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Wie kann man Menschen mit neurokognitiven Störungen, die infolge eines Unfalls oder neurodegenerativer Prozesse an schweren Gedächtnisverlusten leiden in geschlossenen Settings bei der Genesung unterstützen? Antworten gibt das Praxishandbuch der erfahrenen Therapeuten Scholz und Niepel, die nach 25-jähriger Entwicklungs- und Zusammenarbeit mit Menschen mit Gedächtnisverlusten ein integratives und modulares Therapiekonzept vorstellen. Das CC-Konzept beschreibt die neuropsychologischen Grundlagen, Epidemiologie, Pathophysiologie und Folgen akuter neurokognitiver Störungen, die mit retrograden Amnesien sowie schweren Gedächtnisverlusten und Lernstörungen einhergehen bietet eine positive Basistherapie, die Gesundheit fördert, positive Emotionen und Wohlbefinden bereitet, Natur erleben lässt, Beziehungen, Bindungen und soziale Integration unterstützt, Identität, Selbst- und Sinnerleben ermöglicht, Bewegungslernen übt, Kontrolle und Orientierung erleichtert und Krisen bewältigen hilft ermöglicht im Rahmen einer Aufbautherapie alltagspraktische, kognitive, kreative, motorische, und sprachliche Fähigkeiten wieder zu erlernen, zu stabilisieren und fokussiert weiter zu entwickeln zeigt pflegerische Möglichkeiten, um die Autonomie, Alltags- und Bewältigungsfähigkeiten von Menschen mit Gedächtnisverlusten zu fördern erklärt, wie die Umgebung gestaltet werden kann, um Sicherheit zu vermitteln, Wahrnehmung zu erleichtern, Barrieren zu verringern und Menschen durch Naturerleben aufblühen zu lassen.
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Seitenzahl: 529
Das CC©-Konzept
Das CC©-Konzept
Ann-Kathrin Scholz, Andreas Niepel
Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Pflege:
Jürgen Osterbrink, Salzburg; Doris Schaeffer, Bielefeld; Christine Sowinski, Köln; Franz Wagner, Berlin; Angelika Zegelin, Dortmund
Ann-Kathrin Scholz
Andreas Niepel
Das CC©-Konzept
Integratives Therapiekonzept für Menschen mit Gedächtnisverlust und neurokognitiven Störungen
Unter Mitarbeit von
Irene Harms-Göckener
Daniela Schieberle
Ann-Kathrin Scholz. M.Sc. Psychologin.
Auf’m Hennekamp 4
40225 Düsseldorf
E-Mail: [email protected]
Andreas Niepel. Gärtner, registrierter Gartentherapeut nach IGGT, Phytotherapeut, systemischer Coach, Leiter der Abteilung Garten/Gartentherapie an der Klinik Holthausen (Hattingen).
Bahnhofstraße 25b
45525 Hattingen
E-Mail: [email protected]
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Lektorat Pflege
Länggass-Strasse 76
3012 Bern
Schweiz
Tel. +41 31 300 45 00
www.hogrefe.ch
Lektorat: Jürgen Georg, Martina Kasper, Loriana Zeltner
Herstellung: Daniel Berger
Umschlagabbildung: Martin Glauser, Uttigen
Umschlag: Claude Borer, Riehen
Illustration/Fotos (Innenteil): Andreas Niepel, Ann-Kathrin Scholz
Satz: punktgenau GmbH, Bühl
Format: EPUB
1. Auflage
© 2019 Hogrefe Verlag, Bern
(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-95900-9)
(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-75900-5)
ISBN 978-3-456-85900-2
http://doi.org/10.1024/85900-000
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Anmerkung:
Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.
Unser besonderer Dank gilt Winfried Mandrella und Dr. Michael Amend
© Scholz/Niepel
Das CC©–Konzept hat sicher seine Vorgeschichte, seine Inspirationen und seine Seitenwege. In der hier vorliegenden Form ist es jedoch geistiges Eigentum der beiden Verfasser. Jedwede Verbreitung ist natürlich im Sinne dieser Autoren, wobei diese jedoch im Sinne einer Qualitätssicherung in Absprache mit eben jenen Autoren geschehen sollte.
Inhaltsverzeichnis
In den Schuhen anderer stehen
Teil I: Das CC©-Konzept – Einführung und Überblick
1 Inhalt und Struktur des CC©-Konzeptes
1.1 Was braucht der Mensch?
1.2 Aufbau des Buches
1.3 Organisatorisches: das CC©-Konzept im Überblick
1.4 Wegbegleiter und Wegweiser
Teil II: Cognitive Disorder & Confusion – besondere Menschen in einer besonderen Situation
2 Eine besondere Situation – der Behandlungskontext
2.1 Wertschätzende Betrachtung
2.2 Reale Teilmengen finden und nutzen
2.3 Bedeutung der Sprache
3 Die besonderen Menschen – Patienten mit erworbenen Hirnschäden
3.1 Ursachen
3.2 Auswirkungen
3.3 Exkurs: die Frage nach der Demenz
3.4 Gesetzliche Grundlagen der Behandlung
4 Neuropsychiatrische Störungen
4.1 Wirklich Hirnorganisch?
4.2 Hemmend und Enthemmend
4.3 Unsichtbare Störungen
5 Krankheitseinsicht oder Störungsbewusstsein
5.1 Die Erkenntnis von Krankheit und das Wahrnehmen einer Störung
5.1 Der Einfluss auf die Therapie
6 Das amnestische Syndrom
6.1 Die Vielfalt des Gedächtnisses
6.2 Störungen des Gedächtnisses
7 Implizite Therapie als Behandlungsgrundlage
7.1 Explizites und implizites Gedächtnis
7.2 Implizites Lernen auf Beziehungsebene
7.3 Implizites Lernen als fehlerfreies Lernen
7.4 Implizites Beziehungswissen
7.5 Implizites Lernen auf Bewegungsebene
7.6 Implizites Lernen und Kontextabhängigkeit
7.7 Implizites Lernen auf kognitiver Ebene
7.8 Prozedurales und perzeptuelles Lernen
8 Implikationen für die Therapie
9 Therapieziele
9.1 Erwartungen der Angehörigen – „Viel hilft viel!“
9.2 Ziele aus Sicht der Patienten – „Ich will hier weg!“
9.3 Wünsche, Ziele und der Unterschied
9.4 Der Behandlungsauftrag der Leistungsträger
9.5 Der Behandlungsplan des Therapeutenteams
9.6 Ergebnis: Grundlegende übergeordnete Ziele im CC©-Konzept
9.7 Organisatorisches: die Festlegung von Zielen
10 Die CC©-Therapiegrundsätze – Schnittstellen zwischen Mensch und Therapie
10.1 Das Fundament: Die therapeutische Haltung
10.2 Auf dem Fundament: Basistherapie und Aufbautherapie
10.3 Und schließlich: Heilen! Die Schwerpunkttherapien
Teil III: Contentment & Consistence – die POSITIVe Basistherapie
11 Die POSITIVe Basistherapie und ihre Aufgaben
12 Die POSITIVe Basistherapie zur Anbahnung weiterer Therapien
12.1 Organisatorisches: die Planung des Unplanbaren
12.2 Das große Thema der Motivation
12.3 Die Schwierigkeit der freien Entscheidung – Autonomie
12.4 Das Erleben der eigenen (In)Kompetenz – Selbstwirksamkeit
12.5 Die Grundhaltung der Akzeptanz – Kohärenz
12.6 Motive und Grundbedürfnisse
12.7 Das Nicht-Schaden-Wollen als medizinische Basis
13 Die POSITIVe Basistherapie als Kontextfaktor
13.1 Die Außenwelt: Alles im grünen Bereich?
14 Die POSITIVe Basistherapie und die Gesundheitsförderung
14.1 Freude in der Krankheit empfinden?
14.2 Zum Ersten: Gesundheit!
14.3 Zum Zweiten: subjektives Wohlempfinden
14.4 Zum Dritten: psychisches Wohlbefinden
14.5 Und ganz oben drauf: Aufblühen oder Flourishing
14.6 Eine Folge: der Therapeut als Sozialagent
14.7 Zusammenfassung – Leistungen der Basistherapien zur Gesundheitsförderung
15 Das P der POSITIVen Basistherapie – positive Emotionen und Wohlempfinden
15.1 Vom Wachsen der Nerven
15.2 Therapie ist Lernen
15.3 Die Bedeutsamkeit der Emotionen
15.4 Genießen und Belohnen
16 Das O der POSITIVen Basistherapie – oekologische Einbindung und Naturerleben
16.1 Der Garten – Kulturgut des Menschen
16.2 Das Recht auf Naturzugang
16.3 Die physischen Komponenten
16.4 Die psychischen Komponenten
16.5 Zusammenfassung
17 Das S der POSITIVen Basistherapie – soziale Integration und Bindung
17.1 Auf der einen Seite: soziale Exklusion
17.2 Auf der anderen Seite: ein neues soziales Netz
17.3 Eine tragfähige therapeutische Beziehung
17.4 Exkurs Gruppengröße
18 Das I der POSITIVen Basistherapie – Identität und Selbsterleben
18.1 Selbstidentifikation und Fremdbetrachtung
18.2 Das positive Selbstbild als Motor
18.3 Praktische Implikationen
19 Das T der POSITIVen Basistherapie – Tonus und Bewegung
19.1 Bewegung als Basis für neuronale Neuorganisation
19.2 Bewegung und geistige Fähigkeiten
19.3 Wohlempfinden durch Bewegung
19.4 Bewegung zur Anspannungsregulation
19.5 Praktische Implikationen
20 Das I der POSITIVen Basistherapie – Intention und Sinnerleben
20.1 Sinn aus der Vergangenheit in die Zukunft
20.2 Den Sinn (wieder) finden
20.3 Selbstmotivation
21 Das V der POSITIVen Basistherapie – Verstehbarkeit und Orientierung
21.1 Kontrolle und Orientierung in der Therapie
21.2 Vertrauen schaffen
21.3 Mitwirkung und Nachvollzug schaffen
21.4 Organisatorisches: Transdisziplinarität in der POSITIVen Basistherapie
22 Die POSITIVe Basistherapie als Krisenmanagement
22.1 Krisenprävention – wie therapeutisch ist ein Wartezimmer?
22.2 Krisenintervention – Hilfe zur Selbsthilfe
23 Die POSITIVe Basistherapie – Unterstützung weiterer Therapien
23.1 Üben, üben, üben ….
