Das Chamäleon-Syndrom - Elke Stoll - E-Book

Das Chamäleon-Syndrom E-Book

Elke Stoll

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Beschreibung

Jens Gabow, der Key Account Manager eines Pharmaunternehmens, wird seit Tagen vermisst. Seine Lebensgefährtin Kathrin Leimer bittet das Rentnerehepaar Anna und Udo Muhler, nach ihm zu suchen. Die beiden verfolgen etliche Spuren, indem sie die letzten Tage vor seinem Verschwinden rekonstruieren. Immer wieder tauchen neue Hinweise auf, die Jens Gabow als Persönlichkeit schwer fassbar machen. Gibt es eine dunkle Seite in seinem Leben, von der seine Lebensgefährtin nicht die geringste Ahnung hat, oder wurde Jens zum Spielball eines konkurrierenden Pharmaunternehmens? Selbstmord, Kindesmissbrauch, Erpressung und Entführung sind Puzzleteile, die sich nach und nach zu einem überraschenden Bild zusammensetzen. Wenn Sie als Krimileser/in gern selbst ermitteln würden, können Sie in diesem Kriminalroman zum Mitmachen an bestimmten Weichenstellungen entscheiden, welchen Spuren Sie folgen wollen.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog

Dienstag, 6. September

Mittwochvormittag, 7. September

Leserentscheidung Wie würden Sie weiter vorgehen?

Mittwochnachmittag, 7. September

Leserentscheidung Wo würden Sie hinfahren?

Donnerstagvormittag, 8. September

Donnerstagnachmittag und -abend, 8. September

Freitag, 9. September

Samstag, 10. September

Leserentscheidung Was würden Sie machen?

Sonntagvormittag, 11. September

Sonntagnachmittag, 11. September

Montag, 12. September

Dienstag, 13. September

Mittwochvormittag, 14. September

Mittwochnachmittag, 14. September

Donnerstagvormittag, 15. September

Leserentscheidung Was würden Sie machen?

Donnerstagnachmittag, 15. September

Freitag, 16. September

Epilog

Nachwort der Autorin

Von Elke Stoll ist bereits erschienen:

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

Sie können diesen Kriminalroman auf zweierlei Art und Weise lesen:

VARIATION 1: Wie gewohnt lesen Sie alle Kapitel nacheinander. Der Vorteil ist, Sie versäumen nichts. Bildlich gesprochen, verlassen Sie allerdings dann und wann den direkten Weg zum Zielpunkt, fahren Umwege oder landen in einer Sackgasse. Aber manchmal wird es erst interessant, wenn man die Hauptstraße verlässt.

VARIATION 2: An bestimmten Stellen entscheiden Sie, auf welcher Seite Sie weiterlesen wollen. Sie werden in die Entscheidungsfindung eingebunden. Ich kenne etliche begeisterte Krimileser, die gerne rätseln und selbst ermitteln würden. Jetzt haben Sie die Gelegenheit dazu! Wählen Sie Ihren Weg an den Weichenstellungen. Je nachdem wie gut Ihre Wahl war, kommen Sie langsamer oder schneller zur Lösung.

Egal welche Leseart Sie wählen, ich wünsche Ihnen viel Freude dabei.

Elke Stoll

Prolog

»Schau mal in die hintere Ecke!« Um auf Augenhöhe seiner Enkelin zu kommen, ging Udo in die Hocke und lenkte mit ausgestrecktem Finger ihren Blick. »Ein Chamäleon passt sich in Farbe und Form perfekt seiner Umgebung an.«

»Ich kann es nicht sehen!«, quengelte Thea.

Ein Sonnenstrahl durchstrich das Terrarium und das Tier nahm langsam eine gelb-rötliche Färbung an. ›

»Da ist es«, rief sie begeistert.

»Die Sonne bringt es an den Tag«, benutzte Udo eine alte Redewendung. »Das Chamäleon reagiert in diesem Fall auf den Lichtwechsel. Am schnellsten passiert das in Gefahren- oder Kampfsituationen. Auch die Körperform kann sich dann ändern. Manche Arten blähen sich auf oder stellen am Kopf befindliche Hautlappen hoch, um größer zu erscheinen.«

Eine Wolke schob sich vor die Sonne und das Tier zeigte wieder die grün-bräunliche Farbe seiner Umgebung.

»Ich sehe dich trotzdem.« Aufgeregt zeigte das Kind in die richtige Richtung.

