Das einfache Leben - Ernst Wiechert - E-Book

Das einfache Leben E-Book

Ernst Wiechert

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Beschreibung

Der Roman 'Das einfache Leben' von Ernst Wiechert erschien 1939 bei Langen & Müller in München. Wiechert schreibt sich seine leidvollen Erlebnisse, nicht zuletzt während des Haftaufenthaltes im KZ Buchenwald, von der Seele. Den Korvettenkapitän Thomas Orla führen die Erlebnisse des Krieges und ein Jahre später folgendes Schlüsselerlebnis dazu, sein bisheriges Leben zu verlassen und nach dem Sinn des Lebens zu suchen. "Der Weg der Arbeit als der einzigen Erlösung des Menschen" führt ihn nach Masuren, wo er das arbeitsreiche, einfache Leben eines Fischers findet und eine zumindest scheinbar heile Welt in ländlicher Idylle, die ihm das Trauma des Krieges bewältigen hilft.

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Ein drittes Mal begegnete Yen-Hui Kung-Fu-Tse und sagte: »Ich komme weiter.«

»Wie das?« fragte Kung-Fu-Tse.

»Ich bin alles losgeworden«, antwortete Yen-Hui.

»Alles losgeworden!« sagte Kung-Fu-Tse ergriffen.

»Was meinst du damit?«

»Ich habe mich von meinem Körper frei gemacht«, antwortete Yen-Hui. »Ich habe meine Gedanken entlassen. Da ich so Leibes und Geistes ledig wurde, bin ich eins mit dem Alldurchdringenden geworden. Das ist es, was ich damit meine, daß ich alles losgeworden bin.«

Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse

1

Nicht lange nach dem großen Kriege stand um die Abendzeit eines Vorfrühlingstages ein Mann an einem der Westfenster seines Hauses und hob, in Gedanken verloren, den Blick von einem alten und unansehnlichen Buch, das er in den Händen hielt. Der große Abendhimmel, wolkenlos und von fernen Feuern brennend, erfüllte durch das weite Fenster den ganzen Raum mit rötlichem Licht. Die farbigen Einbände in der Bücherwand glühten, die fremdartigen Waffen und Masken in einem seitlichen Schrank schimmerten in einem fast bösen Glanz, und der unter Qualm und Nebel feuernde Kreuzer auf dem einzigen Bilde an der Wand schien, so beglänzt, geradeswegs in den flammenden Abgrund einer Götterdämmerung hineinzustürmen.

Aber das verzauberndste Licht sammelte sich auf der gewölbten Fläche des riesigen Globus, der auf einem schwarzen Sockel frei vor der Mitte der Bücherreihen stand. Seine Gebirge waren mit braunen Erhebungen angedeutet, seine Ebenen wie Wiesen getönt, von dem Netzwerk der Ströme durchflochten, und seine blauen Meere schimmerten nun purpurn im Abendlicht.

Die Blicke des Mannes, vom Lichte gelöst, wendeten sich dem bestrahlten Abbild der Erdkugel zu, wo die kleinen Inselgruppen wie Perlen im Indischen Ozean schwammen und der Pik von Colombo einen spitzen Schatten über die Flut zu werfen schien. Die Küsten der Meere waren mit einem feinen Glutstrich gegen die Festländer abgesetzt, und jenseits des Himalaja, auf den gelben tibetanischen Ländern, schien schon eine schweigende Dämmerung auf fremde Sternbilder zu warten.

Lange blieb der Mann in dieses Bild versunken, bis es unter grünlichen und grauen Schatten immer matter wurde, die Küsten verschwammen, die Täler sich verdunkelten und es zu einer blassen Scheibe erlosch, einem fernen Gestirne gleich im Raume schwebend.

Nun, in der wachsenden Stille des Abends, hob das Brausen der abseitigen Hauptstadt sich über die Gärten der Vorstädte und stand wie der Ton ferner Brandung, unmerklich steigend und fallend, über der Dämmerung. In den lichtgrün verblaßten Himmel ragten die Stämme der Kiefern, schwarz und unbewegt, über einer fernen Straße schimmerten weiße Lampen auf, schnell und nacheinander, und wer lange auf dem Meere gelebt hatte, mochte nun bei halbgeschlossenen Augen leicht sich einbilden, wieder auf einer Brücke zu stehen oder hinter den Fenstern der Kajüte, das leise Brausen des Schiffes im Ohr, indes die Lichter des Landes sich fern und lautlos verschoben, zurückglitten und erstarben, hinabgetaucht hinter die Krümmung der Erde, und das Unbefahrene vor dem Bug sich nun beherrschend erhob. Im letzten Licht nahm der Mann noch einmal das Buch vor die Augen, als wollte er sich einer bestimmten Stelle vergewissern, daß sie auch noch dastehe, nicht mitgelöscht von der Dämmerung der Welt. Dann ließ er es sinken und blickte hinaus, die linke Schläfe an den Vorhang des Fensters gelegt. Sein Gesicht über dem dunklen Rock empfing nun das letzte Abendlicht. Schatten sammelten sich unter der Stirn und in den tiefen Falten, die von den Nasenflügeln zum Munde liefen, und so war das Gesicht nun nicht unähnlich einem verkleinerten und verschmälerten Abbilde jener Erde, die vor den Bücherreihen schwebte, deren Täler im Schatten verdunkelten und deren Umrisse sich verloren, so daß nur ein matter Schein an der Stelle des Gegenständlichen blieb.

Später, als die Tür sich plötzlich öffnete und das Licht des Flures fast grausam in den schweigenden Raum hineinbrach, ließ der Mann sich Zeit, das Gesicht nach der im Türrahmen Stehenden zu wenden, und bevor er sie erblickte, traten zuerst die wenigen nun erhellten Dinge des Raumes in sein Bewußtsein: das Bild des Kreuzers an der Wand, der nun, wie im Licht eines Scheinwerfers, immer noch aus den Panzertürmen seine düsterroten Salven schoß, eine schmale Büchersäule, die scharf begrenzte Bahn eines roten Teppichs und eine schmale Kante des Globus, die wie eine Sichel leuchtete.

Dann erst sah er die Frau, die im Abendkleid auf der Schwelle stand und den bloßen Arm nach dem Lichtschalter ausstreckte. »Laß das!« sagte er scharf.

Sie hielt in der Bewegung inne, ohne den Arm sinken zu lassen, und auch wenn sie nicht im Licht gestanden hätte, würde er gewußt haben, daß sie lächelte, nicht ohne Spott, aber auch nicht ohne Schonung.

»Träumt man wieder?« fragte sie.

»›Man‹ hat gelesen«, erwiderte er, trat an den Schreibtisch und legte das geöffnete Buch sorgfältig auf die leere Platte. »In einem Psalm, in dem man seit der Konfirmation nicht mehr gelesen hatte, und dort hat man den Vers gefunden: ›Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz.‹ Darüber hat man nachgedacht.«

»Helden und Denker«, sagte sie mit ihrer tiefen Stimme, »das ist uns nun übriggeblieben aus dem Kriege …«

Es habe Zeitalter gegeben, meinte der Mann, die auf einen solchen Besitz sehr stolz gewesen seien.

Ja, aber eben Zeitalter … nun jedoch, nach diesen furchtbaren Jahren, wolle man weder kämpfen noch denken, sondern eben leben, nichts als leben.

Auch die Tiere wollten das, und zwar das allein.

Ja, das sei eben das Schöne und Gesunde an ihnen. Sie läsen weder Psalmen noch starrten sie in die Abenddämmerung.

