Das dunkle Labyrinth - Anne Perry - E-Book

Das dunkle Labyrinth E-Book

Anne Perry

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Beschreibung

Ein spannender Fall für William Monk

London 1863/64. Die Stadt benötigt dringend ein neues Abwassersystem und die Tunnelarbeiten werden schnell vorangetrieben. Zu schnell, befürchtet der verantwortliche Ingenieur James Havilland und warnt vor einer Katastrophe. Doch niemand glaubt ihm, und Havilland bringt sich, angeblich aus Verzweiflung, um. Wenig später muss William Monk, Inspector bei der Wasserpolizei, hilflos zusehen, wie Havillands Tochter Mary in der Themse ertrinkt. Monk glaubt an einen Zusammenhang der beiden Todesfälle. Und seine Recherchen führen ihn in das unterirdische Labyrinth des Kanalsystems …

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Copyright © der Originalausgabe 2006 by Anne Perry Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Umschlagfoto: © Lee Avison / Trevillion Images ISBN : 978-3-641-02932-6 V004
www.goldmann-verlag.de
www.penguinrandomhouse.de
Inhaltsverzeichnis
 
Buch
 
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
 
Copyright
Buch
Mord, Selbstmord oder ein Unfall? Inspector William Monk von der Londoner Wasserpolizei muss hilflos zusehen, wie ein Mann und eine Frau von einer Brücke in die Themse stürzen und ertrinken. Der ehemalige Privatdetektiv Monk hadert noch mit seiner neuen Rolle als Polizist, und er weiß, dass er diesen Fall lösen muss, will er den Respekt seiner Mannschaft gewinnen. Bei den Leichen handelt es sich um Mary Havilland und Toby Argyll. Marys Vater James Havilland arbeitete als Ingenieur bei Londons ehrgeizigem Großprojekt, der Erneuerung der Kanalisation, die von der Argyll Construction Company durchgeführt wird. Havilland hatte die Überzeugung vertreten, dass bei den schnell vorangetriebenen Arbeiten die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen völlig außer Acht gelassen wurden. Seine Warnungen vor einer sich anbahnenden Katastrophe blieben jedoch ungehört. Als James Havilland wenig später erschossen aufgefunden wurde, behauptete Alan Argyll, Tobys Bruder und Chef der Firma, Havilland habe sich in eine fixe Idee verrannt und sich aus Verzweiflung umgebracht. Mary hat diese Version nie geglaubt, für sie handelte es sich eindeutig um Mord. Und nichts war ihr wichtiger, als ihren Vater zu rehabilitieren. Nun ist auch sie tot. Monk glaubt nicht an einen Zufall und schon bald verfolgt er eine heiße Spur; aber ausgerechnet, als er zusammen mit Superintendent Runcorn und Staatsanwalt Rathbone in das Kanalsystem hinabsteigt, scheinen sich die schlimmsten Befürchtungen Havillands zu bestätigen …
 
Autorin
 
Die Engländerin Anne Perry verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Schon früh begann sie zu schreiben. Mittlerweile begeistert sie mit ihren Helden, dem Ermittler William Monk sowie dem Detektivgespann Thomas und Charlotte Pitt, ein Millionenpublikum.
 