23.2 Ein mehrdimensionaler Therapieraum
23.3 Organisatorisches: die Frage der organisatorischen Flexibilität
23.4 Exkurs: Zur Anwendung des CC©-Konzeptes in Psychiatrie oder Psychosomatik
Teil IV: Combined Cluster – die Aufbautherapien
24 Die Aufbautherapien und ihre Aufgaben
24.1 Die Bedeutung der Gruppensituation
24.2 Chaosverträglichkeit
25 Ausrichtung an der ICF
25.1 Die evidenzbasierten Therapiemodule
26 Die Cluster der Aufbautherapien
26.1 Organisatorisches: feste und flexible Gruppenstruktur
27 Interaktionen innerhalb der Aufbautherapie
28 Die kognitiv kreative Aufbautherapie – KAI
29 Die sprachlich kommunikative Aufbautherapie – KIM
30 Die bewegungsorientierte Aufbautherapie – BEN
31 Die alltagsorientierte Aufbautherapie – ALF
Teil V: Curative & Change – die Schwerpunkttherapien
32 Die Schwerpunkttherapien
32.1 Der systemische Blick
32.2 Ein roter Faden von Basis- und Aufbau- zur Schwerpunkttherapie
33 Zusammenarbeit innerhalb der Schwerpunkttherapien
33.1 Beispiel Bewegungsabläufe lernen – mehr als nur Motorik
33.2 Beispiel Alltagshandeln
33.3 Beispiel Sprache, Reden und Inhalte
33.4 Die Diagnostik innerhalb der Schwerpunkttherapien
34 Therapie zwischen den Kontexten
34.1 Die soziale Diagnose
34.2 Das Thema Leistung
34.3 Angehörigenarbeit
Teil VI: Cordial Care – herzliche Pflege
35 Pflege als Bestandteil der Basisziele des CC©-Konzeptes und ihre Aufgaben
36 Der besondere Prozess der Bewältigung als Aufbauziel der Pflege
36.1 Beispiele und Handlungsansätze
36.2 Das höchste Gut: Selbstbestimmung
37 Pflegerische Schwerpunktaufgaben und Pflegedokumentation
37.1 Pflegedokumentation mit der SIS
37.2 Die Frage der pflegerischen Haltung
Teil VII: Closed Context – der äußere Rahmen
38 Raumgestaltung
38.1 Die prägende Bedeutung der Architektur
38.2 Gefühlte Sicherheit und erleichterte Wahrnehmung
38.3 Vielfalt der Wohnsituationen und Barrierefreiheit
39 Garten- und Naturerleben
39.1 Wohlempfinden im Naturraum
39.2 Ein geschlossener Garten
39.3 Vom V der Basistherapie zum Prinzip des Nachvollzuges
Anhang
Ein Blick auf das Personal
Die Wegweiser im Überblick
Danke an die Kollegen
Literaturverzeichnis
Autorenverzeichnis
Sachwortverzeichnis
Dieses Buch beziehungsweise dieses Konzept ist für Therapeuten, Ärzte und Pflegende geschrieben, die – so auch das Thema des ersten Kapitels – mit sehr besonderen Menschen in sehr besonderen Situationen arbeiten. Um Ihnen dies darzustellen, möchten wir Sie bitten, sich zu Anfang einmal folgende sehr besondere Situation vorzustellen.
Sie sind Pflegeperson auf einer Station. Seit Jahren schon. Im Moment sitzen Sie in der großen Frühstücksrunde zusammen mit einigen Patienten und einigen eifrig tätigen Kollegen. Die Patienten am Tisch verhalten sich wie gewohnt – nennen wir es „sehr besonders“. Einige kommen gut zurecht, die meisten in Ihrem Blickfeld haben aber doch erhebliche Schwierigkeiten, legen möglicherweise ein nahezu unerträglich langsames Tempo vor oder wissen gar überhaupt nichts mit den Tassen und Tellern anzufangen. Sie werden das kennen.
Und so signalisieren Sie ihrem Kollegen, mit dem Sie schon seit Jahren hier tätig sind, dass sie mal Frau Müller nebenan das Essen anreichen werden.
Als Sie jedoch beginnen wollen, sind Sie erst einmal sehr überrascht, dass eben jener Kollege Sie zunächst Siezt, was allein schon seltsam ist, und Sie dann auch noch bittet, sich doch um Ihr eigenes Frühstück zu kümmern. Sie lachen über den Scherz und wollen weiter Ihrer Arbeit nachgehen. Doch der Kollege ergreift Ihren Arm und – so Ihr Eindruck – erklärt Ihnen genervt, Sie seien hier kein Pfleger, sondern Patient. Das ist natürlich kompletter Unsinn, denn schließlich wissen Sie am besten, was Sie hier machen und Sie spinnen ja wohl nicht. Die Erklärung des Kollegen, dass Sie früher mal in einem Krankenhaus gearbeitet hätten und jetzt nach einem Schlaganfall die Dinge schon mal durcheinanderbringen, ist natürlich auch Unsinn. Sie wissen ja schließlich – nein – Sie erinnern sich daran, wie Sie heute Morgen zur Arbeit gekommen sind. Als Sie aufstehen wollen, um das klar zu stellen, bemerken Sie, dass Sie in einem Rollstuhl sitzen, was Ihnen unangenehm ist. Noch unangenehmer ist Ihnen die nächste Wahrnehmung: Irgendjemand hat Sie offensichtlich mit einem Gurt an diesem Rollstuhl befestigt. Die Beschwerde darüber kanzelt eine Ihnen völlig unbekannte Person (die irgendwie auch noch unsympathisch wirkt, auch wenn Sie nicht wissen warum) mit dem Hinweis ab, dass Sie ja gestern bereits gestürzt seien. Und um den Wahnsinn komplett zu machen, stellt man Ihnen nun auch noch die ein oder andere Pille neben Ihr Frühstück.
Ihre Gedanken, Ihr Handeln, Ihre Reaktion auf eine solche Situation mögen unterschiedlich sein. Sie werden vielleicht wütend sein, verspüren Angst oder wollen so schnell wie möglich flüchten. Oder Sie versuchen, die Situation durch Erklärungen zu retten. Denn aus Ihrer Sicht sind sie erst einmal keineswegs verwirrt, was Ihnen der Kollege erklären will. Die Umgebung scheint es zu sein, eher verirrt – verirrt in eine nahezu kafkaeske Situation.
Viele Patienten, die innerhalb des CC©-Konzeptes behandelt werden, erleben, wie hier zu erahnen, eine oftmals komplett aus den Fugen geratene Welt. Nichts ist mehr so wie erwartet, die äußere und die innere Welt, sie entgleiten der eigenen Kontrolle. Das, was gerne als „gesunder Menschenverstand“ bezeichnet wird, es kommt an Grenzen.
Ursache sind die dafür verantwortlichen Erkrankungen des zentralen Nervensystems, deren Folgen den Patienten in so vielen Aspekten seines Menschseins treffen. Wie man aus der beschriebenen Situation folgern kann, nimmt dann nicht selten eine Art „Grund-Misstrauen“ seinen Platz ein, wodurch wiederum das Erleben und Verhalten maßgeblich negativ beeinflusst wird.
Schon an dieser Stelle mag daher deutlich werden, dass nicht nur die ursächliche Erkrankung, sondern der gesamte Kontext der Behandlung als ein einflussnehmender Faktor gesehen werden muss: Er kann den Zustand des Betroffenen verbessern, aber eben auch verschlechtern.
Unter solchen Bedingungen das therapeutische Ziel der Verbesserung oder des Erhaltes bestimmter Fähigkeiten und Kompetenzen mit den üblichen therapeutischen Werkzeugen anzugehen: Das macht an dieser Stelle kaum Sinn. Es geht zunächst vielmehr darum, ein therapeutisches Setting, eine Basis zu schaffen, welche diesem Patienten die Chance gibt, sich gesund zu entwickeln.
Die Kernfrage des CC©–Konzeptes ist: Was braucht ein Mensch mit einem hochkomplexen Gesundheitsproblem? Diese Frage möchten wir Ihnen in diesem Buch beantworten.
Ann-Kathrin Scholz
Andreas Niepel
Januar 2019
Die Eingangsfrage lautet: „Wie behandelt man einen Menschen, der nach einer erworbenen Hirnschädigung neurokognitive Störungen aufweist?“. Klingt, gerade nach dem Eingangsbeispiel, kompliziert? Ist es auch!
Der Versuch, diese Frage auf den kommenden Seiten passend zu beantworten, sollte daher vielleicht auch besser ein wenig einfacher beginnen. Damit wäre die erste Frage: Was braucht ein Mensch überhaupt (um zu gesunden)?
Dann kann es gerne ein wenig spezieller werden: Was braucht ein Mensch mit einem so hochkomplexen Gesundheitsproblem? Und schließlich muss es – gemäß des Anspruches an ein Therapiekonzept als ein System des gezielten Einwirkens auf ein solches Problem X – heißen: Wie organisiert man diese Überlegungen, dieses Vorgehen?
Dieses Buch stellt Ihnen einen spezifischen Behandlungsansatz und dessen praktische Umsetzung für Menschen mit komplizierten Gesundheitsproblemen vor. Nicht umsonst haben wir oben den Begriff hochkomplex verwendet.
Die Bezeichnung der „neurokognitiven Störung“ ist zwar zweifelsohne eine gute sachliche Beschreibung der Situation dieser Patienten. Sie ist klar, sie ist nicht bewertend oder gar stigmatisierend (wie oftmals die Begriffe Demenz oder gar das noch immer gebräuchliche HOPS; Hirnorganisches Psychosyndrom), sie ist umfassend, lässt Raum für unterschiedlichste Inhalte und klingt nicht zuletzt auch erfreulich undramatisch. Hier liegt aber ein erstes Problem: Die Auswirkungen dieser Störungen sind durchaus dramatisch! Es geht schließlich nicht nur um einzelne selektive Funktionseinschränkungen, sondern auch immer um Auswirkungen auf weitere vielfältige Bereiche. Diese Störungen greifen in das gesamte System des betroffenen Menschen ein. Hinzu kommt, dass die ursächlichen neurologischen Erkrankungen neben den kognitiven Beeinträchtigungen nahezu immer weitere Einschränkungen mit sich bringen, z.B. motorisch-funktionale Gesundheitsprobleme, die ebenso einer Behandlung bedürfen.
Wo sich die verschiedenen Folgen der Erkrankung zudem gegenseitig beeinflussen, reicht Interdisziplinarität innerhalb eines Konzeptes nicht aus.
