Ein Mann aus bestem Hause - Anne Perry - E-Book

Ein Mann aus bestem Hause E-Book

Anne Perry

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  • Herausgeber: Heyne
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Die Leiche eines jungen Mannes wird gefunden, Inspektor Pitt steht vor einem Rätsel. Der Hauslehrer wird verhaftet. Pitt und seine Frau Charlotte sind von seiner Unschuld überzeugt. Doch es bleibt ihnen nicht mehr viel Zeit, den wahren Mörder zu finden.

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Das Buch

Die Leiche eines jungen Mannes wird gefunden, Inspektor Pitt steht vor einem Rätsel. Der Hauslehrer wird verhaftet. Pitt und seine Frau Charlotte sind von seiner Unschuld überzeugt. Doch es bleibt ihnen nicht mehr viel Zeit, den wahren Mörder zu finden.

Die Autorin

Anne Perry, 1938 in London geboren und in Neuseeland aufgewachsen, lebt und schreibt in Schottland. Ihre historischen Kriminalromane zeichnen ein lebendiges Bild des spätviktorianischen London. Weltweit haben sich die Bücher von Anne Perry bereits über zehn Millionen Mal verkauft.

Inhaltsverzeichnis

Über die Autorin1234567891011Copyright

Den Mitgliedern der John Howard Society gewidmet, die den Glauben ihres Gründers an das Recht jedes Menschen auf seine Würde in die Tat umsetzen.

A. P.

1

Inspektor Pitt überkam ein leichtes Frösteln. Unbehaglich starrte er auf Sergeant Froggatt, der gerade den Schachtdekkel hochhob und die darunter liegende Öffnung freilegte. Eisenringe führten in einen klaffenden Hohlraum im Stein hinab, in dem in der Ferne rauschendes und tropfendes Wasser widerhallte. Bildete er sich ein, mit Krallen versehene Füßchen davonhuschen zu hören?

Ein Hauch feuchter Luft stieg nach oben; umgehend schmeckte er den bitteren Geruch, der dort unten herrschte. Er erspürte das Labyrinth aus Tunnels und Stufen, die unzähligen Schichten, und noch mehr Tunnels aus schleimigen Ziegeln, die sich unter ganz London erstreckten und den Abfall und alles Unerwünschte, alles Verschwundene davontrugen.

Dort unten, Sir«, meinte Froggatt trübselig. »Da haben sie ihn gefunden. Merkwürdig, würde ich sagen – überaus merkwürdig. «

»Außerordentlich merkwürdig«, pflichtete ihm Pitt bei und zog sich seinen Schal enger um den Hals. Es war zwar erst Anfang September, aber doch schon empfindlich kühl. Die Straßen von Bluegate Fields waren feucht, rochen nach Armut, stanken nach menschlichem Elend. Früher war dies ein wohlhabendes Viertel mit hohen, eleganten Gebäuden gewesen, in denen Kaufleute zu Hause waren. Jetzt war es der gefährlichste Hafenslum in ganz England, und Pitt war gerade dabei, in dessen Kloaken hinuntersteigen, um eine Leiche zu untersuchen, die an den die Themsenfluten abhaltenden Schleusentoren angespült worden war.

»Ganz Ihrer Meinung!« Froggatt trat einen Schritt zur Seite, fest entschlossen, nicht als erster in das klaffende Loch mit seinen nassen, düsteren Kavernen hineinzusteigen.

Resigniert kletterte Pitt rücklings über den Rand, suchte sich Halt an den Ringen und begann seinen sorgsamen Abstieg. Als das Halbdunkel über ihm zusammenschlug, wurde das dahinströmende Wasser unten lauter. Er konnte es riechen, das abgestandene, eingeschlossene, verbrauchte Wasser. Auch Froggatt kletterte hinunter; seine Füße waren einen oder zwei Ringe von Pitts Händen entfernt.

Auf dem nassen Boden angekommen, zog Pitt seinen Mantel höher über seine Schultern und drehte sich zu dem Kanalreiniger um, der den Fund gemeldet hatte. Da stand er, ein Teil der Dunkelheit – die gleichen Farben, die gleichen feuchten verschwommenen Umrisse. Er war ein kleiner Mann mit spitzer Nase; seine Hose, die aus etlichen anderen zusammengeflickt war, wurde durch ein Seil zusammengehalten. Er trug eine lange Stange mit einem Haken am Ende; um seine Hüfte hing ein großer, sackartiger Beutel. Er war an die Dunkelheit, die unaufhörlich tropfenden Wände gewöhnt, an den Geruch und das entfernte Huschen der Ratten. Vielleicht hatte er bereits so viele Spuren des Tragischen, des Primitiven und Obszönen im menschlichen Leben gesehen, daß ihn nichts mehr schockierte. Jetzt lag in seinem Gesicht nur die natürliche Wachsamkeit, die er gegenüber einem Polizisten einnahm, und ein gewisses Empfinden der eigenen Wichtigkeit, denn die Abwasserkanäle waren sein Reich.

»Sie sind also wegen der Leiche hier?« Er reckte seinen Hals in die Höhe, um Pitts Körpergröße zu bestaunen. »Is’ wirklich ’ne komische Sache. Er kann nich’ lange da gelegen haben, sonst hätten ihn sich die Ratten geschnappt. Er is’ überhaupt nich’ zerbissen. Nun, ich frage Sie: Wer würde so etwas nur tun wollen?« Offensichtlich war das eine rhetorische Frage, denn er wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern drehte sich um und hastete den großen Tunnel entlang. Wie seine Füße die nassen Steine entlangtrappelten, erinnerte er Pitt an ein geschäftiges kleines Nagetier. Froggatt lief hinter ihnen her; die Melone war tief in seine Stirn gezogen, seine Galoschen gaben ein lautes Glucksen von sich.

Hinter einer Ecke stießen sie recht unvermittelt auf die großen, die steigende Flut abhaltenden Schleusentore.

»Da!« verkündete der Kanalreiniger, als ob ihm hier unten alles gehören würde, und zeigte auf den weißen Körper, der so sittsam, wie man es nur hatte bewerkstelligen können, auf der Seite lag. Splitternackt ruhte die Leiche auf den dunklen Steinen, die den Abwasserkanal säumten.

Pitt war bestürzt. Keiner hatte ihm gesagt, daß dem Leichnam der üblicherweise durch Kleidungsstücke gewahrte Anstand fehlte – oder daß der Tote so jung war. Die Haut war makellos; nur über den Wangen zeigte sich ein dünner Flaum. Es war ein magerer Körper mit schmächtigen Schultern. Pitt kniete sich hin; für einen Augenblick hatte er die schleimigen Ziegel vergessen.

»Die Laterne, Froggatt!« befahl er. »Bringen Sie sie schon her, Mensch! Halten Sie sie gefälligst ruhig!« Es war unfair, auf Froggatt ärgerlich zu sein, aber der Tod – und insbesondere ein sinnloser und beklagenswerter Todesfall wie dieser – berührte Pitt immer zutiefst.

Sanft drehte der Inspektor den Leichnam herum. Der Junge konnte nicht älter als fünfzehn oder sechzehn Jahre gewesen sein, seine Gesichtszüge waren noch ganz zart. Obwohl seine Haare naß und strähnig vor Dreck waren, mußten sie einmal blond und wellig gewesen sein und ein bißchen länger als bei den meisten. Wenn sein Gesicht die Zeit gehabt hätte zu reifen, hätte er mit zwanzig ein attraktiver Mann sein können. Jetzt war das Gesicht bleich und ein wenig vom Wasser angeschwollen, seine blassen Augen standen offen.

Der Dreck saß jedoch nur an der Oberfläche; darunter war der Mann gut gepflegt gewesen. Nichts war vorhanden vom tiefsitzenden Grau jener Menschen, die sich nicht waschen und deren Kleidung monatelang nicht gewechselt wird. Er war schlank, aber es war die Geschmeidigkeit der Jugend und nicht die Auszehrung durch Hunger.

Pitt griff nach einer der Hände und untersuchte sie. Ihre Weichheit war nicht nur auf die Schlaffheit des Todes zurückzuführen. Die Haut hatte keine Schwielen, keine Blasen, keine schmutzigen Runzeln wie die eines Flickschusters, eines Lumpensammlers oder eines vorüberziehenden Straßenkehrers. Seine Nägel waren sauber und sorgfältig geschnitten.

Mit Sicherheit war er nicht in der brodelnden und sich schindenden Armut von Bluegate Fields zu Hause. Aber warum hatte er keine Kleider am Leib?

Pitt schaute zum Kanalreiniger hoch.

»Ist die Strömung hier unten stark genug, um einem Menschen die Kleider vom Leib zu reißen, wenn dieser gegen das Ertrinken ankämpft?« fragte er.

»Das bezweifel ich.« Der Reiniger schüttelte den Kopf. »Vielleicht im Winter – bei viel Regen. Aber nich’ jetzt. Und auf keinen Fall die Stiefel – Stiefel nie. Er kann nich’ lange hier unten gelegen haben, sonst hätten sich die Ratten über ihn hergemacht. Hab’ mal gesehen, wie sie einen Straßenkehrer bis zu den Knochen abgenagt haben, so wahr ich hier stehe. Der Bursche ist ausgerutscht und ertrunken. Is’ schon’n paar Jahre her.«

»Wie lange liegt er jetzt schon hier?«

Der Mann dachte eine Weile darüber nach und ermöglichte es Pitt, die heiklen Seiten seines Gutachtens zu bedenken, bevor er sich festlegte.

»Stunden«, sagte er schließlich. »Hängt davon ab, an welcher Stelle er reingefallen ist. Doch nicht mehr als ein paar Stunden. Die Strömung würde keine Stiefel mitnehmen. Die Stiefel bleiben dran.«

Das hätte Pitt auch auffallen sollen.

