehr beeindrucken, als der Fahrer abwehrend die Hand hob und den Kopf schüttelte. »Nein? Auch nicht an Wahrträume und Visionen? Und an das zweite Gesicht?« Die Handbewegung des Fahrers war nicht mehr eindeutige Ablehnung, er wiegte den Kopf hin und her. »Sie halten solche Dinge für möglich, ja? Und Hellseher, Gedankenleser, Zukunftsdeuter …?«
»Meistens Betrüger!« Der Fahrer wischte diese Kategorie gewissermaßen vom Tisch. »Meistens Tricks!«, ergänzte er noch.
»Ja, manchmal«, gab Kevington zu. »Aber manchmal sind die Ergebnisse doch sehr verblüffend. Und wie's gemacht wird, weiß man nicht so recht. Auch nicht, wie es funktionieren könnte. Das macht misstrauisch. Und was wir nicht erklären können, was außerhalb unserer fünf Sinne liegt, das macht uns ängstlich, das erschreckt uns und lässt uns zweifeln. Da glauben wir doch lieber an Tricks.«
Der Fahrer lachte und schaltete sein Radio ein. Es musste doch einen Weg geben, diesen Ausländer zum Schweigen zu bringen.
Aber Kevington zeigte auf das Radio und dozierte über die laute Musik hinweg: »Sie wissen, wie das funktioniert? Ja, natürlich! Ein klein wenig Elektrizität und eine Antenne auf dem Dach. Und irgendwo ein Sender und elektromagnetische Wellen. Ein ›unfassbares‹ Wunder. Denn elektromagnetische Wellen sind ja nicht fassbar, greifbar. Sie liegen außerhalb unserer Sinneswahrnehmung. Ähnlich wie die ›außersinnlichen Wahrnehmungen‹ von Hellsehen, Telepathie, Prophetie – Erfahrungen, die die Menschen schon seit Urzeiten machen. Sie zum Beispiel haben die Gabe, ein unbekanntes Ziel nur nach Kenntnis der ungefähren Richtung und mit Instinkt anzusteuern, wie Sie selbst zugeben. Und das ist keineswegs unnatürlich oder übernatürlich. Zugvögel können das auch, bestimmte Fische, Lachse, Aale auf ihren Wegen zu den Laichplätzen. Ich studiere dieses Verhalten. Aber ich muss zugeben, wir wissen noch sehr, sehr wenig darüber. Und wir wissen auch sehr, sehr wenig über uns selbst. Wir haben uns die Erde untertan gemacht, mit mehr oder weniger großem Erfolg. Wir haben ein winziges Fleckchen Mond erobert und haben daraufhin das Gefühl, wir wüssten einigermaßen Bescheid über das unendliche Universum, das uns umgibt. Aber bestimmten Fähigkeiten unseres eigenen Gehirns stehen wir etwas fassungslos gegenüber.« Da trat der Fahrer auf die Bremse, hart und unvermittelt, und versuchte den Wagen auf der regenglatten Fahrbahn zum Stehen zu bringen.
Kevington war vom Sitz gerutscht und klammerte sich an die aufgeschobene Trennscheibe. »Was ist?«
»Sie machen einen völlig meschugge mit Ihrer Quasselei!«, sagte der Fahrer und versuchte an Kevington vorbei nach hinten zu blicken. Langsam fuhr er rückwärts bis zur Kreuzung, die er eben überquert hatte. Nachdenklich betrachtete er einen Wegweiser.
»Entschuldigen Sie«, sagte Kevington und lehnte sich wieder in den Fond zurück. »Wie können Sie mit Instinkt fahren, wenn ich Sie ablenke … Zu dumm! Ich habe zu viel geredet!«
Der Fahrer winkte ab: »Hab' sowieso nicht zugehört. Geben Sie nochmals die Karte.«
Wortlos nahm Kevington den fotokopierten Plan aus seiner Brieftasche und zeigte auf ein blaumarkiertes Kreuz. »Das Palais«, sagte er.