»Früher dachte man, Chamäleons würden ihre Farben nur zur Tarnung benutzen, aber heute weiß man, dass sie so miteinander kommunizieren.« Thea schaute ihn verständnislos an, daher ergänzte er: »Während wir Menschen uns vorrangig über Worte verständigen, nutzen Chamäleons ihre Körpersprache durch Farbwechsel und Veränderung ihrer Form.«

Er dachte schon, seine Ausführungen würden sie langweilen, als sie mit schelmischem Blick sagte: »Opa, schade, dass ich kein Chamäleon bin, dann könntest du mich beim Versteckenspielen nicht finden.«

»Ich entdecke dich«, neckte er sie, »denn ich bin auf das Aufspüren von Chamäleons spezialisiert.«

»Warum?« Seine Enkelin wollte immer alles ganz genau wissen.

»Das ist eine lange Geschichte, die ich dir irgendwann mal erzähle, aber jetzt essen wir erst mal ein Eis.«

Dienstag, 6. September

»Es ist einfach unfassbar. Wozu haben wir eigentlich die Polizei? Die arme Frau!«

Udo Muhler kannte die impulsiven Gefühlsausbrüche seiner Frau Anna seit fast 50 Jahren, aber etwas in ihrer Stimme und ihrer angespannten Körperhaltung sagten ihm, dass es diesmal ernsthafter Natur war.

Er hatte liebevoll den Tisch gedeckt und schenkte ihr eine Tasse Kaffee ein, nach der sie gierig griff. Mit einem Plumps ließ Anna sich auf dem Küchenstuhl nieder. »Ach, ich bin völlig geschafft.«

»Das bist du doch immer, wenn du von der Physiotherapie kommst«, versuchte er sie zu beruhigen. »Nimm erst mal ein Stück Kuchen.«

»Du sollst mich nicht immer in Versuchung führen. Ich mache doch gerade die Knollendorf-Diät.«

Anna versuchte seit Jahren vergeblich, ihre mollige Figur zu bekämpfen. »Frau Leimer ist völlig verzweifelt. Ihr Mann ist verschwunden und deine Polizei unternimmt nichts. Wozu zahlen wir überhaupt Steuern!«, empörte sie sich.

»Nun mal langsam«, innerlich schalt er sich, warum er seine Polizei immer noch verteidigen wollte, obwohl er längst pensioniert war. »Ich wusste gar nicht, dass sie verheiratet ist.«

»Es ist ihr Lebensgefährte und der ist seit fünf Tagen unauffindbar.«

»So was soll vorkommen, vielleicht haben sie sich gestritten«, meinte Udo sarkastisch.

Anna schüttelte den Kopf. »Donnerstag war der letzte Telefonkontakt, sein Handy ist ausgeschaltet und heute sollte er eigentlich eine Prüfung in einer Akademie abnehmen. Am Vormittag hat der Akademieleiter bei Frau Leimer angerufen und ziemlich verärgert nachgefragt. Wenn er nicht kommt, muss die Prüfung abgesagt werden.«

»Und er ist nicht gekommen?«

Anna schüttelte den Kopf. »Am Wochenende hat sie auch nichts von ihm gehört. Er wollte zu einem Golfturnier.«

»Wo?«, hakte er nach, um sich anschließend zu ärgern, automatisch die Rolle des Ermittlers eingenommen zu haben.

»Irgendwo in Hessen, das ist doch unwichtig.«

»Ist es nicht«, verteidigte er sich, »das bedeutet, er wäre ohnehin nicht nach Hause gekommen.«

»Richtig«, gab sie kleinlaut zu, »er scheint viel beruflich unterwegs zu sein und häufiger Turniere mitzumachen oder sie sogar zu organisieren. Auf jeden Fall ist sie seit fünf Tagen ohne Nachricht von ihm. Am Montag hat Frau Leimer die Polizei angerufen, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Stell dir vor, die wollen nichts unternehmen!«

»Das ist klar. Eine Vermissten-Fahndung wird nur eingeleitet, wenn eine Person ihren gewohnten Lebenskreis verlassen hat, ihr derzeitiger Aufenthalt unbekannt ist …«, zitierte Udo die entsprechende Verordnung.

»Das trifft doch alles zu«, unterbrach Anna ihn gereizt.

»… und eine Gefahr für Leib und Leben angenommen werden kann. Darunter versteht man zum Beispiel, dass er Opfer einer Straftat geworden, hilflos oder suizidgefährdet ist. Gibt es dafür einen begründeten Verdacht?«

»Wahrscheinlich nicht.« Verlegen fasste sie sich ins kurze Haar.

»Was schätzt du, wie viele Personen täglich verschwinden? Übrigens sind es meist Männer.«

Anna zuckte mit den Schultern.