»Haben Sie irgendwelche Kleidungsstücke gefunden?« fragte er, obwohl er sich nicht sicher war, ob er eine ehrliche Antwort erwarten konnte. Jeder Kanalreiniger hatte eine bestimmte Strecke des Kanals unter seiner Obhut, die eifersüchtig bewacht wurde. Es handelte sich weniger um einen Job als um ein Privileg. Die Belohnung bestand aus den Überbleibseln, die sich unter den Gittern ansammelten: Münzen, manchmal ein oder zwei goldene Sovereigns, gelegentlich ein Schmuckstück. Selbst Kleidungsstücke waren sehr gefragt. Es gab Frauen, die in Hinterhofschneidereien sechzehn oder achtzehn Stunden am Tag damit verbrachten, alte Kleidungsstücke aufzutrennen und neu zusammenzunähen.

Hoffnungsvoll schwang Froggatt die Laterne über dem Wasser hin und her, aber alles, was sie enthüllte, war die dunkle, ölige, ungebrochene Wasseroberfläche. Wenn in den Tiefen irgend etwas verborgen war, dann war es versunken, und man konnte es nicht mehr aufspüren.

»Nein«, antwortete der Kanalreiniger ungehalten. »Ich habe absolut nichts gefunden. Sonst hätte ich es auch gesagt. Und ich suche den Platz regelmäßig ab.«

»Es gibt keine Jungs, die für Sie arbeiten?« bedrängte ihn Pitt.

»Nein, das ist mein Revier. Sonst kommt hier keiner her – und ich habe nichts gefunden.«

Pitt starrte ihn an. Er war sich nicht sicher, ob er dem Mann Glauben schenken durfte. Wenn er etwas verbarg, wäre seine natürliche Angst vor der Polizei dann größer als seine Habgier? So gepflegt, wie dieser Leichnam aussah, war es gut möglich, daß er in Kleidungsstücken gesteckt hatte, mit denen sich ein guter Preis erzielen ließe.

»Ich schwöre es! Bei Gott!« protestierte der Kanalreiniger. Seine Selbstgerechtigkeit mischte sich mit beginnender Furcht.

»Nehmen Sie seinen Namen auf«, befahl Pitt Froggatt kurz angebunden. »Wenn wir herausfinden, daß Sie gelogen haben, dann werde ich Sie wegen Diebstahls und Behinderung der Polizei bei der Aufklärung eines Todesfalles belangen lassen. Haben wir uns verstanden?«

»Name?« wiederholte Froggatt mit wachsender Schärfe.

»Ebenezer Chubb.«

»Schreibt man das mit zwei B?« Froggatt fischte nach seinem Stift und schrieb es sorgsam auf, wobei er die Laterne auf dem Sims im Gleichgewicht hielt.

»Ja, genau. Aber ich schwöre...«

»Schon gut!« Pitt war zufrieden. »Helfen Sie uns jetzt lieber, dieses arme Geschöpf hochzubekommen und draußen zum Leichenwagen zu bringen. Ich vermute, er ist ertrunken – so sieht er jedenfalls aus. Ich sehe keine Anzeichen für irgend etwas anderes, nicht einmal einen blauen Fleck. Doch wir sollten sichergehen.«

»Ich frage mich, um wen es sich da handelt«, meinte Froggatt leidenschaftslos. Bluegate Fields war sein Revier und er war an den Tod gewöhnt. Jede Woche stieß er auf verhungerte Kinder, die man in Gassen oder Eingängen auf einen Haufen gelegt hatte. Oder er fand alte Menschen, die an einer Krankheit, vor Kälte oder an einer Alkoholvergiftung gestorben waren. »Ich vermute, wir werden es nie in Erfahrung bringen.« Er verzog sein Gesicht. »Doch verflucht will ich sein, wenn ich nicht herausfinden kann, wie er hier nackt wie ein Baby heruntergekommen ist!« Er warf dem Kanalreiniger einen verdrossenen Blick zu. »Ich habe jetzt deinen Namen, mein Junge – und ich werde wissen, wo ich dich aufspüren kann, wenn ich den Wunsch danach verspüren sollte!«

Als Pitt an jenem Abend in sein warmes Haus mit seinen hübschen Blumenkästen und den gescheuerten Stufen zurückkehrte, verlor er kein Wort über die ganze Angelegenheit. 1881, vor fünf Jahren, war er seiner Frau Charlotte begegnet, als er im äußerst komfortablen, angesehenen Haus ihrer Eltern vorsprach, um Nachforschungen zu den Morden in der Cater Street anzustellen. Damals hatte er sich in sie verliebt und nie geglaubt, daß eine Dame aus solchem Hause in ihm mehr sehen würde als eine schmerzliche Begleiterscheinung einer Tragödie, die man mit soviel Würde wie nur möglich zu ertragen hatte.

So unglaublich es war, auch sie hatte gelernt, ihn zu lieben. Und obwohl ihre Eltern die Verbindung kaum als glücklich ansahen, konnten sie einer Hochzeit nicht ihre Zustimmung versagen, die von einer so eigensinnigen und schrecklich direkten Tochter wie Charlotte gewünscht wurde. Die Alternative zur Hochzeit bestand für sie darin, in vornehmer Untätigkeit zu Hause bei ihrer Mutter zu bleiben oder sich mit wohltätigen Werken zu beschäftigen.

Seit jener Zeit hatte sie an etlichen seiner Fälle Interesse gezeigt  – und sich damit oftmals selbst in beträchtliche Gefahr gebracht. Selbst als sie Jemima erwartete, hatte sie das nicht davon abgeschreckt, sich ihrer Schwester Emily anzuschließen und sich in die Callander Square-Affäre einzumischen. Jetzt war ihr zweites Kind Daniel erst ein paar Monate alt, und selbst mit der ganztätigen Unterstützung des Hausmädchens Gracie gab es vieles, das sie in Anspruch nahm. Es hatte keinen Zweck, Charlotte mit der Geschichte des toten Jugendlichen zu belasten, der in der Kanalisation von Bluegate Fields gefunden worden war.

Als er hereinkam, stand sie gerade in der Küche und beugte sich mit dem Bügeleisen in der Hand über den Tisch. Wie ansehnlich sie war, dachte er – die Kraft in ihrem Gesicht, die hohen Wangenknochen, die Fülle ihrer Haare.

Sie lächelte ihn an, und in ihrem Blick war der Trost der Freundschaft. Er spürte ihre Wärme, als ob sie auf irgendeine geheime Weise zwar nicht wußte, was er dachte, aber wußte, was er innerlich fühlte, und das war so, als ob sie alles verstünde, was er sagte, ganz gleich, wie flüssig seine Worte waren, wie leicht oder schwer sie ihm über die Lippen kamen. Es war ein Gefühl des Heimkommens.

Er vergaß den Jungen und die Schleusentore, den Gestank des Wassers. Statt dessen umspülte ihn die friedliche, sichere Atmosphäre und vertrieb die Kälte. Er gab Charlotte einen Kuß, dann schaute er sich um und betrachtete all die vertrauten Gegenstände: den gescheuerten Tisch voller weißer Kleidungsstücke, die Vase mit den späten Gänseblümchen, Jemimas Laufställchen in der Ecke, das saubere Leinentuch, das darauf wartete, gestopft zu werden, ein kleiner Haufen bunter Holzklötze, die er angemalt hatte – mit ihnen spielte Jemima am liebsten.

Charlotte und er würden essen und dann am alten Herd sitzen und über alles mögliche reden; von Erinnerungen an vergangene Freuden oder Schmerzen, über neue Ideen, die darum kämpften, in Worte gefaßt zu werden, über die kleinen Vorkommnisse des Tages.

Doch gegen Mittag des folgenden Tages wurde er mit aller Schärfe dazu gezwungen, sich wieder mit der Leiche von Bluegate Fields zu befassen. Er saß in seinem unordentlichen Büro und schaute in dem Versuch, seine eigenen Notizen zu entziffern, auf die auf seinem Schreibtisch liegenden Papiere, als ein Polizist an die Tür pochte und eintrat, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Der Gerichtsmediziner möchte Sie sehen, Sir. Er sagt, es sei wichtig.« Er öffnete die Tür ein wenig weiter und führte einen gepflegten, kräftigen Mann mit einem hübschen, grauen Bart und einem erstaunlichen Kopf mit grauen Lokken herein.

»Cutler«, stellte dieser sich selber vor. »Sie sind Pitt? Ich habe mir Ihre Leiche aus der Kanalisation von Bluegate Fields angesehen. Eine traurige Sache.«

Pitt legte seine Notizen hin und starrte ihn an.

»In der Tat.« Er zwang sich dazu, höflich zu sein. »Äußerst bedauerlich. Ich nehme an, er ist ertrunken? Ich habe keine Spuren irgendeiner Gewaltanwendung gesehen. Oder ist er eines natürlichen Todes gestorben?« Er glaubte nicht, daß das so war. Wieso trug er dann keine Kleidung? Was hatte er da unten überhaupt getan? »Ich vermute, Sie haben keine Ahnung, wer er war? Keiner hat Anspruch auf ihn geltend gemacht?«

Cutler schnitt eine Grimasse. »Wohl kaum. Wir stellen sie nicht öffentlich aus.«

»Aber er ist doch ertrunken?« beharrte Pitt. »Er wurde nicht erwürgt oder vergiftet oder erstickt?«

»Nein, nein.« « Cutler zog einen Stuhl zu sich herüber und setzte sich, ganz so, als wolle er sich auf einen langen Aufenthalt einrichten. »Er ist ertrunken.«

»Danke.« Pitt wollte ihn damit entlassen. Er war sich sicher, daß es nichts weiter zu sagen gab. Vielleicht würden sie herausfinden, wer er war, vielleicht auch nicht. Es hing davon ab, ob seine Eltern oder sein Vormund ihn als vermißt meldeten oder irgendwelche Nachforschungen anstellten, bevor es zu spät war, die Leiche zu identifizieren. »Gut, daß Sie so schnell gekommen sind«, fügte er nachträglich hinzu.

