Der Rächer von Mile End - Anne Perry - E-Book

Der Rächer von Mile End E-Book

Anne Perry

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Beschreibung

London, 1911: In einem äußerst verrufenen Viertel muss Daniel Pitt eine Leiche identifizieren – es handelt sich um einen Kollegen seiner Anwaltskanzlei, Jonah Drake, der offensichtlich gewaltsam zu Tode kam. Da die Polizei merkwürdig wenig Interesse an der Aufklärung der Tat zeigt, nimmt Daniel kurzentschlossen die Ermittlungen in die eigene Hand. Doch zwei Zeugen, die er befragt, werden kurz darauf ebenfalls ermordet. Als Daniels Mutter entführt wird, ahnt der junge Anwalt, dass er dem Täter bereits zu nahe gekommen ist. Einem Täter, dessen Beziehungen und dunkle Machenschaften bis in die höchsten Kreise der Politik und Wirtschaft hineinreichen ...

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Seitenzahl: 527

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Das Buch

Es war ein warmer Tag. Vögel zwitscherten in den Zweigen der Bäume an der Straße, und die Gärten waren voller bunter Blumen. Hier und da sah man an Hauseingängen bereits die ersten gelben Frührosen. Der Duft von Hyazinthen lag in der Luft. Charlotte lächelte unwillkürlich, ohne zu wissen warum. Zwei Männer, die sie in der Nachbarschaft noch nie gesehen hatte, kamen ihr auf dem Gehweg entgegen. Einer von ihnen trat beiseite, um ihr Platz zu machen, der andere blieb unmittelbar am Bordstein stehen. Erst als es zu spät war, erkannte sie, wie sonderbar dieses Verhalten war. Die Männer traten gleichzeitig auf sie zu und fassten ihre Arme mit kräftigem Griff. Da sie das schmerzte, versuchte Charlotte sich loszureißen, aber sie hielten sie umso fester. »Nicht schreien«, flüsterte ihr einer der beiden drohend ins Ohr.

Als Daniels Mutter Charlotte auf offener Straße entführt wird, erkennt der junge Anwalt, in welche Gefahr er sich durch seine Ermittlungen gebracht hat – und alle, die ihm lieb und teuer sind …

Die Autorin

Die Engländerin Anne Perry, 1938 in London geboren, verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Schon früh begann sie zu schreiben. Ihre historischen Kriminalromane, in denen sie das England des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wiederauferstehen lässt, begeistern ein Millionenpublikum. Anne Perry lebt und schreibt in Schottland.

Lieferbare Titel

Der Verräter von Westminster

Die Weihnachtsleiche

Tod am Eaton Square

Nacht über Blackheath

Das Opfer von Angel Court

Verrat am Lancaster Gate

Letzte Stunde im Hyde Park

Todesurteil im Old Bailey

Flucht an die Themse

Feuer in der Tooley Street

ANNE PERRY

DERRÄCHERVONMILE END

Ein Daniel-Pitt-Roman

Aus dem Englischenvon K. Schatzhauser

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe Death With a Double Edgeerschien 2020 bei Headline Publishing Group, London

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Vollständige deutsche Erstausgabe 08/2022

Copyright © 2020 by Anne Perry

Copyright © 2022 der deutschen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Uta Dahnke

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,unter Verwendung der Motive von Shutterstock.com(Nadezda Nikitina, AR Pictures)

ISBN: 978-3-641-28181-6V002

www.heyne.de

Für Rob Daly

KAPITEL 1

Daniel machte sich Sorgen. Toby Kitteridge ließ schon beinahe eine volle Stunde auf sich warten, was seiner Art in keiner Weise entsprach. Gewiss, er war nicht besonders ordentlich, so sehr er sich auch bemühte. Seine Haare standen immer zu Berge, er schien in keinem Geschäft Hemden zu finden, deren Ärmel lang genug waren, um seine knochigen Handgelenke zu bedecken, und gelegentlich trug er zwei verschiedenfarbige Socken, ohne es zu merken, aber mit der Pünktlichkeit nahm er es sehr genau. Er verspätete sich nie. Seiner Ansicht nach war so etwas nicht nur unhöflich, sondern auch ein Zeichen von Unfähigkeit und für einen Anwalt unentschuldbar.

Daniel warf einen Blick auf die Wanduhr in seinem Büro. Acht Minuten vor zehn.

Das zweimalige leise Klopfen an der Tür ließ ihn vermuten, dass der Kanzleidiener Impney davorstand, und so sagte er: »Herein.«

Der Mann trat ein und schloss die Tür hinter sich. Diesmal lag statt des üblichen Ausdrucks der Verbindlichkeit unübersehbar Verärgerung in seinen Zügen.

»Was gibt es?«, erkundigte sich Daniel in schärferem Ton, als er beabsichtigt hatte.

»Ein Polizeibeamter wünscht Sie zu sprechen, Mr. Pitt.«

»Hat er ausdrücklich nach mir gefragt, oder will er einfach zu jemandem aus der Kanzlei?«, sagte Daniel.

»Nein. Er möchte Sie persönlich sprechen. Er hat eine Ihrer Visitenkarten.«

Kitteridge. Dem Kollegen musste etwas zugestoßen sein. Daniel schluckte. Bemüht, seiner Stimme einen festen Klang zu verleihen, sagte er: »Lassen Sie ihn herein.«

»Ja, Sir.« Impney verließ den Raum und öffnete kurz darauf die Tür erneut.

Ein junger Polizeibeamter, der äußerst bekümmert zu sein schien, trat ein. »Mr. Pitt?«, fragte er.

Mit belegter Stimme gab Daniel zurück: »Ja?«

»Ich bedauere, Sie behelligen zu müssen, Sir, aber man hat diese Karte gefunden.« Er griff in eine seiner Taschen und holte die Karte hervor.

Ein flüchtiger Blick genügte Daniel – es war seine. »Woher haben Sie die?«

Der Mann trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Man hat sie in der Manteltasche eines Mannes gefunden, der unglücklicherweise tot ist, Sir. Erst hatten wir angenommen, es sei seine eigene, aber einer unserer Kollegen kennt Sie vom Sehen und hat gesagt, dass Sie das nicht sind.«

»Und Sie wissen nicht, um wen es sich handelt?«

»Nein, Sir. Würden Sie bitte mitkommen und sich ihn ansehen? Mit großer Wahrscheinlichkeit ist es jemand, den Sie kennen.«

Daniel erhob sich. Er merkte, dass er ein wenig unsicher auf den Beinen war.

»Fehlt Ihnen auch nichts, Sir?«, erkundigte sich der Beamte besorgt.

»Es geht schon, danke«, gab Daniel zurück. Er straffte die Schultern.

Der junge Polizist war sichtlich erleichtert. Mit einem Blick zum Kleiderhaken an der Wand sagte er: »Draußen ist es schon recht warm, Sie brauchen keinen Mantel.«

»Es ist ziemlich weit«, erwiderte Daniel. Von Lincoln’s Inn Fields, wo die meisten der führenden Anwaltskanzleien Englands und mithin auch die Sozietät fford Croft and Gibson ihre Büros hatten, bis zum Leichenschauhaus der Pathologie waren es gut eineinhalb Kilometer.

»Ich habe die Droschke warten lassen, mit der ich gekommen bin, Sir.« Der Beamte öffnete die Tür und trat auf den Gang hinaus.

Daniel ließ den Mantel am Haken hängen und folgte dem Mann, nachdem er Impney mitgeteilt hatte, er werde mitfahren, um der Polizei in einer dringenden Angelegenheit behilflich zu sein. Er wollte nicht ausdrücklich sagen, worum es ging; wie es aussah, machte sich Impney ohnedies bereits genug Sorgen.

»Sehr wohl, Sir.« Mit leicht schräg gelegtem Kopf fügte Impney hinzu: »Ich werde Mr. fford Croft informieren.«

Daniel dankte ihm und folgte dann dem Beamten zu der Motordroschke, die am Bordstein wartete. Es handelte sich um eines der neumodischen schwarzen Automobile, die nach und nach die Pferdedroschken verdrängten. Im Mai des Jahres 1911 lag der Übergang ins neue Jahrhundert schon eine ganze Weile zurück, und statt König Edward regierte inzwischen Georg V.

Unter anderen Umständen hätte Daniel die Fahrt genossen. Er war ein Freund des Fortschritts, empfand aber angesichts der Situation nicht das geringste Vergnügen. Ebenso gut hätte er auf einem Gemüsekarren sitzen können. Da er nicht mit dem Polizisten reden wollte, hielt er den Blick starr aus dem Fenster gerichtet. Allerlei Ängste erfüllten ihn. Ihm kamen Erinnerungen an Kitteridge, der einige Jahre vor ihm in die Kanzlei eingetreten war und unendlich viel mehr wusste. Seine Auftritte vor Gericht waren bemerkenswert. Zu Beginn einer Verhandlung fiel schlagartig jegliche Nervenanspannung von ihm ab, und bisweilen gelang es ihm sogar, sich zu ausgesprochen brillanten Plädoyers zu steigern. Außer Daniel wusste niemand, dass er vermutlich unterschiedliche Socken trug und vor lauter Zerstreutheit vergessen hatte zu frühstücken. Sie beide hatten eine ganze Reihe von Fällen gemeinsam gelöst. Manche hatten sich einfach mit Verweis auf die einschlägigen Paragrafen erledigen lassen, andere waren nicht nur verwickelt gewesen, sondern hatten auch die Gefühle aller Beteiligten tief aufgewühlt. Sie hatten gemeinsam Erfolge feiern dürfen, aber auch Niederlagen einstecken müssen, und oft genug hatten sie bis tief in die Nacht über den Akten gebrütet. Bestimmte Fälle mit tragischem Ausgang würde keiner der daran Beteiligten vergessen, ebenso wenig wie die, bei denen Menschen in großer Gefahr geschwebt hatten.