»Es dürften so zwischen 200 bis 300 täglich sein. Die meisten Fahndungen erledigen sich innerhalb einer Woche. Nur etwa drei Prozent werden länger als ein Jahr vermisst.«

»Aber das sind doch nur die Fälle, in denen die Polizei nach einem Vermissten fahndet«, wandte Anna ein.

»Erwachsene, die geistig und körperlich fit sind, brauchen niemandem mitzuteilen, wo sie sich befinden. Häufig verschwinden Personen absichtlich, um sch ihrem Freundes- oder Verwandtenkreis zu entziehen.«

»Das heißt also, Kathrin Leimer muss sich selbst darum kümmern oder einen Privatdetektiv einschalten.«

»Genau, oder abwarten. Wahrscheinlich hat er eine Geliebte oder macht mit Kumpels eine Sauftour.«

»Seit fünf Tagen? Stell dir vor, ich wäre so lange verschwunden. Würdest du dann auch abwarten?«

»Natürlich, dann hätte ich endlich mal sturmfreie Bude«, lachte er und nahm seine Frau in den Arm, um ihr dann ins Ohr zu flüstern: »Ich würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um dich wiederzufinden.«

»Könntest du jetzt nicht ein bisschen himmlischen oder höllischen Beistand für Frau Leimer aktivieren? Du bist doch der beste Kripofahnder weit und breit.«

»Ich bin nicht mehr im Dienst – aber danke für die Blumen«, brummte Udo.

Anna überlegte fieberhaft, wie sie ihren Mann umstimmen konnte. Sie wollte Kathrin Leimer helfen und gleichzeitig wäre es eine willkommene Abwechslung in ihrem eher eintönigen Rentnerdasein. Udo pflegte seine Hobbys, sie kümmerte sich um Haus und Garten, besuchte bei den Landfrauen Veranstaltungen, traf sich mit Freundinnen, und im Sommer verreisten sie mit dem Wohnmobil. Mal Detektiv zu spielen, das würde Schwung ins Leben bringen.

»Einen privaten Ermittler kann sich Frau Leimer sicherlich nicht leisten und selbst hat sie keine Zeit, Nachforschungen anzustellen. Sie kann auch ihre Patienten nicht im Stich lassen. Aber wir haben doch Zeit!«

Udo schaute auf die Uhr. »Ach du meine Güte, es ist ja schon so spät. Gleich bin ich mit Horst in Undeloh verabredet. Wir wollen auf den etwas abgelegenen Wanderwegen nachschauen, ob die Schrift auf den wegweisenden Steinen noch zu erkennen ist, und sie gegebenenfalls auffrischen. Vielleicht finde ich ja unter den Findlingen auch den Flüchtigen.«

»Du bist ein Scheusal.« Anna gab ihm einen kleinen Klaps. »Würdest du mich denn unterstützen, wenn ich ein paar Nachforschungen anstelle?«

»Aha, Anna Muhler, die Miss Marple der Lüneburger Heide! Ich muss jetzt los.«

Anna verzog enttäuscht das Gesicht.

Udo seufzte. Wenn seine Frau sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, würde sie nicht so schnell aufgeben.

»Klär doch erst einmal, ob sie überhaupt unsere Hilfe will oder nicht lieber einen Profi einschaltet.«

»Aber du bist ein Profi!«

»Also gut, rede mit ihr. Du weißt genau genommen nichts über den Fall. Wie heißt der Lebensgefährte, was macht er beruflich, wo hätte er sich in den letzten Tagen aufhalten sollen, wo wollte er hin, wie stehen die beiden zueinander, was ist er für ein Typ, und so weiter«, leierte Udo herunter.

Anna strahlte: »Dann kann ich ihr sagen, dass wir ermitteln.«

»Halt. Erst einmal musst du Näheres wissen und dann reden wir beide heute Abend noch mal darüber. Tschüss, bis nachher.«

»Zum Glück konnte ich einen Patiententermin verschieben und so haben wir eine Stunde Zeit, bevor der nächste kommt. Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie mir helfen wollen.« Die Stimme von Kathrin Leimer zitterte. Sie saßen im gemütlich eingerichteten Wohnzimmer der Physiotherapeutin mit Blick auf einen Garten, in dem sich der umgebende Wald fortsetzte.

»Grundsätzlich unterstütze ich Sie gerne, aber zunächst brauche ich nähere Informationen, damit wir einschätzen können, ob und wie wir Nachforschungen anstellen.«

»Viel weiß ich nicht über sein Verschwinden.«

Anna holte ein kleines Ringbuch aus ihrer Handtasche, in dem sie sich sorgfältig einige Fragen notiert hatte. In ihrer Ausbildung zur ehrenamtlichen Schiedsfrau für die Gemeinde hatte sie gelernt, zunächst mit belanglosen Themen eine angenehme Gesprächsatmosphäre herzustellen.