Cutler rührte sich nicht vom Fleck. »Wissen Sie, er ist nicht im Abwasserkanal ertrunken«, verkündete er.

»Wie bitte?« Pitt richtete sich auf; ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinab.

»Er ist nicht im Abwasserkanal ertrunken«, wiederholte Cutler. »Das Wasser in seinen Lungen ist so sauber wie in meiner Badewanne! Es hätte tatsächlich aus meiner Badewanne stammen können – sogar ein wenig Seife war darin!«

»Was in aller Welt meinen Sie damit?«

Ein gequälter, trauriger Ausdruck lag auf Cutlers Gesicht.

»Nur was ich sage, Inspektor. Der Junge ist im Badewasser ertrunken. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie er in die Kanalisation gelangte. Glücklicherweise ist es auch nicht meine Aufgabe, das herauszufinden. Doch ich würde wirklich ziemlich überrascht sein, wenn er in seinem Leben je in Bluegate Fields gewesen sein sollte.«

Langsam nahm Pitt die Informationen in sich auf. Badewasser! Keiner aus den Slums. Aufgrund des sauberen, gepflegten Zustands seines Körpers hatte er es schon geahnt – es hätte ihn nicht überraschen sollen.

»Ein Unfall?« Es war nur eine formale Frage. Es gab keine Spuren von Gewaltanwendung, keine Druckstellen am Hals, keine blauen Flecken an Schultern oder Armen.

»Ich glaube nicht«, antwortete Cutler ernst.

Pitt schüttelte den Kopf. »Allein der Ort, an dem man ihn gefunden hat, beweist nicht, daß es ein Mord war; es beweist nur, daß man sich der Leiche entledigte – was natürlich ein Verbrechen ist, aber ein nicht ganz so schweres.«

»Druckstellen.« « Cutler schob seine Augenbrauen ein Stück weit in die Höhe.

Pitt runzelte die Stirn. »Ich habe keine gesehen.«

»An den Fersen. Ziemlich schlimme. Wenn man über einen Mann herfällt, der gerade badet, dann wäre es auch viel leichter, ihn zu ertränken, indem man seine Fersen zu fassen bekommt, sie nach oben zieht und auf diese Weise seinen Kopf gewaltsam unter Wasser hält. Zu versuchen, seine Schultern unter Wasser zu drücken, wäre ungleich schwerer; seine Arme blieben frei, und mit ihnen könnte er gegen den Mörder kämpfen.«

Pitt stellte sich die Szene vor. Cutler hatte recht. Es würde eine leichte, rasche Bewegung sein. Einige Augenblicke, und alles wäre vorbei.

»Sie meinen, er wurde ermordet?« fragte er langsam.

»Er war ein kräftiger, junger Mann, offensichtlich bei hervorragender Gesundheit.« Cutler zögerte, und ein Anflug von Kummer huschte über sein Gesicht. »Außer in einem Punkt, auf den ich noch zu sprechen komme. Bis auf jene Spuren an seinen Fersen gab es keinerlei Anzeichen für Verletzungen, und er wurde sicherlich nicht durch einen Sturz so erschüttert. Warum sollte er ertrinken?«

»Sie sagten, bis auf eine Sache. Was war das? Könnte er ohnmächtig geworden sein?«

»Nein. Er hatte Syphilis im Frühstadium – ein paar krankhafte Veränderungen, mehr nicht.«

Pitt starrte ihn an. »Syphilis? Aber Sie sagten doch, er kam aus guten Verhältnissen – und war nicht älter als fünfzehn oder sechzehn!« protestierte er.

»Ich weiß. Aber das ist noch nicht alles.«

»Was noch?«

Plötzlich sah Cutlers Gesicht alt und traurig aus. Er strich sich mit der Hand über den Kopf, als tue ihm etwas weh. »Ein Homosexueller hat sich seiner bedient«, antwortete er ruhig.

»Sind Sie sich da sicher?« Pitt kämpfte wider alle Vernunft gegen das Gesagte an.

Ärger blitzte in Cutlers Augen auf.

»Natürlich bin ich mir sicher! Meinen Sie, ich sage so etwas aufgrund von Spekulationen?«

»Entschuldigen Sie«, sagte Pitt. Es war dumm – ohnehin war der Junge jetzt tot. Vielleicht lag darin der Grund, warum Pitt von Cutlers Informationen so aufgewühlt wurde. »Wie lange ist das her?« fragte er.

»Nicht lange. Etwa acht oder zehn Stunden, bevor ich ihn sah.« «

»Irgendwann in der Nacht, bevor wir ihn fanden«, bemerkte Pitt. »Ich vermute, daß Sie keine Ahnung haben, wer er ist?«

»Obere Mittelklasse«, sagte Cutler, als würde er laut denken. »Wahrscheinlich private Erziehung – ein wenig Tinte auf einem seiner Finger. Gut genährt – ich glaube kaum, daß er auch nur einen Tag seines Lebens Hunger litt oder mit seinen Händen hart gearbeitet hat. Ausgefallene Sportarten, wahrscheinlich Kricket oder etwas in dieser Art. Die letzte Mahlzeit war teuer – Fasan und Wein und ein kleiner Sherry. Nein, aus Bluegate Fields kam er bestimmt nicht.«

»Verdammt!« sagte Pitt leise. »Irgend jemand muß ihn doch vermissen! Wir müssen herausfinden, wer er war, bevor wir ihn begraben können. Sie müssen tun, was Sie können, um ihn so herzurichten, daß man ihn sich ansehen kann.« Er hatte das alles bereits durchgemacht: Die Eltern, die mit weißen Gesichtern und zusammengekrampftem Bauch kamen, von Hoffnung und Furcht gebeutelt, um auf das leblose Gesicht zu starren; dann der Schweißausbruch, bevor sie den Mut fanden hinzuschauen, gefolgt von der Übelkeit, der Erleichterung oder der Verzweiflung – dem Ende der Hoffnung oder dem Zurückfallen in die Ungewißheit, dem Warten auf das nächste Mal.

»Danke«, sagte er steif zu Cutler. »Sobald wir irgend etwas wissen, werde ich es Ihnen sagen.«

Cutler stand auf und verabschiedete sich schweigend. Auch er war sich bewußt, was ihnen alles bevorstand.

Das wird eine ganze Weile dauern, dachte Pitt. Er brauchte dringend Überstützung. Wenn es ein Mordfall war – und er konnte die Wahrscheinlichkeit dafür nicht ignorieren –, dann mußte er ihn auch entsprechend behandeln. Er mußte zu Chief Superintendent Dudley Athelstan gehen und um Männer bitten, um die Identität dieses Jungen herauszufinden, solange er noch erkennbar war.

»Ich nehme an, das alles ist notwendig? Athelstan lehnte sich in seinem gepolsterten Sessel zurück und betrachtete Pitt mit unverhohlener Skepsis. Er konnte ihn nicht leiden. Der Mann stand sich besser als er selbst, und das nur, weil die Schwester seiner Frau irgend jemanden mit einem Titel geheiratet hatte. Er wirkte immer so, als habe er keinen Respekt vor gesellschaftlichen Positionen. Und diese ganze Sache von einer Leiche in der Kanalisation war äußerst unappetitlich  – es war nicht gerade etwas, über das Athelstan Bescheid zu wissen wünschte. Es lag beträchtlich unter der Würde, die er erlangt hatte – und weit unterhalb dessen, was er noch im Laufe der Zeit und mit umsichtigem Verhalten zu erreichen gedachte.

»Ja, Sir«, sagte Pitt scharf. »Wir können es uns nicht leisten, darüber hinwegzusehen. Vielleicht ist er einer Entführung, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einem Mord zum Opfer gefallen. Der Gerichtsmediziner sagt, er stamme aus guter Familie, sei wahrscheinlich gut gebildet, und seine letzte Mahlzeit habe aus Fasan und einem Biskuitdessert mit Sherry bestanden. Das ist wohl kaum das Abendessen eines Arbeiters!«

»Schon gut!« fuhr ihn Athelstan an. »Dann sollten Sie besser so viele Männer nehmen, wie Sie brauchen, und herausfinden, wer es ist! Und versuchen Sie um Gottes willen, taktvoll zu sein! Stoßen Sie bloß keinen vor den Kopf. Nehmen Sie Gillivray – er weiß zumindest, wie man sich bei Leuten von Rang benimmt.«

Leute von Rang! Ja, Pitt wußte, daß Athelstan sich für Gillivray entscheiden würde, um sicherzugehen, daß er die verletzten Gefühle der ›Leute von Rang‹ besänftigen konnte, wenn sie gezwungen waren, sich mit der unangenehmen Notwendigkeit auseinanderzusetzen, die Polizei zu empfangen.

Am Anfang stand die völlig alltägliche Aufgabe, bei jeder Polizeiwache der Stadt zu überprüfen, ob Berichte über Jugendliche vorlagen, die zu Hause oder in Bildungseinrichtungen vermißt wurden und auf die die Beschreibung des toten Jungen paßte. Das war ermüdend und bedrückend zugleich. Immer wieder stießen sie auf erschreckte Menschen, hörten Geschichten von einer Tragödie.

Harcourt Gillivray war nicht der Begleiter, für den sich Pitt entschieden hätte. Er war jung, hatte blondes Haar und ein weiches Gesicht, das leicht lächelte – zu leicht. Er war elegant gekleidet; seine Jacke war bis oben zugeknöpft, der Kragen steif – nicht bequem und ein wenig gekrümmt, genau wie der von Pitt. Und er schien immer fähig zu sein, seine Füße trokken zu halten, während sich Pitt mit seinen Stiefeln unaufhörlich in einer Pfütze wiederfand.