»Manchmal«, sagte er, indem er auf die beleuchtete Kante des Globus starrte, »verstehe ich nun die ganz einfachen, ganz primitiven Männer, die ab und zu die Lust ankommt, ihre Frauen zu schlagen …«

Sie lachte, ganz heiter und sorglos, und unter ihrer Hand brach nun doch ohne Warnung das weiße Licht aus der Kuppel unter der Decke heraus. »Das muß ich sehen«, sagte sie, »den Mann, den diese Lust eben angekommen ist.«

»Ich habe nicht von mir gesprochen«, erwiderte er und sah sie über den Raum hinweg finster an. Ihre Gestalt war schmäler geworden in diesen dumpfen Jahren, ihre Züge schärfer, ihre Augen glänzender. Nur ihr Kindermund war der gleiche geblieben, trotz der leuchtenden Farbe, die sie nun auftrug, klein, mit wehmütig geneigten Winkeln, und niemals wußte er, ob sie im Zorn oder im Weinen erbeben würden.

Seine Gedanken gingen zurück zu der Zeit ihrer ersten Liebe, und er begriff, wieviel der Krieg ihnen allen geraubt hatte. »Geh nun«, sagte er freundlich, »es führt ja doch zu nichts …«

Ihre Hand mit den funkelnden Ringen strich an den roten Einbänden neben der Tür herunter. »Es sollte ja auch nur dazu führen«, antwortete sie, »daß du dich rechtzeitig umziehst. Sie kommen in einer halben Stunde, und du weißt, daß auch der Admiral zugesagt hat. Es könnte vielleicht doch nicht ohne Wichtigkeit für dich sein … er hat sehr viel Einfluß.«

Nun ging er doch quer durch den Raum bis zur Schwelle und löschte das Licht. Dann faßte er sie sanft bei den Armen, drehte sie um und schob sie in den Flur. Ihre kühle Haut war ihm fast so fremd wie die einer Toten.

»Setze deinen Nelson auf meinen Globus«, sagte er, »und dann kniet vor ihm nieder und betet ihn an, ihn und seine Einflüsse. Mich aber ekelt vor allen diesen Gespenstern, verstehst du? Wer das Spiel verloren hat, soll es zugeben, wie ich es zugebe, und nicht behaupten, beteuern und beschwören, daß falsch gespielt worden sei.«

»Ach, Thomas«, sagte sie und lächelte über die Schulter zurück, »was bist du doch für ein unvorstellbarer Narr …«

Er schloß die Tür, aber der Raum war nun nicht mehr derselbe. Eine Straßenlampe warf ihr unruhiges Licht herein, und der Schatten des Globus lag als ein schwarzer Kreis auf den Bücherwänden. »So ist es«, murmelte er, »eine dunkle Erde, aber sie beleuchten sie mit ihren Eitelkeiten … wer eine Schlacht verloren hat, sollte schweigsam werden, und wir alle haben mehr verloren als eine Schlacht.«

Er lauschte auf das Klirren von Gläsern und Bestecken in einem fernen Raum. Dann trat er vorsichtig in den Flur, nahm Mantel und Hut und öffnete leise die Tür zum Kinderzimmer.

Die Schwester saß auf dem Bettrand und versuchte, ein kleines Holzschiff unter der Decke hervorzuziehen. Aber die kleinen Hände des Jungen hielten es am anderen Ende fest.

Beide Gesichter wendeten sich ihm zu, das errötende der Schwester und das zornige des Kindes. Er blieb stehen und betrachtete es schweigend. Ja, es war sein Gesicht. Noch einmal wiederholt aus einer Unsumme von Möglichkeiten. Leise abgewandelt, fester in der Stirn, härter in den Lippen, aber doch wiederholt. Sein Gesicht und nicht das andere. Die Zukunft, das einzig aus dem Kriege Gerettete.

»Was ist, Joachim?« fragte er, noch immer ernst.

Die Schwester öffnete die Lippen, aber schon hatte eine kleine, braune, zerschrammte Hand sich über sie gelegt. »Schwester Beate sagt«, rief die helle Stimme, »daß man mit einem Kriegsschiff nicht schlafen geht, und ich habe gesagt, daß der Sohn eines Kapitäns mit zwanzig Kriegsschiffen schlafen gehen kann. Sag ihr, daß das recht ist, Vater!« Thomas trat ans Bett und griff nach dem plumpen Spielzeug. Die feindlichen Hände ließen gehorsam los, und er hob es vor die Augen wie vorher das alte Buch. »Der Sohn eines Kapitäns kann in einem Kriegsschiff schlafen, Joachim, oder auch unter einem Kriegsschiff, aber mit einem Kriegsschiff schlafen, glaube ich, nur kleine Mädchen, die es für eine Puppe halten. Ein Junge stellt sein Schiff auf den Schrank, dort, wo die Morgensonne es trifft, und wenn er aufwacht, dann steht es da und ruft ihn zu seinem Dienst, nicht wahr?«

Er sah, wie die Haut über der jungen Stirn sich faltete in der Anstrengung, jedes Wort zu verstehen, und er wendete sich mit dem kleinen Schiff in der Hand zum Spielzeugschrank, um seine Bewegung zu verbergen. Man hatte im Kriege selten Kinder gesehen.

»Du bist der klügste Mann auf dieser Erde, Vater«, sagte Joachim tief aufatmend, mit zweifelloser Sicherheit.

»Nicht ganz, Joachim, aber wenigstens nicht der dümmste … und jetzt wird geschlafen, nicht wahr?«

» Allright, Vater. Luken dicht und gepennt … sagt man so?«

»Ja, so sagt man.«

»Und wohin gehst du jetzt, Vater? Bleibst du nicht, wenn der Admiral kommt?«

»Nein, ich habe viele Admirale in meinem Leben gesehen. Ich muß jetzt etwas suchen gehen.«

»Was willst du suchen?«

»Das wirst du später sehen. Erst wenn man gefunden hat, soll man sagen, was man gesucht hat. Gebetet?«

»Ja, Herr Kapitän«, sagte die Schwester und zog die Decke zurecht.

Seine Gedanken gingen schon wieder fort. »Später, Schwester«, sagte er, »können Sie den Psalm mit ihm beten, in dem der Vers steht: ›Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz.‹ Das ist ein gutes Gebet … ich habe es erst heute gefunden …«

Ihre Augen, die ihn ansahen, füllten sich langsam mit Tränen, aber er stand schon an der Tür und winkte mit der Hand. »Wissen Sie, daß es eine Grabschrift auf Ihren Namen gibt, Schwester Beate?« fragte er. »Hören Sie zu:

›Hier ruhet, die Beate heißen sollte,

und lieber sein als heißen wollte.‹

Ja, von Lessing sogar. Ich habe es neulich gefunden … ›und lieber sein als heißen wollte …‹ Nun gute Nacht und schlaft wohl!«

Er lächelte sein zerstreutes Lächeln und schloß leise die Tür hinter sich. Draußen blieb er eine Weile unter den Kiefern des Vorgartens stehen und sah zu den ersten Sternen auf. Immer noch war er auf dem Meer und suchte die leitenden Bilder über dem Horizont.

Ein Unglück, daß sie schon zu Anfang des Krieges in diese Stadt gezogen war, aber der Hafen war ihr verhaßt gewesen, von Anfang an. Sie hatte das Meer niemals geliebt, die großen Winde, das streng in den Rahmen des Dienstes gespannte Leben. Sie hatte seine Uniform geliebt und ihren Traum, daß er in jungen Jahren Flottenchef werden würde.

Er ging nun schon die Straße zur Untergrundbahn entlang. Nein, so war es doch wohl nicht gerecht … Liebe war gewesen, aber ohne Prüfung und Leid, das war es. Sie alle hatten das Leben ja genommen wie Früchte von einem guten Baum. Der liebe Gott hatte ihn in ihren Garten gestellt, und sie pflückten und aßen. Wehe dem, der zu sagen wagte, daß sie es nicht verdienten! Und doch verdienten sie es nicht, keiner von ihnen. Der Ausgang hatte es bewiesen und auch das, wie sie es nun hinnahmen. Ohne Würde, und wer ohne Würde ist, ist ohne Wert.