Es geht eben nicht nur darum, dass möglichst viele unterschiedliche Therapien beteiligt sind, die dann aber in ihrem eingeschränkten speziellen Fachbereich verbleiben. Interdisziplinaritätbedeutet, dass verschiedene Berufsgruppen an dem gleichen Gesundheitsproblem arbeiten, aber unabhängig voneinander. Das CC-Konzept richtet sich transdisziplinär aus. Erst durch eine Transdisziplinarität, also ein wirkliches gemeinsames Betrachten und Zusammenarbeiten, werden die Perspektiven in einem notwendigen Maß erweitert (Brand, Schaller & Völker, 2004).
Dieser Ansatz muss sich dabei im inhaltlichen Konzept wiederfinden. Auch die dafür notwendige organisatorische Grundlage beschreiben wir in diesem Buch. Die Veränderungen und Einschränkungen, welche „neurokognitive Störungen“ mit sich bringen und die Art, wie sie sich in der Interaktion mit Betroffenen zeigen, sorgen im Übrigen nicht selten dafür, dass mitunter von der „Unplanbarkeit“ gesprochen wird. Wir werden sehen, wie man diese Planbarkeit des „Unplanbaren“ angehen kann.
Es ist allerdings noch schlimmer, wenn man gar von einer „Untherapierbarkeit“ dieser Menschen hört. Dabei werden dann v.a. die aufgrund der amnestischen Störungen eingeschränkten Lernfähigkeiten sowie das mangelnde Störungsbewusstsein angeführt. Wie soll man jemanden behandeln, der sich an die Inhalte der Therapie nicht erinnert, beziehungsweise sie kognitiv nicht adäquat verarbeiten kann und der darüber hinaus subjektiv keinerlei Anlass und Bereitschaft für diese Therapie sieht?
Das ist aber nicht so! Das CC©-Konzept soll zeigen, dass eine Therapie durchaus möglich, sinnvoll und zielführend ist. Dafür reicht eben ein einfacher standardisierter Behandlungsplan nicht aus. Voraussetzung für eine sinnvolle und effektive Therapie ist eine allumfassende Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung und dem Erleben – schlichtweg mit der Perspektive des Patienten.
An dieser Stelle soll ein Hinweis erlaubt sein. Dieses Buch behandelt, wie bereits erwähnt, zwei wichtige Themen: Zum einen natürlich die inhaltlichen Bestandteile des CC©-Konzeptes, seine Grundlagen, die daraus resultierenden Elemente und die besondere Art der Durchführung, zum anderen wie auch den Versuch einer Antwort auf die Frage: Wie behandelt man einen Menschen mit einer neurokognitiven Störung? Eingegangen wird aber auch auf die praktische Organisation bzw. Operationalisierung dieses Konzeptes und damit auf die zweite Frage: Wie organisiert man dieses?
Theorie und Praxis sind dabei nicht immer klar voneinander zu trennen. So sind die für dieses Konzept maßgeblichen, zeitlich relativ lang angelegten POSITIVen Basistherapien natürlich inhaltlich begründet, aber sie haben auch eine organisatorische Seite. Es erscheint auch wenig sinnvoll, ein integratives, viele Bereiche betreffendes Behandlungskonzept zu entwickeln, ohne sich darüber Gedanken zu machen, wie dieses dann vor Ort zu realisieren sei. Daher wird in den nachfolgenden Kapiteln immer wieder auf beide Aspekte eingegangen. Die Marschrichtung geben dabei jedoch die inhaltlichen Aspekte vor.
Was da so am Wegesrand liegt …
Alles CC oder was – wieso diese Abkürzungen?
Alles begann damit, dass es in der Klinik Holthausen vor gut 20 Jahren den Wunsch des Oberarztes Dr. Michael Amend gab, jene Patienten des Hauses, die das seinerzeit noch als „Hirnorganisches Psychosyndrom“ (gerne abgekürzt als HOPS) benannte Krankheitsbild zeigten, gemeinsam auf einer eigenen Station zu behandeln. Damals wurde ein Teilbereich der vorhandenen Station 1a umfunktioniert beziehungsweise kurzerhand geschlossen. Es ergab sich, dass die Station so den Zusatz eines zweiten Buchstabens, nämlich des „c“ bekam, also fortan 1ac hieß. Als nach einigen Jahren ein Umzug in einen speziellen Neubau vorgenommen wurde, welcher an anderer Stelle – der Station 1c – gebaut wurde, wurde dieser Zusatzbuchstabe mitgenommen und es entstand die 1cc. Im Rahmen des Umzugs in die 1cc-Räumlichkeiten, die im Übrigen direkt speziell als geschlossene Station geplant wurde, wuchs die Überzeugung, dass eine geschlossene Tür allein noch kein Konzept darstellt. Hierfür war v.a. der noch häufiger auftauchende Psychologe Winfried Mandrella verantwortlich. So wurde die therapeutische Arbeit spezialisierter und bald entstand intern der Arbeitsausdruck des „CC©-Konzeptes“ – und zwar, ohne dass noch irgendjemand wusste, was besagtes „C“ eigentlich bedeuten soll.
Im Laufe der nachfolgenden Jahre wurde das Konzept an der HELIOS Klinik Hattingen ständig weiterentwickelt. Ebenso fand ein regelmäßiger Austausch mit vielen anderen Einrichtungen statt, teilweise auch international, sodass auch amerikanische und taiwanesische Kollegen einbezogen wurden: „Let`s talk about Therapy ...“. So galt es, den englischsprachigen Kollegen zu erklären, welche kognitiven Störungen und nachfolgenden Verwirrtheitszustände (cognitive disorder and confusion) die zu behandelnden Patienten durch ihre Erkrankung erfahren. Es sei dabei erst einmal eine Grundvoraussetzung, derart verunsicherten Menschen eine besonders warme, ja herzliche Versorgung (cordial care) zukommen zu lassen. Bevor man sich dem Ziel einer Verbesserung und Veränderung (change and curative) zuwenden kann, muss zunächst daran gearbeitet werden, dass sich der Patient in der geschlosssenen Situation (closed context) sicher und wohl fühle; insbesondere im Sinne eines Störungsbewusstseins sollte der Patient die Zusammenhänge verstehen und annehmen können (contentment and consistence). Die Folgerung daraus: Man kann dieses Vorgehen nicht getrennt in Disziplinen durchführen, sondern muss immer verbundene Lebensbereiche (combined cluster) als Grundlage nehmen.
So führte die an „c“s reiche englische Sprache dazu, dass das „CC“ langsam eine eigene Bedeutung bekam. Daraus entstand dann mit der hier vorliegenden Erarbeitung, theoretischen Ausarbeitung und schriftlichen Niederlegung aus diesen Arbeitstiteln das CC©-Konzept.
Das Konzept wurde für Menschen mit neurokognitiven Störungen infolge erworbener Hirnschäden entwickelt. Dementsprechend werden ganz zu Anfang die zu behandelnden Menschen dargestellt. Dass dadurch zunächst eine sehr spezifische Auswahl von Patienten im Fokus steht, ist eine Folge davon, dass sich dieses Konzept nun einmal aus der täglichen Praxis mit genau diesen Menschen heraus entwickelt hat. Aber, so wird sich zeigen, eine komplette Abgrenzung, beispielsweise zu anderen neurologischen Erkrankungen, ist nicht nur schwer möglich, sie ist auch nicht erwünscht. Daher ist dieses Konzept auf andere Erkrankungen übertragbar, wie z.B. ein späterer Exkurs zum Thema der demenziellen Erkrankungen zeigen soll. Da die Übergänge demnach fließend sind, sei an dieser Stelle schon einmal darauf hingewiesen, dass der leicht unklare und auch sperrige Ausdruck von den „Menschen, die innerhalb des CC©–Konzeptes behandelt werden“ im Folgenden immer wieder auftauchen wird.
Wichtiger noch als die bloße Beschreibung der Erkrankungen und deren Leitsymptome ist der Blick auf die damit verbundenen alltagsrelevanten Konsequenzen. Dabei stehen die Gedächtnisprobleme zweifelsohne im Fokus, verknüpft mit der Überlegung, welche Auswirkungen sie auf das Erleben und Verhalten der Betroffenen haben. Mit dieser Beschreibung der Patienten und ihrer Erlebenswelt werden einzelne Grundsätze formuliert, die für die Therapie und Rehabilitation in dieser Situation unumgänglich sind.
Das nächste große Hauptkapitel knüpft letztlich direkt an die Überlegungen zur inneren Haltung an, denn hier soll erstmalig mit den POSITIVen Basistherapien ein Instrument vorgestellt werden, welches im Grunde die Bühne für die praktische Umsetzung genau jener Haltungen und Einstellungen bietet.
Dabei geht es zunächst darum, wie überhaupt eine selbstbestimmte Motivation zur Therapie und Veränderung bei diesen Menschen geschaffen werden kann. Desweiteren beschäftigt sich dieser Buchabschnitt mit einer Kernüberlegung moderner Therapiemodelle und Konzepte: Bei der Therapie geht es nicht nur um die Beseitigung von Störungen – die Förderung der Gesundheit muss ebenfalls einbezogen werden. Wie dies bezogen auf psychische Grundbedürfnisse aussehen kann, ist die zentrale Fragestellung der Basistherapien, die schon jetzt gerne auch als eine Art „allgemeine Therapie“ betrachtet werden können.
Nach der Beschreibung jener Basistherapien wenden wir uns den sogenannten Aufbautherapien zu. Es wird spezieller. Im CC©-Konzept können die Aufbautherapien durchaus die diversen Einzeltherapien der bekannten Therapiedisziplinen sein. Besonders aber geht es hier um Gruppenangebote. Der Anspruch der Transdiziplinarität führt jedoch dazu, dass es nicht um die Aufteilung auf die unterschiedlichen Therapiedisziplinen geht. Diese Angebote orientieren sich im CC©-Konzept übergreifend an zentralen Lebensbereichen der Menschen. Es ist von Interesse, welche Systeme hier zur Verfügung stehen, wie z.B. die sogenannten „evidenzbasierten Therapiemodule“ der Deutschen Rentenversicherung. Schließlich soll aufgezeigt werden, wie dieses organisiert werden kann und wie Übertragungen von bekannten Therapieangeboten auf das CC©-Konzept mit diesen Clustern möglich sind.
Nachfolgend geht es um den Anspruch dieses Konzeptes, als eines mit dem Ziel einer rehabilitativen Veränderung. Das CC©-Konzept kann und sollte von vielen unterschiedlichen Therapiedisziplinen durchgeführt werden, die ihre jeweiligen Schwerpunkte einbringen. Deshalb beschäftigt sich dieses Kapitel mit Schwerpunkten und deren Integration in das Konzept.