Der Fahrer nickte nur und studierte die eingezeichnete Strecke lange und gründlich. Dann wendete er und fuhr kommentarlos den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren. Der Taxameter zeigte einhundertachtundzwanzig Komma fünfunddreißig.
Der Wind hatte den Regen gegen die brüchige Fassade gedrückt. Dunkelblaue Wasserspuren zogen sich vom Dach herunter zu der Fensterreihe des ersten Stocks. Aber keiner achtete darauf. Hinter den erleuchteten Fenstern mit dem kalten Licht der Leuchtstoffröhren arbeiteten die Mitglieder des Blauen Palais in ihren Labors, in Büro und Bibliothek und hatten keinen Sinn für den abziehenden Winter. Nur Kühn, der Hausmeister, stapfte mit Gummistiefeln und Ölzeug über den Hof und versuchte das Wasser abzuleiten, bevor es in den Keller lief. Eine der Traufen war wohl durchgerostet, jetzt strömte ein armdicker Strahl aus dem Rohr und verwandelte den Hof in einen See. Mit Schaufel und Hacke grub Kühn kleine Kanäle in den nahen Park, als das Taxi durch die Einfahrt kam.
Das Wasser spritzte zur Seite, und eine Flutwelle rauschte gegen die Sockel der verwitterten Putten neben dem Portal.
»Sie wünschen?«, fragte Kühn den hageren Menschen mit dem Schnauzbart, der sich nicht entschließen konnte, den Fond des Wagens zu verlassen.
»Kevington. Ich werde erwartet.« Vorsichtig versuchte er die Tiefe des schlammigen Sees mit einem seiner Schuhe auszuloten.
»Erwartet? Hier? Davon ist mir nichts bekannt.« Kühns Charme hielt sich bei unangemeldeten Besuchern stets in gewissen Grenzen.
»Doch, wirklich. Ich habe hier einen Brief …« Aber in der Eile fand Kevington ihn nicht. »Ist Palm im Haus?«, fragte er stattdessen.
»Herr Professor Palm. Nein!« Kühn schüttelte bedauernd den Kopf, aber nach einer angemessenen Pause wurde er präziser: »Er ist drüben im Pavillon. Kommen Sie mit.« Er wollte sich quer durch den Hofsee in Bewegung setzen, als der Taxifahrer ihn anrief. Kühn sah sich um und bekam einen Koffer in die Hand gedrückt.
Zu Kevington gewandt lüpfte der Fahrer kurz seine Lederkappe: »Vergessen Sie den Taxameter. Machen wir's rund. Achtzig Mark.« Er reichte Kevington die Hand und zog ihn aus dem Wagen. »Kommen Sie gut nach Hause. Und fahren Sie vorsichtig – mit Ihrem Instinkt!«, sagte Kevington. »Danke!« Der Fahrer lachte. »Und tut mir leid, wenn ich Sie enttäuscht habe. Sonst klappt's eigentlich immer. Umwege sind selten!«
»Ja …« Kevington stand nachdenklich im Regen und hatte vergessen, seinen Pepitahut aufzusetzen. »Das geschieht häufig, wenn sich die Wissenschaft dieser Phänomene annimmt. Dann funktionieren sie nicht.« Damit stapfte er hinter Kühn durch Wasser und Schlamm hinüber zum weißen Holzpavillon, während das Taxi mit einer Bugwelle den Hof wieder verließ.
»Das ist ja nicht möglich! Sie sind wirklich gekommen?!« Palm war einen Schritt aus dem Pavillon getreten, um seinen Gast zu begrüßen.
»Ja, danke für die Einladung.« Kevington schüttelte die herzlich dargebotene Hand. »Ich schrieb zwar ›im Herbst‹, jetzt ist es fast Frühjahr geworden …« Er sah sich nicht gerade glücklich um, dann betrachtete er seine Schuhe. Sie hatten den Marsch über den Hof nicht sehr gut überstanden.
»Ja, dann scheint das wohl in Ordnung zu sein.« Kühn hatte sich zu Wort gemeldet. Er hatte ein Recht darauf, als erster zu erfahren, wer wann und weshalb hier im Palais eintraf.