Man muß fort, dachte er, wie aus einer Peststadt. Sie wird nicht mitgehen, aber ich muß fort. Ich will nicht einer dieser »unbesiegten Helden« werden. Ich weiß, bei Gott, wie besiegt ich bin, mehr als sie ahnen … nur das Kind, das Kind …

Er stand schon in dem kühlen Tunnel und starrte auf die Fahrkarte in seiner Hand. Ein ungeheurer Preis war quer über das braune Blatt gedruckt … woher nahm sie all das Geld? Für das Haus, die Mädchen, die Schwester? »Es ist eines Offiziers unwürdig, an der Börse zu spielen.« Hieß es nicht so? Aber sie spielte sicherlich Tag und Nacht. Nicht nur Admirale waren unter ihren Gästen. Die alten Götter stürzten, Stunde für Stunde. Ein unvorstellbarer Narr, das war er sicherlich.

Und weshalb wartete er nur auf einen dieser Züge? Auf diese donnernden Ungetüme mit ihrem grellen Licht, ihrer verbrauchten Luft und den verwüsteten Gesichtern, die geradeaus ins Leere starrten? Weshalb wartete er fast jeden Abend auf sie, um ziellos und sinnlos durch diese Stadt zu fahren, die er haßte? Stunde für Stunde, kreuz und quer? Mit der Stadtbahn, dem Autobus, der Straßenbahn? Durch die Elendsviertel und die Paläste (aber sie waren elender als jene), die Augen von Gesicht zu Gesicht wendend, als suchten sie etwas schrecklich Verlorenes? Konnte er nicht mehr ertragen, allein zu sein, oder tat er es gerade, um allein zu sein, hoffnungslos allein unter Verfluchten und Verlorenen? Die anderen kauften Rauschgifte; an dunklen Straßenecken, finsteren Torwegen konnte man sie haben. Und er fuhr und fuhr, stieg aus und fuhr wieder weiter, berauschter als sie alle, aber doch mit der eiskalten Angst im Herzen, es könnte ihm entgehen, es könnte nicht gefunden werden, was er suchte: ein Gesicht, eine Erkenntnis, der Friede … er wußte es nicht.

»Nun, auch das wird ein Ende haben«, sagte er laut. Er sprach nun manchmal mit sich selbst.

Er hatte nicht auf das beleuchtete Schild gesehen und wußte nun nicht, wohin der Zug ihn führte. Er wollte es auch nicht wissen. Er saß in seiner Ecke, sauber und gerade, und ließ wie immer die Blicke von Gesicht zu Gesicht wandern. Manche waren ihm nun längst bekannt: Der Mann mit dem Holzbein und den Schnürsenkeln, der nachher an der großen Kirche stand; die Schauspielerin, die zu ihrer Vorstellung fuhr und aus deren erloschenem Gesicht zu lesen war, daß sie an diesem Abend zum hundertsten- oder zweihundertstenmal dieselbe Rolle spielte; das Fabrikmädchen mit der roten Schleife und die alte Exzellenz, an der alles leise und unaufhörlich zitterte, außer dem Monokel, das wie vor einem Totenauge schimmerte.

Die Türen wurden geöffnet und wieder zugeschlagen, wie Fallen, die sich hinter Gefangenen schlossen. Dann heulte der Motor auf, und die unterirdischen Lampen zogen wie ein zerrissenes Band vorüber. Mitunter hob sich der Zug, Schächte und Fenster sprangen aus verwitterten Hauswänden, und der Fetzen einer Lichtreklame schoß wie auf der Flucht die Dächer hinauf. Dann donnerten wieder die Tunnelwände, Kellerluft strömte durch die halbgeöffneten Fenster, und weiße Gesichter erschienen an den Scheiben, wie tote Fische hinter Glaswänden, von unsichtbaren Strömungen auf und ab getrieben.

Mitunter sah Thomas eine Matrosenuniform, ins Bürgerliche verwahrlost abgewandelt, und er betrachtete sie aus halbgeschlossenen Augen. Den empörerischen Triumph in dem Gesicht darüber, auf dessen Grunde doch auch nur das Verlassensein hauste, die Sehnsucht, zu vielen solchen Gesichtern zu finden, zu einer schutzgebenden Masse, in der es untertauchen konnte, geborgen in der Namenlosigkeit. Nun waren sie schon ausgestiegen, zu ihrer Arbeit oder der bloßen Füllung leerer Stunden: der Mann mit dem Holzbein, die Schauspielerin, die Exzellenz. Der Zug brauste dem Norden zu, und andere Gesichter tauchten auf, verhärmte, verdorbene, verwüstete.

Es war, als schlinge der Zug die Ernte der letzten Jahre in sich hinein, zu dürren Garben hastig gebunden: Mütter, die vor sich hin wie auf Gräber starrten, auf eingesunkene und verfallene Kreuze; Kinder, die für eine gestohlene Stunde beim Haß oder beim Laster zu Gast gewesen waren; Fremde, die auf schmutzige Blätter unleserliche Zeichen malten; und Krüppel, viele Krüppel, die Blutzeugen der großen Opferung, die stumpf oder voll Haß auf die Gesunden blickten; denen man gesagt hatte, daß sie Helden seien, und die in den Blicken der anderen nun zu lesen glaubten, daß man sie für arme Narren hielt, ein unbequemes Heer, das nun mitzuschleppen war auf dem Wege zu einem neuen Ziel.

Thomas schloß die Augen. Er war gesund, aufrecht, gut gekleidet. Er war wie ein Mann in einem Totensaal, der aufstehen und davongehen konnte, indes die anderen sich haßvoll auf ihrem Lager krümmten und mit halb verwesten Gliedern ihn festzuhalten suchten. Alle hatten zu sterben oder keiner von ihnen. Niemand hatte reich zu sein, und wer gesund war, war ein Räuber.

»Der Herr hat ein Rendezvous?« fragte ein Mann, der ihm gegenübersaß. Die Haut über seinem verzehrten Gesicht war so dünn gespannt wie über einem Drahtgestell, und Thomas dachte, daß es einen hellen Ton geben müßte, wenn der Finger des Todes anpochte bei ihm. Aber der Klang der Frage war böse, hohnvoll und von dem Haß des Geschlagenen erfüllt.

»Ja, mit dem Engel«, sagte Thomas schnell.

Der Blick des andern verwirrte sich und lief die Fensterreihe entlang, über der in läppischen Versen die Unfallwarnungen standen. Dann kehrte er langsam zurück. »Es gibt keine Engel mehr«, sagte er, und seine Stimme war nun müde und hoffnungslos.

Die Bremsen setzten ein, und Thomas stand auf. »Doch«, sagte er im Vorbeigehen, »es gibt noch Engel… nur haben sie eine Rüstung an …« »Verschüttet gewesen«, murmelte eine Stimme, als Thomas ausstieg.

Er bog in eine der Nebenstraßen ein, die wie ein unendlicher Schacht in eine ferne Wüste zu laufen schien. Ein grünlicher Mond hing über den Dächern, fragwürdig wie alles Licht in dieser Stadt. Die Tritte der Menschen hallten an den Wänden empor, und man hörte diejenigen heraus, die noch auf Holzsohlen gingen. Das Licht hinter den Fenstern war trübe, und wenn ein Torweg sich auf die Hinterhöfe öffnete, wehte es dumpf heraus wie von einem Friedhof, auf dem die Kränze welkten.

Grammophone kreischten aus der Ferne, erstickt wie unter nassen Tüchern, und ganz weit vor ihm, hoch über unsichtbaren Dächern, raste ein zerrissener Kreis, bald grün, bald rot erstrahlend, um seine Achse.

Er sah aus wie ein verstümmeltes Signal aus der Unendlichkeit.