Es wird dargestellt, wie sich die zuvor erarbeiteten Punkte auch auf diese Therapieformen auswirken bzw. wo welche Schnittpunkte zu beachten sind. Im Mittelpunkt steht nicht, wie man therapeutisch durch die unterschiedlichsten Disziplinen den Patienten verändert. Es geht darum, wie vorhandene Therapieansätze verändert werden müssen, um sie für die jeweilige Situation „patientenfähig“ zu machen. Bei der Formel (Logopädie + Psychotherapie + Ergotherapie + Pflege + Physiotherapie + x) soll dementsprechend nicht auf die Variablen oder auf das „Pluszeichen“ gesehen werden, sondern auf die Klammern.
Nach der Darstellung der einzelnen Bestandteile dieses Konzeptes werden wir uns einer besonderen beteiligten Gruppe zu: der pflegerischen Therapie. In weiten Teilen kann man das CC©-Konzept als eines beschreiben, das die bereits genannte notwendige Klammer für die Verbindung der unterschiedlichsten Therapien setzt. Aus dem Bereich der Pflege, nehmen wir z.B. die „personenzentrierte Pflege“, ist so etwas ja bekannt. In diesem Kapitel wird beschrieben, wie dieses Therapiekonzept die Pflege miteinbezieht. Ganz allgemein wird dabei aufgezeigt, was die zuvor aufgeführten Inhalte für die besondere Ausrichtung einer einzelnen therapeutischen Gruppe innerhalb dieses Konzeptes bedeutet.
Deutlich wird am Beispiel des Pflegebereichs auch, welche Folgerungen speziell für diese größte therapeutische Gruppe bestehen.
Im letzten Kapitel geht es noch einmal um den Behandlungskontext, wobei hier insbesondere bauliche Fragen und Fragen der Ausstattung vorgestellt werden. Dabei soll der Blick sowohl auf die Ausstattung von Innenräumen gerichtet werden wie auch auf die Möglichkeit von Stationsgärten.
In den bisherigen Ausführungen wurden schon einige Bausteine des Konzeptes vorgestellt, z.B. die Basis- und die Aufbautherapie. Dementsprechend kann das gesamte Konzept, ohne schon zu viel zu verraten, folgendermaßen skizziert werden (Abb. 1.)
Abbildung 1-1: Die Behandlungsgrundlage des CC©-Konzeptes (Quelle: Scholz & Niepel, 2018)
Was den bereits angesprochenen und nicht unwichtigen organisatorischen Aspekt angeht, so ist die Durchführung des CC©-Konzeptes tatsächlich auf unterschiedliche Art und Weise möglich. Hierbei spielen schließlich diverse Aspekte eine Rolle, z.B. die Anzahl der zur Verfügung stehenden Therapeuten, deren Fachausrichtung und auch deren zeitliche Ressourcen. Bedeutsam ist auch, wie viele Patienten behandelt werden. Und natürlich gibt es weitere unterschiedliche strukturelle Bedingungen vor Ort, wie vorhandene Planungs- und Dokumentationstools, die integriert werden müssen. Aus diesem Grund sollen hier die Planungs- und Organisationsbestandteile auf die denkbar einfachste Art und Weise dargestellt werden. Verbesserungen und (EDV-bezogene) Adaptionen sind auf dieser Basis möglich.
Somit soll es hier die gute alte Magnettafel sein, die für eine Erläuterung herhalten muss. Noch ziemlich leer sähe diese dann in etwa folgendermaßen aus (Abb. 1-2).
Abbildung 1-2: Leere Planungstafel (Quelle: Scholz & Niepel, 2018).
Der Einfachheit halber soll uns also erst einmal ein einzelner Tag und dabei auch nur wenige Patienten zur Darstellung dienen. Diesen Patienten sind in obiger Skizze bereits auf der Magnettafel die verordneten Therapien zugeordnet. Sie stehen über den Namen. Die erste grundsätzliche Entscheidung ist zunächst, welche und wie viele Therapien überhaupt verplant werden müssen. Dieses kann sowohl auf Basis medizinischer wie auch organisatorischer Grundlagen entschieden werden. Das Konzept selbst ist hier an unterschiedliche Situationen anpassbar. Bei Herrn Müller wären dies in der Abbildung 1-2 8 Einzel- sowie 8 Gruppentherapien. Sein Zimmernachbar hat ein ähnliches Paket verordnet bekommen, nur mit weniger Einzeltherapien. Aber: Unser Beispiel dient nur der bildlichen Darstellung, hier könnten auch 10 und 16, 12 und 8 oder 17 und 4 stehen. Diese Zahlen sind keine Vorgabe des Konzeptes.
Es geht im Endeffekt auch darum, mit dem CC©-Konzept ein in diversen Organisationsumwelten funktionierendes System vorzustellen. Und dazu gehört auch die Ressourcenverplanung, die man demnach gerne als eine herausfordernde Struktur beschreiben könnte. Auf unserer Beispiel-Magnettafel summiert sich die Ressourcenverplanung beispielsweise auf konkret 53 zu erbringende Therapiestunden auf, die im Laufe einer Woche umgesetzt werden müssen und für die eine begrenzte Anzahl an Therapeuten zur Verfügung stehen. Deren Magnetplättchen sind im Übrigen rechts zu sehen. Insgesamt sind es bei diesem Beispiel 12 Behandelnde aus 9 Disziplinen mit insgesamt 37 Stunden, die zur Verfügung stehen. Wir werden später noch sehen, wie flexibel man sich durch das CC©-Konzept innerhalb derartiger Vorgaben bewegen kann. Dieses Konzept soll fraglos übertragbar sein, auf andere Patienten, auf andere Settings, auf andere Institutionen. Eine solche Übertragung benötigt dabei natürlich immer eine Art von Feinjustierung, denn schließlich ist es bekannt, dass es im Grunde keine Automatismen oder Standards für die Behandlung von Menschen gibt, insbesondere dieser so schwer erkrankten Menschen. Dieses Buch soll dabei helfen, das Planungssystem konkret an anderen Stellen umzusetzen. Als Schulungshilfe und als Wegweiser. Auch stellt das Konzept eine „beste aller Welten“ dar, einen angestrebten Idealzustand. Denn es stimmt: Auch dort, wo das Konzept ursprünglich entwickelt wurde und Tag für Tag umgesetzt wird, konnte bislang tatsächlich noch nicht alles Eins zu Eins so umgesetzt werden, wie es hier zu lesen ist. Nicht immer, nicht jeden Tag. Und dort, wo es angewendet werden soll, wird vielleicht auch nicht jeder Schritt Eins zu Eins direkt zu übertragen sein. Aber es kann ein Leitsystem sein, ein Helfer auf dem Weg.
Mit der Erwähnung des Wortes Weg ist ein besonderer Punkt angesprochen. Denn natürlich werden auf diesem Weg immer wieder Hintergründe, theoretische Grundlagen oder Beispiele aus der Praxis genannt werden müssen. Das ist wie auf jeder echten Reise, wo einem am Wegesrande Schlösser, Burgen, Wälder und Felder oder was auch immer begegnen. Auch in diesem Buch werden Sie derartige Wegbegleiter finden, Hinweise beispielsweise dazu, was zu diesem Konzept geführt hat und welche Gedanken mit hineinspielten. Wichtig, sicher – aber für sich allein nicht wirklich hilfreich, wenn es darum geht, ganz grundsätzlich richtungsweisende Hinweise zum Weg selbst zu machen. Aus diesem Grund werden Ihnen beim Lesen immer wieder allgemeine „Wegweiser“ begegnen wie dieser:
Wegweiser
Das CC©-Konzept orientiert und richtet sich weniger an speziellen Therapiedisziplinen, als dass vielmehr die Lebensbereiche der betroffenen Menschen und deren Ausgestaltung in den unterschiedlichsten Dimensionen im Zentrum steht. Dies umfasst dabei sowohl die negativen Auswirkungen der Störungen auf einige dieser Bereiche wie auch verbliebene Fähigkeiten. Ein besonderer Blick gilt dabei den Grundbedürfnissen und den Grundlagen für ein gelingendes Wachstum.
Falls Sie jetzt schon wissen wollen, wie der komplette Wegverlauf sein wird, können Sie diesen und alle noch kommenden Wegweiser am Ende dieses Buches im Überblick lesen.
Da aber auch links und rechts der Hauptrichtung immer wieder Dinge liegen, die eine Reise durch das Konzept begleiten, – bereichernd oder ein wenig erfreulich ablenkend – finden Sie diese besonderen Blickwinkel in den Hinweisen „Was da so am Wegesrand liegt …“.
Was da so am Wegesrand liegt …
Ein Gruß vom Gärtner
Einer der Autoren dieses Buches ist von der ursprünglichen Profession her Gärtner, was vielleicht verwundert und zu einem kleinen ersten Exkurs ermuntert. So mag dieser Vergleich erlaubt sein: Beim Gras macht es keinen Sinn daran zu ziehen, damit es schneller wächst. Dieser Satz ist sicher vielen bekannt und er weist daraufhin, dass es gilt, gute Umgebungsbedingungen zu erstellen. Ähnlich wie beim Gras muss es auch beim Menschen darum gehen, gesunde Wachstumsbedingungen zu schaffen.
Man stelle sich vor, dass ein solcher Gärtner, der ja in der Ausbildung darauf vorbereitet werden soll, Pflanzen zu pflegen und sich um deren positive Entwicklung zu kümmern, sich zu neunzig Prozent mit Pflanzenerkrankungen, Mangelerscheinungen, Schädlingen und deren Bekämpfung beschäftigen müsste. Aus eigener Erfahrung kann gesagt werden: Dazu ist ein Gärtner im Rahmen seiner Tätigkeiten kaum in der Lage. In der gärtnerischen Ausbildung lernt man zu einem geringen Teil dieses – nennen wir es pathologisches Wissen. Aber ansonsten erfährt man in der gärtnerischen Ausbildung, was Pflanzen zum Gedeihen brauchen. Das ist immer verbunden mit der Erfahrung, dass unter solch guten Bedingungen der Organismus Pflanze sich selbst sehr gut schützen kann und dementsprechend gesund wächst. Parallel zur Eingangsfrage „Was braucht ein Mensch“ beschäftigt sich der Gärtner sehr intensiv damit, was Pflanzen gesund wachsen lässt und sie haben in dieser Hinsicht großes Vertrauen in die Fähigkeiten ihrer Anvertrauten.
Und so wie dieser Gärtner daher nicht an Pflanzen „zieht“, sondern für die ausreichende Versorgung mit Luft, Licht, Platz, Nahrung und Schutz sorgt, darf aus einer „menschengärtnernden“ Sicht gerne für die Therapie überlegt werden, welche Bedingungen für Menschen geschaffen werden müssen, damit sie gesunden.