»Herrn Kühn, unseren guten Geist des Schlosses, kennen Sie ja nun schon …« Palm versuchte das Versäumte nachzuholen. »Doktor John Kevington ist Kernphysiker und wird die nächste Zeit hier bei uns verbringen.«
»Wie geht es Ihnen, Herr Kühn?«, fragte Kevington in bester britischer Manier, während er Kühn die nasse Hand reichte.
»Danke«, antwortete Kühn. »Dann kann ich das Gepäck ja nach oben bringen.« Ohne die Spur eines verbindlichen Lächelns hatte er sich abgewandt und stapfte den schlammigen Weg zurück zum Portal. Er hasste offenbar Unterbrechungen der von ihm selbst gewählten Tätigkeiten.
»Ja, ich freu' mich, dass das nun endlich mal geklappt hat. Kommen Sie herein.« Palm zog Kevington an der Schulter in den hölzernen Bau mit seinen weißlackierten Streben und Schnörkeln, der die letzten hundert Jahre sichtlich gut überstanden hatte und nun als Lagerraum und Aushilfslabor diente. »Hier. Kollege Kevington ist eingetroffen. Mal sehen, wie lange es ihm hier im Blauen Palais gefällt.« Palm begann mit der Vorstellung.
Ein junger, romanisch wirkender Typ mit dichter schwarzer Mähne stand auf einem Hocker und beschäftigte sich mit einem bizarren Gebilde, einer Art Drahtskulptur, in die bunte Schaumstoffkugeln eingesetzt wurden.
Eine junge Dame in Pelzmantel, Schal und Mütze ging ihm dabei zur Hand. Sie schien trotz ihrer arktischen Ausrüstung zu frieren. Der Raum war zwar nicht geheizt, aber trotzdem wirkte ihr Aufzug etwas übertrieben.
Palm stellte sie vor: »Yvonne, mein wandelndes Gedächtnis. Sie stammt aus Lyon.«
»Freu' mich.« Kevington zeigte sein schönstes Pferdelächeln. »Ich komm' aus Manchester. Zwölf Jahre Cambridge. Vier Jahre DESY Hamburg. Jetzt bin ich hier«, fügte er hinzu.
»Was ist DESY?«, wollte Yvonne wissen.
»Deutsches Elektronen-Synchotron – oder so ähnlich. Die zerlegen den Atomkern und seine Teilchen in Bausteine«, erklärte Palm.
»Ah ja …«, sagte Yvonne und reichte zwei rote Bälle nach oben.
Aber der romanische Typ auf dem Hocker hatte ein anderes Problem. Seine »Skulptur« war gefährlich ins Schwingen geraten.
»Kollege Polazzo. Enrico Polazzo«, stellte Palm vor.
Aber Polazzo winkte ab. »Ich kann jetzt nicht. Augenblick.« Er befestigte zuerst einige Verstrebungen im Zentrum des Gebildes, bevor er von seinem Hocker stieg.
»Er baut Modelle von Aminosäuren – nach gemeinsamen Berechnungen von uns«, informierte Palm seinen neuen Gast.
»Ja – aber noch nicht ganz stabil!« Polazzo wickelte Heftpflaster um die Drahtstützen. »Ihre Modelle der neuen Transurane waren kompakter, nicht wahr?«
»Woher wissen Sie das?«, wollte Kevington wissen. »Veröffentlichungen. Fotos.«
»Ja, stimmt. Wir haben die Stützen aus Zollrohren geschweißt und Bocciakugeln dazwischengeleimt – oder wie heißen die aus Metall, die Sie in Frankreich …?«
»Boule!«, erklärte Yvonne stolz.
»Richtig. Boule. Und am Schluss wog so ein Modell eine halbe Tonne.« Wieder bleckte Kevington seine langen gelben Zähne unter dem rötlichen Schnurrbart, lächelte das Mädchen an, was Polazzo schwer irritierte. Um von Anfang an keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, griff er nach Yvonnes eiskalten Händen, um sie zu warmen.