Vorhin noch hatte Daniel sich über Kitteridges Unpünktlichkeit geärgert. Jetzt empfand er eine tiefe Angst. Was hatte er am Vortag als Letztes zu ihm gesagt? Hoffentlich nichts, was er bis an sein Lebensende würde bereuen müssen, denn jetzt schien es zu spät zu sein, diese Worte zurückzunehmen.

Wie um seine Befürchtungen zu unterstreichen, saß die Droschke im dichten Verkehr fest. Um sich herum sah Daniel außer den neumodischen Automobilen Pferdefuhrwerke aller Art: neben Droschken und zweirädrigen Karren auch Tafelwagen, deren Kutscher sich gegenseitig wüst beschimpften. Er war in Eile, konnte es nicht erwarten, an Ort und Stelle zu sein, doch er musste sich damit abfinden, dass es nur gleichsam im Schritt vorwärtsging. Unruhig rutschte er auf seinem Sitz hin und her. Der Beamte warf ihm einen Blick zu, sagte aber nichts. Fast hätte Daniel Entschuldigung gesagt, schluckte das Wort aber im letzten Augenblick herunter. Vermutlich gehörte es für den Polizisten zu den unangenehmsten Aufgaben seines Berufs, dass er Menschen zur Identifizierung eines Toten holen musste, den sie gekannt oder sogar geliebt hatten.

Endlich erreichten sie ihr Ziel. Der Wagen hielt an, der Beamte entlohnte den Fahrer und führte Daniel in das Gebäude, in dem es so durchdringend nach Karbol und scharfer Lauge roch, dass es ihm im Rachen brannte. Die Ausdünstungen des Todes hingen sogar noch in der Luft, nachdem man die Leichen hinausgebracht hatte.

Ein Angestellter kam herein und schloss die Tür leise hinter sich.

»Hier entlang, Sir«, sagte der Polizist und sah Daniel besorgt an.

Daniel nickte wortlos. Ihm war klar, dass der Ärmste tat, was er konnte. Er schätzte ihn auf Mitte zwanzig; sie waren also wohl beide annähernd gleich alt. Es ging durch eine Tür am Ende des Korridors, die in einen Vorraum führte. Dort sah Daniel etwas, was ihn wie ein Blitz traf. Der Schock ließ seinen Atem stocken. An einer Garderobenleiste hing ein Mantel mit einem auffallenden Karomuster. Unmöglich konnte es zwei Mäntel von so schreiender Hässlichkeit geben. Kitteridge hatte ihn erst vor Kurzem gekauft, und Daniel hatte sich zu der Behauptung hinreißen lassen, er beleidige das Auge. Was gäbe er jetzt darum, diese scherzhaft gemeinten Worte zurücknehmen zu können! Kitteridge stand mit jeder Art von Eleganz auf Kriegsfuß, und ganz davon abgesehen, dürfte es nicht einfach gewesen sein, für seine Figur überhaupt etwas Passendes zu finden.

Daniel merkte, dass ihn jemand am Arm fasste, und zwar so fest, als wolle er verhindern, dass er umfiel. Er wollte die Hand abschütteln, doch der Polizist ließ nicht los und führte ihn in den nächsten Raum.

Wie konnten Menschen nur in einer solchen Umgebung arbeiten? Jeder, der hierher gebracht wurde, hatte einmal gelebt, war Kind, Bruder, Gattin … oder Freund eines anderen gewesen.

Der Pathologe begrüßte ihn mit einem grimmigen Lächeln. Daniel hatte den Mann früher schon einmal gesehen, doch sein Name fiel ihm nicht ein. Es war jetzt auch nicht wichtig.

»Danke, Sir«, sagte der Mann sanft. »Wenn Sie sich bitte einmal das Gesicht ansehen würden. Sind Sie bereit?«

Nein, das war er keineswegs, und er würde es nie sein. Er bemühte sich um sein seelisches Gleichgewicht. Auf keinen Fall durfte er seinen Gefühlen nachgeben. »Ja …«

Der Arzt zog das von Blut getränkte Laken vom Gesicht des Toten. Daniel zwang sich hinzusehen. Er erkannte den Mann sofort, obwohl klaffende Wunden, in denen das Blut dick geronnen war, den Hals und beide Wangen entstellten. Wer da lag, war nicht Kitteridge, sondern Jonah Drake, seit vielen Jahren in der Kanzlei tätiger Teilhaber der Sozietät, ein äußerst erfahrener Jurist, dessen Plädoyers und Beweisanträge vor Gericht ihresgleichen suchten. Auch wenn Daniel nie richtig mit ihm warm geworden war, konnte er ihm seine herausragenden Fähigkeiten nicht absprechen. Er musste sich eingestehen, dass er ihn widerwillig bewundert hatte.

Er schämte sich wegen der tiefen Erleichterung, die er darüber empfand, dass nicht Kitteridge dort lag. Es kam ihm vor, als sei an die Stelle eines körperlichen Schmerzes ein bloßes Unbehagen getreten.

»Sir?« Die Stimme des Arztes riss ihn aus seiner Versunkenheit.

»Ja …«, sagte er zögernd, wobei er den Atem ausstieß. Er hatte nicht einmal gemerkt, dass er ihn angehalten hatte. »Das ist Jonah Drake, ebenfalls in unserer Anwaltssozietät tätig.«

»Sind Sie sicher, Sir?«

»Absolut. Mr. Kitteridge, dem der Mantel im Vorraum gehört, ist Mitte dreißig, Mr. Drake hingegen mindestens sechzig. Es ist kein Irrtum möglich. Ich weiß nicht, warum er den Mantel anhatte. Vielleicht hat er sich ihn ausgeborgt …« Seine Stimme klang verlegen und wie aus weiter Ferne.

»Jonah Drake also. Hat er Angehörige, denen wir Mitteilung machen müssen? War er verheiratet, hat er Kinder?«

Um klar denken zu können, versuchte Daniel die Gedanken an die Brutalität zu verscheuchen, mit der Drake offenbar zu Tode gekommen war. »Nein, ich glaube nicht. Ich werde unseren Kanzleichef, Mr. fford Croft, informieren. Sicherlich weiß er mehr.«

»Sollen wir Ihnen diese Aufgabe abnehmen, Sir?«, fragte der Arzt.

»Vielen Dank, das ist nicht nötig. Ich kehre gleich in die Kanzlei zurück und gebe dem Chef Bescheid.« Er schluckte. »Wie ist das geschehen? Wissen Sie etwas darüber?« Er richtete den Blick erneut auf Drakes Gesicht. Trotz der Entstellung durch die Gewalttat ließ es sich noch erkennen. Unmittelbar neben seiner sonderbar geformten Nase saß ein kleiner dunkelbrauner Leberfleck. Der Hals, um den er gewöhnlich ein altmodisches Tuch trug, wirkte mit seiner schlaffen Haut und den Bartstoppeln überaus abstoßend. Daniel hatte gehört, dass Haare und Nägel nach dem Tod eine Weile weiterwuchsen, als hätten sie noch nicht gemerkt, dass das Herz aufgehört hatte zu schlagen. Von Drake war nur noch die leere Hülle übrig. Er war ein äußerst fähiger Anwalt gewesen, der so gut wie jeden seiner Fälle gewonnen hatte, selbst aussichtslos scheinende. Er kannte sich in Rechtsfragen so aus, wie Daniel das Alphabet kannte. Seine Eitelkeit, den hässlichen Hals unter einem Tuch zu verbergen, hatte ihn irgendwie menschlich erscheinen lassen … und verletzlich.

Daniel löste den Blick vom Gesicht des Toten und sah den Arzt an.

»Jemand hat ihn mit einem Messer angefallen – es muss eine ungewöhnlich lange Klinge gehabt haben«, erklärte dieser. »Das Ganze dürfte nur wenige Sekunden gedauert haben, falls Sie das beruhigen kann. Ich bedaure, sagen zu müssen, dass man ihn in einem verrufenen Teil des Londoner Ostens gefunden hat. Ich weiß nicht genau wo, aber das wird Ihnen die Polizei sagen können. Selbstverständlich geht sie dem Fall nach.« Während er das sagte, zog er das Laken wieder über das Gesicht des Toten. »Sind Sie sich wirklich sicher, um wen es sich handelt?«

»Ja. Wie … wie groß ist er?«

»Meiner Messung nach ein Meter achtundachtzig.«

»Das kommt hin«, bestätigte Daniel. »Ich würde gern mit jemandem vom zuständigen Polizeirevier sprechen. Wissen die Leute dort Genaueres? Kennen sie den Täter?« Er wandte sich dem Polizeibeamten zu.

»Bisher nicht, Sir«, teilte ihm dieser mit. »Ein Ausfahrer oder jemand Vergleichbares hat ihn in den frühen Morgenstunden gefunden.«

»In einer Straße, an der viele Menschen wohnen?«, fragte Daniel rasch.

»Eigentlich nicht. Der Mann hat eine Abkürzung durch ein finsteres Seitengässchen genommen. Dort hat sein Pferd urplötzlich gescheut und sich geweigert weiterzugehen. Tiere können den Tod riechen.«

Unwillkürlich stellte sich Daniel vor, wie das Tier mit seinem ruckartigen Stehenbleiben den vor sich hin dösenden Kutscher aufgeschreckt hatte.

»Hat man eine Vorstellung davon, was Mr. Drake in jenen Teil des East Ends geführt haben könnte?«

Mit unsicherer Stimme gab der Polizist zurück: »Nein. Aber er muss schon ziemlich lange dort gelegen haben.« Er sah zu dem Arzt, als erwartete er von ihm eine Bestätigung.