Natürlich ist das auch der Therapie nicht fremd. An dieser Stelle ist es vielleicht passend jemanden zu zitieren, dessen Ideen oder auch Haltung fraglos eine wichtige Rolle für die Entwicklung dieses Konzeptes spielen: Carl. R. Rogers. Er schreibt:
„Es wird hypostasiert, dass der Mensch, ebenso wie jeder andere lebende Organismus, sei es nun Pflanze oder Tier, Kräfte besitzt, die der Erhaltung oder dem Wachstum des Organismus dienen. Wenn diese Tendenz nicht behindert wird, bewirkt sie verlässlich beim Individuum Wachstum, Reife und eine Bereicherung des Lebens…. Gleiches gilt für den psychologischen Bereich – dass nämlich in einem einigermaßen wachstumsfreundlichen Klima die Tendenz des Organismus, sich in umfassender Weise zu verwirklichen, so zuverlässig funktioniert, dass sie auch Hindernisse und Schmerz überwindet“ (Rogers, 1977).
Wer hätte das gedacht? Carl Rogers wäre ein guter Gärtner gewesen. So ist auch die Kernaufgabe des CC©-Konzeptes: Bedingungen zu schaffen, die trotz schwieriger Umstände die Gesundung und Wachstum ermöglichen.
Ansonsten: Machen wir uns auf den Weg zu einer gesunden, für Wachstum sorgenden Umgebung für Menschen mit neurokognitiven Störungen.
Ein einleitendes Kapitel wie dieses hat immer die Aufgabe, das notwendige Fundament zu legen. So auch hier. Um später darstellen zu können, welche Bestandteile dieses Therapiekonzept hat, welche Aufgaben an welcher Stelle übernommen werden müssen, ist natürlich zunächst eine Beschreibung notwendig, für welche Art von Menschen es entwickelt wurde, in welchen Situationen wir sie antreffen und warum wir von „besonderen Menschen“ sprechen. Gleichzeitig ist es sinnvoll, an dieser Stelle bereits darauf hinzuweisen, wo es darüber hinaus gut einsetzbar ist, was z.B. mit einem Exkurs zum Thema der Demenz dargestellt wird.
Ein Fundament muss breit genug sein und die wichtigsten Facetten beleuchten, die im Nachfolgenden die Art der Therapie innerhalb des Konzeptes nachhaltig prägen, vom Thema der Gedächtnisstörung über das Thema des mangelnden Störungsbewusstseins bis hin zu den diversen Störungen. Es kann also zunächst nicht „nach Oben“ gebaut werden, sondern es geht ein wenig in die Breite, wie das typisch für Fundamente ist.
Letztlich ist dies notwendig, um darlegen zu können, warum und wie die Basistherapie konzipiert ist, welche Aufgaben und Organisationsformen die Aufbautherapien besitzen und auch, wie die Schwerpunkttherapien nachfolgend ansetzen. Dieses Einleitungskapitel kann also auch als gute Ideengrundlage genommen werden, wenn es um die Fragestellung geht, wie die einzelnen Bestandteile oder auch das gesamte Konzept auf die verschiedensten Behandlungssituationen zu übertragen ist. Und so beginnen wir mit genau jenem Thema: der Behandlungssituation.
Es geht also um den Patienten und um das Setting. Von wem und zunächst von welchem Behandlungskontext sprechen wir hier eigentlich? Das CC©-Konzept wurde im Rahmen der therapeutischen Arbeit mit einer sehr speziellen, sehr heterogenen Patientengruppe entwickelt, erprobt und weiterentwickelt. Alle Patienten, die dementsprechend mit dem CC©-Konzept behandelt wurden, hatten und haben eine neurologische Erkrankung in Form einer erworbenen Hirnschädigung, sie zeigen dadurch sehr vielfältige klinische Störungsbilder. Dabei bedingt die besondere Schwere der sich manifestierenden Störungen die Bedürfnisse der Patienten nach Unterstützung und nach Schutz, wie unser einleitendes Beispiel aufzeigen sollte. Die daraus resultierenden Rahmenbedingungen der Behandlung weichen somit in erheblichem Maße von der üblichen (neurologischen) Rehabilitation ab.
Damit der notwendige Blick hinter die mitunter funktionale Fassade der Patienten gelingen kann, um ihr häufig sehr herausforderndes Verhalten einordnen und verstehen zu können, geht es dabei natürlich um die entsprechenden neurologischen, neuroanatomischen sowie neuropsychologischen Grundlagen der Erkrankungen und Störungsbilder dieser Patienten. Da das CC©-Konzept den Fokus dabei immer auf den Menschen im Kontext seiner Erkrankung legt, lohnt es sich, an dieser Stelle schon kurz auf diese äußeren Faktoren einzugehen.
Während der Rehabilitation ist einer dieser Kontextfaktoren auch das aktuelle Lebensumfeld des Patienten, d.h. während der Behandlung eine Klinik bzw. Station.
Eine der zu Anfang beschriebenen Erfahrungen besteht darin, dass das Verhalten der Patienten oftmals als „verwirrt“ beschrieben wird, obwohl es – wie das Eingangsbeispiel zeigt – aus der Sicht der Patienten häufig vernünftig und ihrer Realität angemessen ist. Wenn wir beurteilen wollen, ob ein Mensch nach seiner Erkrankung rational handeln kann, so ist entscheidend, an welcher Wirklichkeit wir diese Rationalität festmachen. Und wenn dieses Konzept nicht nur bloße Theorie, sondern ein Praxiskonzept darstellen soll, darf es nicht ausschließlich diese Situation beschreiben und direkt erkennbare interpersonelle Umsetzungen behandeln. Es muss sich ebenso mit den störungsbedingten intrapersonellen Prozessen beschäftigen, die den Behandlungskontext in besonderer Weise bedingen. Dieser Behandlungskontext beschreibt ganz allgemein die miteinander verflochtenen Beziehungsumgebungen, geformt durch eine Art Gruppierung von Leistungsanforderungen, klinischen Aufträgen oder auch Besuchsterminen, die dazu dienen, den Behandlungsverlauf zu organisieren.
Begibt sich ein Patient infolge einer Erkrankung in eine stationäre rehabilitative Behandlung, entsteht zwischen ihm und den behandelnden Therapeuten eine Art „Vertrag“ über die zu leistende Hilfe, die therapeutischen Interventionen, über gemeinsame Ziele und so weiter. Dieser Kontext ist dabei sowohl real und greifbar, beispielsweise in Form eines Therapieraumes, als auch als besondere Art der Betrachtung und Haltung zur Situation zu verstehen. Setzen wir voraus, dass sich der Patient seiner krankheitsbedingten Einschränkungen und seinem damit verbundenen Behandlungsbedarf bewusst ist, befinden sich Patient und Therapeut in einem gemeinsamen Behandlungskontext.
Dabei muss jedoch schon hier auf die Besonderheit des Kontextes hingewiesen werden, der vielfältige Auswirkungen auf das Verhältnis der handelnden Personen hat. So kennen z.B. Mitarbeitende im Gesundheitswesen ganz selbstverständlich die Besonderheiten, die sich aus dem Zusammenspiel von Distanz und Nähe in diesem gemeinsamen Raum ergeben. Zusätzlich aber ist auch Folgendes zu beachten: Dort, wo aus einem Klienten, also eher einem gleichberechtigten Partner, ein Patient wird, also jemand mit einem erklärten Hilfsbedarf, verändert sich einiges. Nicht ohne Grund existiert genau deshalb ein besonderer Schutz des Patienten.
Was da so am Wegesrand liegt …
Patient oder Klient? Er oder Sie?
In diesem Buch sprechen wir meist von dem „Patienten“. Natürlich sind die Grundprinzipien dieses Konzeptes auch auf andere Situationen übertragbar, dorthin, wo von Klienten oder Bewohnern gesprochen wird. Dass in diesem Buch das Wort „Patienten“ genutzt wird, hat mit der Situation zu tun, aus welcher dieses Konzept entstanden ist: der medizinischen Rehabilitation. Und hier geht es nun einmal um Patienten, was eben auch nicht nur eine grammatikalische Frage ist: Aufgrund der besonderen, letztlich stark asymmetrischen Beziehung zwischen Patient und Therapeut/Arzt wird mit dem Patientenrechtegesetz (PatRG) in seiner Fassung von 2013 diese Beziehung geregelt. Dieses Gesetz besagt z.B., dass ein Patient zu Beginn und auch während seiner Behandlung „in verständlicher Weise“ über die Diagnose und die Maßnahmen der Therapie informiert werden muss. Dies gilt natürlich auch für die Patienten, die im Rahmen des CC©-Konzeptes behandelt werden, wobei besonders auf die Bedeutung der „Verständlichkeit“ geachtet werden sollte.
Die zweite Frage ist die des in diesem Buch benutzten Geschlechtes: Patient oder/und Patientin oder gar PatientIn? Über das Konzept schreiben eine Autorin und ein Autor, aber unabhängig davon haben diese eine solche Unterscheidung immer für dieses Buch und für das Konzept als unbedeutend angesehen, haben den speziellen Blick einfach ignoriert. Wenn also nun im Text von „der Patientin/Therapeutin“ oder „dem Patienten/Therapeuten“ gesprochen wird, ist immer auch das andere Geschlecht miteinbezogen. Und wenn es dann doch meist die männliche Form ist, dann deshalb, weil es einfach oft zwei Zeichen kürzer ist.
Abbildung 2-1: Der „normale“ Behandlungskontext zwischen Therapeut und Patient (Quelle: eigene Darstellung)
Darüber hinaus spielen zudem subjektive Deutungen über das gemeinsame Wirken im Behandlungskontext eine Rolle, welche oftmals nicht zwangsläufig der objektiven Situation entsprechen. Theoretisch ist beispielsweise das Verhältnis der beiden Partner zunächst so organisiert, dass der Patient/Klient/Bewohner der eigentliche Auftraggeber und damit im Grunde auch der bestimmende Beteiligte ist, während der Arzt/Pfleger/Therapeut theoretisch die Funktion des Dienstleisters übernimmt. In einer realen Behandlungssituation verschieben sich diese Rollen jedoch: Der „Dienstleister“ nimmt oft durch seine fachliche Kompetenz und Berufspraxis die führende Rolle ein und bestimmt die Art sowie den Verlauf der Behandlung. Dabei führt der besondere Kontext der Behandlungssituation jedoch gleichzeitig dazu, dass dieses asymmetrische Machtverhältnis von der zu behandelnden Person akzeptiert wird. Man könnte hier auch gerne, gemäß dem Ursprung des Wortes Patient (lateinischen patiens = geduldig, aushaltend) von „ertragen“ sprechen. Und es wird deutlich: Viele Probleme, die sich aus dem Anspruch nach größtmöglicher Selbstbestimmung ergeben, sind in dieser Dynamik verankert.