Die Hände in den Taschen, den Hut zurückgeschoben, ging Thomas die Straße hinunter. Diese und die nächste und wieder die nächste. Plätze leuchteten auf und blieben zurück, Gärten hinter bröckelnden Mauern, ein Schienenstrang, ein Autobus, der wie ein feuriger Drache in einer Höhle verschwand. Er liebte es, so zu gehen. Er hatte nicht Freude daran. Er war nur wie ein Schiff vor dem Winde. Fünf Jahre waren vertan. Der Krieg war die Probe gewesen, und er hatte nicht bestanden. Viele hatten nicht bestanden, aber das tröstete ihn nicht. Nur, er wollte von neuem anfangen, und das unterschied ihn von vielen. Er wußte noch nicht, wo es beginnen würde, aber er hoffte, ihm zu begegnen. Hier vielleicht, und wenn nicht hier, dann an einer anderen Stelle. Er wußte, daß andere studierten oder in einer Bank arbeiteten oder in einer Fabrik. Aber das wollte er nicht, weil es kein neuer Anfang war. Sie hatten ihn über Bord geworfen, als er nach der Flagge gefaßt hatte. Das Meer war über ihm zusammengeschlagen, und er war nur durch ein Wunder gerettet worden. Der Engel hatte ihn angeblickt und war weitergegangen, aber er würde ihm wieder begegnen. Vielleicht an der nächsten Straßenecke, wo das weiße Schild über dem Bürgersteig leuchtete. Vielleicht vor der Erdkugel, die vor seinen Büchern stand, vielleicht erst im Angesicht des Todes. Aber er würde ihm begegnen.

Er sah an den matten Sternen, daß er nach Osten ging, und er merkte es an dem Gesicht der Stadt. Härter als in den andern Vierteln hatte der Krieg hier regiert. Die Häuser waren wie vom Aussatz zerfressen, die Fenster erblindet, die Gesichter verwüstet, und was aus den Torwegen sich auf die Straße schlich, hatte fahle Stirnen und einen leisen Schritt, wie über verlassenen Schlachtfeldern. Mädchen sprachen ihn an und folgten ihm eine Weile, und es war ihm, als könnte man durch ihre Augen hindurchsehen ins Bodenlose. Selten empfing er ein böses oder rohes Wort, und auch dies klang nur wie hinter einer zugeschlagenen Tür. Er fürchtete sich nicht, denn er besaß nichts. Er war so allein wie diese Ausgestoßenen aus Kellern und Hinterhöfen, und was sie ihm zum Besitz rechneten, war ihm so schal, wie ihnen die Luft, die sie atmeten.

Er wollte sie weder prüfen noch bekehren. Er wollte nur eine Welt erfahren, die er nicht kannte. Was sie in seinem Hause hinter den dunklen Vorhängen sprachen und dachten und begehrten, kannte er alles. Weder Brot noch Wein würde ihm daraus wachsen. Aber dies hier kannte er nicht, und er wollte alles kennen, die ganze Erde, wie sie rund und schweigend vor seiner Bücherwand schwebte. Gefecht und Schlacht, Tod und Zerstörung, das konnte nicht alles sein. Irgendwo schleiften die zerrissenen Zügel dieses Wagens über die Erde, und so lange mußte man gehen, bis sie über einen hinwegfegten und man versuchen konnte, ein Stück zu ergreifen. Den Sinn mußte man zu finden suchen; nicht das Ganze, die Lösung, das Letzte, aber ein Stückchen Sinn, den Schimmer eines Planes, und dann wollte man in Gottes Namen noch einmal anfangen.

Der Weg führte über eine Brücke, die sich hoch und weit über Schienenstränge spannte. Im Osten erloschen die Lichter allmählich in der Nacht, und er sah die Fernzüge hineinbrausen in die schweigende Schwärze, die schon über Äckern und Wäldern stand. Im Westen aber schoben die Signale sich dicht zusammen, weiße, rote und grüne Lichter, wie in einer Hafeneinfahrt. Ein leiser Wind ging über seine Hände, die auf dem kalten Eisen des Geländers lagen, und es war nun alles wieder wie vor fremden Küsten, mit halbgelöschten Feuern, wo man nach trügerischen Lichtsektoren steuerte und der Tod, schweigend, aber wachsam, unter den Sternen hing.

Dann saß er auf dem Verdeck eines Autobusses. Die Lichtreklamen wurden zahlreicher, wilder und gehetzter, die Straßen belebten sich, Portiers standen wie Könige in Marmoreingängen, und über die Köpfe der Menge hoben sich farbige Arme mit Zeitungen, und heisere Stimmen schrien die Ernte des Tages aus, die Kurse, die Morde, die Streiks, die Revolutionen.

Thomas stieg aus und ließ sich treiben. Die Menge schluckte ihn auf wie der Strom einen Tropfen. Krüppel kauerten an den Gittern der Vorgärten, und ihre eintönigen Verse fielen wie stumpfe Messer in die Menge. Geld klirrte, und die meisten Hände fuhren schnell zurück, als hätten sie sich losgekauft von dem steinernen Antlitz des Krieges, das immer noch über die Dächer hinunterstarrte. Die breiten Hüte der Heilsarmee tauchten ab und zu aus lichtüberfluteten Eingängen auf, und die Gesichter darunter blickten still und wie entrückt, als hätten sie schon auf der Schwelle Hohn oder Mitleid abgestreift, die sie dort innen empfangen hatten.

Einen Augenblick lang lächelte Thomas, als ihm der Gedanke kam, was sie für Gesichter machen würden, wenn er zu Hause als Offizier dieser Heilstruppe erscheinen würde. Thomas, der Leutnant Gottes. Gott war fortgegangen, aber die Propheten kamen. Aus allen Kellerhöhlen stiegen sie empor, auf den Tribünen hoben sie die nackten, verzehrten Arme, in den Parlamenten beschworen sie das Reich der Liebe, aus den Sternen rissen sie Weisheit und Schicksal: aber der Engel war fort, der Einzige, der die Lose trug und wußte.

Ein Polizist mit weißen Handschuhen sperrte die Kreuzung. Jemand rief Thomas an, und er trat unlustig an den haltenden Wagen. Ein Kamerad von seinem letzten Schiff, und er rückte zur Seite, um ihm Platz zu machen. Aber Thomas schüttelte den Kopf. Nein, eine Bar sei nichts für ihn, er wolle noch in der frischen Luft bleiben. Was er denn treibe? Oh … nichts … er warte. Der andere lächelte: »Solltest zu mir auf die Bank kommen, Thomas«, sagte er. »Geld wird dort verdient, sage ich dir, und das Ganze ist so wie ein Nachtgefecht. Du weißt nie, wie du herauskommst, aber wenn du herauskommst, hat es gelohnt. Soll ich dir einen Tip geben, Thomas? Macht mehr aus als deine Pension für ein Jahr!«

Nein, auch dafür dankte Thomas. Die Straße wurde frei, und der Wagen fuhr langsam an. »Mach's gut, Thomas! Bis zum nächsten Orlog …«

Eine Weile blickte er dem Wagen nach, dann bog er die nächste Straße zur Stadtbahn ein. Ihn verlangte plötzlich, den Strom zu sehen, dunkles Wasser, in dem die Masten sich spiegelten und über dem die Sterne standen. Nein, der Erfolg konnte nicht das Letzte sein. Auch Spieler hatten Erfolg, aber ihr Leben ging nicht in die Bücher ein, aus denen Kinder lernen, wie man leben soll. Ein guter Offizier war jener gewesen und ein guter Kamerad, aber wenn man die Uniform auszog, mußte man wohl mehr sein als dies. Das Leben verlangte mehr, als ein Kriegsschiff verlangt. Ungewißheit überfiel ihn wieder, und im Augenblick dachte er, daß es gut sein müßte, Adressen zu schreiben oder Pakete auszutragen, irgendetwas, das das Blut in den Fingern bewegen würde. Es gab keine Feierjahre für junge Hände.