»Meiner Schätzung nach dürfte der Tod gegen zwei Uhr nachts eingetreten sein«, sagte dieser. »Gefunden hat man ihn gegen sechs. Jetzt im Mai ist es um diese Stunde schon ziemlich hell.«

»Und davor hat ihn niemand gesehen?«, wollte Daniel wissen.

»Jedenfalls hat man uns nichts gemeldet, Sir«, erwiderte der Beamte mit einem Kopfschütteln. »Das ist was anderes als ›nicht gesehen haben‹.«

»Wo genau war das?«, fragte Daniel.

»In Mile End. Ein schmales Seitengässchen der Anthony Street. Eine ziemlich verrufene Gegend. Haben Sie eine Vorstellung davon, was ihn nachts um zwei Uhr dort hingeführt haben könnte, Mr. Pitt?«

»Leider nein. Ich weiß nicht einmal, wo er gewohnt hat – aber auf keinen Fall in Mile End oder Whitechapel.« Während er das sagte, merkte er, dass er über Jonah Drake, abgesehen von dessen überragender Fähigkeit als Anwalt und seinem ein wenig eigentümlichen Humor, nicht das Geringste wusste. Natürlich würde er dem Kanzleichef fford Croft Bericht erstatten müssen. Vielleicht wusste Impney mehr über Drake. Das bedeutete allerdings nicht, dass er der Polizei besonders viel mitteilen würde. Er war stets höflich, korrekt und durchaus angenehm im Umgang. Darüber hinaus besaß er die Fähigkeit, scheinbar offen zu sprechen, ohne dabei etwas preiszugeben. Er gehörte zu den besten Vertretern seines Standes und war verschwiegen, ohne je diesen Anschein zu erwecken.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir, würde Inspector Letterman gern mit Ihnen sprechen«, sagte der Polizeibeamte. »Vielleicht wissen Sie etwas, was uns weiterhilft.«

Daniel zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren. »Selbstverständlich«, erklärte er. Es gab keinen Grund, sich zu weigern. Er verabschiedete sich von dem Pathologen und folgte dem Beamten hinaus. Die frische Luft tat ihm gut. Sogar die Pferdeäpfel auf der Straße schienen einen im Vergleich mit der aseptischen und nach Tod riechenden Luft im Inneren des Gebäudes geradezu angenehmen Geruch zu verströmen.

Die Polizeiwache lag nur wenige Nebenstraßen entfernt. Schweigend traten sie ein. Daniel war nicht nach reden zumute, und der Beamte unternahm taktvollerweise keinen Versuch, ein belangloses Gespräch anzuknüpfen. Flüchtig ging Daniel die Frage durch den Kopf, wie oft der Mann wohl einen solchen Auftrag auszuführen hatte.

Der Polizist meldete ihn dem Diensthabenden, der ihn sogleich nach oben ins Büro des Inspectors führte. »Möchten Sie eine Tasse Tee, Sir?«, fragte er.

Daniel wollte schon dankend ablehnen, doch dann merkte er, dass sein Mund wie ausgedörrt war. Dem könnte eine Tasse Tee gut abhelfen. »Ja gern. Bitte ohne Zucker.«

»In Ordnung, Sir.« Der Beamte verschwand und kehrte zehn Minuten später mit einem dampfenden Emailbecher zurück. »Vorsicht, der Henkel ist heiß.«

Daniel nahm das Getränk dankend entgegen.

Fünf Minuten später trat Inspector Letterman ein, stellte sich vor und nahm Daniel gegenüber am Schreibtisch Platz. Mit seiner auffällig gepflegten Frisur, die nicht zu verbergen vermochte, dass seine Haare zu ergrauen begannen, wirkte er ebenso elegant wie selbstgefällig. Daniel traute seiner Freundlichkeit nicht so recht, da sie gekünstelt auf ihn wirkte. »Sie sind also derjenige, der die Leiche identifiziert hat? Jemand aus Ihrer Kanzlei in Lincoln’s Inn Fields, fford Croft and Gibson, was?«

»Ja, Sir«, bestätigte Daniel. »Es handelt sich um Jonah Drake. Er ist einer unserer Teilhaber.«

Der Inspector verzog das Gesicht. »Tut mir wirklich leid. Sicher ein entsetzlicher Schlag. Haben Sie ihn gut gekannt?« Er legte etwas in seine Stimme, das wie Mitgefühl klingen sollte. In seinem Beruf hatte er so etwas bestimmt schon oft sagen müssen.

»Nein, Sir«, erwiderte Daniel. »Er war … nicht besonders kontaktfreudig. Er hatte viel zu tun, überwiegend waren das Gerichtsverfahren.«

»Wohl ein guter Mann?«, erkundigte sich Letterman. In seiner Stimme blitzte kurz Interesse auf, und zwar mehr, als die Höflichkeit gebot, dachte Daniel.

»Herausragend. Es kam äußerst selten vor, dass er einen Fall nicht gewonnen hat.« Das entsprach der Wahrheit.

Letterman kräuselte die Lippen. »Und wissen Sie, woran er gerade gearbeitet hat? Hätte ihn das in die Gegend um Mile End führen können? Vielleicht nach Whitechapel? Das zu wissen könnte für unsere Ermittlungen sehr wichtig sein, Sir.«

»Nein, davon ist mir nichts bekannt. Vermutlich weiß Mr. fford Croft etwas darüber.«

»Immer vorausgesetzt, dass es sich bei seiner nächtlichen Unternehmung um eine juristische Angelegenheit gehandelt hat«, ergänzte Letterman mit spöttischem Lächeln.

»Ich wüsste nicht, was ihn sonst um zwei Uhr nachts dorthin hätte führen können.« Kaum hatte Daniel das gesagt, als ihm aufging, wie weltfremd das klang. Doch ihn ärgerte die unausgesprochene Unterstellung des Inspectors, so berechtigt diese auch sein mochte. Drake war tot und konnte sich nicht mehr zur Wehr setzen.

Letterman lächelte spöttisch. »Dann müssen Sie aber ein ausgesprochen fantasieloser junger Mann sein, Mr. …?«

»Pitt.« Daniel merkte, wie er errötete. »Ich denke, Mr. Drake hatte derlei nicht nötig.«

Letterman stieß die Luft aus. »Irgendwie mit Thomas Pitt verwandt?«

»Mein Vater.«

»Aha. Ich habe mal mit ihm zusammengearbeitet, als er ein einfacher Polizeibeamter war. In dem Fall sind Sie womöglich doch nicht ganz so fantasielos, wie ich gedacht habe«, stieß Letterman brummig hervor. »Was wissen Sie über Drake? Nach den Verletzungen zu urteilen, war das eine ausgesprochen brutale Attacke. Man könnte glauben, dass das nicht einfach ein besonders brutaler Raubüberfall war, sondern es eher um ein persönliches Rachegelüst ging.«

»Ich würde es Ihnen sagen, wenn ich es wüsste«, erwiderte Daniel in etwas schärferem Ton als zuvor.

»Tatsächlich? Statt die Kanzlei fford Croft and Gibson vor unangenehmem Klatsch zu bewahren? Ist das nicht ein bisschen illoyal? Sie haben wohl einen Groll auf den Mann?« Auf Lettermans Zügen lag der gleiche gekünstelt freundliche Ausdruck wie zuvor, aber in seinen Augen funkelte so etwas wie Boshaftigkeit.

»Wir sind in erster Linie den Gesetzen verpflichtet«, gab Daniel zurück. Als er merkte, wie wichtigtuerisch das klang, nahm er sich ein wenig zurück. »Sollte Mr. Drake etwas Unrechtes getan haben, wäre es für uns ohnehin das Beste, das offen zuzugeben. Andernfalls würde es, wenn herauskommt, worum es in Wahrheit ging, so aussehen, als hätten wir mit ihm unter einer Decke gesteckt. Und es wird bestimmt herauskommen … Vorausgesetzt, Sie tun, was Ihre Aufgabe ist.«

»Sie können ja richtig bissig sein, Mr. Pitt«, spottete Letterman. Er wirkte belustigt. »Der Sohn von Sir Thomas Pitt, Leiter der Abteilung Staatsschutz. Haben Sie zufällig vor, in seine Fußstapfen zu treten?«

Daniel spürte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg. »Ich möchte es gern auch so weit bringen wie er, aber ich bin nicht bei der Polizei, sondern Anwalt.«

In jetzt sachlichem Ton sagte Letterman: »Nun, wir werden uns nach Kräften bemühen festzustellen, wer Ihren Mr. Drake ermordet hat, aber versprechen kann ich nichts. Die Menschen in jenem Teil der Stadt sind der Polizei gegenüber nicht besonders mitteilsam. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, werden Sie Mr. fford Croft die traurige Nachricht überbringen. Sicherlich weiß er, ob Drake Angehörige hatte. Außerdem ist vermutlich jemand in Ihrer Kanzlei bevollmächtigt, seine sonstigen Angelegenheiten zu erledigen, Verwertung seines Nachlasses und so weiter.«

»Ja«, sagte Daniel mit tonloser Stimme.