Bei den Patienten, die im CC©-Konzept behandelt werden, ist das beschriebene Verhältnis oft „verschoben“. Denn auch, wenn für den Therapeuten der Behandlungskontext dabei wie zuvor beschieben ist, muss dies für den Patienten nicht zwangsläufig so gelten. Im Gegenteil: Durch mittel- bis schwergradige Störungen der Orientierung, z.B. im Rahmen eines amnestischen Syndroms, verkennt der Patient den Ort, die Personen oder gar die gesamte Situation. Hinzu kommt oft ein differenziertes Störungsbewusstsein, sodass der Betroffene keine Erkrankung empfindet, sich nicht in der Rolle des Patienten wiederfindet und somit auch keinen Behandlungsbedarf sieht. So wird die Behandlungssituation von einem Patienten und einem Therapeuten häufig sehr unterschiedlich wahrgenommen.
Abbildung 2-2: Patient und Therapeut nehmen den Behandlungskontext unterschiedlich wahr (Quelle: eigene Darstellung)
Wo der gemeinsam erlebte Behandlungskontext als Erklärung für die besondere Art der Beziehung nicht mehr existiert, wird das zuvor automatisch generierte Machtgefüge nicht mehr selbstverständlich akzeptiert. Während der Patient dadurch viele Aktionen von Pflegenden und Therapeuten als anmaßend, übergriffig, irrational oder gar aggressiv erlebt, beschreiben Pflegende und Therapeuten den Patienten unter Umständen als unmotiviert, uneinsichtig, oder ablehnend. Dabei geht es an dieser Stelle nicht darum, den Patienten dazu zu bringen, etwas einzusehen, sondern darum, dass insbesondere die therapeutische Seite es akzeptiert, wie eine Situation angesehen wird. Dieser adäquate Umgang mit der Situation ist letztlich ein Qualitätsmerkmal und auch ein Zugang zu einer gelingenden Therapie.
Wegweiser
Eine notwendige Besonderheit des CC©–Konzeptes ist es, dass nicht nur die Störung an sich im Zentrum steht, sondern dass der gesamte Behandlungskontext als bedeutsamer Faktor gesehen wird. Es gilt also nicht nur auf den Patienten einzuwirken, sondern auch die Umstände dieser Behandlungssituation sowohl als Ursache wie auch als Wirkfaktor einzubeziehen.
Es ist also für die therapeutische Beziehung unerlässlich, dass sich der Therapeut ein Stück weit in die Welt des Patienten begibt, sich auf sein Erleben einstellt. Es verlangt dabei vom Therapeuten zweierlei: wertschätzende Betrachtung und das Finden und Nutzen realer Teilmengen.
Zunächst einmal hat der Therapeut die Perspektive des Patienten aus dessen absolut realem Kontext, aus seiner grafisch dargestellten Blase heraus zu respektieren und als eine subjektive Form der Realität anzunehmen. Es geht dabei nicht darum, den Patienten darin zu bestärken oder in dieser Welt zu belassen, sondern gedanklich mit in diese Patientenblase zu steigen und aus ihr heraus das Geschehen zu betrachten (Abb. 2-3). Es gilt zu „entdecken, dass viele Wahrheiten, an die wir uns klammern, von unserem persönlichen Standpunkt abhängig sind“ (Kenobi, 1983). Einige abweichende Verhaltensweisen werden dadurch bereits verständlicher. Im Grunde thematisieren wir einen Standard therapeutischen Vorgehens. Das angesprochene einfühlende Verstehen hat sich seit über 50 Jahren dank Carl Rodgers zu einem der wichtigsten Faktoren therapeutischer Methodik entwickelt. Leider zeigen unsere Beobachtungen, dass nicht alle an der Behandlung Beteiligten diesen Grundsatz auch bei schwer betroffenen Patienten, die schließlich „in ihrer eigenen Welt leben“, konsequent verfolgen. Unserer Erfahrung nach lohnt dieser Weg jedoch immer. „Die Erfahrung, dass jemand seine bizarren, wirren und unsicheren Äußerungen zu verstehen sucht, ermutigt ihn, mehr von sich mitzuteilen und hilft ihm gleichzeitig zu erkennen, dass seine Gefühle und Ansichten für den Therapeuten von Bedeutung sind und dass er infolgedessen ebenfalls von Bedeutung ist“. (Rogers, 1977). Diese Zeilen, die Rodgers zwar in Bezug auf Psychotiker geschrieben hat, gelten gerade auch für diese Patientengruppe.
Abbildung 2-3: Therapeut sucht Berührungspunkte und begibt sich in den Kontext des Patienten (Quelle: eigene Darstellung)
Um eine Beziehung zu dem Patienten aufbauen zu können, benötigt der Therapeut als Nächstes einen Berührungspunkt oder gar eine Überschneidung seiner Perspektive, nennen wir es seine therapeutischen Realität, mit der aktuellen Perspektive des Patienten. Wo gibt es eine gemeinsame Welt, zu der beide genau jetzt einen adäquaten Zugang haben? Derartige Schnittpunkte finden sich immer.
Nehmen wir z.B. – bezogen auf das Eingangsbeispiel – eine Äußerung wie: „Jetzt machen Sie endlich diesen Gurt ab, ich muss hier beim Frühstück helfen! Schließlich bin ich Krankenpfleger und arbeite hier. – Ja, arbeiten denn hier nur Bekloppte?! So langsam drehe ich durch!“ Diese Erklärung eines Patienten, als Krankenpfleger auf der Arbeit zu sein, macht seine ganz eigene Weltwahrnehmung deutlich. Sicherlich ist hier zunächst festzustellen, dass der Patient bezüglich Situation und Ort desorientiert ist und zudem im Rahmen einer möglichen Gedächtnisstörung konfabuliert. Andererseits enthält eine solche Äußerung auch „richtige“ Inhalte. Es ist tatsächlich vielleicht eine Frühstückssituation, es ist vielleicht wirklich ein Gurt am Rollstuhl befestigt, der Patient hat vielleicht wirklich einen Beruf als Krankenpfleger und vielleicht arbeiten dort vor Ort wirklich einige Bekloppte. Auf jeden Fall aber ist die Äußerung „bald durchzudrehen“ eine reale Selbstbeschreibung, die aufgegriffen werden kann. Nimmt man den Patienten in seinen Aussagen ernst und betrachtet die Situation wertschätzend, kann eine reale Schnittmenge erschaffen werden. Beginnend mit der Feststellung, dass die momentane Situation des Gegenübers tatsächlich einfach unangenehm ist, über einen Austausch zu Erfahrungen im Klinikalltag (der Patient scheint das schließlich aus seiner Berufstätigkeit zu kennen) bis hin zu einer gemeinsamen Überlegung, was schließlich die Funktion dieses Gurtes darstellen soll. Wir sehen, auch in banalen Situationen lassen sich Informationen sammeln und Beziehungskredite aufbauen. Es findet sich immer etwas.
Für die weitere Beziehungsgestaltung ist es gut, bei dieser Suche nicht nur irgendwelche, sondern gemeinsame, gezielt positive Aspekte zu finden oder gezielt zu initiieren. Dieses ist auch ein Grund, warum Medien wie Kunst, Musik oder Natur innerhalb des CC©-Konzeptes einen so hohen Stellenwert einnehmen. Während die Patienten aufgrund krankheitsbedingter Einschränkungen oder des zuvor genannten eingeschränkten bzw. fehlenden Störungsbewusstseins häufig keinen Zugang zu ihren Defiziten haben und kognitive Anforderungen nicht zielführend umsetzen können, ist eine Verbindung zu vorherigen Interessen, Vorlieben oder ganz alltäglichen Aktivitäten hilfreich. Gleichzeitig bieten derartige therapeutische Interventionen einen non-verbalen, teils auch körperlichen Zugang zu Kognitionen und Emotionen. Ganz gleich, wie unterschiedlich viele Dinge beurteilt werden, der Blick auf die Jahreszeit oder das Wetter, die Freude am Singen, der künstlerische Ausdruck, all dies betrifft oftmals beide Welten und kann dementsprechend als Brücke genutzt werden. Gelingt dieses Zugehen auf den Patienten, ergibt sich die Möglichkeit, gemeinsam auf Aspekte der realen Situation zu blicken, quasi im Schulterschluss (Abb. 2-4).
Das durch diesen Ausdruck symbolisierte gemeinsame Betrachten kann dabei durchaus auch ein kritisches sein („Mensch, es ist wirklich nicht schön, wenn man so per Gurt fixiert ist.“), denn auch dieser gemeinsam als wahr angenommene Blick lässt dabei den Patienten die Realität besser mit-annehmen.
Abbildung 2-4: Der „ Schulterschluss“ und die gemeinsame Betrachtung des Behandlungskontextes (Quelle: eigene Darstellung)
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es ein frühes Ziel des CC©-Konzeptes sein muss, einen gemeinsamen Behandlungskontext nicht als gegeben vorauszusetzen, sondern aktiv zu erarbeiten. Aus diesem Grunde ist es immer von Vorteil, wenn man Themen und Objekte findet, die einen direkt erfahrbaren Bezug zur Behandlungssituation haben: „Ja, diesen Gurt hat der Arzt angeordnet, weil sie gestern gestürzt sind, das ist in der Reha und nach ihrer Kopf-OP schon sehr kritisch. Vielleicht können wir gemeinsam mit der Physiotherapie daran arbeiten, dass diese Gefahr reduziert wird.“ Das bringt ganz unabhängig davon, ob sich ein Patient wirklich darauf einlässt, jedoch ausgehend vom als real empfundenen Objekt Gurt, die gezielt geäußerten Begriffe „Arzt, Reha, OP und Therapie“ in einen logischen Zusammenhang.