Er blieb an einem Blumenladen stehen und starrte auf die Gläser mit Treibhausflieder. Wenn ich geschossen hätte, grübelte er, so würden sie mich erschlagen haben, und alles würde gut sein … eine Sekunde versäumt, nein, eine halbe Sekunde … die Entscheidung verpaßt, das ist es, weshalb der Engel nicht kommt …

In der Stadtbahn saß ein alter Mann ihm gegenüber, der auf ein Blatt Papier starrte, das mit Kreisen und Zeichen bedeckt war. Sein Haar fiel bis zum Rockkragen, und seine Füße steckten in wunderlichen, vielfach geflickten Reformschuhen. Wie reich und geduldig ist diese Zeit, dachte Thomas. Sollte sie nicht auch für mich einen Platz und ein Ziel haben? Man muß nur warten, bis die Magnetnadel zu beben beginnt …

Der Mann sah seufzend auf und blickte Thomas an. Er hatte gute Augen, von einem etwas wässerigen Braun, leise erstaunt und viel geprüft, und Thomas dachte, daß eine Kuh so vor sich hinsehen könnte, wenn sie außer der Reihe gemolken würde. Doch mißfiel ihm der Vergleich sofort, und er tadelte sich, daß er so über Menschen urteile. Doch da hob der Mann den Zeigefinger der rechten Hand und sagte flüsternd: »Steinbock, nicht wahr? Dreiundzwanzigsten Dezember bis dreiundzwanzigsten Januar, ja?«

Aber Thomas vergaß seine guten Vorsätze über dem Formlosen und Vertraulichen der Ansprache. »Nein«, erwiderte er schroff und wechselte den Platz.

Der Sternkundige stieg an der nächsten Haltestelle aus, und als er die Türen öffnete, beugte er sich ohne Kränkung zu Thomas und flüsterte hinter der vorgehaltenen Hand: »Die Knie sind bedenklich beim Steinbock … sehr gefährlich … immer schön auf die Knie achten, mein Herr!« Er lächelte freundlich, hob noch einmal mahnend den Zeigefinger und verschwand.

Die Straße senkte sich leicht zum Strom, und als Thomas die Stufen zum Bollwerk hinunterschritt, dachte er an seine Knie und lächelte. Dann ging er langsam am Wasser entlang.

Die Flut zog dunkel und träge dahin, mit zitternden Sternbildern, die auf der gleichen Stelle verharrten. Kähne lagen an der Mauer vertäut, die Deckplanken glänzten, und die Bordlaternen leuchteten über Tauwerk und Holz. Mitunter bellten die Wachhunde, zuerst einzeln und dann den ganzen Strom entlang. Dann war nur wieder das Wasser zu hören und der leichte Wind, der durch das Geäst der Birken zog.

»Wasser müßte es doch sein«, sagte Thomas, »nur stiller als das Meer … ich möchte keine Brandung mehr hören.«

Auf einem der Uferpfähle saß er dann lange, rauchte und hielt dann die Hände müßig zwischen den Knien gefaltet. Die Luft war warm, und es roch nach Erlen und Schilf. In der Ferne glitten die glühenden Bänder der Züge durch die Nacht, fast ohne Lärm, wie schöne Schnüre. Der Himmel war hell, wie bestickte Seide, und einmal meinte er ganz weit Wildgänse ziehen zu hören. Er vergaß nun alles, die letzten Stunden und die mühsamen Jahre. Wie ein Bauer auf seinem Grenzstein saß er da und hörte zu, wie die Erde sich regte. Dies war ihnen allen doch geblieben, wieviel der Brand auch verzehrt haben mochte: die Füße still auf der kühlen Erde zu halten und zu sehen, wie die Sterne kreisten. Auch Joachim sollte das lernen, sobald wie möglich, ehe sie ihn verdarben mit ihrer fraglichen Wissenschaft.

Erst als ihn zu frieren begann, stand er auf. Die Laternen brannten immer noch, und ein dünner Nebel hing müde über dem Wasser. Die nahe Stadt sah aus, als sei sie nur zu Gast bei diesem Strom.

Niemand sprach ihn mehr an auf der Heimfahrt, und dann ging er auf Umwegen nach Hause, damit die Gäste schon fort wären, wenn er käme. Doch fand er alle Fenster noch hell und kehrte noch einmal um. Vom nahen Kirchturm schlug es Mitternacht, und er hörte zu, wie der letzte Klang in immer dünner werdenden Wellen verging. Dann fiel ihm etwas ein, und er ging schnell die wenigen Straßen zur Kirche hin. Der Turm stand dunkel in der hellen Nacht, aber im Predigerhaus, hinter dem großen Garten, waren zwei Fenster noch erleuchtet.

Thomas stieg über den niedrigen Zaun und ging auf das Licht zu. Die Fenster lagen zu ebener Erde, und als der Kies unter seinen Schuhen knirschte, trat oben ein Mann ins Licht. Er war dunkel gekleidet, und Thomas meinte noch niemals einen so großen, schweren Menschen gesehen zu haben. Er war noch nicht in der Kirche gewesen.

»Es ist spät, Herr Pfarrer«, sagte er, »aber ich würde Sie gern noch gesprochen haben.«

Der Geistliche beugte sich schweigend vor, um das beleuchtete Gesicht zu erkennen. Dann trat er wortlos zurück, und Thomas hörte ihn die kurze Treppe herunterkommen, bis er die Haustür aufschloß. »Treten Sie leise auf«, sagte er, »sie schlafen schon alle.«

Der große Raum war nur mit Büchern gefüllt. Ein bäuerlicher Christus aus grauem Holz hing lebensgroß zwischen den Fenstern. Thomas setzte sich nicht ohne Verwirrung, weil das Ausmaß der Figur ihn erschreckte. Doch ließ der Pfarrer sich nichts merken und sah ihn nur ruhig an. »Es kommen manche um diese Zeit«, sagte er, »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich weiß dann wenigstens, daß es ernst ist.«

Nun erst sah Thomas ihn an. Sein Vater noch mochte hinter dem Pflug hergegangen sein, aber es war wohl ein grüblerischer Gang gewesen, und in diesem Sohn war es nun ausgebrochen. Stirn und Mund waren zersorgt und zerquält, aber über dem glatten grauen Haar mochte doch zu Zeiten derselbe Schein stehen wie über dem Holzbild an der Wand. Das Gesicht war zugeschlossen, aber die Augen sahen ihn nicht ohne Freundlichkeit an, alte und vielwissende Augen, und Thomas fühlte sich jung und töricht unter ihrem Blick.

Er seufzte, bevor er begann. »Ich bin kein Kirchengänger, Herr Pfarrer«, sagte er entschuldigend.

Der andere erhob nur die Hand. »Wir wollen von den wichtigen Dingen sprechen«, unterbrach er.

»Auch die Bibel habe ich lange nicht gelesen«, fuhr Thomas fort, »seit meiner Einsegnung nicht. Der Dienst war schwer, und es wollte nie recht zusammenstimmen … Heute nun fand ich unter meinen Büchern den Psalter, eine ganz alte Ausgabe, groß gedruckt, durch eine Erbschaft während des Krieges zu mir gekommen. Ich habe darin geblättert und fand den neunzigsten Psalm. Ich entsann mich wieder auf das meiste wenigstens, aber ein Vers war mir unbekannt. Als Kind liest man darüber hinweg, und auf Kinder trifft er ja nicht zu. ›Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz‹, steht dort geschrieben. Zuerst las ich weiter, als sei es wie das übrige, aber dann kehrte ich gleich wieder zurück und las ihn noch einmal. Und dann las ich nicht mehr weiter … es war wie ein Mast, der über einen stürzt, und man kann nicht aufstehen unter ihm …«

Der Pfarrer nickte. Er hatte den Kopf in die rechte Hand gestützt und Thomas unbeweglich angesehen. »Ja«, sagte er, »Sie werden das natürlich als einen Zufall bezeichnen, daß Sie gerade dies gelesen haben. Ich selbst, wenn es mir widerfährt – und es widerfährt mir oft – , ich sehe es natürlich anders an. Ich weiß dann, daß ein solcher Vers gewartet hat, bis es Zeit geworden ist. Verstehen Sie? Es ist nicht so, daß ein Mensch für sich lebt und ein Vers wieder für sich, und vielleicht kreuzen ihre Wege sich einmal. Sondern es ist so, für mich natürlich nur, daß der Vers auf seinen Menschen wartet und der Mensch auf seinen Vers. Aber wenn es sich erfüllt hat, ein bestimmtes Stück der Lebensbahn, ein Sturz oder ein Aufstieg, oder auch nur eine bestimmte Düsternis und Verwirrung, dann ist der Vers da. Er schlägt gewissermaßen das Buch auf, er selbst, er enthüllt sich, er stellt sich auf den Weg. Und dann kann man nicht herumgehen oder ausweichen. Er ist wie Eisen, das zuschlägt. Er hat uns … ist es nicht so?«