Von Anne Perry außerdem bei Goldmann lieferbar
Die William-Monk-Romane:Im Schatten der Gerechtigkeit (45748) · In feinen Kreisen (45957) In den Fängen der Macht (45112) · Tod eines Fremden (46088) Schwarze Themse (46199)
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Dark Assassin« bei Ballantine Books, New York
Timothy Webb gewidmet, mit verspätetem Dank für deine Freundschaft und Hilfe.
1
Monk sah in der Ferne die Waterloo Bridge, als er sich im Bug des Polizeiboots etwas bequemer hinsetzte. Gestohlene Schiffsladungen, Unfälle und vermisste Boote, das waren die Aufgaben der vier Männer, die auf der Themse Patrouille fuhren: er selbst als ranghöchster Beamter und seine Leute, die in der typischen Formation der Wasserpolizei zu dritt die vier Ruder bedienten. Monk saß starr in seinem schweren Uniformmantel da. Es war Januar und bitterkalt. Der Wind wühlte das Wasser auf und drang durch die Haut wie ein Messer mit scharfer Klinge, doch Monk wollte nicht, dass jemand ihn vor Kälte zittern sah.
Es war fünf Wochen her, dass er die Stellung als Leiter dieser Abteilung der Wasserpolizei angenommen hatte, eine Entscheidung, die er schon jetzt zutiefst bereute. Und mit jedem durchfrorenen Tag in nassen Kleidern wurde es schlimmer, während der Winter sich zu Anfang dieses Jahres 1864 gnadenlos über London und seiner viel befahrenen Wasserstraße festsetzte.
Das Boot schaukelte im Kielwasser eines Verbandes von Barken, die mit der hereinströmenden Flut flussaufwärts fuhren. Orme, der im Heck saß, hielt das Boot gekonnt ruhig. Er war ein Mann von durchschnittlicher Größe, aber ungewöhnlicher Geschmeidigkeit und Kraft, und bediente das Ruder mit äußerstem Geschick. Vielleicht hatte er im Laufe der Dienstjahre auf dem Wasser gelernt, wie leicht ruckartige Bewegungen zum Kentern führen konnten.
Sie ruderten näher an die Brücke heran. In dem grauen Nachmittagslicht, kurz bevor die Lampen angezündet wurden, konnten sie bereits den Verkehr dort oben sehen: die dunklen Schatten der Hansoms und größeren vierrädrigen Kutschen. Noch waren sie freilich zu weit entfernt, um das Klappern von Pferdehufen über den Geräuschen des Wassers zu hören. Auf einem Fußweg standen dicht vor dem Geländer ein Mann und eine Frau einander gegenüber. Sie schienen in ein Gespräch vertieft. Monk dachte träge, dass es ihnen wohl ein dringendes Anliegen sein musste – was immer sie sich auch zu sagen hatten, wenn es an einem derart düsteren und ungesicherten Ort wie diesem ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Der Wind zerrte wütend an den Röcken der Frau. In dieser Höhe, wo es keinen Schutz gab, musste sie noch mehr frieren als Monk.
Orme lenkte das Boot weiter in die Mitte der Strömung. Sie waren auf dem Rückweg zu ihrer flussabwärts gelegenen Wache in Wapping. Vor sechs Wochen noch war Durban dort Dienststellenleiter gewesen und Monk ein Privatermittler. Er konnte immer noch nicht daran denken, ohne dass sich ihm die Kehle zuschnürte, und nie verließ ihn ein Gefühl von Schuld und Einsamkeit. Immer wenn er eine Gruppe Flusspolizisten sah und jemand darunter einen lässigen, wiegenden Gang und rundliche Schultern hatte, erwartete er, dass der Mann sich jeden Moment umdrehen und dass er Durbans Gesicht erkennen würde. Aber dann kehrte unweigerlich die Erinnerung zurück, und ihm wurde jedes Mal wieder klar, dass das nicht geschehen konnte.
Die Brücke war jetzt noch etwa sechzig, siebzig Meter weit entfernt. Das Paar stand immer noch an der Balustrade. Der Mann hielt die Frau an den Schultern, als wolle er sie in die Arme nehmen. Vielleicht waren sie ein Paar. Ihre Worte konnte Monk natürlich nicht vernehmen – der Wind riss sie sogleich mit sich fort -, aber ihre Gesichter verrieten leidenschaftliche Gefühle, die mit jedem Meter, den sich das Boot näherte, deutlicher zu erkennen waren. Monk fragte sich, worum es ging: ein Streit, ein letzter Abschied – oder am Ende beides?
Die steigende Flut verlangte den Polizisten an den Rudern äußerste Kraftanstrengung ab.
Monk sah wieder auf und bekam gerade noch mit, wie der Mann mit der Frau rang. Beide schienen erbittert ineinander verkeilt. Die Frau stand mit dem Rücken zum Geländer. Sie war viel zu weit nach hinten gebeugt. Monk hatte schon einen Warnschrei auf den Lippen. Noch ein paar Zentimeter, und sie stürzte ab!
Orme starrte nun auch hinauf.
Der Mann zerrte weiter an der Frau. Sie riss sich los, schien das Gleichgewicht zu verlieren, und er machte einen Satz auf sie zu. Eng aneinandergedrückt wankten sie einen schrecklichen Moment lang, dann kippte sie nach hinten. Er machte einen verzweifelten Versuch, sie festzuhalten. Sie streckte die Hand aus und griff nach ihm. Zu spät. Beide stürzten über die Brüstung und fielen in aberwitzigen Spiralen wie ein riesiger Vogel mit gebrochenem Flügel in die Tiefe. Dann schlugen sie auf den wirbelnden schmutzigen Fluten auf, die sie noch eine Weile trugen. Sie versuchten nicht zu kämpfen, während sich ihre Kleider mit Wasser vollsogen und sie nach unten zogen.
Angetrieben von Ormes Befehlen, verdoppelten die Ruderer ihre Anstrengungen und stemmten sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Strömung. Das Boot schoss nach vorne.
Monk starrte angestrengt in die Richtung der Opfer, um sie in der Dunkelheit nicht aus den Augen zu verlieren. Sie waren keine hundert Meter von ihnen entfernt, und doch war ihm bereits klar, dass es zu spät war. Die Wucht des Aufpralls auf dem Wasser musste ihnen alle Luft aus den Lungen gepresst haben. Und sobald sie keuchend eingeatmet hatten, hatten sie unweigerlich das eiskalte Schmutzwasser in die Lungen gesogen, an dem sie mit Sicherheit erstickt waren. So sinnlos es war, beugte er sich dennoch weiter vor und schrie: »Schneller, schneller! Dort! Nein … dort!«
Das Boot erreichte die beiden und drehte bei. Die Ruderer hielten es gegen die Strömung ruhig und bewahrten es durch Gewichtsverlagerung vor dem Kentern, als Monk sich über die Frau beugte, sie über das Dollbord zerrte und so behutsam er konnte auf die Planken bettete. Das andere Opfer konnte er noch sehen, aber es war außer Reichweite. Wenn er sich jetzt vorbeugte, würde er das ganze Boot in Gefahr bringen. »Backbord«, befahl er, obwohl die Ruderer das Boot schon näher heranmanövrierten. Vorsichtig griff er nach dem halb versunkenen jungen Mann, dessen Mantel im Wasser trieb, während ihn die schweren Stiefel in die Tiefe zogen. Unter Aufbietung aller Kräfte hievte Monk auch ihn an Bord und legte ihn neben die junge Frau. Er hatte schon viele Tote gesehen, doch stets überkam ihn ein unvermindertes Gefühl von Verlust. Er nahm das vom Schmutz im Flusswasser total verschmierte, bleiche Gesicht näher in Augenschein. Der Tote, den er auf etwa dreißig schätzte, hatte einen Schnurrbart, war aber ansonsten glatt rasiert. Seine Kleider waren gut geschnitten und von feinster Qualität. Der Hut, den er auf der Brücke getragen hatte, war verschwunden.
Orme sah zu Monk und dem jungen Mann hin. Er war aufgestanden und wahrte in dem schwankenden Boot mühelos das Gleichgewicht. »Für die zwei kommt jede Hilfe zu spät«, murmelte er. »Sind nach dem Sturz aus dieser Höhe auf der Stelle ertrunken. Ein Jammer«, fügte er leise hinzu. »Das Mädchen sieht nicht älter aus als zwanzig. Hübsches Gesicht.«
Monk setzte sich wieder auf die Bank. »Gibt es irgendeinen Hinweis darauf, wer sie war?«
Orme schüttelte den Kopf. »Wenn sie’ne Tasche hatte, wie sie die Damen tragen, ist sie weg. Aber in der Manteltasche ist ein Brief, und der ist an eine Miss Mary Havilland in der Charles Street gerichtet. Er ist schon gestempelt worden, so als ob er abgeschickt und überbracht worden wäre. Kann also sein, dass sie das ist.«
Monk beugte sich vor und durchsuchte seinerseits systematisch die Taschen des Toten. Ihm bereitete es im Vergleich zu Orme mehr Mühe, das Gleichgewicht zu wahren, als das Boot die Rückfahrt flussabwärts nach Wapping fortsetzte. Es hatte keinen Sinn, noch länger zu bleiben und einen Mann am Ufer abzusetzen, um ihn nach Zeugen eines Streits suchen zu lassen – wenn das, was sie gesehen hatten, denn einer gewesen war. Jetzt ließ sich nicht mehr feststellen, wer zum entsprechenden Zeitpunkt auf der Brücke unterwegs gewesen war. Abgesehen davon hatten sie vom Fluss aus so viel mitbekommen, wie wohl jeder Passant oben. Zwei Personen, die sich gestritten – oder vielleicht geküsst – hatten, hatten sich voneinander gelöst, das Gleichgewicht verloren und waren in die Tiefe gestürzt. Es gab nichts, was da irgendjemand noch hinzufügen konnte.
Soweit Monk sich erinnerte, waren die beiden die einzigen Fußgänger auf der Brücke gewesen, als es passierte. Es war die Stunde, in der die Lampen noch nicht angezündet sind, aber das Tageslicht bereits schwindet und die Welt in ein Grau getaucht ist, das das Auge leicht täuschen kann. Man sieht die Dinge nur noch bruchstückhaft, den Rest ergänzt die Vorstellungsgabe, und das bisweilen unzutreffend.
In einer der Taschen entdeckte Monk eine lederne Geldbörse mit ein paar Münzen darin und ein Etui mit Ausweisen. Bei dem Mann handelte es sich offenbar um Toby Argyll aus der Walnut Tree Walk in Lambeth. Demnach hatte er in der Nähe des Mädchens im südlich des Flusses gelegenen Stadtteil Lambeth gewohnt. Die Charles Street war wie der Walnut Tree Walk eine Nebenstraße der Lambeth Walk. Er las die Adresse Orme vor.
Das Boot fuhr jetzt langsam, da nur noch zwei Männer die Ruder bedienten. Orme kauerte nahe bei Argylls Leiche auf dem Boden. Am Ufer gingen allmählich die Lampen an, gelbe Monde im dichter werdenden Dunst. Der Wind war eisig. Es war Zeit, die eigenen Laternen anzuzünden, sonst gäbe es noch einen Zusammenstoß mit einer entgegenkommenden Barke oder einer der Passagierfähren, die zwischen den Ufern verkehrten.
Monk zündete die Bootslampe an und ging vorsichtig zur Leiche der Frau zurück. Sie lag auf dem Rücken. Orme hatte ihr die Hände gefaltet und die Haare aus dem Gesicht gestrichen. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Haut war bereits weiß-grau, als wäre sie nicht erst ein paar Minuten tot.
Sie hatte einen breiten Mund und hohe Wangenknochen unter anmutig gewölbten Augenbrauen. Es war ein sehr feminines Gesicht, stark und verletzlich, eine Frau, die vielleicht leidenschaftlich und voller großer Pläne gewesen war.