»Sie leben hier mit Ihrem Lebensgefährten zusammen. Gibt es noch andere Mitbewohner? Auf dem einen Briefkasten steht der Name Jens Gabow. Ist das Ihr Partner?«

»Genau. Das Haus hat drei kleine Wohnungen und wurde ursprünglich mal von meinen Eltern als Ferienhaus gebaut. Viele Jahre vermieteten sie an Feriengäste.«

»Es gibt wohl kaum ein Haus in Undeloh ohne Vermietung.«

Sie lachten beide und Kathrin Leimer fuhr fort: »Wie Sie wissen, nutze ich die Wohnung nebenan als Praxis, diese privat und Jens die Dachwohnung.«

»Ach so, dann war er zunächst Ihr Mieter und dann erst …«, Anna verhaspelte sich und suchte nun nach Worten.

Die Physiotherapeutin schüttelte den Kopf. »Jens war Patient und der erste und einzige, mit dem ich eine Beziehung eingegangen bin. Seit vier Jahren leben wir zusammen.«

»Was macht er beruflich?«

»Er arbeitet für eine pharmazeutische Firma im Außendienst als Key Account Manager. Daher ist er sehr viel unterwegs mit häufigen Übernachtungstouren.«

Anna machte sich eifrig Notizen. »Sind das die Vertreter, die in Arztpraxen häufig vorgelassen werden?« So manches Mal hatte sie sich darüber geärgert.

»Jens besucht nur große Kliniken, bevorzugt Unis. Er hat überwiegend mit Chef- und Oberärzten zu tun.« Ein Anflug von Stolz klang in Kathrins Stimme.

»Wissen Sie, in welchen Hotels er absteigt? Dann könnte man dort nachfragen.«

Kathrin schüttelte den Kopf.

»Ach, wie dumm von mir, das haben Sie natürlich längst getan«, korrigierte sich Anna.

»Jens hasst Hotels und ist immer mit dem Wohnwagen unterwegs.«

»Mit dem Wohnwagen?«, wunderte sich Anna, »auch im Winter?«

Sie verreiste im Sommer gern mit Udo in ihrem Wohnmobil, konnte sich eine berufliche Nutzung, zumal bei Eis und Schnee, allerdings nicht vorstellen.

»Er ist groß und komfortabel, mit einer Fußbodenheizung ausgestattet. Wir waren gerade einige Tage an der Ostsee. Wenn man will und Strom- und Wasseranschluss hat, braucht man noch nicht einmal die Sanitäreinrichtungen der Campingplätze. Jens liebt diese Unabhängigkeit. So hat er seine eigenen vier Wände und braucht sich nicht für jeden Kaffee in ein Restaurant zu begeben.«

»Das kann ich gut nachvollziehen. Das lästige Kofferpacken entfällt und man ist trotzdem mobil. Ist Ihr Mann in ganz Deutschland unterwegs?«

Kathrin überlegte einen Augenblick. »Nur in Norddeutschland, also Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Hamburg und Bremen besucht er von hier aus. Ach ja, und dann natürlich Hessen. Da ist er häufig, weil dort wichtige Krankenhäuser sind.«

»Haben Sie in seiner Firma mal nachgefragt? Vielleicht hat er sich dort gemeldet.«

»Nein, es ist mir irgendwie peinlich. Unter Umständen denken die dann, wir hätten uns verkracht.«

»Und ist das so?«, hakte Anna nach.

»Überhaupt nicht. Vorhin habe ich noch einmal mit dem Herrn Mayer von der Akademie für Pharmaberufe telefoniert. Der meint, Jens sei doch so zuverlässig und er hätte sich sicherlich abgemeldet, wenn irgendetwas passiert wäre.«

»Sie haben mehrmals versucht, ihn über sein Handy zu erreichen …«

»Das ist ja das Seltsame. Er hat es sonst immer an, selbst in Arztgesprächen ist es nur auf stumm geschaltet. Aber als ich ihn am Freitagmorgen anrufen wollte, wir telefonieren immer morgens früh miteinander, war das Handy aus. Zunächst habe ich gedacht, er hat vielleicht vergessen es aufzuladen, aber dabei blieb es. Verstehen Sie…?« Kathrin wischte sich die Tränen weg und schnäuzte sich.