»Ja«, sagte Thomas leise, »er hat uns … so ist es.«

»Und nun soll ich Ihnen sagen, was Sie damit anfangen sollen, nicht? Der Vers bedrückt Sie, er ist wie ein leiser, dumpfer Schmerz, der immer da ist. Sie lesen etwas anderes, oder Sie gehen spazieren, viele Stunden lang, am Tage oder lieber in der Nacht. Oder Sie denken an Skagerrak oder an das Ende. Aber er geht immer mit Ihnen, er ist nicht mehr außen, in einem Buch, das in Ihrem Hause bleibt, wenn Sie das Haus verlassen. Er ist schon in Ihnen, in Ihrem Blut, ganz tief. Sie sind nicht mehr sein Herr.«

»Ja«, sagte Thomas, »so ist es.«

»Sie müssen es nun so ansehen«, fuhr der Pfarrer fort, »oder vielmehr, es ist wohl richtig, wenn Sie es so ansehen: Der Vers hat das Seine getan, er hat sich gleichsam vom Tode auferweckt, er ist für Sie auferstanden. Und nun fragt sich, ob Sie das Ihre tun wollen. Ich will es nicht ›auferstehen‹ nennen, denn das ist ein sehr großes Wort. Es fragt sich, ob Sie den Vers wieder begraben wollen, ihn erwürgen und zuschütten … ja, ich sagte, ›erwürgen‹! Dann rührt er sich noch eine Weile, so wie das Kind bei Tolstoi, wissen Sie? In der Nacht, wenn Sie aus einem Traum auffahren, oder in einer Gesellschaft, oder vielleicht, wenn Sie Ihren Jungen ansehen. Aber dann ist er still, so still wie vorher. Er hat angeklopft, und Sie haben nicht aufgemacht. Sie haben die Hunde auf ihn gehetzt, und er ist tot. Für sie ist er tot, ewig und unabänderlich.

Das ist der eine Weg. Der andere ist ebenso klar, nämlich, daß auch Sie nun das Ihrige tun, nicht wahr? Daß Sie eben aufhören damit, Ihre Jahre zuzubringen wie ein Geschwätz. Und wenn Sie das tun, dann ist der Vers still. Das heißt, seine Mahnung ist still, sein Vorwurf, seine Klage. Er trifft nicht mehr zu für Sie, Sie haben ihn erlöst. Im Märchen wird aus einem Drachen eine Prinzessin. Im Leben ist es so, daß man eben aufhört, so zu sein. Daß man anders wird, kein Heiliger, und kein Prophet, aber eben anders, nicht?«

»Ja«, sagte Thomas, »aber wenn man nun das nicht so ohne weiteres kann … fromm werden, meine ich, oder glauben, oder wie man es nennt …«

»Fromm werden? Glauben?« Der Pfarrer beugte sich vor und sah ihn erstaunt an. »Wie kommen Sie darauf? Arbeiten soll man, arbeiten! Verstehen Sie? Nichts als arbeiten! Das heißt es.«

»Aber Sie als Pfarrer …«

Der schwere Mann stand auf und trat vor das riesige Christusbild. Er war ebenso groß wie das Bildwerk, und sie sahen einander aus gleicher Höhe in die Augen. »Dieser hier«, sagte der Pfarrer leise, sich halb umwendend, »wird mir verzeihen, daß ich seinen Namen so selten nenne. Daß ich nur von dem einen spreche, das uns heute not tut, von der Arbeit. Auch in der Kirche, gerade in der Kirche. Vier Jahre haben wir seinen Namen mißbraucht, nun wollen wir ihn vier Jahre verschweigen. Wir haben getötet, und nun wollen wir arbeiten, schwer und keuchend und schweißbedeckt, nichts als arbeiten. Und dann wollen wir sehen, ob wir wieder würdig sind, seinen geliebten Namen auszusprechen.«

»Und wie arbeiten, Herr Pfarrer? Welche Arbeit? Ich selbst, ich …«

Der Pfarrer hob die Hand. Er stand nun mit dem Rücken gegen das Fenster, als sei er eben aus dem Dunkel der Nacht herausgestiegen, ein Bauer, den seine Felder nicht schlafen lassen. »In dieser Gemeinde«, sagte er, »wohnen Minister und Straßenkehrer. Beide kommen nicht in die Kirche, aber beide arbeiten, und beider Arbeit ist mir gleich wert. Die eine kann ich sehen, wenn ich aus dem Hause trete, die andere kann ich nicht sehen, ich errate sie höchstens oder lese in der Zeitung davon. Ich glaube auch, daß der Straßenkehrer glücklicher ist mit seiner Arbeit als der Minister. Er hat seinen Abschnitt, seinen Besen und seine Karre. Er hat seine Grenzen, über die ihm keiner hereinkommt. Das hat der andere nicht. Und ein Pferdeapfel ist leichter zu beseitigen als Intrigen oder politische Feindschaft oder was sie sonst wollen. Aber außerdem kann der Straßenkehrer immer hoffen, einmal Minister zu werden, während jener keinen Stern hat, den er aus dem Himmel herunterholen könnte. Aber das ist alles gleich, ganz gleich. Sie dürfen nicht fragen: ›Welche Arbeit?‹ Sehen Sie meinen Tisch an! Sehen Sie die Briefe! Dutzende, Hunderte von Briefen, mit Blut geschrieben, ja, ich sage es ausdrücklich: ›Mit Blut geschrieben!‹ Wissen Sie nicht, wie Gott uns geschlagen hat? Furchtbar und erbarmungslos geschlagen? Ach …« Er hob die Hände und rang sie über seinem grauen Haar, und für einen Augenblick war sein Gesicht verzweifelter als das des grauen Bildes an der Wand.

Aber dann ließ er die Hände sinken und lächelte wie zur Abbitte. »Es ist nur manchmal«, sagte er, »und geht gleich vorbei … ich sehe Ihnen schon lange zu, fast fünf Jahre, Herr von Orla. In dieser Gemeinde bleibt ja nichts verborgen. Wie Sie mit Ihrem Jungen gehen und wie Sie allein gehen, lange und viel allein. Aber ich war immer getrost, wenn ich an Sie dachte. Er trifft seinen Engel schon, habe ich gedacht. Wer so viel geht, trifft ihn schon einmal. Ich bin nicht zu Ihnen gekommen, das sind so neumodische Dinge. Wenn die Kirchen leer sind, wandern die Pfarrer in die Häuser, um Eintrittskarten zu verschenken. Nein, nein. Die Bauern warten auch, bis man kommt. Aber Sie wollen ja auch nicht das ›Wort Gottes‹, wie es so heißt. Sie wollten nur eine Bestätigung, daß es nicht recht ist mit Ihrem Leben. Und Sie haben gedacht, ein Pfarrer, wenn er um Mitternacht noch auf ist, vielleicht weiß er es …«

»Ich war schon an meinem Hause«, sagte Thomas, »und erst als ich sah, daß die Fenster noch alle hell waren und die Wagen unten hielten, bin ich umgekehrt.«

»Ja, sie leben wie Belsazar und seine Knechte … immer war das so in solchen Zeiten … man soll nicht schelten, man soll nur immer dasein, immer dasein …« Er legte den Kopf an die Lehne seines Stuhles und schloß die Augen. Jede Linie des Gesichtes erstarb in erschreckender Müdigkeit.

Thomas stand leise auf. »Ich danke Ihnen, Herr Pfarrer«, sagte er.