Ist durch ein entsprechendes Entgegenkommen des Therapeuten ein Schulterschluss – eine tragfähige (therapeutische) Beziehung – entstanden, besteht jetzt die Chance, den Patienten mit in die therapeutische Realität zu nehmen. Dies muss sich Schritt für Schritt vollziehen: „Ja, ich kann verstehen, dass es für sie sehr störend ist, die Station nicht nach draußen verlassen zu können…. „Ihre Erkrankung hat viel verändert…… Der Wunsch nach Selbstständigkeit und Eigenbestimmung steht hier auf der Station immer im Vordergrund…. Leider können Sie derzeit die Station tatsächlich nicht alleine verlassen. Aber wir haben deswegen eine therapeutische Wandergruppe in der Klinik. Ich könnte Sie in meiner Funktion als Therapeut dafür anmelden, vielleicht wäre das ganz gut.“ Wichtig ist an dieser Stelle eben nicht nur das akzeptierende und mitfühlende Element, sondern die zielführende Übertragung auf die Situation („nach einer solchen Erkrankung …., hier auf der Station …, in der Klinik …, als Therapeut...“).
Möglicherweise muss ein solch funktionaler Behandlungskontext tatsächlich jeden Tag neu erschaffen werden, dennoch: Es bleibt der einzig gehbare Weg. Wir werden später im Zusammenhang mit dem impliziten Lernen auch sehen, dass wir diesen Weg durch ein solches Vorgehen Stück für Stück sicher und fester gestalten.
Wer das bisherige Kapitel aufmerksam gelesen hat, wird einige Ausdrücke wie „übergriffig“ oder „irrational“ gefunden haben, deren Benutzung in vielen Behandlungssituationen üblich ist und die genau deshalb auch hier auftauchen. Andere Ausdrücke, wie jenen der Krankheitseinsicht, haben wir bereits jetzt schon absichtlich vermieden und werden dies noch erläutern.
An dieser Stelle ist uns folgender Hinweis wichtig: Im CC©-Konzept liegt ein besonderes Augenmerk auf dem Element einer gemeinsamen Sprache. Wie bedeutsam es ist, auf die Sprache zu achten, hat bereits in einem vermeintlich anderen Zusammenhang vor Jahren eine Untersuchung der Universität Witten Herdecke gezeigt. Bei dieser Studie, die sich mit Übergriffen in der Pflege beschäftigte, konnte aufgezeigt werden, dass sich tatsächlich alle Fälle gewaltsamer Übergriffe zuvor immer durch eine aggressivere Form der Sprache angekündigt haben (Schirmer, 2006). Umgekehrt sind wir der Auffassung, dass wertschätzende Sprache und wertschätzendes Handeln zweifelsohne zusammenhängen, sich bedingen. Wie auch der beschriebene Behandlungskontext Einfluss auf die sprachliche Bewertung von Situationen haben kann, mag dieses einfache Beispiel zeigen:
Therapeut: „Ich würde Sie gerne mit zur Therapie nehmen“.
Patient (denkt): Oh Mann, dazu habe ich jetzt aber echt keine Lust und irgendwie liegt mir das auch nicht, auch wenn ich hier natürlich eigentlich teilnehmen sollte… „Tut mir Leid, können wir das heute nicht ausfallen lassen? Irgendwie passt mir das gerade überhaupt nicht.“
Gern vorgenommene Beurteilung durch den Therapeuten: Patient lehnt Therapie ab oder wahrscheinlich sogar auch einfach viel sachlicher: Therapie ist ausgefallen.
Therapeut: „Ich würde Sie gerne mit zur Therapie nehmen.“
Patient (denkt): Was will der von mir? Und wer ist das überhaupt? Der spinnt doch. Ich will nach Hause. Ich brauche keine Therapie … „So ein Blödsinn, ich habe kein Problem, lassen sie mich endlich gehen, ihre Therapie können sie mit anderen machen!!“
Gern vorgenommene Beurteilung durch den Therapeuten: Patient ist uneinsichtig oder auch Patient verweigert die Therapie.
So stellt sich die Frage: Wie gestaltet man diese Situation, um einen gemeinsamen Kontext zu schaffen? Wie lässt sich die Reaktion des Patienten einordnen und bewerten?
Therapeut (versucht zunächst den Kontext zu beschreiben): „Hallo, ich weiß gar nicht, ob Sie sich jetzt erinnern, aber ich bin ja hier als Therapeut auf der Station und schauen Sie mal auf Ihren Plan: Wir haben jetzt einen gemeinsamen Termin eingetragen. Es wäre schön, wenn Sie mich dazu begleiten.“
Patient (denkt): Was will denn jetzt ein Therapeut von mir? Ich will nach Hause und nicht zur Therapie: „Ich will aber jetzt nicht zur Therapie, sondern endlich nach Hause! Verstehen Sie das doch!“
Therapeut: „Sie haben die Nase echt voll, das kann ich verstehen, aber vielleicht wäre es gerade deshalb gut, wenn wir gemeinsam den Termin wahrnehmen.“
Wir wollen hier kein mögliches Vorgehen als Standard vorgeben. Während diese Beispiele zwar nur ausgedacht sind, finden sie jedoch erfahrungsgemäß so, oder so ähnlich, aber mit eben diesen Verschiebungen in der Konversation immer wieder statt. Es soll vielmehr darum gehen, wie wir das Erleben und Verhalten in Worte fassen.
Und wo Worte fehlen, braucht es bei der Beurteilung einer solchen Situation durch den Therapeuten eigentlich nur den Blick auf die ICF. Wir werden im Kapitel 3 bei den Aufbautherapien dieses System zur Beschreibung von Zuständen noch einmal behandeln. Aber vorab: Die ICF kennt die Beschreibungen „ablehnen“ oder „verweigern“ erst gar nicht. Sucht man hier nach passenden Begrifflichkeiten, finden sich u.a. – je nach Gesprächsverlauf – folgende Formulierungen:
d115 Patient ist in der Lage ohne Einschränkungen zu hören.d310 Patient ist in der Lage als Empfänger gesprochener Mitteilungen ohne Einschränkungen zu fungieren.d177 Patient ist in der Lage, Entscheidungen zu treffen.d 330 Patient ist in der Lage, ohne Einschränkungen zu sprechen.d355 Patient ist in der Lage, mit leichten Einschränkungen eine Diskussion zu führen.d710 Patient ist in der Lage, mit leichten Einschränkungen elementare interpersonelle Aktivitäten durchzuführen.d730 Patient ist in der Lage, mit leichten Einschränkungen mit (für ihn) Fremden umzugehen.Eine Beurteilung durch den Therapeuten könnte demnach sein: Der Patient entscheidet sich, (weiterhin) nicht an der Therapie teilzunehmen.
Ob das nun gut oder schlecht ist, ob dieses aus Sicht des Therapeuten passend ist, soll hier nicht bewertet werden. Es geht nur darum, festzustellen, dass neben den oben beschriebenen Ressourcen die Handlung des Patienten aus seiner Sicht eine rationale Handlung ist. Und schon das ist eine ermutigende Erkenntnis: Auch verwirrte Menschen können rational handeln.
Wegweiser
Dieser Behandlungskontext ist bei Patienten oftmals anders als in üblichen therapeutischen Beziehungen. Therapeut und Konzept müssen demnach diesen Fakt immer bei den Beobachtungen von Verhaltensweisen einbeziehen bzw. sind sie dafür verantwortlich, diesen Kontext aktiv zu gestalten.
Das, was wir bisher beschrieben haben, sollte aufzeigen: Nicht jeder Patient findet sich unmittelbar in der Rolle eines Patienten wieder. Insbesondere in Folge von Hirnschäden können Patienten eine ganz eigene Perspektive und Realität entwickeln. Zweifellos sind diese Erkrankungen von extrem ernsthaftem Charakter, es besteht also realer Behandlungsbedarf.
Erkrankungen oder Verletzungen des zentralen Nervensystems gehören zu den häufigsten Ursachen dauerhafter Behinderung. Mit jährlich über 500000 neuen Erkrankungsfällen ist die Gruppe der Menschen mit erworbenen Hirnschäden hinsichtlich epidemiologischer und versorgungsbezogener Aspekte von enormer Bedeutung. Diese „erworbenen Hirnschäden“ sind dabei eine in Bezug auf Ursachen, Symptome, Verlauf, und Folgeprobleme sehr vielschichtige Gruppe von Erkrankungen und Verletzungen des Gehirns, der Hirnhäute oder des Schädels. Dank der sich fortlaufend verbessernden medizinischen Behandlungsmöglichkeiten erleben wir mittlerweile bei sehr vielen Menschen mit schwersten Erkrankungen und Verletzungen des Gehirns deren Überleben. In diesen Fällen bleiben jedoch häufig körperliche und vor allem (neuro-)psychologische Defizite zurück, die zu dauerhaften Beeinträchtigungen führen können. Die Folge sind Einschränkungen der unterschiedlichsten Aktivitäten sowie der Fähigkeit zur Teilhabe der Betroffenen. (Feign, Barker-Collo, Krishnamurthi, Theadom & Starkey, 2010). Wir werden im Zusammenhang mit der ICF-Basierung des CC©-Konzeptes noch einmal auf diese Auswirkungen zurückkommen.
Die Ursachen erworbener Hirnschäden sind demnach vielfältig, die epidemiologisch relevantesten sind jedoch Schädel-Hirn-Traumata (SHT) und Schlaganfälle. Bei einem Schädel-Hirn-Trauma kommt es durch äußere Gewalteinwirkung zu einer Verletzung des Schädels und des Gehirns, die mindestens mit einer kurzzeitigen neurologischen Störung einhergeht (z.B. posttraumatische Amnesie). Infolge unterschiedlichster Krafteinwirkungen kann es zu Gewebszerreißungen, zu Blutungen (subdurale, epidurale oder intracerebrale Hämatome), zu diffusen axonalen Schädigungen oder zu Hirndrucksteigerungen infolge von Ödembildung kommen. Durch Unfälle im privaten oder beruflichen Umfeld ereignen sich in Deutschland jährlich ca. 267000 Schädel-Hirn-Traumata aller Schweregrade (Rickels, 2014).
Die Hauptursache nicht-traumatischer erworbener Hirnschäden stellen die zerebrovaskulären Erkrankungen, also die Schlaganfälle dar. Hier wird zwischen primär ischämischen und primär hämorrhagischen Insulten unterschieden. Den meisten Insulten liegen mit einer Häufigkeit von 80% primär ischämische Ursachen zugrunde, das heißt, dass durch einen Verschluss einer hirnversorgenden Arterie es zu einer Minderversorgungen (Ischämie) des entsprechenden Hirnareals kommt. Primär hämorrhagisch bedingte Insulte entstehen hingegen durch Hirnblutungen, die häufig durch das Zerreißen kleinerer Arterien im Hirnparenchym (intracerebrale Blutung) oder bedeutender Arterien im Subarachnoidalraum (Subarachnoidalblutung, SAB) verursacht werden (Wunderlich, 2008). In Deutschland ereignen sich jährlich insgesamt 262000 Hirninfarkte, wovon knapp 75% erstmalige Ereignisse sind. Das Erkrankungsrisiko steigt zwar mit dem Alter an, jedoch ist ein Fünftel der Betroffenen jünger als 60 Jahre. Allgemein gelten Schlaganfälle als die häufigste Ursache erworbener Behinderungen im Erwachsenenalter (Heuschmann, Busse, Wagner, Endres, Villringer, Röther, Kolominsky-Rabas & Berger, 2010; Wunderlich, 2008). Die Schwere dieser Erkrankungen zeigt sich auch darin, dass drei Viertel aller Schlaganfallerkrankten zeitlebens auf Hilfestellungen, zumindest auf leichte Unterstützung angewiesen sind (Rentsch & Bucher, 2005). Eine frühzeitig beginnende Rehabilitation ist demnach zwingend indiziert.