Es dauerte drei Tage, bis sie zu dem grauen, georgianischen Steinhaus von Sir Anstey und Lady Waybourne kamen. Gillivray hatte sich an Pitts Weigerung gewöhnt, den Dienstboteneingang zu benutzen. Seinem eigenen Empfinden für gesellschaftliche Positionen kam das sehr entgegen, und bereitwillig nahm er Pitts Argumentation auf, daß es bei so einer heiklen Mission taktlos sei, die ganze Gesindestube wissen zu lassen, warum sie gekommen waren.

Der Butler ließ sie eintreten und warf ihnen einen gequälten und resignierten Blick zu. Es war besser, die Polizei im Damenzimmer zu haben, wo man sie nicht sehen konnte, als auf der Treppe an der Vorderseite, auf der es die ganze Straße mitbekam.

»Sir Anstey wird Sie in einer halben Stunde empfangen, Mr.... äh, Mr. Pitt. Wenn Sie hier so lange warten wollen ... « Er drehte sich um und öffnete die Tür, um hinauszugehen.

»Es handelt sich um eine Angelegenheit von gewisser Dringlichkeit«, sagte Pitt mit einer Spur von Gereiztheit in der Stimme. Er sah, wie Gillivray zusammenzuckte. Butlern sollte man die gleiche Würde entgegenbringen wie den Hausherren, die sie repräsentierten, und die meisten Butler waren sich ihrer Stellung überaus bewußt. »Die Sache duldet keinen Aufschub«, fuhr Pitt fort. »Je eher und je diskreter wir uns damit beschäftigen können, desto weniger schmerzhaft wird es sein.«

Der Butler zögerte und wog ab, was Pitt gesagt hatte. Das Wort ›diskret‹ gab den Ausschlag.

»Ja, Sir. Ich werde Sir Anstey von Ihrer Anwesenheit unterrichten.«

Selbst jetzt vergingen volle zwanzig Minuten, bis Anstey Waybourne erschien und die Tür hinter sich schloß. Die Stirn fragend gerunzelt, offenbarte er eine gewisse Abneigung. Er hatte eine blasse Haut und volle, blonde Koteletten. Sobald Pitt ihn sah, wußte er, wer der tote Junge gewesen war.

»Sir Anstey.« Pitts Stimme wurde leiser, seine ganze Verärgerung über das herablassende Benehmen des Mannes verflog. »Ich glaube, Sie haben Ihren Sohn Arthur als vermißt gemeldet?«

Waybourne machte eine kleine, mißbilligende Geste.

»Meine Frau, Mr.... äh.« Mit einer Handbewegung wischte er die Notwendigkeit beiseite, sich den Namen eines Polizisten zu merken. Polizisten waren anonym, wie Bedienstete. »Ich bin sicher, daß es für Sie keinen Grund gibt, sich damit zu befassen. Arthur ist sechzehn. Ich bin davon überzeugt, daß er irgendeinen Streich im Sinn hat. Meine Frau ist übertrieben fürsorglich – Frauen neigen dazu, wissen Sie. Es liegt in ihrem Wesen. Sie wissen nicht, wie man einen Jungen erwachsen werden läßt, wollen ihn ewig als Baby halten.«

Pitt durchzuckte plötzliches Mitleid. Das selbstsichere Auftreten war so zerbrechlich. Er war gerade dabei, die Sicherheit dieses Mannes zu erschüttern, die Welt, in der er annahm, er werde von den schmutzigen Gegebenheiten, die Pitt repräsentierte, nicht berührt.

»Tut mir leid, Sir«, sagte er noch ruhiger. »Aber wir haben einen toten Jungen gefunden, von dem wir annehmen, daß es sich vielleicht um Ihren Sohn handelt.« Es hatte keinen Zweck, die Sache in die Länge zu ziehen, zu versuchen, sich ihr langsam anzunähern. Es wurde dadurch nicht angenehmer, sondern dauerte nur länger.

»Tot? Was in aller Welt meinen Sie?« Immer noch versuchte er, den Gedanken abzutun, ihn zurückzuweisen.

»Ertrunken, Sir«, wiederholte Pitt. Er war sich Gillivrays Mißbilligung bewußt. Gillivray hätte das lieber umgangen, hätte sich indirekt auf dieses Thema zubewegt. Das kam Pitt jedoch vor, als würde man jemanden ganz langsam zerquetschen. »Es handelt sich um einen blondhaarigen Jungen. Er ist etwa sechzehn Jahre alt, einen Meter fünfundsiebzig groß – von seiner äußeren Erscheinung her zu urteilen stammt er aus guten Verhältnissen. Unglücklicherweise hatte er nichts dabei, mit dem er sich hätte identifizieren lassen, daher wissen wir nicht, wer er ist. Es ist nötig, daß jemand kommt und sich die Leiche anschaut. Wenn Sie es nicht selbst tun wollen... Sollte es sich herausstellen, daß es nicht Ihr Sohn ist, dann könnten wir auch die Erklärung ... «

»Seien Sie nicht albern!« meinte Waybourne. »Ich bin mir sicher, daß es nicht Arthur ist. Doch ich werde kommen und es Ihnen selbst sagen. Bei so einer Sache schickt man kein Personal. Wo ist es?«

»Im Leichenschauhaus, Sir. Bishop’s Lane, Bluegate Fields. «

Waybourne fiel der Kiefer herunter – das war unvorstellbar!

»Bluegate Fields!«

»Ja, Sir. Leider ist das der Ort, an dem man ihn gefunden hat.«

»Dann kann es unmöglich mein Sohn sein.«

»Ich hoffe nicht, Sir. Aber wer immer er auch ist, er scheint ein Gentleman gewesen zu sein.«

Waybourne wölbte die Augenbrauen.

»In Bluegate Fields?« fragte er sarkastisch.

Pitt ließ sich auf keine weiteren Diskussionen ein. »Würden Sie es vorziehen, in einem Hansom zu kommen, Sir, oder in Ihrer eigenen Kutsche?«

»In meiner eigenen Kutsche, vielen Dank. An öffentlichen Transportmitteln ist mir nicht gelegen. Ich werde Sie dort in dreißig Minuten treffen.«

Da Waybourne offensichtlich nicht gewillt war, sich von ihnen begleiten zu lassen, verabschiedeten sich Pitt und Gillivray und suchten sich einen Hansom, der sie zum Leichenschauhaus brachte.

Die Fahrt dauerte nicht lange. Rasch lagen die vornehmen Plätze hinter ihnen, und sie kamen in die engen, schmutzigen Straßen am Hafen, die vom Gestank des Flusses eingehüllt waren; der treibende Nebel drang in ihre Kehlen. In Bishop’s Lane ging es anonym zu; graue Männer liefen hin und her und gingen ihren Geschäften nach.

Das Leichenschauhaus war gräßlich: Man gab sich weniger Mühe, es sauberzuhalten, als in einem Krankenhaus – es gab auch weniger Grund dazu. Außer einem kleinen Mann mit braunem Gesicht, dessen Augen einen leicht östlichen Einschlag hatten und der merkwürdig helle Haare besaß, gab es hier nichts Menschliches. Sein Verhalten war entsprechend gedämpft.

»Ja, Sir«, sagte er zu Gillivray, der voranging. »Ich kenne die Leiche, die Sie meinen. Der Gentleman, der sie sich ansehen soll, ist noch nicht eingetroffen.«

Außer auf Waybourne zu warten, gab es nichts anderes zu tun. Wie es sich herausstellte, dauerte es nicht dreißig Minuten, sondern fast eine ganze Stunde. Wenn Waybourne sich der verstrichenen Zeit bewußt war, dann gab er das mit keinem Zeichen zu erkennen. Immer noch hatte sein Gesicht einen verärgerten Ausdruck, ganz so, als ob man ihn zu einer unnötigen Aufgabe herbestellt hatte, nur deswegen, weil irgend jemand einen albernen Irrtum begangen hatte.

»Nun?« Energisch kam er herein und ignorierte den Leichenwärter und Gillivray. Mit gerunzelter Stirn schaute er Pitt ins Gesicht, rückte seinen Mantel zurecht. Der Raum war kalt. »Was wollen Sie mich ansehen lassen?«

Gillivray trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Er hatte die Leiche nicht gesehen, wußte auch nicht, wo sie gefunden worden war. Seltsamerweise hatte er auch nicht danach gefragt. Er betrachtete die ganze Aufgabe als etwas, zu dem er wegen seines souveränen Auftretens abkommandiert worden war, eine Aufgabe, die erfüllt und dann so schnell wie möglich vergessen wurde. Er bevorzugte es, Raubüberfälle aufzuklären, insbesondere, wenn Wohlhabende oder kleine Adlige beraubt wurden. Solche Fälle und der ruhige, unaufdringliche Umgang mit diesen Leuten waren eine recht angenehme Weise, in seiner Karriere voranzukommen.

Pitt wußte, was ihnen bevorstand – der unausweichliche Schmerz, das Ringen darum, das Entsetzen durch Erklärungen zu vertreiben, bis zum letzten, unausweichlichen Moment.

»Hier entlang, Sir. Ich warne Sie.« Plötzlich fühlte er sich auf einer Ebene mit Waybourne stehend, sah ihn als seinesgleichen an, betrachtete ihn vielleicht sogar mit etwas Herablassung. Er kannte den Tod; er hatte die Trauer gefühlt, die Wut. Doch er war zumindest in der Lage, durch reine Körperbeherrschung seinen Magen unter Kontrolle zu halten. »Ich fürchte, es ist keine erfreuliche Sache.«

»Machen Sie schon voran, Mann«, schnauzte Waybourne. »Ich habe nicht die Zeit, den ganzen Tag damit zu verbringen. Und ich gehe davon aus, daß Sie noch andere Leute konsultieren müssen, wenn ich Sie davon überzeugt habe, daß es sich nicht um meinen Sohn handelt.«

Pitt ging in den kahlen, weißen Raum voran, in dem die Leiche auf einem Tisch lag. Sanft entfernte er das Laken, das das Gesicht des Toten bedeckte. Es war sinnlos, den Rest des Körpers mit seinen großen, von der Autopsie herrührenden Wunden zu zeigen.