»Danken soll man erst, wenn man beim Morgenlicht nicht bereut, Herr von Orla. Und auch dann ist es meistens überflüssig. Es kommt uns nämlich nicht zu, verstehen Sie? Sehr wenigen kommt es zu, und ich bin nicht einer von den wenigen.«

Er brachte ihn noch ans Gartentor, schloß hinter ihm zu und sah einmal zu den Sternen auf. »Ich war heute bei einem Mörder«, sagte er halb im Fortgehen. »Ja, Sie dürfen nicht erschrecken, das sind so meine Pflichten … Morgen wird er hingerichtet. Ich saß eine Stunde bei ihm und habe gebetet. Allein, denn er wollte nicht beten.

Er wollte auch nicht sprechen, kein Wort. Aber ich dachte, vielleicht tut es ihm wohl, daß nun einer da sei außer den furchtbaren Wänden. Aber als ich fortging – der Wärter kam mich holen – und ich noch einmal zurücksah auf seine gekrümmte Gestalt, da richtete er sich auf und sagte: ›Ein Segen, daß es drüben keine Pfarrer geben wird!‹ Ganz freundlich sagte er es … was aber muß ein Stand gesündigt haben, Herr von Orla, daß so etwas gesagt werden kann? Verstehen Sie? Aber es ist nicht der einzige Stand, glauben Sie mir. Keiner von uns weiß, wie er schuldig ist an allem, was geschieht. An allem, hören Sie? Ja, an allem …«

Dann ging er zu den hellen Fenstern zurück, und Thomas sah, wie gebeugt die schweren Schultern waren.

Später müßte Joachim zu ihm, dachte er, langsam die Straße hinuntergehend. Wenn ich einmal arbeite – und es wird sicherlich nicht hier sein –, dann müßte er zu ihm und ab und zu in diesem großen Raum sitzen und ihm zusehen. Wie sein Gesicht lebt unter allen Toten, die um uns sind.

Schwester Beate stand schon in der Wohnungstür, als er die Treppe heraufkam. »Die gnädige Frau ist krank«, flüsterte sie verstört, »ich weiß nicht, was es ist.«

Er ging noch im Mantel hinein. Mit einem schnellen Blick umfing er den großen Raum, die Tische mit Gläsern und Aschenschalen, die Falten in den Teppichen, die geknüllten Kissen in den Sofas und Sesseln. Der abgestandene Zigarettenrauch machte ihm nach der reinen Nachtluft übel. »Öffnen Sie alle Fenster, Schwester«, sagte er leise. Dann ging er zum Kamin, in dem das Feuer noch brannte.

Seine Frau kauerte in einem der tiefen Stühle. Sie hatte die Füße hochgezogen und den Kopf auf die Lehne zurückgelegt. Ihr Gesicht war weiß und erschöpft, mit kleinen Schweißtropfen auf der gefalteten Stirn. Als er die Hand ausstreckte, um sie auf ihr Haar zu legen, öffnete sie die Augen und lächelte. Ihr Blick war trübe und fast bewußtlos, ihr Lächeln wie das einer entstellten Maske. »Tho … mas«, flüsterte sie mühsam. Sie war betrunken.

Seine Hand hielt in der Bewegung inne, und er starrte regungslos in ihr Gesicht. Er fühlte, wie seine Haut kalt wurde und sein Mund sich in einem bitteren Geschmack zusammenzog. »An allem«, ging es ihm durch den Sinn, »ja, an allem …«

Sie trugen sie ins Schlafzimmer, und Thomas schickte die Schwester nach einem Glas aufgewärmter Milch. Er blieb am Fußende des Bettes stehen, bis sie zurückkam. »Eine leichte Vergiftung«, sagte er. »Nach diesem wird es besser werden, verstehen Sie? Wenn es schlechter wird, rufen Sie mich!« Er sah ihr befehlend in die Augen, bis sie verstanden hatte.

»Ich mache es nun schon allein, Herr Kapitän«, sagte sie.

In seinem Zimmer setzte er sich auf das schmale Ruhesofa und stützte den Kopf in die Hände. Er wußte, daß es ohne Hoffnung war. Die Nachernte des Krieges war so erbarmungslos wie seine blutige Zeit. Vor zehn Jahren noch würde er geglaubt haben, mit dem Schiff untergehen zu müssen. Nun glaubte er es nicht mehr. Sein Vater hatte es nie geglaubt. »Ein Mann, Thomas, der sich von einer Frau in den Strudel ziehen läßt, hat aufgehört, ein Mann zu sein!« Sie hatten an der Leiche eines Gespannknechtes gestanden, der sich ertränkt hatte, weil seine Frau ihn betrog. Thomas hatte noch seine Kadettenuniform getragen, aber der Vater hatte ihn mitgenommen, um es ihm zu zeigen. Er sah ihn dastehen, beide Hände auf den Stock gestützt, und über den Toten hinweg auf die grünen Felder blicken. Weiße Wolken zogen wie dunkle Schatten über die junge Saat, und in der Ferne hörte man eine Sense dengeln. »Du wirst dich erinnern, Thomas«, hatte der Vater gesagt. »Es wird eine Zeit kommen, wo euer Leben nicht euch oder den Frauen gehören wird, keinem von euch …«

Nun erinnerte er sich. Es war nicht gut, daß der Vater so früh gestorben war.

Er holte sich ein Kissen und eine Decke aus dem Gastzimmer. Bevor er das Licht löschte, trat er noch einmal an den Globus. Er legte einen Finger auf die Gipfel des Himalaja und schob sie mit leisem Schwung zur Seite. Die große Kugel begann sich leise surrend in ihrem Lager zu drehen, und Gebirge, Ebenen und Meere glitten mit einem flüsternden Ton an seinen Augen vorüber. Tauchten wieder auf und versanken wieder, Farbflecke und ein Netz von Linien, Licht, Dämmerung und Schatten, und er stand vorgebeugt, leise verwundert, als stehe er auf einem fremden Stern und sehe zu, wie die alte Heimat vorüberschwebte, ganz weit, durch den eisigen Weltenraum, und alles Schicksal auf ihr sei so fremd wie ein Märchen aus längst vergangenen Tagen.

Dann wurde die Drehung langsamer und erstarb. Der heimische Erdteil breitete sich vor seinen Blicken aus, und seinem Abbild waren Brand und Verwüstung der letzten Jahre nicht anzusehen. Ruhig lagen die Festländer und Meere, die Ströme spannten sich blau und dünn über die gekrümmte Fläche, und das Bild der Stadt, in der er lebte, lag als ein kleiner dunkler Kreis zwischen Wasser und Wald. Nach Osten aber zogen die großen leeren Ebenen, immer leerer, je weiter seine Blicke ihnen folgten, bis zur verstümmelten Grenze des Reiches, und dort, im wieder gehäuften Blau und Grün der Seen und Wälder, ruhte das Auge noch einmal aus, ehe das Endlose der Krümmung der Kugel verschwand.

2

Thomas war eine Nacht und einen halben Tag gefahren, als er an der kleinen Haltestelle ausstieg. Er holte sein Fahrrad aus dem Gepäckwagen, sah hinter dem Bahnhofsgebäude einmal in seine Karte, machte den Rucksack fest und fuhr die birkengesäumte Straße hinunter, den Wäldern zu, die blau und groß im Süden die Welt verschlossen.

Obwohl das Land nicht unähnlich seiner märkischen Heimat war, schien es ihm doch, als sei er in der Nacht über fremde und riesige Ströme gefahren und als sei dies hier keiner Erde zu vergleichen, die er während seines Lebens betreten hatte.