»Wir werden Ihre Kanzlei aufsuchen und jeden befragen, der ihn gekannt hat. Vielleicht weiß ja jemand, warum er sich um diese sonderbare Zeit in Mile End aufgehalten hat. Außerdem werden wir uns an Ort und Stelle umhören. Aber machen Sie sich keine zu großen Hoffnungen. Es war wohl jemandem nicht recht, dass er dort welcher Angelegenheit auch immer nachgegangen ist. Allerdings kann ich mir wirklich nicht vorstellen, warum er das ausgerechnet zu jener nachtschlafenden Zeit getan hat. Manchen Leuten ist einfach nicht bewusst, welche Gefahren sie damit auf sich nehmen.« Er erhob sich zum Zeichen, dass die Besprechung zu Ende war. »Danke, Mr. Pitt.«

Auch Daniel stand auf. Ganz offensichtlich war der Mann nicht bereit, ihm mehr zu sagen. »Ja, Sir. Ich werde Mr. fford Croft informieren. Ich denke, er wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen.«

Daniel nahm eine Droschke zurück nach Lincoln’s Inn Fields. Mit fragender Miene trat ihm Impney im Vestibül entgegen. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, Daniel geradeheraus zu fragen, was es gegeben hatte. »Eine Tasse Tee, Sir? Und dazu vielleicht ein Stück Zitronenkuchen?«

Daniel dankte ihm. »Ja, das wäre mir jetzt sehr recht, um den Pathologie-Geschmack von der Zunge zu bekommen.«

»Ja, Sir. Soll ich Ihnen in Ihrem Büro servieren oder vielleicht in dem von Mr. Kitteridge?«

»Ist er endlich da?« Daniel hatte seine Besorgnis über dessen Ausbleiben beinahe vergessen.

»Ja, Sir, seit etwa einer Viertelstunde.«

»Dann bitte in seinem Büro. Vielen Dank.«

Daniel ging die wenigen Schritte, klopfte kräftig an Kitteridges Tür und öffnete sie, ohne auf das »Herein!« zu warten.

Kitteridge saß mit einem Aktenbündel vor sich am Schreibtisch. Erst verblüfft und dann empört, blickte er dem Eintretenden entgegen. Er holte tief Luft, um etwas zu sagen, aber Daniel kam ihm zuvor.

»Sie leben also noch, und es fehlt Ihnen nichts?«, sagte er in beißenderem Ton, als er eigentlich beabsichtigt hatte. Der Gedanke, Kitteridge sei tot, hatte ihm sehr zugesetzt. Es erfüllte ihn mit grundlosem Zorn, den Mann quicklebendig vor sich zu sehen, offenbar ohne die geringste Vorstellung davon, welche Ängste man um ihn ausgestanden hatte.

Erstaunt und zugleich gekränkt, sah ihn Kitteridge an. »Natürlich fehlt mir nichts. Wo waren Sie? Sie sehen entsetzlich aus.«

Daniel merkte, dass er mit einem Mal zitterte. Er zog sich einen der Besucherstühle heran und setzte sich. »Im Leichenschauhaus der Polizei«, sagte er. »Um die Leiche eines Mannes zu identifizieren, der Ihren affenscheußlichen Mantel getragen hatte!«

Kitteridge sah ihn verdutzt an. »Was reden Sie da? Ich habe ihn Drake geliehen …«

»Und er hatte ihn an, als man ihn umgebracht hat«, ließ Daniel Kitteridge mit finsterer Miene wissen. »Ich komme gerade von der Identifizierung seiner Leiche zurück.«

»Was?« Alles Blut war aus Kitteridges Gesicht gewichen.

»Muss ich es noch einmal sagen?«

Kraftlos ließ sich Kitteridge gegen die Lehne seines Stuhls sinken. »Nein. Nein, müssen Sie nicht. Aber wie ist es dazu gekommen?« Seine Stimme klang belegt.

»Das weiß ich nicht. Die Polizei geht der Sache nach. Er hatte nichts bei sich, womit man ihn hätte identifizieren können, und so wusste niemand, wer er war. Wohl aber wurde in einer der Manteltaschen eine meiner Visitenkarten gefunden, und daher hat man mich geholt.«

»Wozu hatte Drake denn eine Karte von Ihnen?« Kitteridge wirkte verwirrt, wie jemand, der mit einem gewichtigen Problem zu kämpfen hatte.

Daniel verstand seine Reaktion nur allzu gut. Keiner von ihnen beiden hatte viel mit Drake zu tun gehabt, obwohl sie ihn vom Tag ihres Kanzleieintritts an kannten. Bei Kitteridge lag das etwa acht Jahre zurück, bei Daniel hingegen erst zwei. Der Tod eines jeden Menschen, den sie kannten, würde sie tief treffen; aber ein gewaltsamer Tod wie dieser würde sich auf jeden Fall auf immer in ihr Gedächtnis eingraben, unabhängig davon, dass keiner von ihnen beiden Drake näher gekannt oder besondere Sympathien für ihn gehabt hatte. Angesichts dieses plötzlichen, entsetzlichen und unvorhersehbaren Todes war das nicht mehr wichtig.

»Ich wüsste nur gern«, sagte Daniel in einem Ton, als sei die Antwort von Bedeutung, »warum er Ihren verdammten Mantel anhatte. Bei dem fliegen doch sogar die Krähen vor Schreck davon!«

»Er wollte ihn sich unbedingt ausleihen«, erwiderte Kitteridge. Er schien darüber nach wie vor erstaunt zu sein. »Ich will doch sehr hoffen, dass er die Absicht hatte, ihn zurückzugeben …«

»Den wollen Sie bestimmt nicht mehr haben«, sagte Daniel, wobei er es vermied, seinen Kollegen anzusehen. »Nicht mal, wenn man ihn reinigen und flicken könnte. Denken Sie …« Er hielt inne. Er hatte fragen wollen, ob jemand Drake mit Kitteridge verwechselt haben könnte. Beide waren von ungefähr gleicher Größe. Nun bedauerte er seine Taktlosigkeit und sah den Kollegen mit einem Blick an, in dem die Bitte um Verzeihung lag. In Kitteridges Augen erkannte er, dass dieser seinen Gedankengang begriffen hatte.

»Sie haben recht, ich will ihn nicht zurück«, sagte Kitteridge mit Nachdruck. »Drake war gerade mit keinem meiner Fälle beschäftigt. Im Augenblick habe ich nichts besonders Wichtiges zu erledigen, lauter Nachlasssachen – nicht mal eine Anfechtungsklage ist dabei. Der arme Drake. Auch wenn ich ihn nicht besonders gut leiden konnte – meiner Ansicht nach war er ein ziemlich unglücklicher Mensch –, wünsche ich niemandem ein solches Ende.«

Daniel erhob sich. »Ich sollte wohl allmählich zu fford Croft gehen und ihm Bescheid geben.« Es wäre ihm recht gewesen, wenn ihm jemand diese Aufgabe abgenommen hätte, aber das war nicht möglich.

»Soll ich mitkommen?«, fragte Kitteridge, ohne sich zu rühren.

»Haben Sie eine Vorstellung davon, was hinter dieser Geschichte stecken könnte?«, fragte Daniel. »Wissen Sie wenigstens, wohin er wollte? Die Polizei vermutet, dass die Tat gegen zwei Uhr nachts begangen wurde.«

»Und wo?«

»Irgendwo zwischen Whitechapel und Mile End.«

Kitteridge verzog das Gesicht. »Was zum Teufel mag er da gewollt haben?«

»Keine Ahnung. Jedenfalls wohl keinen Zeugen unter Eid befragen, zumal nicht um die Zeit. Ich gehe jetzt zum Chef …«

»Wenn Sie wollen, komme ich mit«, bot Kitteridge erneut an.

Mit einem Lächeln gab Daniel zurück: »Sehr freundlich, aber das könnte so aussehen, als ob ich nicht Manns genug wäre, das allein zu tun.« Er ging hinaus. Auf halbem Weg kam ihm Impney mit einem Teetablett entgegen. »Ich glaube, das könnte der Chef jetzt gut brauchen«, sagte Daniel.

Impney machte kehrt und folgte ihm zu dem großen Büro, an dessen Tür ein Schild mit dem Namen Marcus fford Croft prangte.

Daniel klopfte an, trat aber erst ein, nachdem die Aufforderung dazu ertönt war. Er hielt Impney die Tür auf.

Obwohl der Kanzleichef weder besonders groß war noch seine Züge auf den ersten Blick sonderlich bemerkenswert wirkten, hatte er eine beachtliche Ausstrahlung. Sein einst kastanienbraunes Haar war weiß geworden, hatte von seiner Fülle aber nichts eingebüßt. Die Knöpfe der weinroten Samtweste über dem blütenweißen Hemd schienen seine Körperfülle kaum bändigen zu können. Um den Hals trug er eine sorgfältig geknotete Krawatte in einem etwas helleren Farbton als die Weste. Als Impney das Tablett abstellte, sah fford Croft zu ihm hinüber, woraufhin sich der Kanzleidiener leicht verneigte und wortlos den Raum verließ.

»Was gibt es?«, wandte sich fford Croft an Daniel.

»Zu meinem großen Bedauern muss ich Ihnen eine äußerst schlechte Nachricht überbringen, Sir«, antwortete Daniel beklommen und ein wenig steif.

Marcus fford Croft runzelte die Stirn. »Was sagen Sie da? Soweit ich weiß, arbeiten Sie doch zur Zeit an keinem Fall.«

»Nein, Sir. Ich …« Daniel hielt inne. Jetzt ganz ruhig. Eins nach dem anderen. Er bemühte sich, gefasst zu klingen. »Sir, heute Vormittag hat mich die Polizei gebeten, in der Pathologie einen Toten zu identifizieren. Der Mann hatte meine Karte in der Tasche. Er trug Kitteridges Mantel, als man ihn fand …«

»Augenblick mal!« Donnernd fuhr fford Crofts Faust auf den Aktenstapel vor ihm. »Was für einen Unsinn reden Sie da? Und was ist Ihre schlechte Nachricht?«

Daniel straffte sich ein wenig. »Mr. Drake ist tot, Sir.«

fford Croft erstarrte. Mit weit aufgerissenen Augen fragte er: »Doch nicht unser Mr. Drake? Jonah? Großer Gott! Der Ärmste. Ich wusste gar nicht, dass er krank war.«

»Er war nicht krank, Sir. Man hat ihn erstochen, deshalb ist er in der Pathologie gelandet. In Kitteridges Mantel. Zu mir ist man gekommen, weil man meine Karte in seiner Tasche gefunden hatte und er allem Anschein nach nichts mit seinem eigenen Namen darauf bei sich führte …« Daniel hielt inne, weil ihm aufgegangen war, was er damit indirekt gesagt hatte. »Wahrscheinlich hat man ihm die Brieftasche gestohlen, Sir.«

fford Croft schüttelte den Kopf. Er war bleich geworden; alles Blut schien aus seinem Gesicht gewichen zu sein.