»Armes Ding«, sagte Orme leise. »Wir werden wohl nie wissen, was sie dazu getrieben hat. Vielleicht hat er ihre Verlobung gelöst oder so was.« Sein Gesichtsausdruck war in der zunehmenden Dunkelheit kaum zu erkennen, aber Monk hörte das tiefe Mitleid in seiner Stimme.
Plötzlich wurde Monk bewusst, dass seine Arme vom Bergen der Leichen bis zu den Achseln durchnässt waren. Er zitterte vor Kälte und konnte nicht sprechen, ohne gleichzeitig mit den Zähnen zu klappern. Ohne Bedenken hätte er alles Geld in seinen Taschen für eine heiße Tasse Tee mit einem Schuss Rum gegeben. Er konnte sich nicht erinnern, an Land jemals derart schrecklich gefroren zu haben.
Selbstmord war ein Verbrechen, nicht nur gegen den Staat, sondern auch in den Augen der Kirche. Wenn der Coroner zu diesem Schluss gelangte, würde die Frau nicht in geweihter Erde bestattet. Und dann stellte sich auch noch die Frage nach dem Tod des jungen Mannes. Vielleicht war es sinnlos, darüber zu grübeln, dennoch sagte Monk unwillkürlich: »Hat er versucht, sie davon abzuhalten?«
Das Boot bewegte sich langsam gegen die Flut. Das Wasser war unruhig und klatschte gegen die hölzernen Wände des Kahns, was es den Ruderern erschwerte, Kurs zu halten.
Orme zögerte mehrere Augenblicke, ehe er antwortete: »Keine Ahnung, Mr. Monk, und das ist die reine Wahrheit. Möglich ist es. Könnte aber auch ein Unfall gewesen sein.« Seine Stimme wurde noch leiser. »Oder sie hat ihn gestoßen. Das ist ja schnell passiert.«
»Was ist Ihre Meinung?« Monk brachte die Worte kaum heraus, so heftig klapperte er mit den Zähnen.
»Sie sollten sich besser ans Ruder setzen, Sir«, sagte Orme ernst. »Bringt das Blut auf Trab.«
Monk nahm den Vorschlag an. Von Ranghöheren wurde nicht erwartet, dass sie wie gewöhnliche Constables ruderten, aber die waren auch nicht steif gefroren und in Gefahr, sich den Tod zu holen. Er ging zur Mitte des Bootes und übernahm eines der Ruder neben Orme. Es dauerte mehrere Schläge, bis er ein Gefühl für den Rhythmus bekam, aber dann ging es ihm schnell besser, und das Boot gewann nicht nur an Fahrt, sondern glitt auch ruhiger durch das Wasser. Lange fiel kein Wort mehr. Sie passierten die Blackfriars Bridge und hielten auf die Southwark Bridge zu, die nur dank ihrer Lichter in der Ferne zu erkennen war. Der Wind raubte ihnen schier die Luft zum Atmen.
Monk hatte die Stellung bei der Flusspolizei auch deshalb angenommen, weil er das als Ehrenschuld auffasste. Vor acht Jahren war er ohne jede Erinnerung in einem Krankenhaus aufgewacht. Fakt für Fakt hatte er seine Identität rekonstruiert und Dinge an sich entdeckt, die ihm nicht alle gefielen. Damals war er Polizist gewesen, und sein unmittelbarer Vorgesetzter, Superintendent Runcorn, hatte ihn auf den Tod nicht ausstehen können. Ihr Verhältnis war bald so zerrüttet, dass niemand so recht wusste, ob Monk rausgeworfen worden war oder vorher seine Kündigung eingereicht hatte. Da aber das Aufdecken von Verbrechen und die Lösung von Fällen der einzige Beruf war, den er beherrschte, und er von irgendetwas leben musste, hatte Monk sich entschieden, dieselbe Arbeit auf privater Basis zu betreiben.
Im Herbst des letzten Jahres hatten sich die Umstände allerdings dramatisch geändert. Geldnot hatte ihn gezwungen, den Fall Louvain anzunehmen, seine erste Arbeitserfahrung an der Themse. Dabei hatte er Durban kennen gelernt und in die Geschehnisse auf dem Schiff Maude Idris mit seiner verhängnisvollen Fracht mit hineingezogen. Jetzt war Durban tot. Vor seinem Ende hatte er Monk zu dessen Verblüffung als seinen Nachfolger auf der Polizeiwache von Wapping empfohlen.
Dass Monk früher mit der Führung von Untergebenen gescheitert war, hatte er unmöglich wissen können. Monk war ein brillanter, aber auch kompromissloser Einzelgänger, dem es noch nie leicht gefallen war, mit anderen zusammenzuarbeiten, egal, ob er Befehle erteilte oder empfing. Runcorn hätte Durban all das sagen können. Er hätte ihn auch wissen lassen können, dass Monk – ob tapfer oder nicht – es einfach nicht wert war, dass man sich Mühe mit ihm gab. Andererseits hatten Zeit und Umstände und vor allem seine Ehe mit Hester Latterly Monk zugänglicher gemacht. Hester hatte zusammen mit Florence Nightingale im Krimkrieg als Krankenschwester gedient und war, anders als die meisten jungen Frauen, ausgesprochen freimütig. Sie liebte ihn mit bedingungsloser Treue und verblüffender Leidenschaft, was sie freilich nicht daran hinderte, ihm offen zu sagen, was sie dachte. Dennoch hätte Runcorn Superintendent Farnham dringend geraten, die Stelle des erfahrenen und allseits bewunderten Durban mit jemand anderem zu besetzen.
Doch Durban hatte Monk gewollt, und Monk brauchte Arbeit. Während seiner Zeit als unabhängiger Ermittler hatte Hesters Freundin, Lady Callandra Daviot, Interesse daran gezeigt, an Monks Fällen mitzuarbeiten, und das Geld gehabt, um ihn in kargen Monaten zu unterstützen. Inzwischen war Callandra nach Wien gezogen, und Monk stand vor der schweren Wahl, sich ein regelmäßiges und verlässliches Einkommen zu verschaffen oder sich damit abzufinden, dass Hester in die private Pflege zurückkehrte. Letzteres hätte allerdings zur Folge gehabt, dass sie je nach den Erfordernissen ihrer Patienten oft auch in deren Häusern lebte und er sie kaum noch zu Gesicht bekam. Zu einer solch verzweifelten Entscheidung war er einfach nicht bereit. Und darum saß er nun auf der Ruderbank des Polizeiboots und legte sich mit seinem ganzen Gewicht in die Riemen, während sie unter der London Bridge hindurchfuhren und südwärts auf den Tower und die Wapping Stairs zusteuerten. Die Kälte saß ihm in den Knochen, er war nass bis zu den Schultern, und zu seinen Füßen lagen zwei Tote.
Schließlich erreichten sie die Stufen, die zu ihrer Wache hinaufführten. Vorsichtig legte Monk das Ruder an die Seite, richtete sich etwas steif auf und half mit, die schlaffen und triefenden Leichen die Steinstufen hinaufzuwuchten und über den Steg in den Schutz der Wache zu tragen.
Hier war es wenigstens warm. Der schwarze gusseiserne Ofen brannte und verlieh dem ganzen Raum einen angenehm rauchigen Geruch, und es wartete heißer Tee auf sie, der so stark war, dass er ganz schwarz wirkte. Keiner von den Männern kannte Monk wirklich gut. Sie alle trauerten noch um Durban. Ihren neuen Vorgesetzten behandelten sie höflich, aber wenn er mehr von ihnen wollte, musste er sich das verdienen. Angesichts seiner sich ständig verändernden Tiden und Strömungen, gelegentlich im Wasser verborgener Hindernisse, des schnellen Schiffsverkehrs und abrupter Wetterwechsel war der Fluss ein äußerst gefährlicher Ort. Er verlangte von den Polizisten noch mehr Mut, Geschick und vor allem Zusammenhalt, als ihr Beruf dies zu Lande erforderte. Allein schon der Anstand gebot es, dass sie Monk Tee mit Rum reichten. Aber das hätten sie in dieser Jahreszeit wohl nicht einmal einem streunenden Hund verweigert. Und tatsächlich durfte Humphrey, der Revierkater, ein großes weißes Tier mit bernsteinfarbenem Schwanz, in einem eigenen Korb vor dem Ofen liegen und so viel Milch trinken, wie er wollte. Mäuse musste er sich allerdings selbst fangen, was er auch tat, wenn er sich dazu aufraffen konnte oder niemand ihn mit anderen Leckereien fütterte.
»Vielen Dank.« Monk schlürfte den Tee und spürte, wie langsam so etwas wie Leben in seinen Körper zurückkehrte und Wärme sich von innen nach außen ausbreitete.
»Unfall?«, fragte Sergeant Palmer beim Anblick der zwei Toten auf dem Boden, deren Gesichter jetzt der Pietät halber mit Jacken bedeckt waren.
»Das wissen wir noch nicht«, erwiderte Monk. »Sind direkt vor uns von der Waterloo Bridge gefallen. Aber wie das passiert ist, können wir nicht genau sagen.«
Palmer runzelte die Stirn. Er hatte ohnehin Zweifel an Monks Fähigkeiten, und dessen Unschlüssigkeit bestätigte ihn nur darin.
Orme trank seinen Tee aus. »Sind zusammen runtergestürzt.« Er sah Palmer mit ausdrucksloser Miene an. »Schwer zu sagen, ob er versucht hat, sie zu retten. Könnte sie genauso gut gestoßen haben. Woran sie gestorben sind, das wissen wir aber genau. Arme Seelen. Sind mit voller Wucht aufs Wasser geprallt – ist ja immer das Gleiche. Aber warum es passiert ist, das wird wohl immer unklar bleiben.«
Palmer wartete, dass Monk noch etwas hinzufügte. Plötzlich herrschte Stille. Die anderen zwei Besatzungsmitglieder des Bootes, Jones und Butterworth, standen schweigend da und schauten von einem zum anderen. Auch sie beobachteten Monk. Würde er Durban das Wasser reichen können?
Schließlich brach Monk sein Schweigen. »Holen Sie einen Arzt. Nur für den Fall, dass es etwas anderes ist. Wahrscheinlich ist das nicht, aber wir wollen doch keine Blamage riskieren.«
»Sind ertrunken«, bemerkte Palmer säuerlich und wandte sich ab. »Wer von so’ner Brücke fällt, is’ immer gleich tot. Das weiß doch jeder. Im Wasser kriegt man’nen Kälteschock und atmet es ein. Das überlebt keiner. Das einzig Gute daran is’, dass es schnell vorbei is’.«
»Und wie dumm würden wir dastehen, wenn wir von Selbstmord ausgingen und sich auf einmal herausstellte, dass sie erstochen oder erwürgt worden ist, ohne dass wir das bemerkt haben?«, fragte Monk ruhig. »Ich will nur sichergehen. Oder wenn sie schwanger war, und wir das auch nicht bemerkt haben? Sehen Sie sich nur an, was für hochwertige Kleider sie trug. Das ist kein Straßenmädchen. Sie kommt aus gutem Hause und hat vielleicht noch Angehörige. Wir schulden ihnen die Wahrheit.«
Palmer lief rot an. »Sie werden sich bestimmt nich’ besser fühlen, wenn sie schwanger war«, brummte er, ohne Monk anzusehen.
»Wir suchen keine Antworten, nur damit die Leute sich besser fühlen«, belehrte ihn Monk. »Die Grundlage unserer Arbeit ist das, was vorliegt, und wir müssen wahrheitsgemäß damit umgehen. Wir wissen, wer die zwei waren und wo sie wohnten. Orme und ich sprechen jetzt mit ihren Angehörigen. Und Sie holen den Polizeiarzt, damit er sich die Leichen anschaut.«
»Jawohl, Sir«, antwortete Palmer steif. »Sie gehen bestimmt erst heim und ziehen sich trockene Kleider an, was?« Er zog die Augenbrauen hoch.
Doch Monk hatte seine Lektion bereits gelernt. »Ich habe ein trockenes Hemd und einen Mantel im Spind. Das reicht mir vollauf.«
Orme wandte sich ab, aber nicht bevor Monk sein Grinsen gesehen hatte.
 