»Erzählen Sie mir ein bisschen was über Ihren Mann. Hat er Freunde oder Familienangehörige, bei denen er sich gemeldet haben könnte?«

»Er ist ein Einzelkind und seine Eltern sind bereits verstorben. Soweit ich weiß, gibt es keine weiteren Angehörigen. Mir fällt auch kein Freund ein. Natürlich hat er Kollegen – mit einer Maja telefoniert er häufiger …«, Kathrin zerknüllte ihr Taschentuch immer mehr, »vielleicht weiß die etwas, aber ich habe keine Nummer. Jens ist ein Einzelgänger. Da fällt mir ein: Es gibt einen Freund aus Studienzeiten. Der ist mal hier gewesen, während der Heideblüte. Er ist auch Hobbyfotograf. Sehr nett. Wie hieß der noch …«, verzweifelt versuchte sich Kathrin zu erinnern.

»Denken Sie nicht weiter darüber nach, dann fällt es Ihnen bestimmt gleich ein«, empfahl Anna. »In seiner Freizeit spielt er also Golf und fotografiert. Oder hat er noch weitere Hobbys?«

»Nein. Ursprünglich war das Golfen nur eine Freizeitbeschäftigung, aber mittlerweile organisiert er für Ärzte an verschiedenen Orten Turniere. Da er ein einstelliges Handicap hat, ist er als Golfpartner zudem sehr gefragt.«

»Ist Ihnen inzwischen eingefallen, wo er am letzten Wochenende sein wollte?«

»Richtig – jetzt weiß ich es wieder – auf dem Golfplatz in Bad Nauheim. Carsten Möller!«, Kathrin lächelte, »das ist der Name von dem Freund und ich glaube, ich habe seine Nummer in meiner Handyliste. Den werde ich nachher mal anrufen.«

»Sie haben gesagt, der Freund sei ein ehemaliger Kommilitone. Was hat Ihr Mann studiert?«

»Biologie. Er wollte promovieren, hat dann aber abgebrochen. Es ist schwierig für Diplombiologen, einen Job zu bekommen, und so ist er wie viele andere in der pharmazeutischen Industrie gelandet. Was er aber im Nachhinein nicht bereut hat.«

»Haben Sie ein Bild von ihm?«

Kathrin holte ihr Handy.

»Oh, das ist ja wunderschön«, staunte Anna, als sie Fotos von einem Wohnwagen auf einem mit Bäumen und Büschen großzügig angelegten Stellplatz sah.

»Das ist in Dahme an der Ostsee. Wir hatten Glück und standen auf einer der wenigen 300 Quadratmeter großen Flächen, die eigentlich für Mobilheime gedacht sind. Es ist herrlich. Ich mag es nicht, wenn die Wagen so dicht nebeneinanderstehen.«

Auf einigen Bildern war ein schmächtiger Mann mit Brille und schütterem Haar am Frühstückstisch und am Strand zu sehen.

»Vielleicht ist es sinnvoll, wenn ich ein Foto von Ihrem Mann bekommen könnte, auf dem er möglichst groß zu sehen ist.«

Kathrin holte ein gerahmtes Bild aus einem Bücherregal. Es zeigte beide in einer Gondel. »Das war im Frühjahr in Venedig«, sagte sie stolz.

»Schön«, meinte Anna höflich, »Ihr Mann hat wohl ein bisschen viel Sonne abbekommen.«

»Ach, Sie meinen, weil er so einen roten Kopf hat?« Anna nickte. »Wir frotzeln immer, dass wir beide in den Wechseljahren sind. Ich habe immer mal mit Hitzewallungen zu kämpfen und heute weiß man, dass auch Männer aus diesem Grund anfallsartig einen roten Kopf bekommen können.«

»Haben Sie nicht ein Foto, auf dem er alleine zu sehen ist? Wir wollen das Bild eventuell Menschen zeigen, die ihn nicht kennen.«

Kathrin scrollte durch die Galerie auf ihrem Handy und zeigte dann eine Nahaufnahme von Jens Gabow. Im Hintergrund war das Meer zu sehen. Er saß an einem Restauranttisch, hielt ein Weinglas in der Hand und prostete der Fotografin zu.

»Was halten Sie davon? Das war kürzlich in Dahme an der Ostsee.«

»Perfekt.« Spontan fand Anna den Mann sympathisch.

»Jens hatte eine kleine OP hinter sich und war noch vierzehn Tage krankgeschrieben. Leider konnte ich mich nur ein paar Tage freimachen. So kurzfristig ist das schwierig. Ich kann ja meinen Patienten deswegen nicht einfach absagen.«

»War es was Ernstes«, fragte Anna fürsorglich und neugierig nach.