»Armer Kerl. Wie in aller Welt ist das passiert? Sind die Straßen unserer Stadt inzwischen so gefährlich geworden? Ich …« Die Sache war ihm offenbar rätselhaft. Er schien verwirrt zu sein und nicht zu wissen, was er sagen sollte. Er wirkte verletzlich, und es kam Daniel vor, als sei er von einem Augenblick auf den anderen deutlich gealtert.

Daniel goss ihm Tee ein, gab etwas Milch hinzu und reichte ihm die Tasse.

fford Croft leerte sie zur Hälfte, ohne den Blick zu heben. Einen Moment lang war Daniel erleichtert.

»Die Tat ist in einer anrüchigen Gegend von Mile End geschehen, Sir …«, sagte er schließlich. »In einem finsteren Seitengässchen der Anthony Street.«

»Gibt es in Mile End Gegenden, die nicht anrüchig sind?«, fragte fford Croft. »Was kann er da um alles in der Welt gewollt haben?«

»Das weiß ich nicht, Sir. Jedenfalls hat man ihn wohl beraubt und alle seine Papiere mitgenommen.«

»Wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass er ein ordentliches Begräbnis bekommt. Meines Wissens hatte er keine näheren Verwandten.« fford Croft schüttelte den Kopf. »Aber was kann er da nur gewollt haben?«, wiederholte er. »Keiner seiner Fälle hätte es erforderlich gemacht, in aller Herrgottsfrühe nach Mile End zu fahren.«

»Es war nicht in aller Herrgottsfrühe, Sir, sondern gegen zwei Uhr nachts. Ich vermute, dass er gestern am späten Abend dorthin gefahren ist. Vielleicht finden sich in seinem Büro Unterlagen, die uns verraten, was er dort gewollt haben könnte.«

»Möglich. Ja, möglich.« fford Croft leerte seine Tasse und sah dann Daniel erneut an. »Danke. Ich muss mir das alles in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Es ist eine äußerst traurige Geschichte. Sehr beklemmend. Was sagt die Polizei dazu? Glaubt man, dass er das Zufallsopfer eines Raubüberfalls geworden ist?«

Daniel überlegte, auf welche Weise er den Schock ein wenig abmildern könnte, doch dann machte er sich klar, dass er nicht das Recht hatte, seinem Kanzleichef etwas vorzuenthalten – nicht einmal, um ihn zu schonen. Er hatte einen Anspruch darauf, die ganze Wahrheit zu erfahren. »Das ist durchaus möglich«, gab er zur Antwort. »Allerdings hat sich der Täter nicht damit begnügt, ihn umzubringen, sondern ihn mit ungewöhnlicher Brutalität übel zugerichtet. Mr. Drake hat … mehrere klaffende Wunden wie von einer scharfen Klinge …«

fford Croft sah ihn fragend an. »Sind Sie sich Ihrer Sache sicher? Oder geht hier ein Hang zum Melodramatischen mit Ihnen durch?«

»Keineswegs, Sir. Sie können sich jederzeit bei der Polizei erkundigen.«

»Das werde ich auf jeden Fall tun. Haben die Leute eine Vermutung, welche Bande dahinterstecken könnte?«

»Nein, Sir. Ich bin davon überzeugt, dass die Polizei uns dankbar wäre, wenn wir sie unterstützen könnten. Mit Sicherheit wird jemand herkommen, um sich anzusehen, an welchen Fällen Mr. Drake gerade gearbeitet hat. In seinen Unterlagen dürfte man mit größter Wahrscheinlichkeit die Erklärung für die Tat finden.«

In Gedanken verloren, starrte der Kanzleichef auf die gegenüberliegende Wand. »Das nehme ich auch an. Ich will mir gleich einmal ansehen, was er so auf dem Schreibtisch hat …«

»Das können doch Kitteridge und ich übernehmen, Sir.«

»Kommt überhaupt nicht infrage! Ich werde mir einen genauen Überblick darüber verschaffen, womit sich Drake in letzter Zeit beschäftigt hat. Er hat mich mit seinen Fällen nicht immer auf dem Laufenden gehalten … jedenfalls nicht in allen Einzelheiten.« Er stand ein wenig steif auf. »Der arme Kerl.«

Daniel versuchte, ihn zu trösten. »Bei der Polizei hat man mir gesagt, dass er wahrscheinlich nicht lange gelitten hat, Sir.«

fford Croft war bleich und wirkte ein wenig benommen. »Was?« Er sah Daniel verständnislos an.

»Er hat nicht lange leiden müssen«, erläuterte Daniel, »er war fast sofort tot.«

»Ach so. Ja. Vielen Dank – wenigstens ein Trost.« fford Croft schüttelte den Kopf. »Jetzt machen Sie sich wieder an die Arbeit. Ich kümmere mich um diese Angelegenheit. Der Arme hat keine Angehörigen. Ich muss mit allen in der Kanzlei reden, aber anfangen werde ich mit seinem Praktikanten Hobson. Der darf das nicht so zwischen Tür und Angel erfahren, man muss es ihm auf die richtige Weise beibringen. Außerdem muss ich natürlich jemanden damit beauftragen, sich mit Drakes Aufgaben zu beschäftigen.« Erneut schüttelte er den Kopf. »Was er nur in Mile End gewollt haben mag? Ausgerechnet Mile End. Großer Gott! Wie soll das nur enden? Danke, Pitt. Ich … danke Ihnen.«

Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und ging an Daniel vorbei zur Tür, gegen die er beinahe gestoßen wäre. Er öffnete sie und strebte unsicheren Schritts über den Gang Drakes Büro entgegen. Während Daniel allein zurückblieb, drängte sich ihm erneut das Bild der schrecklichen Wunden an Drakes Leiche auf. Sonderbarerweise erfüllte ihn eine plötzliche Besorgnis um seinen Kanzleichef.

KAPITEL 2

Daniel merkte, wie erschöpft er war. Der Tag hatte ihm zugesetzt – zu den Ängsten, die er um Kitteridge ausgestanden hatte, war das Entsetzen über den Anblick von Drakes grauenhaft zugerichtetem Gesicht gekommen. Ebenso hatte es ihn belastet, dem Leiter der Kanzlei das Vorgefallene berichten zu müssen, voller Sorge, wie dieser darauf reagieren würde. Obwohl Drakes Züge entstellt waren, hatten sie auf Daniel vertraut gewirkt – immerhin hatte er den Mann gekannt, seinen scharfen Verstand, seine Ansichten, allerdings nicht seine Empfindungen.

Nicht nur für den Kanzleileiter, sondern auch für Daniel wäre alles einfacher gewesen, hätte sich fford Crofts Tochter Miriam in London befunden. Während Daniel an sie dachte, sah er sie förmlich vor sich: ihr leuchtend kastanienbraunes Haar, die Art, wie sie den Kopf neigte, die lebhaften tiefblauen Augen. Mit ihrer praktischen Art würde sie sich um ihren Vater kümmern, dafür sorgen, dass er nicht mehr Kognak trank, als gut für ihn war, ohne es ihm vorzuhalten, wenn er es doch tat. Vor allem aber würde sie seinen Kummer teilen, sein Entsetzen lindern, ihn trösten.

Aber sie war nach Holland gegangen, um zu studieren. Zwar war sie bereits mit einem Großteil dessen vertraut, was man ihr dort auf den Gebieten der Medizin, der Chemie und der allgemeinen Forensik beibringen würde, aber da man in England Frauen nicht zur Gerichtsmedizin zuließ, blieb ihr die Aufnahme in Körperschaften verwehrt, denen angehören musste, wer seinen Beruf auf diesem Gebiet ausüben wollte. Sicher, sie konnte vor Gericht als Gutachterin auftreten und hatte das auch bereits getan, wurde aber als Dilettantin betrachtet, weil sie eine Frau war. In Holland war man in dieser Beziehung deutlich weiter, und so hatte Dr. Evelyn Hall – kurz Dr. Eve genannt –, möglicherweise die bedeutendste Gerichtsmedizinerin Großbritanniens, ihr geraten, ganz wie einst sie selbst ihre akademischen Abschlüsse in Holland zu erwerben. Nach längerem Überlegen hatte Miriam die Anregung ihrer Förderin befolgt. Während Daniel an Dr. Eves entschlossenes Auftreten und scharfen Verstand dachte, trat unwillkürlich ein Lächeln auf seine Züge. Zu behaupten, sie sei exzentrisch, wäre untertrieben gewesen.

Miriam konnte es sich nicht leisten, Kurse oder gar Prüfungen zu versäumen. Im Falle einer Erkrankung ihres Vaters wäre sie selbstverständlich sofort nach Hause gereist. Daniel gestand sich ein, dass er sie vermisste, so sehr es ihn freute, dass sie endlich ihren Traum verwirklichen konnte. Dann würde sie die verdiente Anerkennung finden und ihre beachtlichen Fähigkeiten für andere nutzbar machen können. Ihm fehlten ihr trockener Humor und ihr analytischer Verstand ebenso wie ihre Art, großmütig über seine kleinen Schwächen hinwegzusehen. Er gestand sich ein, dass es ihm meist zu spät aufgefallen war, wenn er sie unbeabsichtigt gekränkt oder verletzt hatte.