 
Monk und Orme nahmen einen Hansom zur westlich von Wapping gelegenen High Street. Am Fluss flackerten unregelmäßig die Lichter, und der starke Wind trug den Geruch von Salz und Tang in die Gassen zwischen den Häusern am Ufer hinauf. Die zwei Männer umrundeten den massiven Tower, um dann wieder der Lower Thames Street längs des Ufers zu folgen. Auf der Southwark Bridge überquerten sie schließlich den Fluss und fuhren durch ein eleganteres Wohnviertel, bis sie den St. George’s Circus erreichten, einen großen Platz, von dem sechs Straßen abzweigten. Zur Charles Street wie auch zum Walnut Tree Walk war es von dort nur noch ein Katzensprung.
Den Angehörigen von Toten die traurige Nachricht zu überbringen gehörte zu den Polizeiaufgaben, die alle hassten, und oblag stets den höheren Beamten. Es wäre nicht nur feige, sondern auch eine grobe Geschmacklosigkeit den Hinterbliebenen gegenüber gewesen, sie an einen Untergebenen zu delegieren.
Monk zahlte und entließ den Hansom-Fahrer. Er hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis er seine Pflicht erfüllt hatte, und wen oder was Orme und er überhaupt vorfinden würden.
Das Haus, in dem Toby Argyll gelebt hatte, wirkte prächtig, war aber allem Anschein nach in eine Vielzahl von Einzelzimmern aufgeteilt worden, die sich eher für Junggesellen als für Familien eigneten. Eine Dame mit schwarzem Kleid und Schürze öffnete ihnen. Beim Anblick zweier Fremder auf ihrer Schwelle wurde sie sichtlich nervös. Orme hatte ein freundliches, gewöhnliches Gesicht, aber er trug nun mal die Uniform der Wasserpolizei. Monk war größer und von der Eleganz eines Mannes, der sich seiner Ausstrahlung bewusst ist. Sein schmales Gesicht mit der kräftigen Nase strahlte Autorität aus. Es war ein Gesicht, das Intelligenz und sogar Feinfühligkeit verriet, aber nur wenige empfanden es als beruhigend.
»Guten Abend, Ma’am«, sagte er sanft. Seine Stimme war wohltönend, seine Ausdrucksweise gepflegt. Es hatte ihn viel Mühe gekostet, seinen Akzent loszuwerden, der sonst sofort seine Herkunft aus der Provinz Northumbria verraten hätte. Ein Gentleman zu sein war damals sein leidenschaftlicher Wunsch gewesen. Diese Sehnsucht hatte er schon lange nicht mehr, aber die Musik in seiner Stimme war geblieben.
»Guten Abend, Sir«, sagte die Frau misstrauisch.
»Mein Name ist Inspector Monk, und das ist Sergeant Orme von der Wasserpolizei. Ist das die Adresse von Toby Argyll?«
Sie schluckte. »Ja, Sir. Sagen Sie bloß nich’, dass es in einem von den Tunnel da unten’nen Unfall gegeben hat.« Ihre Hand flog zum Mund, wie um einen Schrei zu ersticken. »Ich kann Ihnen da nich’ helfen, Sir. Mr. Argyll is’ nich’ daheim.«
»Nein, Ma’am, einen Unfall hat es unseres Wissens nicht gegeben, aber leider eine Tragödie. Es tut mir entsetzlich leid. Lebt Mr. Argyll hier allein?«
Sie starrte ihn an. Ihr rundes Gesicht war bleicher geworden. Allmählich dämmerte ihr, dass die zwei Beamten mit der schlimmsten aller möglichen Nachrichten gekommen waren.
»Möchten Sie nicht reingehen und sich setzen?«, fragte Monk.
Sie nickte und wich langsam zurück. Die Beamten folgten ihr durch den Flur in die Küche. Dort duftete es nach Essen, und Monk registrierte zerstreut, wie lange seine letzte Mahlzeit zurücklag. Die Frau sank auf einen der Holzstühle mit hoher Lehne, stützte die Ellbogen auf den Tisch und verbarg das Gesicht in den Händen. Aus den Töpfen auf dem riesigen schwarzen Herd stieg Dampf auf, und aus dem Backofen strömte köstlicher Bratengeruch. An der Wand aufgehängte Kupferpfannen funkelten im Gaslicht, und an der Decke hingen zu Ringen geflochtene Zwiebeln.
Es hatte keinen Sinn, das noch länger hinauszuzögern, von dem sie bereits wusste, dass es unvermeidlich war.
»So leid es mir tut, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass Mr. Argyll von der Waterloo Bridge gestürzt ist«, erklärte Monk. »Mrs …?«
Sie sah ihn mit bleichem Gesicht und vor Entsetzen geweiteten Augen an. »Porter«, half sie ihm. »Ich hab mich um Mr. Argyll gekümmert, seit er hier eingezogen is’. Wie konnte er nur von der Brücke runterfallen? Das macht doch überhaupt keinen Sinn! Dort sind überall Geländer! Da fällt man doch nich’ runter! Wollen Sie mir etwa sagen, dass er nich’ mehr ganz nüchtern war und rumgeklettert is’ oder sonst was Dummes angestellt hat?« Sie zitterte jetzt vor Zorn. »Das glaub ich Ihnen nich’! So einer war er nämlich nich’! Ein nüchterner, fleißiger junger Mann war er. Sie haben den Falschen rausgefischt! Sie haben’nen Fehler gemacht, nix anderes!« Sie reckte herausfordernd das Kinn vor. »Sie hätten besser aufpassen sollen. Man jagt doch den Leuten nicht unnötig einen Schrecken ein!«
»Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass er betrunken war, Mrs. Porter.« Monk ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Der junge Mann, den wir gefunden haben, hatte Dokumente dabei, die ihn als Toby Argyll, wohnhaft in dieser Straße, auswiesen. Er war ungefähr von meiner Größe oder vielleicht ein bisschen kleiner, blond und bis auf einen Schnurrbart glatt rasiert.« Er hielt inne. Ihre weit aufgerissenen, starren Augen und der zusammengekniffene Mund verrieten ihm bereits, dass er Argyll beschrieben hatte. »Es tut mir sehr leid«, wiederholte er.
Ihre Lippen zuckten. »Was is’ passiert? Wenn er nich’ betrunken war, wie kommt’s dann, dass er in den Fluss gefallen is’? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!« Sie forderte Monk immer noch heraus, klammerte sich an die letzte Hoffnung, dass das, was sie gerade gehört hatte, vielleicht doch nicht stimmte, wenn sie es nur heftig genug leugnete.
»Er war mit einer jungen Dame zusammen«, fuhr Monk fort. »Sie schienen zu streiten oder ein erhitztes Gespräch zu führen. Sie klammerten sich aneinander und gerieten ins Schwanken, dann kippte sie gegen das Geländer. Sie kämpften noch kurz...«
»Was soll das heißen: ›sie kämpften‹?«, fragte Mrs. Porter. »Wollen Sie sagen, dass sie sich geschlagen haben oder was?«
Das war noch schlimmer, als er erwartet hatte! Was hatten die zwei eigentlich getan? Was genau hatte er gesehen? Er versuchte, all seine bisherigen Vorstellungen davon, seine Bemühungen, das Gesehene zu verstehen und zu interpretieren, aus seinem Bewusstsein zu verbannen und sich nur an das zu erinnern, was er tatsächlich gesehen hatte. Die zwei Gestalten waren auf der Brücke gewesen, die Frau näher beim Geländer. Stimmte das wirklich? Ja. Der Wind war von hinten gekommen. Er hatte gesehen, wie sich ihre Röcke blähten und den Geländerpfosten streiften. Sie hatte mit den Armen gerudert und dann dem Mann die Hände auf die Schultern gelegt. Eine Liebkosung? Oder hatte sie ihn wegstoßen wollen? Der Mann hatte den Arm bewegt. Nach hinten und oben. Um sich von ihr loszureißen? Oder um sie zu schlagen? Dann hatte er sie gepackt. Um sie zu retten oder zu stoßen?
Mrs. Porter wartete. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Obwohl sie in ihrer wohlig warmen, nach Essen riechenden Küche saß, zitterte sie.
»Ich weiß es nicht«, sagte Monk langsam. »Sie waren über uns und aus einer Entfernung von fast siebzig Metern im Zwielicht nicht deutlich zu sehen.«
Sie wandte sich zu Orme um. »Waren Sie auch dabei?«
»Ja Ma’am«, antwortete dieser. Er stand stocksteif in der Mitte des blitzblank geschrubbten Raumes. »Mr. Monk hat Recht. Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger bin ich mir sicher, was ich eigentlich gesehen hab. Es war die Zeit, in der sie bald die Lichter anzünden. Da glaubt man, dass man noch was sieht, aber man kann sich täuschen.«
»Wer war sie?«, drängte Mrs. Porter. »Die Frau, die mit ihm runtergestürzt is’.«
»Gab es jemanden, den Sie kennen?«, fragte Monk zurück. »Für den Fall, dass sie sich stritten.«
Die Frau wirkte eindeutig unglücklich. »Na ja … ich sag’s nich’ gern …« Ihre Stimme erstarb.
»Wir wissen, wer es war, Mrs. Porter«, versicherte ihr Monk. »Wir müssen nur wissen, was geschehen ist, damit niemandem die Schuld für etwas gegeben werden kann, das er gar nicht getan hat.«
»Jetzt kann ihnen ja keiner mehr wehtun.« Die Tränen strömten ihr ungehemmt übers Gesicht. »Sie sind tot, die armen Seelen.«
»Aber sie haben Angehörige, die sie lieben«, erwiderte Monk. »Und dann muss geklärt werden: Können sie in gesegneter Erde beigesetzt werden oder nicht?«
Sie stieß ein Schluchzen aus.
»Mrs. Porter?«
»War’s Miss Havilland?«, fragte sie heiser.
»Was können Sie mir über sie sagen?«
»War’s wirklich sie? Na ja, geht ja gar nich’ anders. Er hat keine andere mehr angeschaut, seit er sie kannte.«
»Er liebte sie?« Das konnte natürlich vieles bedeuten: wahres, selbstloses Geben, das von Herzen kam, oder Geben, das von Not diktiert war, bis hin zum Drang nach Herrschaft, wenn nicht sogar Besessenheit. Und hinter einer Zurückweisung konnte alles Mögliche stecken: Resignation, Elend, Zorn, vielleicht auch Rachsucht oder der Drang zu zerstören.
Die Frau zögerte.
»Mrs. Porter?«
»Ja!«, sagte sie unwirsch. »Sie waren verlobt – zumindest hat er es anscheinend so gesehen -, aber dann hat sie Schluss gemacht. Formell waren sie’s sowieso nie. Es hat nie’ne öffentliche Ankündigung oder so was gegeben.«
»Wissen Sie, warum nicht?«
Sie starrte ihn verblüfft an. »Ich? Natürlich nicht.«
»War noch jemand anderes im Spiel?«
»Bei ihm nich’, und bei ihr auch nich’, glaub ich. Das hab ich ihn wenigstens so sagen hören.« Sie schniefte lange und schluckte. »Das is’ einfach schrecklich! So was hab ich noch nie gehört. Doch nich’ bei so feinen Leuten! Wegen was sollten die denn von’ner Brücke springen? Mr. Argyll wird es das Herz brechen, wenn er es erfährt, der arme Mann.«
»Mr. Argyll? Sein Vater?«
»Nein, sein Bruder. Is’n gutes Stück älter. Glaub ich zumindest.« Sie schniefte erneut und suchte in der Schürzentasche nach einem Taschentuch. »Ich hab ihn bloß fünf, sechs Mal gesehen, als er Mr. Toby besuchen kam. Ein sehr wohlhabender Herr. Besitzt diese riesigen Maschinen, mit denen sie die neuen Abwasserkanäle graben. Sie wissen schon, Mr. Bazalgette hat doch die Pläne dafür entworfen, damit sie London endlich sauber machen können und wir nich’ mehr Typhus, Cholera und so was alles kriegen. Da musste erst Prince Albert sterben, Gott hab ihn selig, und der armen Queen Victoria das Herz brechen, ehe sie damit angefangen haben. Eine schlimme Welt ist das!«
Monk erinnerte sich noch genau an den »Great Stink« aus dem Jahre 1858, als sämtliche Abwassergräben übergequollen waren und ganz London sich in eine riesige offene Kloake verwandelt hatte. Die Themse hatte dermaßen widerwärtig gestunken, dass einem davon schlecht wurde, selbst wenn man eine Meile von ihr entfernt war. Das neue Kanalnetz sollte das modernste von ganz Europa werden. Es sollte Unsummen kosten und Tausenden Arbeit bringen, wenn nicht sogar Abertausenden, wenn man zu den »Navvys« – den Kanalbauarbeitern – auch all die anderen dazuzählte, die indirekt ebenfalls davon betroffen waren: Ziegelbrenner, Eisenbahnarbeiter, Maurer, Zimmermänner und andere Lieferanten. Die meisten Kanäle sollten nach dem einfachen Aushubverfahren gebaut werden – aufreißen und zuschütten wurde es genannt -, aber einige wenige sollten in größerer Tiefe als geschlossene Tunnel gebaut werden.
»Mr. Argyll war also ein wohlhabender junger Mann?«
»O ja.« Mrs. Porter richtete sich auf. »Das hier ist ein sehr gutes Haus, Mr. Monk. Die Zimmerherren leben hier nicht billig, verstehen Sie?«
»Und Miss Havilland?«, bohrte Monk nach.
»Ach, die war auch was Besseres, das arme Ding«, antwortete Mrs. Porter sofort. »’ne richtige Dame war sie, trotzdem dass sie mit ihrer Meinung nie hinterm Berg gehalten hat. Ich selber hab eigentlich nix dagegen gehabt, auch wenn manche Leute finden, dass sich so was für eine junge Dame einfach nich’ gehört.«
Da er selbst mit einer Frau verheiratet war, die ihre Meinung zu einer ganzen Reihe von Dingen mit größtem Nachdruck kundtat, konnte Monk nicht widersprechen. Mehr noch: Plötzlich sah er Mary Havilland nicht mehr als das, was sie jetzt war – eine Tote mit wächsernem Gesicht -, sondern er sah vielmehr die schlanke, temperamentvolle, verletzliche Hester vor sich, mit ihren ein wenig zu schmalen Schultern, dem etwas kantigen Gesicht, dem braunen Haar und Augen, aus denen eine solche Leidenschaft blitzte, dass er sie nie hatte vergessen können, seit sie sich kennen gelernt – und gleich das erste Mal gestritten – hatten.
Seine Stimme war heiser, als er die Befragung fortsetzte. »Wissen Sie, warum sie die Beziehung abgebrochen hat, Mrs. Porter? Oder hatte Mr. Argyll sie längere Zeit in einem Irrtum belassen, bis schließlich er sie beendete?«
»Nein, nein, das war schon sie«, erklärte die Frau, ohne zu zögern. »Er war sehr aufgeregt und hat versucht, sie umzustimmen.« Sie schniefte erneut. »Ich hätte nie gedacht, dass es zu so was kommen würde.«
»Wir wissen noch nicht, was geschehen ist«, erklärte Monk. »Aber vielen Dank für Ihre Hilfe. Könnten Sie uns bitte noch die Adresse von Mr. Argylls Bruder geben? Wir müssen ihm mitteilen, was geschehen ist. Wo Miss Havillands nächste Angehörigen leben, können Sie uns nicht zufällig sagen? Das wären wohl ihre Eltern.«
»Das weiß ich wirklich nich’, Sir. Aber Mr. Argylls Adresse kann ich Ihnen geben. Kein Problem. Der arme Mann wird am Boden zerstört sein. Sie haben sich sehr nahegestanden.«
 