Er wußte, was kam; die Gesichtszüge waren sich zu ähnlich: das blonde, gewellte Haar, die lange, weiche Nase, die vollen Lippen.

Waybourne entfuhr ein leiser Laut. Alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen. Er schwankte ein wenig, als ob er auf einem Schiff stehen würde.

Gillivray war einen Augenblick lang viel zu erschrocken, um zu reagieren. Der Leichenwärter hatte all dies jedoch öfter gesehen, als er sich erinnern konnte. Das war das Schlimmste an seiner Arbeit. Er hielt einen Stuhl bereit, und als Waybournes Knie nachgaben, bugsierte er den Mann behutsam hinein, als ob alles eine einzige natürliche Bewegung sei – kein Kollaps, sondern ein Hinsetzen.

Pitt deckte das Gesicht wieder zu.

»Tut mir leid, Sir«, sagte er ruhig. »Sie identifizieren diesen Leichnam als den Körper Ihres Sohnes Arthur Waybourne?«

Waybourne versuchte zu sprechen, aber zunächst versagte ihm die Stimme. Der Angestellte reichte ihm ein Glas Wasser, er nahm einen Schluck.

»Ja«, sagte er schließlich. »Ja, das ist mein Sohn Arthur.« Er griff nach dem Glas und trank langsam noch etwas mehr. »Wären Sie so gut, mir zu erzählen, wo man ihn entdeckte und wie er gestorben ist?«

»Natürlich. Er ist ertrunken.«

»Ertrunken?« Offensichtlich war Waybourne verblüfft. Vielleicht hatte er noch nie zuvor das Gesicht eines Ertrunkenen gesehen und erkannte nicht das aufgedunsene Fleisch, weiß wie Marmor.

»Ja. Tut mir leid.«

»Ertrunken? Wie? Im Fluß?«

»Nein, Sir, in einer Badewanne.«

»Sie meinen, er... er ist gestürzt? Ist mit dem Kopf aufgeschlagen oder so etwas? Welch ein lächerlicher Unfall! So etwas passiert doch alten Männern!« Als ob das Geschehene durch seine Lächerlichkeit irgendwie unwahr werden könnte!

Pitt holte tief Luft und atmete langsam aus. Es war nicht möglich, den Tatsachen auszuweichen.

»Nein, Sir. Anscheinend ist er ermordet worden. Seine Leiche wurde nicht in einem Badezimmer gefunden – nicht einmal in einem Haus. Tut mir leid – sie wurde in der Kanalisation von Bluegate Fields gefunden, an den zur Themse führenden Schleusentoren. Hätte es nicht einen besonders gewissenhaften Kanalreiniger gegeben, hätten wir ihn vielleicht überhaupt nicht gefunden.«

»Oh, das wohl kaum!« protestierte Gillivray. »Natürlich wäre er gefunden worden!« Er wollte Pitt widersprechen, beweisen, daß er sich bei irgend etwas irrte, als ob man dadurch selbst jetzt noch auf irgendeine Weise alles widerlegen könnte. »Er hätte nicht verschwinden können. Das ist Unsinn. Selbst im Fluß ... «Er hielt inne, kam zu dem Entschluß, das Thema sei zu unangenehm, und ließ es fallen.

»Ratten«, sagte Pitt einfach. »Noch vierundzwanzig weitere Stunden in der Kloake, und er wäre nicht mehr zu erkennen gewesen. Eine Woche, und es wären nur noch die Knochen übriggeblieben. Es tut mir leid, Sir Anstey, aber Ihr Sohn ist ermordet worden.«

Waybourne nahm sichtbar Anstoß am Gesagten; die Augen funkelten in seinem weißen Gesicht.

»Das ist absurd!« Er hatte jetzt eine ganz hohe, fast schrille Stimme. »Wer in aller Welt hätte irgendeinen Grund, meinen Sohn zu ermorden? Er war sechzehn! In überhaupt allen Dingen noch ganz unschuldig. Wir führen ein vollkommen anständiges und ordentliches Leben.« Er schluckte krampfhaft und gewann einen Bruchteil seiner Selbstbeherrschung wieder. »Sie haben sich zuviel bei kriminellen Elementen und in den niederen Klassen aufgehalten, Inspektor«, sagte er. »Es gibt nicht einen einzigen Menschen, der Arthur irgend etwas Übles wollte. Es gab keinen Grund dafür.«

Pitt fühlte, wie sein Bauch härter wurde. Jetzt kam das Schmerzlichste von allem, jetzt kamen die Tatsachen, die Waybourne unerträglich finden würde, die alles übertrafen, was er akzeptieren konnte.

»Tut mir leid.« Pitt schien jeden Satz mit einer Entschuldigung zu beginnen. »Tut mir leid, Sir, aber Ihr Sohn litt am Frühstadium einer Geschlechtskrankheit – und man hat sich homosexuell an ihm vergangen.«

Waybourne starrte ihn an. Scharlachrot flutete das Blut in seine Haut zurück.

»Das ist widerlich!« schrie er, sprang von dem Stuhl hoch, als wolle er aufstehen, aber seine Beine gaben nach. »Wie können Sie es wagen, so etwas zu sagen! Ich werde dafür sorgen, daß Sie entlassen werden! Wer ist Ihr Vorgesetzter?«

»Es ist nicht meine Diagnose, Sir. Es ist das, was der Gerichtsmediziner sagt.«

»Dann ist er boshaft und inkompetent! Ich werde dafür Sorge tragen, daß er seine Tätigkeit nie mehr ausübt! Es ist ungeheuerlich! Offenbar ist Arthur, der arme Junge, entführt und von seinen Kidnappern ermordet worden. Wenn...« Er schluckte. »Wenn er mißbraucht worden ist, bevor er getötet wurde, dann müssen Sie seine Mörder auch deswegen belangen. Und dafür sorgen, daß sie gehängt werden! Doch was das andere betrifft...« Er machte mit der Hand eine scharfe, schneidende Bewegung in der Luft. »Das ist ... das ist einfach unmöglich. Ich verlange, daß unser Hausarzt die ... die Leiche untersucht und diese Verleumdung widerlegt.«

»Unbedingt«, pflichtete ihm Pitt bei. »Aber er wird die gleichen Tatbestände feststellen, und sie erlauben nur eine einzige Diagnose – die gleiche wie die des Polizeipathologen.«

Waybourne schluckte schwer und hielt verlegen den Atem an. Als er seine Stimme wiederfand, war sie angespannt und kratzig.

»Das wird er nicht! Ich bin nicht ohne Einfluß, Mr. Pitt! Ich werde dafür sorgen, daß dieses himmelschreiende Unrecht weder meinem Sohn noch meiner übrigen Familie angetan wird. Guten Tag!« Etwas unsicher stand er auf, dann drehte er sich um und verließ den Raum, ging die Stufen hoch und trat ins Tageslicht.

Pitt fuhr sich mit der Hand durch das Haar.

»Der arme Mann«, sagte er sanft. Er richtete die Worte eher an sich als an Gillivray. »Er wird es sich soviel schwerer machen.«

»Sind Sie sicher, daß er wirklich...?« fragte Gillivray besorgt.

»Stellen Sie sich doch nicht so dumm an!« Pitt ließ sich mit dem Kopf in den Händen auf den Stuhl sinken. »Natürlich, ich bin mir verdammt sicher!«

2

Eine angemessene Trauerzeit zu wahren, war nicht möglich. Die Menschen hatten ein kurzes Gedächtnis; Einzelheiten entschlüpften der Erinnerung. Pitt war gezwungen, am nächsten Morgen zur Familie Waybourne zurückzukehren und mit den Ermittlungen zu beginnen, die keine Rücksicht auf den Kummer nehmen oder auf die Wiedererlangung des seelischen Gleichgewichts warten konnten.

Das Haus war still. Alle Rolläden waren ein Stück weit heruntergelassen, an der Haustür hing ein schwarzer Trauerflor. Um das Geräusch der vorüberfahrenden Kutschenräder zu dämpfen, hatte man draußen auf der Straße Stroh verstreut. Gillivray war in der unauffälligsten Kleidung erschienen und blieb mit grimmigem Gesichtsausdruck zwei Schritte hinter Pitt. Auf irritierende Weise erinnerte er Pitt mit seiner professionellen Trauer an den Gehilfen eines Leichenbestatters.

Der Butler öffnete die Tür und geleitete sie ohne Umschweife hinein. Er gestattete ihnen nicht, auf der Schwelle stehenzubleiben. Die Eingangshalle lag im gedämpften Zwielicht der heruntergelassenen Rolläden. Im Damenzimmer hatte man Gaslampen angezündet, im Kamin brannte ein kleines Feuer. Auf dem niedrigen, runden Tisch in der Mitte des Zimmers standen weiße Blumen in formgerechter Anordnung: Chrysanthemen und üppige Lilien. Alles roch leicht nach Wachspolitur und verblichenen, süßen Blumen und ein ganz klein wenig abgestanden.

Anstey Waybourne betrat fast umgehend den Raum. Er sah blaß und müde aus; sein Gesicht verriet keine Regung. Er hatte bereits vorbereitet, was er zu sagen beabsichtigte, und gab sich nicht mit höflicher Konversation ab.