An diesem Abend war es ihm lieb, dass er, wann immer ihm danach war, zum Essen in seinem Elternhaus auftauchen durfte – eine Möglichkeit, von der er nicht oft Gebrauch machte. Mitunter aß er mit einer jungen Frau, die er gut leiden konnte, oder mit guten Bekannten zu Abend – es sei denn, er war dafür zu müde und froh, allein sein zu können. Doch an diesem Abend sehnte er sich nach einem Gespräch mit verständigen Menschen.

Obwohl Königin Victoria Pitt zum Ritter geschlagen hatte, bewohnte er mit seiner Frau Charlotte nach wie vor das Haus in der Keppel Street, in dem Daniel und seine Schwester Jemima in deutlich bescheideneren Verhältnissen aufgewachsen waren. Wie seit Jahren stand Pitt an der Spitze des von der Polizei unabhängigen Staatsschutzes. Aufgabe dieser Abteilung war der Kampf gegen Landesverrat und Terrorismus, wobei ihr besonderes Augenmerk Anarchisten und Bombenlegern galt.

Daniels Mutter öffnete auf sein Klingeln hin. Vielleicht hatte sie geahnt oder zumindest gehofft, er könnte es sein. In seinen Augen sah sie aus wie immer, aber natürlich waren die Jahre auch an ihr nicht spurlos vorübergegangen. Sie hielt sich nach wie vor aufrecht, und ihr Haar hatte den gleichen mahagonifarbenen Schimmer wie in seinen Kindertagen. Bei Daniels Anblick trat ein Lächeln auf ihre Züge, und ihre Augen strahlten vor Freude, als er sie in der Diele umarmte.

Sie sah ihn aufmerksam an und fragte: »Was gibt es?«

Er war zwar noch nicht bereit, seinen Eltern anzuvertrauen, was ihn beunruhigte, wollte aber auch nicht lügen, denn damit würde er das Vertrauen zwischen ihnen zerstören. So erklärte er mit bemühtem Lächeln: »Das sage ich später. Es ist allerdings eine lange Geschichte, und ich habe ordentlich Hunger.«

Mit den Worten »Komm herein und setz dich« ging sie ihm ins Wohnzimmer voraus.

Davon abgesehen, dass die Pitts vor einiger Zeit zwei Räume zu einem großen Wohnzimmer hatten zusammenlegen lassen, hatte sich dort seit Daniels Kindertagen kaum etwas geändert. Der eine Raum hatte ein kleines Erkerfenster zum Vorgarten gehabt, aus dem anderen fiel der Blick durch die Fenstertüren in den Garten hinter dem Haus mit seiner links und rechts von Blumenbeeten gesäumten Rasenfläche. Dort hatte es früher auch einen kleinen Sandkasten gegeben, in dem Daniel mit seiner Schwester gespielt hatte. Bei der Erinnerung daran trat ein flüchtiges Lächeln auf seine Züge. Jemima war schon seit einiger Zeit in Amerika verheiratet und hatte zwei kleine Töchter, während er selbst nach seinem Studium in Cambridge als Rechtsanwalt tätig war und sich in seinem behaglichen Gästehaus ausgesprochen wohlfühlte. Die Erinnerung an den schon lange nicht mehr existierenden Sandkasten war sonderbar tröstlich und beruhigend.

Inzwischen war auch seine Mutter eingetreten. Daniel sah zu seinem Vater, der in seinem Lieblingssessel saß. Seine inzwischen von vielen grauen Fäden durchzogenen Haare standen wie immer zu Berge. Zwar brachte es seine herausgehobene Position als Leiter einer Behörde mit sich, dass er sich nicht mehr so leger kleidete wie früher, doch die Gewohnheit, sich die Taschen mit allerlei Krimskrams vollzustopfen, hatte er nicht abgelegt, und seine Krawatte saß nur selten richtig. Als er Daniels Eintreten bemerkte, erhob er sich, und während er den Sohn aufmerksam musterte, entging ihm nicht, dass etwas nicht stimmte. Dass ihn der Vater so gut kannte und so einfach durchschaute, beunruhigte Daniel; er empfand es beinahe als aufdringlich. Trotzdem sah er darin einen deutlichen Hinweis darauf, dass ihn die Menschen liebten, die ihn durch und durch kannten, denen alle seine Schwächen und Fehler bewusst waren und die trotzdem an das Gute, zu dem er fähig war, glaubten – möglicherweise ausgeprägter als er selbst.

Eigentlich hatte er die Absicht gehabt, seinen Eltern nach und nach zu berichten, was ihn bedrückte, doch schwand diese schlagartig dahin, als ihn sein Vater mit festem Griff am Arm fasste und zu einem der beiden Sessel am Kamin führte, in dem an diesem lauen Maiabend kein Feuer brannte. Pitt, der sogleich gemerkt hatte, dass sein Sohn etwas loswerden wollte, nahm wortlos Platz und wartete.

»In der vergangenen Nacht ist ein Teilhaber unserer Sozietät umgebracht worden«, sagte Daniel ohne Einleitung. »Die Polizei hat mich am Vormittag in die Pathologie gerufen, weil man hoffte, dass ich ihn identifizieren könnte. Er hatte sich Kitteridges Mantel geliehen, in dessen Tasche eine meiner Karten steckte. Davon abgesehen hatte man keinerlei Papiere bei ihm gefunden.«

Pitt nahm nüchtern die Fakten zur Kenntnis. »Er hatte einen Mantel an? Dann war er also nicht zu Hause, sondern außerhalb unterwegs. Und seine Brieftasche ist verschwunden?«

»In einer besonders verrufenen Gegend von Mile End«, erläuterte Daniel. »Einem finsteren Seitengässchen der Anthony Street.« Er holte tief Luft, konnte aber nicht verhindern, dass er bei dem Gedanken an das Geschehene leicht zitterte. »Man hat ihn … mit einem Messer oder dergleichen unvorstellbar übel zugerichtet. Alles war voll Blut.«

Charlotte, die auf dem Sofa saß, beugte sich vor und legte Daniel wortlos mit beruhigender Geste eine Hand auf den Arm.

»Also ganz offensichtlich Mord«, folgerte Pitt grimmig. »Teilhaber bei euch? Wer?«

»Jonah Drake.«

Pitts Miene änderte sich kaum wahrnehmbar, so als sei ein leichter Schatten auf sein Gesicht gefallen. »Weißt du, was er dort wollte?«, fragte er.

»Noch nicht. Da er für keinen seiner Fälle nach Mile End gemusst hätte, hat sich natürlich die Frage gestellt, warum er diese verrufene Gegend aufgesucht hat – noch dazu um zwei Uhr nachts.«

»Entweder, weil es doch um einen Fall ging – oder um seines privaten Vergnügens willen«, gab Pitt mit spöttisch verzogenem Mund zurück. Er hatte seine Laufbahn als einfacher Streifenpolizist angefangen und sich allmählich bis zum Leiter einer Wache in der Mitte Londons emporgearbeitet. Bei den meisten der von ihm in jenen Jahren aufgeklärten Mordfälle war es um Angehörige der besseren Kreise und das eine oder andere Mal sogar um solche der Hocharistokratie gegangen. Infolge einer Intrige mächtiger Persönlichkeiten war er aus dem Polizeidienst entlassen worden, doch hatte ihn zum Glück schon bald der Staatsschutz übernommen. Weil dessen Tätigkeit geheim war, durfte er seither über so gut wie keinen seiner Fälle mit Außenstehenden reden, zu denen selbstverständlich auch seine Angehörigen zählten.

»Wie hat Marcus das aufgenommen?«, erkundigte sich Pitt. Daniel wusste, dass sein Vater und fford Croft seit vielen Jahren gute Freunde waren und einander mitunter einen Gefallen erwiesen. Ihm war auch durchaus bewusst, dass er seine eigene Anstellung dieser engen Beziehung zwischen seinem Vater und fford Croft verdankte, doch darüber wurde nie gesprochen.

Pitt wartete.

»Ich nehme an, dass ihn das ziemlich mitgenommen hat«, begann Daniel. »Ich …« Er wusste nicht recht, wie er seine Ansicht formulieren sollte. Er war nicht einmal sicher, ob er überhaupt sagen wollte, was er vermutete.

»Weißt du, woran Drake in letzter Zeit gearbeitet hat?«, fragte ihn sein Vater.

»Ja. Mr. fford Croft hat gesagt, dass es sich dabei um einen Fall von Unterschlagung handelte. Normalerweise ist das etwas ganz Gewöhnliches, aber der hier soll gewisse Tücken haben«, erläuterte Daniel. »Und er weist, von der ungewöhnlichen Tageszeit einmal ganz abgesehen, nicht in Richtung Mile End, sondern im Gegenteil in den Westen der Stadt, nach Eaton Place, Park Lane oder Mayfair.«

»Man hat dir aber seine Aufgaben nicht übertragen?«, erkundigte sich Charlotte mit besorgter Miene.

Daniel lächelte. »Nein, Mutter. Seine Spezialität waren komplizierte Fälle der Finanzwirtschaft. Dafür reichen weder meine bescheidenen Kenntnisse der Mathematik noch die auf dem Gebiet des Bankwesens aus. Ganz davon abgesehen, traut man einem Anfänger wie mir nicht sonderlich viel zu. Seine Aufgaben wird einer der anderen Teilhaber übernehmen.«

»Und worüber macht sich Marcus dann Sorgen?«, fragte Pitt und sah seinen Sohn aufmerksam an. »Er und Drake haben einander früher ziemlich nahegestanden. Unabhängig davon, ob man ihn leiden konnte oder nicht, ist unbestritten, dass Drake ein ausgesprochen tüchtiger Jurist war, der einen bedeutenden Teil des Einkommens der Sozietät erwirtschaftet hat …«

»Thomas, selbst wenn man einen Menschen überhaupt nicht leiden kann, erschüttert es einen doch zutiefst, wenn er in einer finsteren Gasse von Mile End erstochen wird!«, hielt ihm Charlotte vor.