 
Alan Argyll lebte nur ein kurzes Wegstück entfernt in der Westminster Bridge Road. Es dauerte etwa zehn Minuten, bis Monk und Orme vor dem stattlichen Haus standen, zu dem sie Mrs. Porter geschickt hatte. Die Vorhänge waren an diesem frühen Winterabend bereits zugezogen, und die Gaslampen auf der Straße offenbarten eine elegante Fensterreihe, Steinstufen zu einer breiten handgeschnitzten Tür, und den Klopfer, einen in ihrem Licht schimmernden Löwenkopf aus Messing.
Orme sah Monk an, sagte aber nichts. Eine solche Nachricht Familienangehörigen zu überbringen, das war unendlich viel schlimmer, als eine Zimmerwirtin davon in Kenntnis zu setzen, egal, wie groß ihre Anteilnahme sein mochte. Monk deutete ein Nicken an. Worte waren nicht nötig. Orme arbeitete am Fluss; er war an den Tod gewöhnt.
Eine kleiner, würdevoller Butler mit schütterem weißem Haar öffnete ihnen die Tür. Seinem festen und überhaupt nicht überraschten Blick nach zu urteilen, hielt er sie für Geschäftsfreunde seines Dienstherrn. »Mr. Argyll speist gerade«, ließ er Monk wissen. »Wenn Sie im Frühstückszimmer warten möchten, wird er Sie sicher bald empfangen.«
»Wir sind von der Wasserpolizei«, erklärte Monk, nachdem er ihm zunächst nur seinen Namen genannt hatte. »Wir haben leider eine schlechte Nachricht, die keinen Aufschub duldet. Es wäre ratsam, ein Glas Brandy bereitzustellen, falls es benötigt werden sollte. Es tut mir leid.«
Der Butler zögerte. »Sehr wohl, Sir. Darf ich fragen, was geschehen ist? Ist es einer von den Tunneln, Sir? So traurig es ist, solche Dinge lassen sich anscheinend nicht vermeiden.«
Monk war klar, dass so gewaltige Aushubarbeiten, wie sie gegenwärtig durchgeführt wurden, die Gefahr gelegentlicher Erdrutsche oder im Extremfall den Einsturz von Mauern mit sich brachten, bei dem Maschinen verschüttet und Menschen verletzt werden konnten. Erst vor wenigen Tagen hatte es am Fluss Fleet einen dramatischen Unfall gegeben. »Sehr richtig«, stimmte Monk zu. »Aber dieser Unfall hat sich am Fluss ereignet. So leid es mir tut, es handelt sich um eine traurige persönliche Nachricht für Mr. Argyll. Er muss so bald wie möglich davon in Kenntnis gesetzt werden.«
»O Gott«, murmelte der Butler. »Wie schrecklich. Jawohl, Sir, ich sage es ihm.« Er holte tief Luft. »Wenn Sie mir bitte ins Frühstückszimmer folgen möchten. Ich werde Mr. Argyll sofort zu Ihnen schicken.«
Das Frühstückszimmer war ein sehr düsterer, in dunklen Braun- und Goldschattierungen gehaltener Raum. Man hatte das Feuer ausgehen lassen. Vermutlich wurde das Zimmer zu dieser späten Stunde ohnehin nur selten benutzt. Monk und Orme blieben auf einem Aubusson-Teppich stehen und warteten. Keiner sagte etwas. Monk bemerkte über dem Kaminsims ein Gemälde von einer Gebirgslandschaft in den schottischen Highlands und ein ausgestopftes Murmeltier in einer Vitrine vor der Wand. Beides sollte wohl darauf hinweisen, dass es sich bei Argylls Reichtum um altes Geld handelte, und das wiederum veranlasste Monk zu der Vermutung, dass genau das wahrscheinlich nicht der Fall war.
Die Pendeltür schwang auf, und Alan Argyll stand auf der Schwelle. Sein Gesicht war blass, seine Augen wirkten im Schatten des Lampenlichts dunkel. Er war überdurchschnittlich groß und hager, und sein Auftreten ließ ungeheure körperliche wie geistige Kraft ahnen. Seine Züge waren wohlproportioniert, aber sie hatten etwas Kaltes an sich.
Es wäre lächerlich gewesen, ihn mit »guten Abend« zu begrüßen. Monk trat einen Schritt vor. »Mein Name ist William Monk, Sir. Ich bin von der Wasserpolizei. Dieser Herr ist Sergeant Orme. Ich bin zutiefst betrübt, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Bruder, Mr. Toby Argyll, am frühen Abend von der Waterloo Bridge gefallen ist. Obwohl wir ihn binnen weniger Minuten erreicht hatten, konnten wir ihn nur noch tot bergen.«
Argyll starrte ihn an. Er schwankte leicht, als hätte ihn ein Schlag getroffen. »Sie waren dort? Warum, in Gottes Namen, haben Sie nicht …?« Er keuchte, und es fiel ihm schwer, zu atmen. Man hätte meinen können, er würde jeden Moment zusammenbrechen.
»Wir fuhren in einem Patrouillenboot auf dem Fluss«, antwortete Monk. »Es tut mir leid, Sir. Niemand hätte etwas tun können. Unter diesen Bedingungen ertrinkt man sehr schnell. Wahrscheinlich spürte Ihr Bruder überhaupt nichts. Ich weiß, dass Ihnen das in diesem Moment wenig hilft, aber vielleicht bietet es später einmal Trost.«
»Er war neunundzwanzig!«, schrie Argyll, trat weiter ins Zimmer, und das Licht schien nun auf sein Gesicht. Monk fiel auf Anhieb die Ähnlichkeit mit seinem Bruder auf: die Linie des Mundes, die Farbe der gleichmäßig geformten Augen, die Art und Weise, wie das Haar lag. »Wie kann man von einer Brücke stürzen?«, rief er. »War es ein Verbrechen, verschweigen Sie mir etwas? Hat ihn jemand überfallen?« Seine Stimme bebte vor Wut. Er hatte die Fäuste geballt.
»Er war nicht allein«, sagte Monk eilig, bevor Argyll die Selbstbeherrschung verlor. Trauer war er gewöhnt, auch Zorn, aber dieser Mann verriet einen Hang zur Gewalt, und die konnte jeden Moment ausbrechen. »Eine junge Frau namens Mary Havilland war bei ihm...«
Argylls Augen wurden groß. »Mary? Wo ist sie? Fehlt ihr auch nichts? Was ist geschehen? Was verschweigen Sie mir, Mann? Stehen Sie nicht so belämmert herum! Sie sprechen über meine Familie …« Erneut ballte er die Hände zu Fäusten. Die Knöchel zeichneten sich weiß unter der gespannten Haut ab.
»Es tut mir leid, aber Miss Havilland ist mit ihm zusammen in die Tiefe gestürzt«, sagte Monk entschlossen. »Sie haben sich aneinandergeklammert.«
»Was soll das heißen: ›geklammert‹?«, fauchte Argyll.
»Dass sie beide von der Brücke gestürzt sind«, wiederholte Monk. »Sie standen gemeinsam am Geländer und führten ein offenbar erhitztes Gespräch. Wir waren zu weit entfernt, um etwas hören zu können. Als wir wieder hinschauten, waren sie dichter beim Geländer, und dann verloren sie das Gleichgewicht und fielen in die Tiefe.«
»Sie haben einen Mann und eine Frau streiten sehen und weggeschaut?«, fragte Argyll ungläubig mit schriller Stimme. »Wohin, in Gottes Namen? Was hätte denn schon …?«
»Wir waren auf Patrouille«, schnitt ihm Monk das Wort ab. »Wir sind für den ganzen Fluss zuständig. Wenn sie nicht so nahe beim Geländer gestanden hätten, hätten wir sie überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Es schien ein normales Gespräch zu sein, vielleicht ein Streit zwischen Liebenden, die sich wieder versöhnten. Wenn wir weiter hingestarrt hätten, wäre das womöglich aufdringlich gewesen.«
Argyll blieb regungslos stehen. Er blinzelte. »Ja«, sagte er schließlich. »Ja, natürlich. Verzeihen Sie. Toby … Toby war mein einziger Verwandter. Zumindest …« Er strich sich mit der Hand über das Gesicht, wie um sich zu beruhigen und wieder klar zu sehen. »… meine Frau … Sie sagen, Mary Havilland ist auch tot?«
»Ja. Es tut mir sehr leid. Ich glaube, sie stand Ihrem Bruder sehr nahe.«
»Nahe!« Wieder schwoll Argylls Stimme gefährlich an und drohte beinahe in Hysterie umzuschlagen. »Sie war meine Schwägerin. Toby war mit ihr verlobt – zumindest wollten sie heiraten. Sie … hat die Hochzeit abgesagt. Sie war sehr verwirrt.«
Nun verstand Monk überhaupt nichts mehr. »Sie wäre Ihre Schwägerin geworden, oder?«
»Nein! Sie war! Mary war die Schwester meiner Frau.« Bei den letzten Worten sog Argyll die Luft ein. »Meine Frau wird … verzweifelt sein. Wir hatten gehofft …« Er verstummte erneut.