»Nein, nur der Blinddarm. Blöderweise hatte er Beschwerden, als er gerade in Frankfurt zu tun hatte. Aber da Jens so viele Ärzte kennt, war das kein Problem und er ist sofort operiert worden. Ich wollte zu ihm fahren, aber da hatte man ihn schon wieder entlassen. Nur sollte er sich noch etwas schonen. Soll ich Ihnen das Foto an Ihre E-Mail-Adresse schicken?«

Anna nickte und schaute in ihre Fragenliste.

»Sie sagten vorhin, Ihr Mann sei ein Einzelgänger. Können Sie sich Gründe vorstellen, warum er sich …«, sie suchte nach passenden Worten, »eine Zeit lang von seinem gewohnten Umfeld abgesondert hat oder für sich allein sein wollte?«

Kathrin schaute sie verständnislos an. »Ich verstehe Ihre Frage nicht. Er ist doch sehr viel für sich, häufig eine ganze Woche und manchmal noch das Wochenende dazu, wenn er Golf spielt oder eine andere Veranstaltung hat, zum Beispiel einen Kongress besucht.« Sie zögerte etwas, dann schien sie sich einen Ruck zu geben.

»Wahrscheinlich können sich viele Menschen so eine Beziehung nicht vorstellen. Wir leben jeder für uns, aber in der gemeinsamen Zeit sind wir sehr glücklich miteinander. Ich habe noch nie einen Mann erlebt, der sich so auf mich einstellt, mich bis ins Detail zu kennen scheint und mir so viel Zuwendung und Liebe gibt.« Sie fing wieder an zu weinen. »Wir sind viel getrennt und doch immer miteinander verbunden, und jetzt …«

Wie bei einem rührseligen Film merkte Anna, wie ihr die Tränen kamen. Um sich zu fassen, schaute sie in ihre Notizen. »Sie erwähnten, dass er gerne fotografiert. Was für Bilder macht er denn?«

»Wunderschöne Heideaufnahmen. Wenn es Sie interessiert, kann ich Ihnen ein paar zeigen.«

»Gerne.« Anna wappnete sich, endlose langweilige Fotos mit den sich immer wiederholenden üblichen Heidemotiven auf dem Handy anzuschauen.

»Kommen Sie – dafür müssen wir in den Keller. Dort hat Jens sein Arbeitszimmer.«

Während sie nach unten gingen, erzählte Kathrin, dass auch dieser Raum mit einem kleinen Badezimmer früher mal als Ferienappartement vermietet wurde. Jetzt war er zum Büro umfunktioniert. Auf einem der Schreibtische stand ein Computer mit einem großen Bildschirm, daneben ein voluminöser Farbdrucker. An zwei Wänden hingen Fotos mit den unterschiedlichsten Landschaftsmotiven. Anna war fasziniert. Sie hatte die Heide noch nie in so vielen Facetten gesehen.

Kathrin lächelte stolz. »Mit diesen Jahreszeitenbildern hat er den ersten Preis in einem Wettbewerb gewonnen, und zwei andere«, sie schaute sich um, »ich kann sie jetzt nicht entdecken, wurden in einem Fotobuch über das Naturschutzgebiet Lüneburger Heide veröffentlicht.«

»Also ehrlich gesagt, häufig finde ich Heidebilder recht langweilig.« Anna blieb vor jedem Bild länger stehen. »Aber diese Perspektiven … und Kombinationen. Es ist eben doch ein Unterschied, ob jemand mal eben so etwas knipst oder ein Fotograf … es ist wie eine … Komposition«, begeisterte sie sich.

»Dabei ist nichts gestellt oder manipuliert«, erläuterte Kathrin, »zum Beispiel auf diesem Foto. Wenn Sie den Heidschnuckenweg von Undeloh aus weiter in Richtung Wilsede gehen, sehen Sie einen Bienenzaun und dahinter einen Wacholder. Nichts Aufregendes. Auf dem Foto schauen Sie als Betrachter durch die seitliche Lücke des Zauns auf den Baum, und schon durch diese Änderung des Blickwinkels und der Rahmung entsteht ein besonderer Eindruck.«

»Fantastisch. So gut kenne ich mich in der Undeloher Heide nicht aus, aber jetzt bin ich neugierig geworden, die Standorte der Fotos einmal aufzusuchen. Dieses Bild stammt sicherlich nicht aus der Heide.« Sie zeigte auf einen Teich, der mit blauen Fröschen übersät war.