»Guten Morgen«, begann er steif. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Ich nehme an, daß Sie gewisse Fragen haben, die Sie notwendigerweise stellen müssen. Ich werde natürlich mein Bestes tun, um Ihnen das bißchen an Informationen zukommen zu lassen, über das ich verfüge. Ich habe selbstverständlich über die Sache nachgedacht.« Er faltete seine Hände und betrachtete die Lilien auf dem Tisch. »Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß mein Sohn mit ziemlicher Sicherheit von Fremden angegriffen wurde, vielleicht einzig und allein aus dem niederen Motiv heraus, ihn zu berauben. Ich gebe auch zu, daß es die entfernte Möglichkeit einer geplanten Entführung gibt, obwohl wir keinerlei Hinweise darauf erhalten haben, daß es tatsächlich so war – keine Forderung nach irgendeiner Art von Lösegeld.« Er warf Pitt einen Blick zu, dann schaute er wieder weg. »Natürlich mag es sein, daß sie keine Zeit hatten – irgendein dummer Zufall ereignete sich, und Arthur starb. Offenbar sind sie dann in Panik geraten.« Er holte tief Luft. »Und die Ergebnisse sind uns allen schmerzhaft bewußt.«

Pitt öffnete den Mund, aber Waybourne brachte ihn mit einem Wink seiner Hand zum Schweigen.

»Bitte, nein! Erlauben Sie mir fortzufahren. Es gibt sehr wenig, was wir Ihnen erzählen können, aber zweifellos möchten Sie über die letzten Tage Bescheid wissen, in denen mein Sohn lebte, obwohl ich nicht einsehen kann, welchen Nutzen es für Sie haben wird.

Das Frühstück verlief vollkommen normal. Wir waren alle anwesend. Arthur verbrachte den Morgen wie gewöhnlich mit seinem jüngeren Bruder Godfrey und studierte unter Anleitung von Mr. Jerome, den ich zu diesem Zweck angestellt habe. Zum Mittagessen gibt es recht wenig zu bemerken. Arthur war wie immer. Weder sein Benehmen noch seine Gespräche wichen auf irgendeine Weise vom Gewöhnlichen ab. Er erwähnte auch keine Personen, die uns unbekannt waren, oder irgendwelche Pläne für ungewöhnliche Aktivitäten.« Waybourne rührte sich die ganze Zeit, während er sprach, nicht vom Fleck, sondern stand an exakt derselben Stelle auf dem prächtigen Aubusson-Teppich.

»Am Nachmittag nahm Godfrey seine Studien mit Mr. Jerome wieder auf; Arthur las ein oder zwei Stunden lang ein wenig Latein – ich glaube, es waren seine Klassiker. Dann ging er mit dem Sohn eines Freundes der Familie nach draußen, einem Jungen von exzellenter Herkunft und uns wohlbekannt. Ich habe selbst mit ihm gesprochen, und auch er hat nichts Ungewöhnliches in Arthurs Verhalten bemerkt. Soweit Titus sich erinnern kann, haben sie sich etwa gegen fünf Uhr nachmittags getrennt. Arthur sagte allerdings nicht, wohin er ging, nur, daß er mit einem Freund zu Abend essen wolle.« Zu guter Letzt schaute Waybourne hoch und begegnete Pitts Blick. »Ich fürchte, das ist alles, was wir Ihnen mitteilen können.«

Pitt erkannte, daß gegen weitere Nachforschungen bereits eine Mauer errichtet worden war. Für Anstey Waybourne war entschieden, was geschehen war: ein zufälliger Angriff, der jedem hätte zustoßen können, ein tragisches, aber unauflösliches Geheimnis. Einer Lösung nachzuspüren, würde den Toten nicht wieder zum Leben erwecken und nur jenen Menschen zusätzlichen und unnötigen Kummer bereiten, die bereits den schmerzlichen Verlust erlitten hatten.

Pitt konnte Sympathie für diesen Mann empfinden. Waybourne hatte einen Sohn verloren, und zwar unter außergewöhnlich schmerzlichen Umständen. Doch ein Mord konnte nicht verheimlicht werden, ganz gleich, welche Qualen Waybourne litt.

»Ja, Sir«, sagte er ruhig. »Wenn ich darf, würde ich gerne den Lehrer, Mr. Jerome, und Ihren Sohn Godfrey sehen.«

Waybourne wölbte die Augenbrauen. »Wirklich? Wenn Sie es wünschen, können Sie natürlich Mr. Jerome sehen. Obwohl ich nicht einsehe, welchem Zweck das dienlich sein sollte. Ich habe Ihnen alles erzählt, was er weiß. Doch ich fürchte, es steht völlig außer Frage, daß Sie mit Godfrey sprechen. Er hat bereits seinen Bruder verloren. Ich werde ihn nicht einem Verhör aussetzen lassen – insbesondere, da es völlig unnötig ist.«

Es war nicht der rechte Zeitpunkt für lange Debatten. Für Pitt waren im Moment alle diese Menschen ohne Gesicht oder Charakter, ohne Verbindungen außer der offensichtlichen Blutsverwandtschaft; alle damit verbundenen Gefühle ließen sich noch nicht einmal erraten.

»Ich würde dennoch gerne mit Mr. Jerome sprechen«, wiederholte Pitt. »Vielleicht erinnert er sich ja an etwas, das von Nutzen sein könnte. Wir müssen jeder Möglichkeit nachgehen.«

»Ich kann nicht einsehen, welchen Sinn das haben soll.« Waybournes Nasenflügel bebten leicht, vielleicht vor Verärgerung, vielleicht wegen des abstumpfenden Lilienduftes. »Wenn Diebe über Arthur herfielen, dann wird Jerome kaum etwas Hilfreiches wissen.«

»Wahrscheinlich nicht, Sir.« Pitt zögerte, dann sprach er aus, was er zu sagen hatte. »Aber es gibt immer noch die Möglichkeit, daß sein Tod etwas mit seinem ... medizinischen Zustand zu tun hatte.« Welch eine abscheuliche Beschönigung. Und dennoch ertappte er sich dabei, wie er sie benutzte und sich dabei schmerzhaft Waybournes und des Schocks bewußt war, der das Haus erschütterte.

Waybournes Gesicht gefror. »Das ist noch nicht einwandfrei erwiesen, Sir! Mein eigener Hausarzt wird zweifellos herausfinden, daß Ihr Gerichtsmediziner sich fürchterlich geirrt hat. Ich bin mir sicher, daß er es gewöhnlich mit einer ganz anderen Klasse von Personen zu tun hat und das herausbekam, was er üblicherweise entdeckt. Sicherlich wird er seine Schlüsse revidieren, wenn er sich dessen bewußt ist, wer Arthur war.«

Pitt vermied ein Streitgespräch. Es war noch nicht nötig; wenn der Hausarzt Geschick und Mut besaß, würde es vielleicht nie notwendig werden. Es wäre für ihn besser, Waybourne die Wahrheit zu sagen, zu erklären, daß die Sache bis zu einem gewissen Ausmaß geheimgehalten werden konnte, sich aber nicht leugnen ließ.

Er wechselte das Thema. »Wie hieß noch dieser junge Freund ... Titus, Sir?«

Als ob der Schmerz nachließ, atmete Waybourne langsam aus.

»Titus Swynford«, antwortete er. »Sein Vater, Mortimer Swynford, ist einer unserer ältesten Bekannten. Eine herausragende Familie. Aber ich habe bereits alles in Erfahrung bringen lassen, was Titus weiß. Er kann dem nichts hinzufügen.«

»Trotzdem werden wir mit ihm sprechen, Sir«, beharrte Pitt.

»Ich werde seinen Vater fragen, ob er Ihnen die Erlaubnis dazu erteilt«, sagte Waybourne kalt, »obwohl ich auch hierbei nicht einsehen kann, daß das Ganze irgendeinen Sinn hat. Titus hat weder irgend etwas Bedeutsames gesehen noch gehört. Arthur hat ihm weder gesagt, wohin er gehen wollte, noch mit wem. Doch selbst wenn er das getan hätte – offensichtlich ist mein Sohn ja von Straßenräubern überfallen worden, so daß die Informationen nur von geringem Nutzen wären.«

»Oh, es könnte durchaus helfen, Sir.« Pitt griff zu einer Notlüge. »Es könnte uns darüber Auskunft geben, in welchem Viertel er sich aufhielt, und die verschiedenen Straßenräuber suchen häufig nur ganz bestimmte Gegenden heim. Wenn wir wissen, wo wir suchen sollen, können wir vielleicht sogar einen Zeugen finden.«

Unentschlossen verzog Waybourne das Gesicht. Er wollte so schnell und dezent wie nur möglich einen Schlußstrich unter die Angelegenheit ziehen, sie unter guter, schwerer Erde und Blumen vergraben wissen. Mit dem schwarzen Trauerflor, einem Sarg mit Messinggriffen und einer diskreten und traurigen Lobesrede würden die richtigen Erinnerungen drapiert werden. Still würde jeder nach Hause gehen, um eine Trauerzeit zu wahren. Dann würde die langsame Rückkehr ins Leben folgen.

Doch Waybourne konnte sich nicht das unerklärliche Verhalten leisten, der Polizei bei ihrer Suche nach den Mördern seines Sohnes nicht zu helfen. Er rang mit sich, war nicht in der Lage, die Worte zu finden, die seine Gefühle so zum Ausdruck brachten, daß sie ehrenvoll klangen und nach etwas, das er als Handlung bei sich akzeptieren konnte.

Pitt begriff das. Er hätte fast selbst die Worte für ihn finden können, weil er das Ganze bereits erlebt hatte; nichts an dem Wunsch, die Schmerzen zu vergraben, die extremen Umstände des Todes und die Schande einer Krankheit Privatangelegenheiten bleiben zu lassen, war ungewöhnlich oder schwer zu verstehen.