Monk musste ihn ermuntern weiterzusprechen. So schmerzhaft es für ihn sein mochte, Argyll musste weitere Fragen beantworten. Er war in diesem Moment nicht so auf der Hut wie vielleicht sonst und konnte eine Wahrheit preisgeben, die er später aus Anstand oder Mitleid vielleicht für sich behalten würde. Laut der Hauswirtin war Mary eine geistreiche Frau gewesen, die ihre Meinungen mit Leidenschaft vertreten hatte. »Ja, Sir. Sie hatten gehofft …?«, half er nach.
»Oh.« Argyll seufzte und sah weg. Fahrig zog er einen Stuhl zu sich heran und ließ sich schwerfällig darauf niedersinken. Er schien Mitte vierzig und damit beträchtlich älter als sein Bruder zu sein. Aber das stand in Einklang mit dem, was Mrs. Porter gesagt hatte.
Monk setzte sich nun ebenfalls, um weiter auf gleicher Höhe mit Argyll zu sein. Orme blieb diskret gut zwei Meter hinter ihm stehen.
Argyll richtete den Blick wieder auf Monk. »Marys Vater hat sich vor knapp zwei Monaten das Leben genommen«, sagte er leise. »Das hat uns sehr erschüttert. Mary und Jenny, meine Frau, waren in tiefer Trauer. Ihre Mutter war schon viele Jahre zuvor gestorben. Meine Frau trug den Schlag äußerst tapfer, aber Mary hat er offenbar … aus der Bahn geworfen. Sie weigerte sich, sich damit abzufinden, dass es tatsächlich Selbstmord war, obwohl die Polizei natürlich Ermittlungen angestellt hatte und zu diesem Ergebnis gekommen war. Wir … wir hatten gehofft, dass...«
»Es tut mir leid«, murmelte Monk und meinte es auch so. Er stellte sich Mary vor, wie sie zu Lebzeiten gewesen sein musste – das blasse, vom Wasser nasse Gesicht, wenn es von Liebe, Zorn, Staunen, Kummer beseelt war. »Das ist ein schwerer Schicksalsschlag für jeden.« Wie ein Fausthieb traf ihn jäh die Erinnerung daran, wie sich Hesters Vater ebenfalls das Leben genommen hatte. Der Schmerz war unmittelbar und auf eine Weise so echt, dass er sich mit Worten einfach nicht ausdrücken ließ. »Es tut mir aufrichtig leid«, sagte er noch einmal.
Argyll sah ihn erstaunt an. »Ein Schicksalsschlag … Ja. Ja, das ist es wirklich.« Dass Monk hinter den höflichen Floskeln echte Gefühle durchscheinen lassen würde, schien er nicht erwartet zu haben. »Ich … ich weiß nicht, wie meine arme Jenny das verkraften wird. Es …« Er rang um Worte, versuchte vielleicht immer noch, das alles zu fassen.
»Wäre es für Mrs. Argyll leichter, wenn wir dabei wären?«, fragte Monk. »Dann könnte sie uns Fragen stellen, sofern sie das möchte. Oder wäre es Ihnen lieber, sie unter vier Augen zu unterrichten?«
Argyll zögerte. Er wirkte hin- und hergerissen.
Monk ließ ihm Zeit. Die Uhr auf dem Kaminsims schlug die Viertelstunde; ansonsten herrschte Stille.
Schließlich brach Argyll das Schweigen. »Vielleicht sollte ich ihr die Gelegenheit, mit Ihnen zu sprechen, nicht verwehren. Wenn Sie mich bitte entschuldigen – ich werde es ihr allein sagen und dann abwarten, was sie möchte.« Damit erhob er sich. Monks Einverständnis setzte er offenbar als selbstverständlich voraus. Leicht schwankend ging er hinaus und vermied im letzten Moment einen Zusammenprall mit dem Türpfosten. Er ließ die Tür hinter sich weit offen.
»Armer Mann«, murmelte Orme. »Wenn wir ihm doch nur sagen könnten, dass es ein Unfall war.« Er sah Monk fragend an.
»Das würde ich mir auch wünschen«, stimmte dieser zu. Allerdings schien jetzt vieles darauf hinzudeuten, dass Mary Havilland zumindest vorübergehend ihr seelisches Gleichgewicht verloren hatte, doch das wollte er nicht bestätigen, auch nicht vor Orme.
Der Butler kam und blieb wie ein schwarzer Schatten in der Tür stehen. »Mrs. Argyll hat mich gebeten zu fragen, ob ich den Herren irgendetwas bringen kann. Vielleicht ein Glas« – er überlegte – »Ale?« Er war offenbar nicht bereit, ihnen guten Sherry anzubieten, den sie womöglich nicht zu schätzen wüssten, und schon gar nicht den besten Brandy.
In diesem Moment wurde Monk bewusst, was für einen quälenden Hunger er hatte. Orme musste es genauso ergehen. Vielleicht lag es teilweise daran, dass er immer noch fror. »Danke. Wir kommen direkt vom Fluss. Für ein Sandwich und ein Glas Ale wären wir sehr dankbar.«
Dem Butler war ein leichtes Unbehagen anzusehen, als merkte er erst jetzt, dass er von selbst darauf hätte kommen müssen. »Sofort, Sir«, sagte er mit einer Verneigung. »Wären Ihnen kalter Braten und ein Löffel Senf recht?«
»Das wäre wunderbar«, bestätigte Monk.
Orme dankte ihm herzlich, sobald die Tür ins Schloss gefallen war, und fügte hinzu: »Hoffentlich kriegen wir’s, bevor Mr. Argyll zurückkommt. Wär ja nicht höflich, vor ihm zu essen. Vor allem dann nicht, wenn auch Mrs. Argyll dabei ist. Aber ich glaub eher nicht, dass sie kommt. Damen trifft eine solche Nachricht meistens viel härter.«
Die Sandwiches wurden gebracht und gierig verzehrt. Unmittelbar danach kehrte Mr. Argyll zurück. Doch mit seiner zweiten Annahme sollte Orme sich getäuscht haben: Jenny Argyll hatte den Wunsch, sie zu sprechen. Sie trat sogar vor ihrem Mann ein, eine schöne Frau, die um Augen und Mund ihrer toten Schwester verblüffend ähnlich sah, aber dunklere Haare und nicht ganz so hohe Wangenknochen hatte. Jetzt hatte auch sie jede Farbe im Gesicht verloren, und ihre Augen waren vom Weinen gerötet. Ansonsten zeigte sie sich angesichts der Umstände außerordentlich gefasst. Sie trug ein dunkelrotes Wollkleid mit weitem Rock, und ihr Haar war mit ziemlichem Aufwand hochgesteckt worden, wofür ihre Zofe mindestens eine halbe Stunde gebraucht haben musste. Sie betrachtete Monk höflich, aber ohne jedes Interesse.
Argyll zog die Tür hinter sich zu und wartete, bis seine Frau sich gesetzt hatte.
Monk bekundete auch ihr seine Anteilnahme.
»Danke«, sagte Mrs. Argyll knapp. »Mein Mann sagt, dass Mary von der Waterloo Bridge gestürzt ist. Toby war bei ihr. Vielleicht hat er versucht, sie davor zu bewahren, und ist gescheitert. Armer Toby. Ich glaube, dass er sie immer noch liebte – trotz allem.« Erneut schwammen ihre Augen in Tränen, doch sie ignorierte das und beherrschte auch ihre Gesichtszüge. Wie viel Mühe sie das kostete, ließ sich nicht erkennen. Sie sah ihren Mann weder an, noch griff sie nach seiner Hand.
Monk hätte die in ihren Worten enthaltene Antwort akzeptieren sollen, und doch weigerte er sich – gegen alle Vernunft. Als Hesters Vater sich wegen seiner erdrückenden Geldschulden, die durch Betrug entstanden waren, erschossen hatte, war sie von der Krim zurückgekehrt, wo sie als Krankenschwester bei der Armee gedient hatte, und ab dieser Zeit galt es, die Familie zu stärken und das Unrecht zu bekämpfen, dem sie in der Heimat begegnete. Es waren ihre Kraft und Entschlossenheit gewesen, die Monk darin bestärkt hatten, gegen die eigene Bürde anzukämpfen, die ihm unüberwindbar vorgekommen war. Hester hatte eine spitze Zunge – das war zumindest sein erster Eindruck gewesen -, sie war stur, temperamentvoll, schnell mit Vorurteilen zur Hand und verbrannte sich oft den Mund, doch selbst Monk, der sie zunächst als penetrant empfunden hatte, hatte schon damals nie an ihrem Mut oder ihrem eisernen Willen gezweifelt.
Natürlich hatte er seitdem auch ihre Leidenschaft erlebt, ihre Fröhlichkeit und ihre Verletzlichkeit. Schrieb er nun Mary Havilland etwas zu, was sie nie gehabt hatte? Was immer es Mrs. Argyll kosten mochte, er musste es wissen.