»In einem solchen Fall ist man bekümmert, von mir aus bedrückt«, räumte Pitt ein und sah erneut Daniel an. »Aber man macht sich keine übertriebenen Sorgen – und auf keinen Fall fürchtet man um seine eigene Sicherheit.«

»Ich habe nicht gesagt, dass Mr. fford Croft Angst hat«, entgegnete Daniel ein wenig zu rasch. »Ich … ich denke, dieser Schlag aus heiterem Himmel hat ihn beunruhigt. So etwas erinnert uns alle daran, dass man nichts im Leben als gegeben ansehen darf.« Er versuchte in Worte zu fassen, was er empfand. »Keiner in der Kanzlei konnte Mr. Drake besonders gut leiden, aber wir waren an seine Anwesenheit gewöhnt – und offen gestanden haben wir ihn wegen seiner herausragenden Fähigkeiten bewundert. Jetzt ist er mit einem Mal nicht mehr da. Da geht einem doch unwillkürlich durch den Kopf, dass so etwas jedem zustoßen könnte. Natürlich war das schon immer so, aber Menschen, deren Leben in sicheren Bahnen verläuft, denken vielleicht irgendwann nicht mehr daran …«

Charlotte sah zuerst zu ihrem Mann und dann zu Daniel. »Hältst du dich oft um zwei Uhr nachts in Mile End auf?«

»Selbstverständlich nicht! Aber …«

»Dann willst du also wohl in Wirklichkeit sagen, dass dich dieser Vorfall dazu gebracht hat, dich mit bestimmten Seiten der Menschen an deinem Arbeitsplatz intensiver zu beschäftigen, als du es sonst getan hättest. Du siehst dich genötigt, deine ursprünglichen Annahmen zu korrigieren, auch in Bezug auf Marcus fford Croft und …«

Pitt fiel ihr ins Wort. »Marcus ist …«, begann er.

Charlotte schüttelte den Kopf. »… ein ausgesprochen freundlicher und liebenswürdiger Mensch«, beendete sie seinen Satz. »Aber jeder von uns hat Schwächen, Fehler, von denen andere nichts erfahren sollen. Je persönlicher so etwas ist, desto mehr liegt uns daran, es … vor anderen geheim zu halten.«

Daniel sah sie überrascht an.

»Du weißt, dass ich deinen Vater kennengelernt habe, als er die Ermittlungen im Zusammenhang mit der Ermordung meiner älteren Schwester führte«, sagte sie. »Das war natürlich lange vor deiner Geburt. Damals ist mir klar geworden, wie wenig wir über andere Menschen wissen, sogar über enge Angehörige. Auch die Menschen, die wir am meisten lieben, begehen Fehler, ganz wie wir selbst, wenn wir unter Druck stehen.« Die Röte stieg ihr in die Wangen, doch sie nahm den Blick nicht von seinem Gesicht. »Wir neigen dazu, Menschen, die wir lieben, zu idealisieren, und erwarten häufig zu viel von ihnen, wie vielleicht auch sie von uns. Wahre Liebe lässt uns nicht im Stich, wenn wir schwach sind und versagen. Möglicherweise wirst du dies und jenes in Bezug auf fford Croft und auch auf andere Menschen entdecken, was dir nicht sonderlich gefallen wird. Macht dir das womöglich Angst?«

Eine Weile sagte niemand etwas darauf.

Daniels Gedanken jagten sich. Ihm fiel ein, dass seine Mutter und seine Tante Emily eine weitere Schwester gehabt hatten – Sarah. Im Zusammenhang mit dem Mord an ihr waren der junge Polizeibeamte Thomas Pitt und die aus einer wohlhabenden und gesellschaftlich hochstehenden Familie stammende Charlotte Ellison einander begegnet. Sie wirkten als Paar so natürlich und fühlten sich so wohl miteinander, dass er so gut wie nie daran dachte, wie unterschiedlich ihre Herkunft gewesen war. Für das Leben, das er kannte, schien das gänzlich belanglos zu sein.

Was seine Mutter gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Er fürchtete sich vor den Veränderungen, die Drakes Tod mit sich bringen würde. Deutlich standen ihm dessen Auswirkungen auf die Kanzlei und auch auf Marcus fford Croft vor Augen. Daniel mochte Letzteren, hatte seine Verschrobenheit kennengelernt, seine mitunter verblüffende Gutherzigkeit und in letzter Zeit auch seine Verletzlichkeit. Wenn man es recht bedachte, wirkte er immer zerstreuter und vergaß mitunter wichtige Einzelheiten.

Pitt ließ den Blick zwischen Charlotte und Daniel hin und her wandern. »Wahrscheinlich hat es mit einem von Drakes Fällen zu tun«, bemerkte er. »Es könnte sich empfehlen, dass du sie dir noch einmal ansiehst, bevor sich die Polizei damit befasst. Soweit ich mich erinnere, ging es in einigen davon um prominente Persönlichkeiten. Hast du dich schon mit ihnen beschäftigt? Tu es gemeinsam mit diesem Kitteridge. Du traust ihm doch, oder?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage.

»Ja«, bestätigte Daniel. »Wir haben uns heute Nachmittag übrigens schon mindestens ein halbes Dutzend dieser Fälle vorgenommen.«

»In Marcus’ Auftrag?«, erkundigte sich Pitt.

»Er hat es uns nicht ausdrücklich aufgetragen, sondern uns angewiesen festzustellen, welche noch nicht abgeschlossen sind, und sie ihm vorzulegen, damit er sie einem geeigneten Bearbeiter zuweisen kann. Zum Glück gibt es nur einen Fall, der wirklich wichtig ist – Unterschlagung und Betrug. Mutmaßlich geht es da um höhere Beträge. Von solchen Dingen lassen Kitteridge und ich die Finger, denn dafür braucht man ganz spezielle Kenntnisse wirtschaftlicher Zusammenhänge und der entsprechenden Gesetze. Möglicherweise müssen wir ihn einer anderen Kanzlei übergeben. Das wäre schlecht, weil wir dann den Mandanten verlieren würden. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Anwalt einen Kollegen ermordet, um einen solchen Fall zu bekommen.«

»Und die anderen Fälle?«, fasste Pitt nach. »Womit hat oder hatte er sich außerdem beschäftigt? Könnte da ein Zusammenhang mit etwas aus seinem Privatleben bestehen? Offene Schulden? Hat er vielleicht etwas gewusst, was jemandem gefährlich werden konnte? Geht es möglicherweise um Erpressung?«

Daniel konzentrierte sich, so gut er konnte. Wie sollte er all diese Fragen beantworten? Er konnte das Bild des entsetzlich zugerichteten Jonah Drake auf dem kalten Metalltisch der Pathologie nicht vergessen. Zwar hatte man dessen Nacktheit mit einem weißen Laken verhüllt, doch das änderte nichts an den Drake zugefügten scheußlichen Wunden. Daniel war fest überzeugt, dass das kein Raubüberfall und Drake auch kein Zufallsopfer gewesen war.

Charlotte sah ihn an. Ihr Gesicht gehörte zu seinen frühesten Erinnerungen, aber wie oft hatte er es wirklich aufmerksam betrachtet und auf das gehört, was sie sagte – ganz gleich, ob er es hören wollte oder nicht? »Willst du wirklich darüber reden?«, fragte sie behutsam.

Er überlegte. »Ich denke, dass ich mir das noch eine Weile überlegen möchte. Ich sehe nach wie vor Mr. Drakes Leiche vor mir, ganz gleich, was ich vor Augen habe. Wir müssen uns um den Fall kümmern – und es ist besser, dass wir es tun als die Polizei. Sofern sein Tod mit einem seiner Fälle zu tun hat, sollten wir unbedingt versuchen festzustellen, was dahintersteckt, bevor Vermutungen und Gerüchte dem Ruf der Kanzlei schaden.«

Pitt sah zu seiner Frau, dann wandte er sich an Daniel. »Ja, das dürfte das Beste sein. Bei welchem oder welchen seiner Fälle hattest du den Eindruck, dass damit nicht alles in Ordnung sein könnte?«

Daniel überlegte eine Weile.

Pitt wartete.

»Kitteridge und ich haben sie ein paar Jahre zurückverfolgt«, sagte Daniel zögernd, während er sich daran erinnerte, wie sie Drakes Akten auf der Suche nach ungelösten Fällen oder solchen durchgegangen waren, die anders ausgegangen waren, als man hätte erwarten dürfen. Drake war ein ausgefuchster Jurist, der jeden Paragrafen kannte. Zwar hatte er sich auf Finanzangelegenheiten spezialisiert, aber auch immer wieder andere Fälle vor Gericht vertreten. In zweien davon war es um Mord gegangen. Daniel wiederholte die Einzelheiten so genau, wie er sich erinnern konnte.

»Im ersten der beiden Prozesse musste er einen gewissen Lionel Peterson verteidigen.« Er rief sich das Blatt mit Drakes handschriftlichen Notizen ins Gedächtnis. »Die Anklage lautete auf Mord an der Gattin eines geschäftlichen Konkurrenten. Der Aussage mehrerer Zeugen nach war die Frau ausgesprochen lebenslustig.«

»Was willst du damit sagen, Daniel?«, hakte Pitt nach. »Das ist keine klare Aussage – das Wort lebenslustig hat viele Schattierungen. Ohne nähere Erläuterung werden wir annehmen, dass sie es mit mehreren Männern zu tun hatte.«

Daniel verzog das Gesicht zu einem verlegenen Lächeln.