Als weitere mögliche Ursachen erworbener Hirnschäden gelten zerebrale Hypoxien (Sauerstoffmangel im Gehirn z.B. bei Herz-Kreislauf-Stillständen oder Ertrinkungsunfällen), gut- oder bösartige Tumore im Gehirn, Entzündungen des Gehirns (Encephalitis) oder der Hirnhäute (Meningitis), metabolische (z.B. Stoffwechselerkrankungen) oder toxische Störungen (z.B. Missbrauch von Drogen oder Medikamenten) sowie chirurgische Eingriffe am Gehirn (Schoof-Tams, 2013).
Wegweiser
Das CC©-Konzept ist ursprünglich für Menschen mit schweren neurologischen Erkrankungen entwickelt worden. Diese Gruppe betrifft dabei Menschen mit den unterschiedlichsten Grunderkrankungen, von traumatischen Einwirkungen auf das Hirn über Schlaganfälle bis hin zu degenerativen Erkrankungen. Das Konzept ist jedoch übertragbar auf unterschiedliche weitere therapeutisch-pflegerische Situationen.
Solange das eigene Gehirn „funktioniert“, macht sich kaum jemand Gedanken über die Strukturen und Prozesse, die dieses „Funktionieren“ ermöglichen. Ausnahmen sind Menschen – wie Sie als Leser – die beruflich mit der Neurologie oder verwandten Disziplinen zu tun haben. Keine Sorge, Sie erwartet nun kein Kurs in den Grundlagen der Neuroanatomie. Dennoch: Um das sichtbare – und eventuell auch „unsichtbare“ (dazu später mehr) – Verhalten von hirngeschädigten Menschen zu verstehen, um sich in deren „Blase“ zu begeben, ist es unumgänglich, sich die wichtigsten Grundlagen der Gehirnfunktionen einmal anzuschauen. Das zentrale Nervensystem besteht im Wesentlichen aus Nervenzellen (Neuronen) und Gliazellen. Sicherlich haben Sie auch schon einmal irgendwo gehört, das menschliche Gehirn bestehe aus etwa 100 Milliarden Nervenzellen und ungefähr zehnmal so vielen Gliazellen. Die Forschung weiß es jedoch mittlerweile besser: Tatsächlich geht man heute von etwa 86 Millionen Nervenzellen aus, ohne dass wir im Übrigen dadurch hundert Mal dümmer geworden sind. Diese Zahl wurde 2009 von der brasilianischen Neurowissenschaftlerin Suzana Herculano-Houzel und ihren Kollegen ermittelt (Herculano-Houzel, 2009).
Über Jahrhunderte hinweg haben Forscher nicht nur die strukturelle Anatomie des menschlichen Gehirns untersucht, sondern auch die funktionelle Anatomie. Dank neuerer Methoden, wie z.B. hochauflösende bildgebende Verfahren, können inzwischen nicht nur fundierte Aussagen zur Funktion umschriebener Hirnareale gemacht werden, sondern auch zu Verbindungen bzw. Verarbeitungswegen zwischen und innerhalb verschiedener Areale. So kann sowohl das Eingangs- und Ausgangssignal einer Information als auch ihr Weg zwischen verschalteten Netzwerken dargestellt werden.
Gerade die komplexeren bzw. höheren kognitiven Funktionen erfordern dabei nicht nur die Verarbeitung primärer Sinnesinformationen, sondern auch eine Verknüpfung mit anderen Modalitäten sowie mit bereits bekannten, gespeicherten Informationen im Gedächtnis. Diese Spezialisierung der Neuronen in Bezug auf die Informationsverarbeitung und ihre Einbindung in funktionale Netzwerke macht deutlich, dass nicht jede Hirnschädigung zu denselben Beeinträchtigungen führt bzw. führen kann.
Die klinische Erfahrung zeigt, dass manche Störungsbilder eine sehr hohe neuroanatomische Spezifität aufweisen. In diesen Fällen kann wechselseitig von einem Symptom auf die Läsion einer umschriebenen Hirnstruktur geschlossen werden und umgekehrt von einer Schädigung dieser Struktur in der Bildgebung das Symptom, also die Funktionsstörung antizipiert werden. Diese feste Beziehung zwischen Symptom und Läsion trifft dabei jedoch in erster Linie auf motorische und sensorische Systeme zu. Andere kognitive Symptome bzw. Syndrome treten hingegen nach sehr unterschiedlichen Hirnverletzungen auf und lassen eine solch einfache Läsions-Funktions-Schlussfolgerung nicht zu. Beispielsweise ist die „Aufmerksamkeit“ nicht als einheitliche Funktion zu verstehen, sondern vielmehr als Prozess, an dem unterschiedlichste neuronale Netzwerke beteiligt sind. Die Folgen einer Hirnschädigung können demnach umso umfassender werden, wenn mehrere Hirnareale, bestimmte Anteile eines funktionalen Netzwerkes oder wichtige Projektionsbahnen zwischen Netzwerken geschädigt werden (Paulig, 2009; Prosiegel, 2009).
Die Patienten, die im CC©-Konzept behandelt werden, haben in der Regel derartig schwere und/oder großflächige Hirnschädigungen erlitten, dass komplexe, multimodale Störungsbilder auftreten. Sicherlich erinnern Sie sich noch an die beispielhafte Situation auf den ersten Seiten dieses Buches, in der ein für das CC©-Konzept fast schon prototypischer Patient aufgrund seiner umfassenden Gedächtnisstörung davon überzeugt ist, Teil des Behandlungsteams anstatt Patient zu sein. Das Beispiel zeigt eine sehr plakative, jedoch alltägliche Situation in der Arbeit mit schwer hirngeschädigten Patienten. Da besonders schwere Funktionsstörungen oder auch Störungen mehrerer Funktionsbereiche besondere Erscheinungsformen zeigen und besondere Anforderungen an die Behandlung stellen, wollen wir auf einige grundlegende Symptome, die zur Entwicklung des CC©-Konzeptes geführt haben, im Folgenden ausführlicher eingehen.
Im weitesten Sinne werden auch neurodegenerative Erkrankungen, wie v.a. demenzielle Erkrankungen, zu den erworbenen „Hirnschäden“ gezählt. Diese meist von einem progredienten Verlust insbesondere kognitiver Fähigkeiten gekennzeichneten Erkrankungen unterscheiden sich jedoch in Bezug auf Verlauf und Versorgung von den erworbenen Hirnschäden.
Doch immer wieder taucht die Frage auf, ob die Patienten, für die das CC©-Konzept entwickelt wurde, dement seien. Hier erscheint es sinnvoll, sich erst einmal mit dieser Begrifflichkeit zu befassen, schließlich haben wir bereits wiederholt auf die Bedeutung der Sprache hingewiesen. Der Begriff der Demenz war dabei in den vergangenen zehn Jahren aus berechtigten Gründen Gegenstand vieler Diskussionen und Forschungen. Denn nebenbei: Über kaum einen medizinischen Begriff lässt sich derart trefflich streiten wie über den der Demenz: De-Mens bedeutet „ohne Geist“. Sind demente Menschen wirklich „ohne Geist“ oder reduziert dieses den Geist doch zu sehr auf das Kognitive und lässt so die emotionalen oder gar geistig-körperlichen Aspekte außer Acht? Und weiter: Entspricht der Begriff wirklich den Ansprüchen der Definition einer Erkrankung? Die kausale Kette von einer nachweisbaren Ursache hin zu dementsprechend bedingten Störungen ist hier nicht so eindeutig wie gewünscht.
Denn es sind Fälle bekannt, bei denen nachweislich von einer Hirnatrophie betroffene Patienten kaum Symptome zeigten. Es können aber auch Patienten beschrieben werden, die eine ausgeprägte „demente“ Symptomatik ohne die eindeutig dazugehörigen hirnmorphologischen Ursachen zeigen. Die Erkrankung ist demnach auch nicht die Demenz selbst. Es gibt vielmehr eine ganze Reihe von Erkrankungen: von Morbus Alzheimer, über Morbus-Pick oder der Lewy Body -Erkrankung bis hin zu vaskulären Demenzen oder gar weiteren sekundären Ursachen, z.B. AIDS oder diversen Stoffwechselerkrankungen, die zu Störungsbildern führen und dann gesammelt als Demenz bezeichnet werden. Die intensiven Forschungsfortschritte hinsichtlich der Diagnostik von Demenzen oder deren leichteren Vorstadien (auch bekannt als „mild cognitive impairment“, MCI) haben sinnvollerweise letztendlich zu einer neuen Konzeptbildung geführt. Das DSM-5 hat den klassischen Begriff der Demenz durch die umfassendere Kategorie der „neurokognitiven Störungen“ ersetzt (Maier & Barnikol, 2014). Auch in der kommenden ICD 11, die ab 2022 die ICD 10 ablösen soll, wird es den Abschnitt der Neurokognitiven Störungen im Kapitel 06 geben, welches das bisherige Kapitel F0 des ICD-10 ersetzt. Dabei haben sich auch einige Veränderungen in der Betrachtung neurodegenerativer Störungen, wie eben der Demenz, niedergeschlagen. So findet sich demnächst das bisherige Prinzip der „organischen“ Störungen nicht mehr wieder, als dass vielmehr grundsätzlich von erworbenen Erkrankungen mit kognitiven Störungen als Leitsymptom gesprochen wird, wozu neben dem amnestischen Syndrom, welches in diesem Buch ja im Zentrum steht, eben auch die Demenzen und die leichte neurokognitive Störung gezählt werden. (Jessen & Fröhlich, 2018)
Mit den neurokognitiven Störungen existiert somit ein guter „verbindender“ Begriff, der auch in diesem Buch immer wieder zu Recht auftritt, denn im Zentrum steht die Symptomatik und die ist zweifelsohne oft sehr ähnlich. Die Patienten, für die ursprünglich das CC©