»Gehen wir rüber ins Palais!« Palm holte seinen bunten Schirm aus der Ecke. »Die kommen auch ohne uns zurecht!« Er machte eine Geste zur Tür und ließ seinem Gast den Vortritt hinaus in Regen und Schlamm.
Dicht aneinandergedrängt unter dem bunten Schirm stapften die beiden Männer über den Hof, wateten gedankenverloren durch die Pfützen, die Kühns Kanalsystem übriggelassen hatte.
»Es ist nicht ganz einfach zu erklären, warum ich mich so schnell und so überraschend entschlossen habe, doch noch hierher zu kommen.« Kevington suchte nach einer plausiblen Begründung.
Palm versuchte ihm zu Hilfe zu kommen: »Weil wir hier im Blauen Palais frei und unabhängig forschen, frei von Zielforderungen und Zwängen – vermutlich …?«
Aber Kevington wehrte ab: »Das auch, aber das trifft den Punkt bei weitem nicht. Sehen Sie, wir Atomphysiker sind nicht mehr ganz so fest davon überzeugt, dass das Atom nichts weiter ist als ein materielles Ding. Wir entdecken immer mehr rätselhafte, paradoxe, gewissermaßen übernatürliche Erscheinungen. Das Atom verhält sich unter gewissen Umständen sehr eigenwillig, unberechenbar, bisweilen sogar absurd. So läuft zum Beispiel die Zeit entlang der Bahn gewisser Elementarteilchen rückwärts ab. Und scheinbar unumstößliche Naturgesetze werden plötzlich widerlegt, eingeschränkt, werden relativiert …« Er war stehen geblieben und sah Palm erwartungsvoll an.
Aber der schien auf weitere Ausführungen zu warten und hielt nur sorgsam den Schirm über seinen Gast. Kevington ließ sich Zeit, schüttelte in Ruhe die Tropfen von seinem Hut und schwieg. »Neulich, bei einer Diskussion«, wandte Palm nun ein, »stellten wir fest: Begriffe wie Ursache und Wirkung, wie Raum und Zeit haben ihre herkömmliche Bedeutung verloren.«
Da ging ein Aufleuchten über Kevingtons hageres Gesicht. »Sehen Sie, wir verstehen uns bereits! Und um das Paradoxe in unserer früher doch so exakten Wissenschaft wenigstens hin und wieder zu vergessen, rettet man sich in Statistik. Man verfolgt nicht mehr die sehr individuellen Bahndaten einzelner Atome und ihrer Teilchen, man betrachtet die große Zahl, und der Computer beweist in der Auswertung, dass alles nur Zufall ist. Aber das glaube ich nicht. Wenn ich nämlich das Verhalten einer großen Zahl von Menschen registriere und auswerte, kann ich durchaus Aussagen machen über das Verhalten von Menschen schlechthin – und doch hatte jeder einzelne jederzeit die Möglichkeit, sich frei zu entscheiden, sich individuell zu benehmen. Und da steckt dann kein Zufall dahinter.« Er blickte plötzlich auf. »Nanu?« Eine weiße Gestalt war im Portal des Palais erschienen, ein flatternder Labormantel, rotblondes, hochgestecktes Haar. Eine junge Frau sprang mit großen Sätzen und weit ausgebreiteten Armen über die Pfützen hinweg hinüber zur alten Remise und verschwand dort hinter dem angelehnten Tor, ohne die beiden Männer beachtet zu haben.
»Und das war auch kein Zufall!«, lachte Palm. »Sibilla Jacopescu ist Biologin, kommt aus Bukarest, und dort oben sind ihre Labors.«
Kevington hatte Sibilla interessiert nachgesehen, jetzt blickte er hinauf zu den erleuchteten kleinen Fenstern im ersten Stock der Remise.