»Ich habe gehört, dass Ihr Vater erst kürzlich den Tod gefunden hat«, sagte er ernst. »Es soll Miss Havilland sehr schwergefallen sein, darüber hinwegzukommen.«
Sie sah erschöpft zu ihm auf. »Sie hat es einfach nicht geschafft. Sie konnte sich nicht damit abfinden, dass er sich das Leben genommen hat. Dazu war sie nicht bereit, obwohl alles gegen ihre These sprach. Ich fürchte, sie war richtig … besessen davon.« Sie blinzelte. »Mary hatte einen sehr … starken Willen, um es gelinde auszudrücken. Sie fühlte sich Vater sehr nahe und konnte nicht glauben, dass bei ihm etwas nicht stimmen könnte und er sich ihr nicht anvertrauen würde. Ich fürchte, sie … waren einander vielleicht nicht so nahe, wie sie sich das vorstellte.«
»Wäre es möglich, dass der Bruch ihres Verlöbnisses mit Mr. Argyll sie zu sehr bekümmerte?«, erkundigte sich Monk in dem Versuch, wenigstens einen gewissen Sinn dahinter zu entdecken, dass eine gesunde junge Frau eine solche Verzweiflungstat beging. Und hatte sie von vornherein beabsichtigt, Mr. Argyll mit in den Tod zu reißen, oder hatte er versucht, sie zu retten, selbst wenn es ihn das Leben kostete? Hatte er sie noch so sehr geliebt? Oder steckten Schuldgefühle dahinter, weil er sie verlassen hatte, möglicherweise wegen einer anderen? Sie mussten unbedingt mit dem Leichenbeschauer sprechen, um Sicherheit darüber zu gewinnen, ob sie ein Kind in sich trug. Damit ließe sich womöglich vieles erklären. So entsetzlich dieser Gedanke war, vielleicht hatte sie Selbstmord wirklich für die einzige Lösung gehalten und beschlossen, den Mann mit in den Tod zu reißen, der sie nicht heiraten wollte. Er wäre ja gewissermaßen die Ursache ihrer Sünde gewesen. Allerdings ergab diese Theorie nur einen Sinn, wenn sie tatsächlich schwanger gewesen war und das auch gewusst hatte.
»Nein«, sagte Mrs. Argyll mit flacher Stimme, »sie war diejenige, die die Verlobung gelöst hat. Wenn jemand verzweifelt war, dann Toby. Sie … wurde immer merkwürdiger, Mr. Monk. Sie schien sich gegen uns alle zu stellen. Sie versteifte sich auf die Idee, dass in den Abwasserkanälen, die die Gesellschaft meines Mannes baut, eine schreckliche Tragödie geschehen würde.« Ihr Gesicht nahm einen müden Ausdruck an, als stellte sie sich zum wiederholten Mal einem alten Schmerz, gegen den sie schon oft vergeblich angekämpft hatte. »Mein Vater hatte eine krankhafte Angst vor geschlossenen Räumen. Und er war ziemlich konservativ. Er fürchtete die neuen Maschinen, die die Arbeit so enorm beschleunigen. Ihnen ist bewusst, wie dringend die Stadt eine neue Kanalisation benötigt, nehme ich an?«
»Ja, Mrs. Argyll. Ich denke, das ist uns allen klar«, antwortete Monk. Mit einem Schlag zeichnete sich ein neues Bild ab, das ihm ganz und gar nicht gefiel, und doch durfte er es nicht von sich schieben. Es waren schließlich nur seine persönlichen Empfindungen, die ihn dazu trieben, dagegen anzukämpfen. Doch wenn in seinem Bewusstsein eine Verknüpfung zwischen Mary Havilland und Hester stattgefunden hatte, dann beruhte sie auf einem völlig irrationalen Gefühl. Nicht klare Gedanken hatten ihn dazu bewogen, sondern die Worte einer Hauswirtin, die Mary kaum gekannt hatte, und sein Mitgefühl wegen des Selbstmords eines Vaters.
»Mein Vater hat zugelassen, dass es für ihn zu einer Obsession wurde«, fuhr Mrs. Argyll fort. »Er verbrachte seine ganze Zeit damit, Informationen zu sammeln und einen Feldzug zu führen, um die Gesellschaft so weit zu bringen, dass sie ihre Methoden änderte. Mein Mann tat alles, um ihm die Augen zu öffnen, damit er wieder Vernunft annahm und einsah, dass bei Bauarbeiten Todesfälle hin und wieder einfach unvermeidbar sind. Männer können leichtsinnig werden. Erdrutsche kommen immer wieder vor. Der Londoner Lehm ist von Natur aus gefährlich. Dabei hat die Argyll Company weniger Unfälle als die meisten anderen zu beklagen. Das ist eine Tatsache, die sich mühelos überprüfen lässt. Und das hat er auch getan. Er konnte nirgendwo größere Unglücksfälle nachweisen, aber das beruhigte ihn in keiner Weise.«
»Gegen irrationale Ängste kann die Vernunft nichts ausrichten«, sagte Argyll leise mit vor Schmerz rauer Stimme. Seine Emotionen reichten nicht an die seiner Frau heran, aber vielleicht befürchtete er, sie beide würden sonst den letzten Rest an Selbstbeherrschung verlieren. »Quäl dich nicht länger«, mahnte er sie. »Es gibt nichts, was wir hätten tun können, weder damals noch heute. Seine Angstvorstellungen haben ihn am Ende zerfressen. Wer weiß schon, was ein anderer Mensch in den dunklen Stunden der Nacht sieht?«
»Es war Nacht, als er sich das Leben nahm?«, fragte Monk.
Diesmal gab Argyll die Antwort. Seine Stimme war kalt. »Ja, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese Angelegenheit nicht weiterverfolgen würden. Sie wurde damals gründlich untersucht. Niemanden traf auch nur die geringste Schuld. Wie hätte auch nur ein Mensch wissen können, dass sein Wahnsinn schon so weit fortgeschritten war? Jetzt müssen wir annehmen, dass die arme Mary labiler war, als wir dachten, und der Tod ihres Vaters ihr in einem Maße zugesetzt hatte, dass sie ihr christliches Urteilsvermögen verlor.«
Jenny fuhr aufgebracht zu ihm herum. »Christlich?«, fauchte sie. »Wenn jemand so tief in seiner Verzweiflung versinkt, dass er im Tod die einzige Antwort sieht, können wir da nicht ein bisschen … Mitleid aufbringen?«
»Verzeih mir!«, sagte Argyll hastig, ohne seine Frau anzusehen. »Ich wollte deinem Vater nicht Blasphemie unterstellen. Wir werden nie wissen, welche Dämonen ihn zu einem solchen Schritt getrieben haben. Selbst Mary könnte ich vergeben, wenn sie nicht Toby mit in den Tod gerissen hätte. Das … das ist …« Er brachte den Satz nicht zu Ende. Tränen strömten ihm über die Wangen. Er verbarg sein Gesicht hinter der Hand und wandte sich ab.
Jenny erhob sich steif und mit unsicheren Beinen. »Danke für Ihr Kommen, Mr. Monk. Ich glaube, wir können Ihnen nur wenig Nützliches sagen. Wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen würden. Pendle wird Sie zur Tür bringen.« Sie drehte sich zum Glockenzug um und betätigte ihn. Fast unmittelbar darauf erschien der Butler in der Tür. Bevor sie das Haus verließen, gaben ihm Monk und Orme ihre Karte und baten ihn, Mr. Argyll auszurichten, dass er sich am nächsten Tag, wenn er sich etwas erholt hatte, zur formellen Identifizierung der Toten einfinden sollte.
»Armer Teufel«, murmelte Orme aus tiefstem Herzen, als sie wieder den vereisten Fußweg erreicht hatten. Der Nebel hüllte die Straßenlampen ein wie Gaze. Hoch über den Hausdächern glitt ein schwacher Sichelmond zwischen den Sternen über den Himmel. »Alle beide haben in einer Nacht enge Angehörige verloren. Schon merkwürdig, wie ein einziger Augenblick alles verändern kann. Glauben Sie, dass sie es vorhatte?«
»Zu springen oder ihn mit in die Tiefe zu reißen?«, fragte Monk und lenkte seine Schritte in Richtung Westminster Bridge, wo sie am ehesten einen Hansom finden würden. Er hoffte immer noch, dass es ein Unfall gewesen war.
»Ich bin mir nicht sicher«, brummte Orme. »Kam mir nicht so vor, als ob sie versucht hätte zu springen. Allein schon deshalb, weil sie verkehrt herum stand. Wer runterspringt, schaut normalerweise ins Wasser.«
Monk spürte plötzlich Wärme in sich, obwohl der Matsch unter seinen Füßen zusehends zu Eis gefror. Nein, er wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Noch nicht.
 