»Ich nehme an, Sie täten besser daran, mit Jerome zu sprechen«, meinte Waybourne schließlich. Es war ein Kompromiß. »Ich werde Mr. Swynford fragen, ob er Ihnen die Erlaubnis gibt, Titus einen Besuch abzustatten.« Er griff nach der Glocke und läutete. Der Butler erschien, als habe er schon an der Tür gestanden.

»Ja, Sir?« fragte er.

»Schicken Sie Mr. Jerome zu mir.« Waybourne würdigte ihn keines Blickes.

Bis an die Tür geklopft wurde, fiel im Damenzimmer kein einziges Wort. Auf Waybournes Zeichen hin trat ein freudloser Mann Anfang Vierzig ein und drückte die Tür hinter sich ins Schloß. Er sah gut aus, auch wenn seine Nase etwas spitz war. Sein Mund hatte volle Lippen, die allerdings eine gewisse Vorsicht ausdrückten. Es war nicht das Gesicht eines spontanen Menschen, es war das Gesicht eines Mannes, der nur nach gründlicher Erwägung lachte, dann, wenn er davon überzeugt war, es sei ratsam und richtig zu lachen.

Nur aus reiner Gewohnheit betrachtete Pitt den Hauslehrer. Er erwartet nicht, daß er wichtig sein würde. Vielleicht, überlegte er, wäre er genauso wie Jerome geworden, wenn seine Arbeit darin bestanden hätte, den Söhnen eines Mannes wie Anstey Waybourne etwas beizubringen und dennoch zu wissen, daß sie nur heranwuchsen, um ohne Arbeit Besitztümer zu erben und durch das aufgrund ihrer Abstammung bestehende Anrecht leichte Herrschaft ausüben zu können. Wenn Pitt sein Leben immer damit verbracht hätte, ein wenig mehr als ein Hausangestellter, aber auch nicht ganz sein eigener Herr zu sein, sondern von dreizehn und sechzehn Jahre alten Jungen abhängig zu sein, dann würde sein Gesicht vielleicht genauso vorsichtig und schmal wirken.

»Kommen Sie herein, Jerome«, sagte Waybourne abwesend. »Diese Männer sind von der Polizei. Äh... Inspektor Pitt und Mr.... äh... Gilbert. Sie möchten Ihnen einige Fragen über Arthur stellen. Soweit ich das erkennen kann, ein sinnloses Unterfangen, aber Sie sollten ihnen besser den Gefallen tun.«

»Ja, Sir.« Jerome rührte sich nicht von der Stelle. Er betrachtete Pitt mit der leichten Herablassung eines Menschen, der weiß, daß er es endlich einmal mit jemandem zu tun hat, der ohne jeden Zweifel gesellschaftlich unter ihm steht.

»Alles, was ich weiß, habe ich bereits Mr. Anstey erzählt«, sagte Jerome mit leicht gehobenen Augenbrauen. »Wenn noch irgend etwas gewesen wäre, hätte ich es natürlich gesagt.«

»Natürlich«, pflichtete ihm Pitt bei. »Doch es ist möglich, daß Sie etwas wissen, ohne sich dessen Bedeutung bewußt zu sein. Ich frage mich, Sir«, er schaute zu Waybourne hinüber, »ob Sie die Freundlichkeit hätten, Mr. Swynford um Erlaubnis zu bitten, daß ich mit seinem Sohn sprechen darf?«

Waybourne zögerte. Er war zwischen dem Wunsch, dazubleiben und sicherzugehen, daß nichts Unangenehmes oder Unbedachtes geäußert wurde, und der Torheit, sich seine Besorgnis anmerken zu lassen, hin und her gerissen. Dann warf er Jerome einen kalten, warnenden Blick zu und ging zur Tür.

Als sie hinter ihm ins Schloß fiel, drehte sich Pitt zum Hauslehrer um. Tatsächlich gab es sehr wenig, das man ihn fragen konnte, aber wo er jetzt schon da war, war es besser, die Formalitäten zu erledigen.

»Mr. Jerome«, begann er ernst. »Sir Anstey hat bereits gesagt, daß Sie an dem Tag, an dem Mr. Arthur starb, nichts Ungewöhnliches an seinem Verhalten festgestellt haben.«

»Das ist richtig«, antwortete Jerome mit offensichtlicher Geduld. »Obwohl man kaum etwas anderes erwarten könnte, es sei denn, man glaubt an Hellseherei.« Er zeigte ein schwaches Lächeln, als ob er es mit einem minderwertigen Menschenschlag zu tun habe, von dem man Dummheit erwarten müsse. »Was ich allerdings nicht tue. Der arme Junge kann nicht gewußt haben, was ihm zustoßen sollte.«

Pitt spürte eine instinktive Abneigung gegenüber dem Mann. Es war unvernünftig, aber er stellte sich vor, daß Jerome und er weder eine Glaubensvorstellung noch ein Gefühl miteinander teilten; selbst das gleiche Ereignis würden sie auf unterschiedliche Weise wahrnehmen.

»Aber er könnte doch gewußt haben, mit wem er beabsichtigte, zu Abend zu essen?« führte Pitt aus. »Ich nehme an, daß es ein Bekannter war. Wir sollten herausfinden können, um wen es sich dabei handelte.«

Jerome hatte dunklen Augen; sie waren ein wenig runder als beim Durchschnitt.

»Ich kann nicht einsehen, auf welche Weise das hilfreich sein sollte«, antwortete er. »Zu der Verabredung kann er gar nicht erschienen sein. Wenn ja, würde sich die betreffende Person doch zweifelsohne gemeldet und zumindest ihr Beileid bekundet haben. Doch welchen Zweck hätte das?«

»Wir würden erfahren, wer der Betreffende war«, erläuterte Pitt. »Es würde das Untersuchungsgebiet einengen. Vielleicht ließen sich Zeugen aufspüren.«

Jerome sah darin keine Hoffnung.

»Möglicherweise. Ich nehme an, Sie verstehen Ihr Geschäft. Doch leider habe ich keine Ahnung, mit wem er den Abend zu verbringen gedachte. Aufgrund der Tatsache, daß die betreffende Person sich nicht gemeldet hat, nehme ich an, daß es sich nicht um eine feste Abmachung handelte, sondern um einen spontanen Einfall. Und Jungen in diesem Alter vertrauen ihrem Hauslehrer nicht an, was sie an geselligen Aktivitäten unternehmen, Inspektor.« Ein kleiner Hauch von Ironie lag in seiner Stimme – zu schwach für Selbstmitleid, zu mürrisch für eine humorvolle Bemerkung.

»Sie könnten mir ja vielleicht eine Liste der Ihnen bekannten Freunde von ihm geben?« schlug Pitt vor. »Es ist recht leicht, sie abzuhaken. Im Moment würde ich Sir Anstey nicht so gerne damit behelligen.«

»Natürlich.« Jerome drehte sich zum kleinen, mit Leder überzogenen Schreibtisch an der Wand hin und zog eine Schublade auf. Er nahm einen Bogen Papier und fing an, sich darauf Notizen zu machen. Seine Zweifel standen ihm jedoch deutlich ins Gesicht geschrieben. Er war der Meinung, Pitt würde etwas recht Nutzloses unternehmen, weil ihm nichts anderes einfiel, und hielt ihn für einen Mann, der nach dem letzten Strohhalm greift, um den Eindruck von Tüchtigkeit zu erwecken. Er hatte etwa ein halbes Dutzend Zeilen geschrieben, als Waybourne zurückkehrte. Er schaute zu Pitt herüber, dann fiel sein Blick sofort auf Jerome.

»Was ist das?« fragte er gebieterisch und streckte die Hand nach dem Stück Papier aus.

Jeromes Gesicht erstarrte. »Es sind die Namen von verschiedenen Freunden von Mr. Arthur, Sir, mit denen er beabsichtigt haben könnte, zu Abend zu essen. Der Inspektor möchte sie gerne haben.«

Waybourne schnaubte verächtlich. »Ach ja?« Er warf Pitt einen eisigen Blick zu. »Ich baue darauf, daß Sie alles tun, um Diskretion zu wahren, Inspektor. Ich möchte nicht, daß meine Freunde in Verlegenheit geraten. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

Pitt mußte sich dazu zwingen, sich der Gesamtsituation bewußt zu bleiben, um die in ihm aufsteigende Wut unter Kontrolle zu halten.

Doch bevor er antworten konnte, griff Gillivray ein.

»Natürlich, Sir Anstey«, meinte dieser sanft. »Wir sind uns des heiklen Charakters dieser Angelegenheit bewußt. Wir fragen lediglich danach, ob die fraglichen Herren Mr. Arthur zum Abendessen erwarteten oder an jenem Abend eine andere Verabredung mit ihm hatten. Ich bin sicher, daß Sie die Wichtigkeit verstehen werden, jede nur mögliche Anstrengung zu unternehmen, um aufzudecken, an welchem Ort sich dieser abscheuliche Vorfall abgespielt hat. Am wahrscheinlichsten war es ja so, wie Sie selbst sagten, und es handelte sich um einen zufälligen Angriff, der jedem gutgekleideten, jungen Herrn hätte widerfahren können, der den Anschein erweckte, wertvolle Gegenstände bei sich zu haben. Doch so wenig wir auch tun können, wir müssen es tun, um sicherzugehen, daß es so war.«

Ein Anflug von Anerkennung ließ Waybournes Gesichtszüge weicher werden.

»Danke. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es irgend etwas ändern wird, aber natürlich haben Sie recht. Sie werden nicht entdecken, wer das... diese Tat begangen hat. Ich sehe jedoch ein, daß Sie dazu verpflichtet sind, es zu versuchen.« Er wandte sich an den Hauslehrer. »Danke, Jerome. Das ist alles.«

Jerome verabschiedete sich, verließ das Zimmer und schloß die Tür hinter sich.