»Soll ich Sie gleich vorstellen …«, Palm sah Kevington verschmitzt von der Seite her an, »… oder warten wir damit bis zum Abendessen?«
»Ach, ich finde«, antwortete Kevington nach einer scheinbar nachdenklichen Pause, »angenehme Dinge sollte man nie zu lange aufschieben!«
Die Vorstellung fand zwischen den Rattenkäfigen statt. Die Ratten in ihren blankgeputzten weißen Fellen saßen schnuppernd hinter den Gitterstäben und beobachteten mit ihren roten Knopfaugen interessiert das menschliche Ritual des Händegebens und Lächelns.
Dann führte Sibilla dem Gast aus England ihren »Mäusezirkus« vor, wie sie ihn nannte, das Verhalten von Überpopulationen unter optimalen Bedingungen. »Nein«, sagte Sibilla, »Kommentare und Auswertungen gibt es erst in drei Wochen!«
Kevington sah sich um – diese blitzsauberen Labors in der umgebauten Getreidetenne, die perfekte technische Ausstattung, die charmante Kollegin mit ihrem rollenden rumänischen R. »Ich finde das jedenfalls sehr erfreulich!«, sagte er. »Was finden Sie sehr erfreulich, bitte?«, wollte sie wissen.
»Dass die Forschung in diesem Hause nicht nur in den Händen von Männern liegt!« Er wandte sich zum Ausgang, zu dieser flatternden Schleuse aus Plastikvorhängen.
Dort stand ein blonder Hüne und hatte den letzten Satz Kevingtons gerade noch mitbekommen. »Sie sind Physiker«, sagte er. »Wir Biologen und Biochemiker finden das keineswegs erstaunlich.« Er begrüßte Kevington mit misstrauischer Reserviertheit und stellte sich vor: »De Groot. Jeroen de Groot. Niederländer. Und in gewisser Weise mit der Chefin dieses Zirkusunternehmens hier oben liiert!«
»Glückwunsch!«, murmelte Kevington im Hinausgehen. Er fand es wirklich vermessen anzunehmen, dass eine Frau dieses Kalibers frei herumlief.
»Wir sprachen vom Zufall …« Palm hielt seinem Gast die schwere Eichentür auf, die in die Halle des Palais führte.
»Ja«, sagte Kevington. »Wer oder was steuert den Zufall?« Er schlüpfte aus seinem feuchten Mantel und hing ihn über die Haken aus Geweihspitzen, die aus der gekalkten Mauer ragten. Das Palais war früher das Jagdschloss irgendeines unbedeutenden Kurfürsten gewesen.
»Beschäftigen Sie sich auch mit Parapsychologie?«, wollte er von Palm weiter wissen. »Parapsychologie?«
»Die Erforschung der Kraft PSI, die Gedanken und Bilder zu übermitteln und den Zufall zu steuern scheint.«
»Nein. Bisher hat sich niemand in diesem Hause …«
»Schade!«, unterbrach ihn Kevington. »Wir sollten gemeinsam versuchen, ob das Zufällige, scheinbar Unberechenbare nicht doch berechnet werden kann – exakt wie die Bewegung von Planeten. Und wir sollten feststellen, ob die Kraft, die den Zufall zu steuern scheint, erkannt und beeinflusst werden kann.«
»Klingt zwar durchaus wissenschaftlich«, wandte Palm ein, »aber ich fürchte …«
»Ist es auch. Ist durchaus wissenschaftlich, wenn man von Spökenkiekerei einmal absieht. Aber bevor Sie sich jetzt in Kritik an dieser Idee verrennen – ein Geständnis: Nur wegen dieser Idee bin ich hier! PSI-Forschung. Sie haben doch einen Rechner im Haus, einen Computer, ja?!«
Der Rechner stand im Keller, in einem total umgebauten und vollklimatisierten Weingewölbe, und druckte gerade mit großem Lärm Seite um Seite Polazzos Aminosäuren-Analysen aus. Viel Konversation war nicht möglich.
»Herr Büdel stammt aus Bern. Er ist Kybernetiker und Systemanalytiker.«
Büdel kam hinter dem Terminal vor.