 
Monk kam kurz vor neun Uhr zu Hause an. Das war später als üblich, andererseits war seine neue Stellung ohnehin kaum dazu geeignet, seine Tage zur Routine geraten zu lassen. Selbst wenn er sein Bestes gab, war das vielleicht zu wenig; sein Zweitbestes genügte in keinem Fall. Jeden Tag lernte er mehr über Durbans Fähigkeiten, sein Wissen und den Respekt, den er sich erworben hatte. Er bewunderte seine Leistungen ebenso, wie sie ihn erschreckten. Ständig hatte er das Gefühl, einen Schritt zu kurz zu treten. Nein, das war eine absurde Untertreibung: Er hinkte meilenweit hinterher!
Mit Menschen und Verbrechen kannte er sich aus. Er vermochte Angst zu riechen, Lügen zu erspüren und zu beurteilen, wann Härte und wann List angebracht war. Was er nicht kannte, waren die Verhaltensweisen, Verstecke und Tricks, die es nur am Fluss gab und nirgendwo sonst; außerdem hatte er es nie verstanden, die Männer, die unter seinem Kommando standen, zu begeistern und ihre Liebe und Treue zu gewinnen. Runcorn konnte das bestätigen! Sie bewunderten Monk für seine Intelligenz, sein Wissen, seine Kraft und fürchteten seine Zunge, aber sie mochten ihn nicht. Und an seiner neuen Stelle wurde ihm nichts von dem bedingungslosen Vertrauen und der Freundschaft entgegengebracht, die er von Anfang an zwischen Durban und seinen Männern gespürt hatte.
Er hatte den Fluss mit einer Fähre überquert – so weit unten gab es keine Brücken mehr. Er lebte jetzt am Südufer; nachdem er die neue Stelle bekommen hatte, war er mit Hester dorthin gezogen. Seine alte Adresse in der Grafton Street wäre zu weit von der Wache in Wapping entfernt gewesen.
Er ging im matten Schein der Straßenlaternen die Paradise Street hinunter. Die Gerüche des Flusses drangen an seine Nase, und vereinzelt dröhnte aus den über das Wasser wehenden Dunstschwaden ein Nebelhorn zu ihm herüber. In der Straße hatte sich auf den flachen Pfützen Eis gebildet. Diese Umgebung war ihm immer noch fremd, nichts war ihm vertraut.
Er steckte den Schlüssel ins Schloss und stieß die Tür auf. »Hester!«
Sie erschien sofort im Flur. Sie hatte sich eine Schürze um die Hüften gebunden und trug das Haar in einem hastig zusammengesteckten, unordentlichen Knoten. In der Hand hielt sie einen Besen, den sie abrupt fallen ließ, als sie Monk erblickte. Sie stürzte ihm entgegen. Schon setzte sie zu einer Bemerkung an, vielleicht zu einer Beschwerde über seine Verspätung, doch dann überlegte sie es sich anders und betrachtete nur sein Gesicht, versuchte zu erkennen, welche Emotionen es zeigte. »Was ist geschehen?«, fragte sie.
Monk wusste, wovor sie Angst hatte. Sie hatte verstanden, aus welchen moralischen und finanziellen Gründen er Durbans Stelle hatte annehmen müssen. Da Callandra nach Wien gezogen war, konnten sie sich nicht länger die Freiheit und auch die Unsicherheit leisten, nur von privaten Aufträgen zu leben. Bisweilen waren die Honorare außerordentlich, allzu häufig aber kärglich. Manche Fälle konnten einfach nicht geklärt werden, oder wenn doch, hatte der Klient oft nur die Mittel für eine äußerst bescheidene Entlohnung. Sie konnten nie vorausplanen, und es gab niemanden mehr, an den sie sich in einem schlechten Monat wenden konnten. Freilich hätten sie in ihrem Alter eigentlich nicht mehr auf Zuwendungen angewiesen sein sollen. Es war Zeit, für sich selbst zu sorgen, anstatt versorgt zu werden.
Natürlich hätte Hester ihre frühere Arbeit wieder aufnehmen können, und wenn es nicht anders gegangen wäre, hätte sie das auch getan. Aber man konnte Kranke nur pflegen, wenn man ständig für sie da war, und dass sie woanders lebte, wollten weder er noch sie. Nach den entsetzlichen Erlebnissen im letzten Jahr brauchte er sie für seinen Seelenfrieden daheim.
»Was ist? Stimmt was nicht?«, setzte sie nach, als er ihr keine Antwort gab.
»Ein Selbstmord an der Waterloo Bridge«, antwortete er. »Gewissermaßen waren es sogar zwei. Ein junger Mann und eine Frau sind zusammen hinuntergestürzt, nur wissen wir nicht, ob es teilweise ein Unfall war oder nicht.«