»Menschen, die vor Gericht aussagen müssen, drücken sich erfahrungsgemäß möglichst zurückhaltend aus. Mr. Drake hat die Frau in seinen Notizen als Edelhure bezeichnet. Mag sein, dass er mit dieser Formulierung etwas übertrieben hat, aber im Großen und Ganzen dürfte die Einschätzung zutreffen …« Daniel erinnerte sich an die eigenartige kleine Zeichnung am Rand des Blattes. Dort hatte Drake eine Frau skizziert, deren Unterleib in einem Fischschwanz auslief. Diese ebenso humorvoll wirkende wie eindeutige Charakterisierung deckte sich seiner Vermutung nach mit der Wirklichkeit. Einen solchen Scharfblick hätte Daniel dem Mann gar nicht zugetraut. Die wenigen Striche waren aussagekräftiger als eine ganze Seite Text.

»Ob ihm das aus erster Hand bekannt war?«, fuhr Pitt fort.

»An diese Möglichkeit habe ich noch gar nicht gedacht«, gestand Daniel. »Ich weiß auch nicht, ob ich mir das bei ihm vorstellen könnte …« Er hielt inne. Es war absurd. Auch Drake war unter seiner Robe ein Mann aus Fleisch und Blut gewesen. Wieso hatte Daniel das nicht bedacht? Lag es daran, dass er ihn zuletzt als bemitleidenswerte Leiche gesehen hatte, als ein Wesen, das keine Gelegenheit mehr hatte, seine Würde zu wahren, ganz zu schweigen von der Fähigkeit, Begierden oder Leidenschaften zu äußern? »Ich weiß nicht«, räumte er ein. »Jemand hat sie erwürgt, und Peterson wurde der Tat verdächtigt. In erster Linie wohl deshalb, weil er mit seinem Konkurrenten wie auch dessen Gattin gesellschaftlich verkehrt hatte. Außerdem ließen sich einige Zeugenaussagen so auslegen, dass er mehr gewesen sei als einfach nur ein guter Bekannter und ein Verhältnis mit ihr hatte. Allerdings wäre er, selbst wenn das der Wahrheit entsprochen hätte, lediglich einer von vielen gewesen. Diese Möglichkeit dürfte ihm bewusst gewesen sein, weshalb er kaum angenommen haben dürfte, dass er der Einzige sei.«

»Wie lautete das Urteil?«, fragte Pitt.

»Die Geschworenen konnten sich über die Schuldfrage nicht einigen«, gab Daniel zurück. »Ich denke, dass der Mann mit diesem Urteil großes Glück gehabt hat. Immerhin ist er dem Strick des Henkers entgangen – aber sein Ruf war geschäftlich wie privat unwiederbringlich dahin. Er hat Mr. Drake schwere Vorwürfe gemacht, weil es ihm nicht gelungen war, einen Freispruch zu erwirken.«

»Würdest du sagen, dass Drake in irgendeiner Weise versagt hat?«

»Meiner Ansicht nach war es eine Glanzleistung, den Mann überhaupt herauszuhauen. Ehrlich gesagt, ist meine Hochachtung vor Mr. Drake deutlich gestiegen, nachdem ich mir die Prozessunterlagen angesehen hatte. Wenn du möchtest, können wir sie noch einmal gründlich lesen.«

»Vielleicht später.« Pitt schüttelte den Kopf. »Hat man das Verfahren noch einmal aufgenommen? Oder ist ein anderer angeklagt worden?«

»Nein. Auch hier muss Mr. Drake sozusagen im Hintergrund erstklassige Arbeit geleistet haben, um ein neues Verfahren zu verhindern. Ich fange an zu verstehen, warum Mr. fford Croft ihn so sehr geschätzt hat.« Noch während er das sagte, ging Daniel auf, was der Tod des Mannes für den Kanzleichef bedeuten musste. Kein Wunder, dass er so tief erschüttert war. Unter Umständen ließ sich der damit verbundene Verlust für die Kanzlei nicht ausgleichen.

Pitt sah ihn aufmerksam an.

»Peterson hat sich Mr. Drake gegenüber äußerst nachtragend verhalten«, fuhr Daniel fort. »Das jedenfalls entnehme ich den Briefen in Drakes Unterlagen.«

»Dann solltest du der Sache unbedingt nachgehen«, riet ihm Pitt. »Was noch?«

Daniel zögerte. »Mr. Drake und Mr. fford Croft haben sich, wie es scheint, noch lange über die Frage ereifert, ob Peterson schuldig war oder nicht. Solange er es nicht besser weiß, muss ein Anwalt die Unschuldsbeteuerungen seines Mandanten glauben. Es war eine schmutzige Angelegenheit, und Mr. Drake hat sich wacker geschlagen, indem er Zweifel geltend machte, über die niemand einfach hinweggehen konnte. Im Grunde war er hervorragend.«

»Und warum hat Marcus nach wie vor gezweifelt?«, wollte Pitt wissen. »Dir scheint da etwas entgangen zu sein.«

»Ich weiß«, gab Daniel zu. »Ich werde ihn bei passender Gelegenheit danach fragen. Im Augenblick hat er alle Hände voll zu tun, Leute zu finden, die Mr. Drakes unerledigte Aufgaben übernehmen können. Ich denke, dass es für die Kanzlei ein schwerer Schlag ist, diesen wichtigen Mann so plötzlich verloren zu haben, auch wenn manche ihn nicht sonderlich gut leiden konnten und ihm manchmal vielleicht nicht recht trauten. Mr. fford Croft hat zu diesem Thema nichts gesagt. Das ist nur mein Eindruck. Aber man darf auf keinen Fall ein Mandat nur deshalb ablehnen, weil der Mandant schuldig sein könnte. Wenn die Möglichkeit der Schuld nicht bestünde, hätte man ja von vornherein keine Anklage gegen ihn erhoben. Für einen Teil der Fälle mit finanziellem Hintergrund ist Spezialwissen, wie Mr. Drake es besaß, unerlässlich – und gerade die bilden sozusagen das Rückgrat der Einkünfte unserer Kanzlei.«

»Niemand möchte seine Einnahmequellen verlieren«, sagte Pitt und verzog das Gesicht. »Der Ruf eurer Kanzlei ist so gut, dass sie das überstehen kann, solange die Umstände von Drakes Tod einigermaßen rasch und zufriedenstellend aufgeklärt werden. Dabei setze ich voraus, dass er sich nichts Standeswidriges hat zuschulden kommen lassen.«

»Ich weiß«, gab Daniel zurück. »Uns bleibt keine Wahl, wir müssen feststellen, wer die Tat begangen hat und warum. Falls uns das nicht gelingt, wird die Öffentlichkeit ihre eigenen Schlüsse ziehen. Wir haben ohnehin schon mehr Konkurrenten, als uns lieb ist, und die werden keine Hemmungen kennen, wenn es darum geht, Verdächtigungen gegen uns in Umlauf zu setzen.«

»Konkurrenten, die nicht davor zurückschrecken würden, Drake zu ermorden?«, fragte Charlotte überrascht. »Befürchtest du das?«

»Nein, Mutter. Aber sicherlich werden sie raffiniert genug sein, Profit aus seinem Tod und aus Mr. fford Crofts Schwäche zu schlagen …« Er verstummte. Das hatte er nicht sagen wollen, das Wort war ihm unwillkürlich entfahren. »Ich meine … aus seiner Verwundbarkeit«, versuchte er sich zu verbessern, aber es war zu spät. Charlotte hatte erkannt, dass er sich Sorgen machte.

»Behalte das aus Treue zu deinem Dienstherrn für dich, aber bleib dir dessen stets bewusst«, sagte Pitt. »Die Leute, die ihn angreifen, werden merken, wie die Dinge liegen. Ein guter Verteidiger sieht allen Wahrheiten, selbst den schlimmsten, auch dann ins Auge, wenn er nichts von ihnen wissen will. Da sich Marcus’ Tochter Miriam gegenwärtig in Holland aufhält, steht ihm niemand näher als du. Ein Anwalt ist lediglich dann von Nutzen, wenn er sich der rauen Wirklichkeit stellt – insbesondere in Situationen, in denen den Umständen nach mit beträchtlichem Schaden zu rechnen ist.«

»Ich kann mir unmöglich vorstellen, dass sich Mr. fford Croft mitten in der Nacht auf den Weg nach Mile End gemacht hätte, um Mr. Drake umzubringen!«, sagte Daniel eine Spur zu laut. »Er hätte sich für eine weniger gewalttätige Methode und ein sorgfältiger geplantes Vorgehen entschieden …«

Pitt schüttelte müde den Kopf. »Selbstverständlich«, gab er ihm recht. »Die Tat kann ohne Weiteres das ganz und gar zufällige Handeln eines Irren gewesen sein. Aber größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Motiv dazu in die Vergangenheit zurückreicht, und dann muss man annehmen, dass die Tat mit einem seiner Fälle zusammenhängt.« Er senkte die Stimme und fuhr in besänftigendem Ton fort: »Wahre Treue verlangt, dass man sich der Wahrheit stellt. Dazu aber muss man vorher die Tatsachen kennen. Keinesfalls solltest du in Mile End auf eigene Faust irgendwelchen Phantomen nachjagen. Hast du das verstanden?«

»Natürlich«, sagte Daniel mit kläglicher Stimme. »Falls ich irgendwohin gehe, werde ich Kitteridge mitnehmen. Ich möchte die Wahrheit erfahren, ganz gleich, wie sie aussieht. Ich muss sie wissen – und dafür sorgen, dass die Allgemeinheit sie ebenfalls erfährt.«

Einen Augenblick lang herrschte lastendes Schweigen.