»Von John Kevington haben Sie sicher schon gehört.«
»O ja. De Groot hat mich eben angerufen und informiert, dass Sie eingetroffen sind. Übrigens, ich habe damals Ihre Veröffentlichung nachgerechnet, über die Emission von Neutrinos bei Kernreaktionen, Fusion der Wasserstoffkerne im Zentrum der Sonne. Darüber müssen wir mal reden.«
»Gerne, natürlich.« Kevington war geschmeichelt. »Aber im Augenblick habe ich eine ganz konkrete Frage an Sie und Ihren Rechner: Wie groß ist die Chance, sechs Richtige im Lotto zu haben?« Büdel lachte schallend. »Sonst haben Sie keine Probleme, nein?«
»Nein, nein, im Ernst! Sechs Richtige bei neunundvierzig Zahlen.«
Büdel dachte nach, ging an sein Terminal. Zeile um Zeile erschienen die chiffrierten Jobs, die der Schnelldrucker auf seinen endlosen Papierstreifen ausdruckte.
»Also – deswegen nehme ich das Programm nicht heraus. Aber ich würde sagen: eins zu dreizehn Millionen etwa.«
Kevington nickte: »Ich habe verstanden. Ich muss dreizehn Millionen unterschiedliche Kästchen ausfüllen – eines davon …«
Da unterbrach ihn Palm: »Das schaffen Sie nicht. Wenn Sie pro Kästchen nur eine Minute brauchen, sind das … Augenblick mal … ja, über zweihundertsechzehntausend Stunden.«
»Da ist es ja noch einfacher«, warf Büdel ein, »dreizehn Millionen Wochen hintereinander zu spielen. Der Wahrscheinlichkeit nach kommt dann irgendwann der Hauptgewinn. Per Zufall schon beim ersten Spiel. Vielleicht auch erst beim tausendsten. Beim letzten, dem dreizehnmillionsten also, nach zweihundertfünfzigtausend Jahren – wenn man Pech hat, überhaupt nie. Je nach Laune des Zufalls.« Kevington triumphierte: »Laune des Zufalls!« Er suchte in seiner Brieftasche. »Der Zufall hat also Launen!« Er hatte gefunden, was er suchte, und faltete einen Zeitungsausschnitt auseinander. »Hier: eine kleine Meldung – da traf auf ein und denselben Spieler in zwei aufeinanderfolgenden Wochen jedes Mal der Hauptgewinn. Sechs Richtige! Ein schöner Zufall, nicht wahr?« Er gab den Ausschnitt an Palm weiter, dem Büdel nun über die Schulter blickte.
»Was mich daran interessiert«, fuhr Kevington fort: »Wie hoch weicht nun dieser Zufall von der Wahrscheinlichkeit ab?«
Büdel war einen Augenblick ratlos. Er warf einen hilfesuchenden Blick auf seinen Rechner. Aber der war immer noch besetzt und druckte fleißig Aminosäureformeln oder was auch immer eingegeben worden war. »Also – ich kann nur sagen: enorm! Weicht enorm ab von der mittleren Zufallserwartung. Das lässt sich exakt berechnen. Im Augenblick nicht, aber in ein paar Minuten. Binomialformel. Wie viele Spiele wurden insgesamt gespielt, von wie vielen Leuten – wie lange spielte der Gewinner bereits erfolglos – wie viele Kästchen hat er ausgefüllt – und so weiter – und so weiter.«
Kevington hatte lachend abgewunken. »So genau wollte ich das gar nicht wissen. Aber könnte man sagen: Unter Millionen Spielern kommt der Zufall in Millionen Jahren nicht vor …?«
»Genau!« Büdel war offenbar einverstanden.
»Gut!«, sagte Kevington, nahm den Zeitungsausschnitt wieder an sich, legte ihn sorgfältig zusammen und steckte ihn ein. »Also ist der Fall an sich unwahrscheinlich, ja?!«
Büdel nickte, Palm pflichtete dem bei, und Kevington fuhr fort: »Deshalb habe ich einen Verdacht: Der Spieler hat den Zufall beeinflusst!«
»Betrug?«, fragte Palm.
»Nein, nicht Betrug! Sechster Sinn. Der Spieler hat die Zahlen einfach gewusst, das Ergebnis vorausgeahnt.«