Waybourne blickte erst auf Gillivray, dann auf Pitt, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Was eigentlich hinter Gillivrays gesellschaftlichem Feingefühl stand, konnte er nicht ergründen. Auch Pitts kurzes, heftiges Mitgefühl, das sich über die durch jeden anderen zwischen ihnen bestehenden Unterschied gebildete Kluft hinweggesetzt hatte, begriff er nicht. Für ihn repräsentierten die Männer den Unterschied zwischen Taktgefühl und Pöbelhaftigkeit.

»Ich glaube, das ist alles, was ich tun kann, um Sie zu unterstützen, Inspektor«, sagte er kalt. »Ich habe mit Mr. Mortimer Swynford gesprochen, und wenn Sie immer noch das Gefühl haben, es sei notwendig, dann können Sie mit Titus sprechen.« Mit einer matten Geste fuhr er sich durch sein dichtes, blondes Haar.

»Wann wird es möglich sein, mit Lady Waybourne zu sprechen, Sir?« fragte Pitt.

»Gar nicht. Nichts von dem, was sie Ihnen sagen könnte, wird Ihnen etwas nützen. Natürlich habe ich sie gefragt, und sie wußte nicht, wo Arthur seinen Abend zu verbringen gedachte. Ich beabsichtige nicht, sie der Tortur einer Befragung durch die Polizei auszusetzen.« Sein Gesicht war verschlossen, hart und endgültig, die Haut ganz angespannt.

Pitt holte tief Luft und seufzte. Er spürte, daß sich Gillivray neben ihm versteifte und konnte fast schmecken, wie verlegen und angewidert dieser von dem war, was Pitt sagen würde. Beinahe erwartete er, berührt zu werden und eine Hand auf seinem Arm zu spüren, die ihn zurückhalten wollte.

»Es tut mir leid, Sir Anstey, aber es gibt auch die Tatbestände der Krankheit Ihres Sohnes und seiner Beziehungen«, sagte er ruhig. »Wir dürfen nicht die Möglichkeit außer acht lassen, daß sie etwas mit seinem Tod zu tun haben. Und die Beziehung an sich ist schon ein Verbrechen...« «

»Dessen bin ich mir bewußt, Sir!« Waybourne schaute Pitt an, als ob dieser bloß durch Erwähnen dieser Handlung selbst an ihr teilgenommen hätte. »Lady Waybourne wird nicht mit Ihnen sprechen. Sie ist eine anständige Frau. Sie würde nicht einmal wissen, wovon Sie reden. Frauen von vornehmer Herkunft haben noch nie von solchen ... widerlichen Dingen gehört.«

Pitt wußte das, aber das Mitleid siegte über seinen Unmut.

»Natürlich nicht. Ich hatte lediglich vor, ihr über die Freunde Ihres Sohnes Fragen zu stellen, und zwar über die Freunde, die ihn gut kannten.«

»Ich habe Ihnen bereits alles mitgeteilt, was möglicherweise für Sie von Nutzen sein könnte, Inspektor Pitt«, sagte Waybourne. »Ich habe nicht die geringste Absicht, irgend jemanden gerichtlich zu verfolgen ... « Er schluckte. jemanden, der meinen Sohn mißbraucht hat. Es ist vorbei. Arthur ist tot. Das ganze Herumrühren in den persönlichen ... Er holte tief Luft und hielt sich an der geschnitzten Lehne eines der Stühle fest. »... Entartungen irgendeines ... eines Unbekannten wird uns nicht helfen. Lassen wir den Toten in Frieden ruhen! Und lassen Sie jene von uns, die weiterleben, unseren Sohn in gebührender Weise betrauern. Wenn Sie jetzt woanders Ihren Geschäften nachgehen wollen? Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.« Er drehte sich um und stand auf. Sein steifer, breitschultriger Körper war dem Feuer und dem über dem Kaminsims hängenden Bild zugewandt.

Pitt oder Gillivray blieb nichts anderes übrig, als zu gehen. Sie nahmen ihre Hüte von dem Diener in der Eingangshalle entgegen und traten aus der Vordertür in den schneidenden Septemberwind und das geschäftige Treiben auf der Straße hinaus.

Gillivray hielt die von Jerome geschriebene Liste von Freunden hoch.

»Wollen Sie die wirklich haben, Sir?« fragte er zweifelnd. »Wir können uns ja wohl kaum an all diese Leute wenden und dann nur fragen, ob sie an jenem Abend den Jungen gesehen haben. Wenn sie von irgend etwas...« Sein Gesicht wurde ganz runzlig vor Abneigung und gab so einen Ausdruck wieder, den Waybourne selbst hätte haben können. »... etwas Anstößigem wüßten, dann werden sie das nicht zugeben. Wir können sie auch kaum dazu drängen. Und ehrlich gesagt, Sir Anstey hat recht... Arthur wurde von Wegelagerern oder Straßenräubern angegriffen. Äußerst unangenehm, besonders, wenn so etwas einer guten Familie widerfährt. Das Beste wäre, die ganze Sache eine Weile ruhen zu lassen und sie dann diskret als unlösbar abzuschreiben.«

Pitt drehte sich zu ihm um; jetzt konnte er wenigstens seinem Ärger Luft machen.

»Unangenehm?« schrie er wütend. »Sagten Sie ›unangenehm ‹, Mr. Gillivray? Der Junge wurde mißbraucht, infiziert und dann ermordet! Was muß denn geschehen, bevor Sie etwas als richtig übel ansehen? Ich wäre daran interessiert, das zu erfahren!«

»Das ist jetzt völlig unangebracht, Mr. Pitt«, sagte Gillivray steif. Sein Gesichtsausdruck verriet eher Widerwillen als Kränkung. »Wenn man über die Tragödie diskutiert, wird es für die Leute nur noch schlimmer. Und es gehört nicht zu unserer Pflicht, ihren Kummer zu vergrößern – welcher bei Gott schon schlimm genug sein muß!«

»Unsere Pflicht, Mr. Gillivray, besteht darin herauszufinden, wer diesen Jungen ermordet und dann seinen nackten Körper einen Einstiegsschacht in die Kanalisation hinuntergeworfen hat, um ihn von Ratten fressen und als namenlosen und nicht identifizierbaren Haufen Knochen zurückzulassen. Die Betreffenden hatten nur das Pech, daß er gegen die Schleusentore gespült wurde und ein scharfsichtiger Kanalreiniger, der nach einem Gelegenheitsfund Ausschau hielt, ihn zu schnell entdeckte.«

Gillivray wirkte mitgenommen, die rosige Farbe war aus seiner Haut gewichen.

»Nun ... ich ... ich glaube kaum, daß es notwendig ist, es so auszudrücken.«

»Wie würden Sie es denn ausdrücken?« fragte Pitt und schwenkte herum, um ihm ins Gesicht zu sehen. »Ein kleiner, vornehmer Spaß? Ein unglücklicher Zufall? Je weniger Worte darüber verloren werden, desto besser?« Sie überquerten die Straße, und eine vorbeifahrende zweirädrige Kutsche schleuderte etwas Dreck auf sie.

»Nein, natürlich nicht!« Das Blut strömte in Gillivrays Gesicht zurück. »Es ist eine unaussprechliche Tragödie, ein Verbrechen der allerschlimmsten Art. Doch ich glaube, ehrlich gesagt, nicht daran, daß es auch nur die geringste Chance gibt herauszufinden, wer dafür verantwortlich ist; und daher ist es besser, die Gefühle der Familie zu schonen, soweit wir dies können. Mehr wollte ich nicht zum Ausdruck bringen! Wie Sir Anstey sagte, wird er keinen gerichtlich verfolgen lassen ... Nun, das steht auf einem anderen Blatt. Und es ist etwas, bei dem wir nicht gefragt sind!« Er bückte sich und wischte sich gereizt den Dreck von der Hose.

Pitt ignorierte ihn.

Am Ende des Tages hatten sie getrennt voneinander den wenigen Personen, die auf Jeromes Liste standen, einen Besuch abgestattet. Keiner hatte zugegeben, Arthur Waybourne an jenem Abend erwartet oder gesehen zu haben, oder hatte bezüglich seiner Pläne irgendeine Ahnung. Kurz nach fünf Uhr nachmittags fand Pitt bei der Rückkehr zur Polizeiwache eine auf ihn wartende Nachricht, die besagte, daß Athelstan ihn zu sehen wünschte.

»Ja, Sir?« fragte er und schloß die schwere, polierte Tür hinter sich. Athelstan saß hinter seinem Schreibtisch; neben seiner rechten Hand befand sich eine geschmackvolle Schreibgarnitur aus Leder mit eingelassenen Tintenfässern, Pulver, Messer und Siegeln.

»Dieser Fall Waybourne.« Athelstan blickte auf. Eine Spur Ärger überflog sein Gesicht. »Nun setzen Sie sich schon, Mann! Stehen Sie nicht herum und flattern wie eine Vogelscheuche.« Er musterte Pitt mit Abneigung. »Können Sie nicht irgend etwas mit diesem Mantel machen? Ich nehme an, Sie können sich keinen Schneider leisten, doch dann bringen Sie um Himmels willen Ihre Frau dazu, ihn zu bügeln! Sie sind doch verheiratet, oder nicht?«

Athelstan wußte genau, daß Pitt verheiratet war. Er war sich sogar dessen bewußt, daß Pitts Frau aus einer deutlich besseren Familie stammte als er selbst, doch das gehörte zu den Dingen, die er nach Möglichkeit lieber vergaß.

»Ja, Sir«, sagte Pitt geduldig. Nicht einmal der Schneider des Prinzen von Wales hätte es geschafft, Pitt ordentlich wirken zu lassen. Eine natürliche Unbeholfenheit umgab ihn. Seinen Bewegungen fehlte die Kraftlosigkeit des Gentleman; er war viel zu enthusiastisch.