»Doch – das hat Jens im Pietzmoor bei Schneverdingen aufgenommen. Die Heide besteht ja nicht nur aus Calluna vulgaris, der Besenheide. Die Moorfrösche nehmen für die kurze Paarungszeit im März diese Farbe an, sonst sind sie unscheinbar braun.«

»Nun lebe ich schon etliche Jahre in der Heide, aber das wusste ich nicht. Mir fällt auf, dass nie Menschen auf den Bildern zu sehen sind.«

Kathrin nickte. »Jens fotografiert ausschließlich die Natur. Häufig ist er frühmorgens oder am Abend unterwegs, um möglichst wenig Touristen anzutreffen.«

Anna löste sich von den Fotos und betrachtete interessiert den Schreibtisch. In Krimis entdeckte die Kripo dort häufig etwas Verdächtiges. »Was hat er denn zuletzt aufgenommen?«

»Oh, leider kenne ich das Passwort für seinen Computer nicht. Zudem wäre es ihm nicht recht, wenn wir ohne seine Zustimmung in die Dateien schauen.«

»Natürlich will ich Sie nicht bedrängen, aber vielleicht bekommen wir Anhaltspunkte für sein Verschwinden. Was Ihnen unwichtig erscheint, kann ein wertvoller Hinweis sein.«

»Tut mir leid, aber weder für seinen privaten noch für seinen beruflichen Rechner habe ich die Zugangsdaten.«

»Da liegen zwei Mappen.« Anna zeigte auf den Schreibtisch. Auf der einen stand handschriftlich Sommer 2022 und auf der anderen Dahme 2022. »Sollten wir nicht mal einen Blick hineinwerfen?«

Kathrin schien sichtlich mit sich zu ringen, dann öffnete sie die erste Mappe und entnahm ihr mehrere farbige, große Fotos. Abgestorbene Bäume ragten kahl in den Himmel. Eine Kiefer war Opfer eines Sturms geworden und lag zwischen braun verholzten Heidepflanzen. Der Kontrast zu den Fotos an den Wänden hätte nicht größer sein können. Dort das pralle Leben, hier der Tod.

Kathrin verdeckte mit der Hand ihren Mund. »Oh, die kenne ich überhaupt nicht«, murmelte sie, und dann, an Anna gewandt: »Natürlich zeigt er mir nicht alle Fotos, aber wenn er sich ein neues Thema vornimmt oder eines besonders gelungen ist …«

Ehe Kathrin es verhindern konnte, ergriff Anna die zweite Mappe. Ein Dutzend DIN-A4-Aufnahmen bildeten einen etwa sechsjährigen Jungen ab, der am Strand spielte, ins Wasser lief, Muscheln suchte, einen Drachen fliegen ließ oder einfach nur in die untergehende Sonne schaute. Auch diese Bilder waren keine Urlaubs-Schnappschüsse, sondern von professioneller Qualität. Der Junge trug eine rote Baseballkappe – und er war auf allen Fotos nackt.

Beide Frauen starrten auf die zwölf ausgebreiteten Darstellungen. Die Zeit schien still zu stehen, während in Annas Kopf ein Wirbelsturm aus Gedanken und Gefühlen tobte.

»Nein!«, schrie Kathrin auf.

Einem Impuls folgend drehte Anna die Fotos um. Auf der Rückseite war jeweils ein Datum aufgedruckt. Alle Bilder waren zwischen dem 22. und 26. August entstanden.

»Das war die Woche, wo ich nicht mehr da war.« Kathrins Stimme war nur noch ein Flüstern.

Ein lautes Klingeln ließ beide erschrecken.

»Das ist der Patient. Ich kann ihn jetzt nicht behandeln. Bitte …«, flehte Kathrin, »können Sie ihn wegschicken und ihm sagen, ich würde mich bei ihm melden und einen neuen Termin vereinbaren?« Die letzten Worte waren durch den Tränenfluss kaum zu verstehen.

Udo betrachtete die mitgebrachten Fotos.

»Die arme Frau … nicht nur dass ihr Mann verschwunden ist, nun muss sie zudem noch verkraften, dass er pädophil ist.« Annas Gesicht leuchtete vor Aufregung knallrot. »Wahrscheinlich hat er sich deshalb umgebracht. Sagt man nicht immer, selbstmordgefährdete Menschen kündigen ihren Suizid an? Das Totholz auf den Fotos ist doch ein eindeutiges Signal.«

»Küchenpsychologie«, knurrte Udo. »Das sind eindeutig keine pornografischen Darstellungen. Vielleicht ist der Junge das Kind von Freunden und der Jens Gabow hat ein paar Urlaubsfotos gemacht.«

»Das ist mehr als unwahrscheinlich. Erstens hätte er das Kathrin Leimer doch erzählt und zweitens hat sie betont, dass er nur Naturfotos macht. Dies sind außerdem keine Schnappschüsse.« Sie suchte ein Foto heraus. »Sieht das nicht höchst professionell aus? Ein kleines Kunstwerk.« Das Kind saß im seichten Wasser, eine Welle brach sich zu seinen Füßen. Ein Sonnenstrahl blitzte durch die Wolken und erhellte die Szene wie ein Scheinwerfer.

»Also, das ist kein Grund, ihn anzuzeigen«, meinte Udo nachdenklich.

»Aber ein Grund mehr, Nachforschungen anzustellen.« Anna beugte sich vor und schaute ihrem Mann in die Augen. »Außerdem würde es uns beiden sehr guttun, mal auf andere Gedanken zu kommen. Klimakatastrophe, Energiekrise, Inflation, Corona, Krieg in der Ukraine. Wir reden doch miteinander über nichts anderes mehr.«

Die Falte zwischen seinen Augen vertiefte sich. Für Anna ein untrügliches Zeichen, dass sie ihn getroffen hatte.

»Du meinst, indem wir uns mit den individuellen Problemen der Kathrin Leimer beschäftigen, können wir zumindest gedanklich den aktuellen Krisen entfliehen?«

»Für unsere alternden Gehirne ist es auch ein gutes Fitnesstraining«, legte sie nach.

»Wir wollten doch in die Toskana«, machte Udo noch einen schwachen Abwehrversuch. Im Herbst planten sie für ein paar Tage ihre dort lebende Tochter und ihre Enkel zu besuchen und dabei die Landschaft mit dem Wohnmobil zu erkunden.

»Aber erst in drei Wochen. Wenn wir Jens Gabow in vierzehn Tagen nicht gefunden haben, brechen wir ab. Was hältst du davon?«

»Bis dahin ist er ohnehin wieder da. Ich habe inzwischen mal in die Statistik geschaut. 80 % der vermissten Menschen tauchen innerhalb eines Monats wieder auf.«

»Also bist du einverstanden?«

»Was bleibt mir anderes übrig, wenn ich keinen Ehekrach riskieren will«, sagte er halb im Scherz.

Anna fiel ihm um den Hals.

Mittwochvormittag, 7. September

Anna deckte den Frühstückstisch und versuchte neugierig Wortfetzen von Udos Telefongespräch mitzubekommen, aber er hatte die Tür zu seinem Arbeitszimmer geschlossen. Während Udo bereits am frühen Morgen aktiv war wie eine Lerche, brauchte sie immer etwas Anlaufzeit.

»Guten Morgen, Nüsschen, auch schon wach?«, begrüßte er sie gut gelaunt und schaute in ihre haselnussbraunen, großen Augen, die ihr diesen Kosenamen eingebracht hatten.

Sie reckte sich. »Ich konnte so schlecht einschlafen. Immer musste ich an Kathrin denken.«

»Du grübelst zu viel. Wenn du geduscht hast, besprechen wir den Fall«, dabei wedelte er mit einigen Formularen.

»Es ist kein Fall, sondern ein Mensch, der leidet!«

»Wenn du erfolgreich recherchieren willst, musst du professionell distanziert vorgehen. Eine persönliche Betroffenheit ist nur hinderlich.«

Anna schenkte sich Kaffee ein. »Das Verschwinden ihres Mannes ist sicherlich ein Fall, den man sachlich angehen kann. Aber Kathrin zerreißt es innerlich. Sie weiß nicht mehr, mit was für einem Menschen sie vier Jahre zusammengelebt hat. Diese Bilder von dem Jungen … Sie zermartert sich den Kopf, ob man das als Frau nicht mitbekommen müsste, ob es Anzeichen gab, die auf seine sexuellen Neigungen hindeuten.«

»Genau das meine ich.« Udo genoss den ersten Kaffee des Tages. »Es ist doch gar nicht klar, ob Jens Gabow pädophil ist und in welchem Zusammenhang diese Bilder entstanden sind. Also gibt es überhaupt keinen Grund zu grübeln oder irgendwelche tiefenpsychologischen Gespräche zu führen. Gezielte Klärung geht vor ausufernden Vorstellungen.«

»Das Schlimmste für Kathrin ist, glaube ich, die Unsicherheit. Sie meinte ihren Mann zu kennen und jetzt gibt es so viele Fragezeichen.«

»Wann kennt man schon einen Menschen. Nach fünf Jahren, nach zehn oder nach fünfzig?« Verschmitzt zwinkerte er ihr zu.

»Es wird in den Medien so häufig über Kindesmissbrauch berichtet, da wird man ja ganz verrückt.«

»Die ganze Welt ist ver-rückt.