Indes er fast geräuschlos dahinglitt, von einem sanften seitlichen Winde je nach der Biegung der Straße gehindert oder getrieben, versuchte er zu ergründen, weshalb sein Atem leicht zu gehen schien in dieser Landschaft, obwohl sie doch im ersten Anschauen streng, weit und nicht ohne Düsterkeit sich ihm darbot. Er bemerkte, daß die Luft rauher ging, daß Wachstum und Feldbestellung gegen seine Heimat weit zurückgeblieben waren, daß Häuser und Dörfer ärmlicher, fast liebloser in den umgebenden Raum gebettet waren. Doch schienen wiederum Straßen und Pfade menschenleerer, alles Gerät einfacher und verbrauchter, ja auch alle Ansprüche bescheidener, als ob die Erde noch unbedingter hier herrsche, den Forderungen des Menschen noch widerwilliger verschlossen als in anderen Bezirken des Reiches, und als ob der Mensch hier mehr auf eigener Kraft und im eignen Inneren beruhen müsse, ohne die gedankenlose Unterstützung der Masse, die ihm woanders, zumal in den Städten, so leicht und so verhängnisvoll zufalle.

Doch schien ihm vor allem der Himmel über alle Maßen groß und gewaltig. Geschwader von Wolken zogen ruhevoll an seiner Wölbung entlang, aber selbst sie mühelos geordnet in dem unermeßlichen Raum, und ihre schweren Schatten stießen sich nirgends auf den noch bräunlichen Feldern. Auf den Hügeln der Äcker standen einzelne Bäume, das Astwerk ohne Hindernis ausgebreitet oder von immer wehenden Winden nach einer Seite gebeugt, und da sie fast alle ohne Hintergrund vor dem leeren Himmelsraum standen, so trugen die Felder in aller Kargheit ein Gesicht des Stolzes, als lägen sie noch da wie zu Beginn der Schöpfung und niemals sei anderes als Wind oder Regen oder eine kühle Sonne über sie hingegangen.

Auch der Schrei der Vögel dünkte ihn heller und wilder zu sein, und nirgends glaubte er so viele Raubvögel gesehen zu haben, die spähend über den Feldern hingen oder in Kreisen sich unter die Sonne schoben. Doch verknüpfte ihr Bild sich ihm immer mehr mit der Erscheinung der großen Wälder, denen er zufuhr und die ihm als die eigentliche Heimat alles dessen erschienen, was sich hier spielend oder beutesuchend unter dem Himmel bewegte.

Kam er so auch nicht zu der gewünschten Klarheit seiner Gedanken und blieb die Ursache seines Gefühls der Freiheit ihm im Letzten noch verborgen, so nahm er doch mit Beglücktheit wahr, daß sein ganzes Wesen vorwärts gewendet war, bestrebt, Kommendes und Neues in sich aufzunehmen, und daß die grübelnden Gedanken der letzten Tage, ja noch der Nachtfahrt, wie ein Nebel hinter ihm verflogen waren.

Indessen wuchs das Gesicht der Wälder immer näher und deutlicher in ihm auf, und es war ihm, als sei dort eigentlich erst das verborgen, was den Sinn der Landschaft ausmache und dazu auch das, was zu suchen er ausgezogen sei. Von ferne schon war zu erkennen, daß der schweigende Ernst dieses Raumes dort nicht von einer Heiterkeit der Form abgelöst werden würde, ja daß vielmehr mit dem Zurückbleiben von Dorf, Feld und Gehölz sich alles in eine einzige, gesammelte Erscheinung zurückziehen würde, an Größe nur dem Meere oder dem Hochgebirge zu vergleichen, und nicht nur an Größe, sondern eben auch an Schwere und aufrufender Einsamkeit.

Schon jetzt sah er die Geradheit grauer, sehr hoher Stämme, ohne Unterbrechung nebeneinandergestellt, ohne Zierlichkeit verbindender Linien, und darüber den leise gewellten Saum der Wipfel, abgerundet wie die Form des Granits im Urgebirge. Zwar erblickte er, je näher er kam, vermittelnde Einzelheiten, Fichtenschonungen etwa, die einem in die Tiefe gesunkenen Waldstück von ferne glichen, einen Weißbuchenhain oder einen Hang mit jungen Birken, zwischen denen der Wacholder dunkel stand, aber gleich schloß die graue Wand sich wieder zu und tat sich nur auseinander, um die Straße hineinzulassen, aufzunehmen und gleichsam sofort zu begraben.

Hier war es natürlich, daß Thomas abstieg und von der hohen Böschung den Blick noch einmal zurückwendete. Er saß auf einem Baumstumpf, um den schon die blauen Sterne der Leberblümchen standen, stopfte langsam seine kurze Pfeife, und indes der Rauch mit dem leisen Wind in das Holz hinter ihm zog, nahm er die eben durchfahrene Landschaft noch einmal in sich auf, ruhiger nun, auch größer vielleicht, da der Weg sich langsam gehoben hatte und nun vieles nebeneinander lag, was vorher Stück für Stück aufeinandergefolgt war. Wieder kam ihm das Leere des großen Raumes beruhigend und beglückend ins Bewußtsein, die sanfte, lang ausholende und abklingende Schwingung der Linien, die Armut an Siedlungen, die Stille der Luft und das unendlich Gespannte des Horizontes. Er versuchte sich vorzustellen, wie der Wechsel der Jahreszeiten dies Bild verändern würde, wie er selbst in diesem Wechsel bestehen oder unsicher werden würde und ob die Frische des ersten Eindruckes auch erhalten bleiben würde, wenn er nun aus einem Wanderer zu einem Bewohner und aus einem Betrachtenden zu einem Tätigen würde.

Doch erschien ihm, auch so angesehen, das vor ihm ausgebreitete Bild von immer gleicher Kraft und Tröstlichkeit erfüllt, und als er sich nun gar auf seinem Sitz wendete und der Blick durch die Vielheit der Stämme in das Innere des Waldes ging, wo die Sonne schmale Brücken auf Moos und Blaubeerkraut legte, wo rotbeschienene Stämme immer tiefer zurückwichen in eine bläuliche Dämmerung und nur das Klopfen des Spechtes das Schweigen nicht zerbrach, sondern tiefer machte: da glaubte er, auf der Höhe eines vielgeprüften Lebens noch einmal Frieden und Glück der Kindheit vor seinen Händen ausgebreitet zu sehen, als gelte es nur, vertrauend zurückzukehren, um mit der Ruhe der Landschaft auch alles wiederzugewinnen, was damals heiter, leicht und unveränderlich erschienen war. Und wiewohl er wußte, daß keine Rückkehr dieser Art dem Menschen vergönnt sei, daß vielmehr jedes Alter seinen eigenen Frieden zu gewinnen habe, so gab er sich doch willig für eine Weile jener träumerischen Rückschau hin, wohl wissend, daß die nächsten Tage schon ihm fordernd entgegenkommen würden.

Noch einmal hielt er an diesem Tage inne, als er von einer der Waldhöhen aus zum erstenmal rechts und links der Straße zwei der großen Gewässer sich ausbreiten sah, auf denen an jenem vergangenen Abend bei der Drehung seines Globus seine Blicke anhaltend geruht hatten. Anders war nun das wirkliche Bild, aber noch tiefer als damals kam ihm das Gefühl zurück, hier an der Grenze nicht nur des Reiches zu stehen. Was sich hier in die Wälder hinein dehnte, blau, in den Buchten noch von grauem Eise bedeckt, von braunen Rohrflächen gesäumt, vom klagenden Ruf der Haubentaucher überhallt, schien ihm nach den brennenden und dann verfinsterten Jahren wie ein Land, das außer allem Geschehen geblieben war, als sei es von Eisbergen bedeckt gewesen und nun erst in makelloser und strenger Klarheit wieder ans Licht gestiegen. Es erschien ihm unähnlich allen anderen Ländern des Reiches, nicht wie ein Blatt, auf dem die Hand des Menschen geschrieben, gestrichen, gelöscht und wieder geschrieben hatte, sondern als ein Unberührtes, auf dem ein Anfang geschehen könnte, keine Wiederholung, Verbesserung oder Berichtigung, sondern eben ein Anfang, eine erste Furche, und die Vögel unter dem Himmel würden sich über ihr versammeln und zusehen, was nun hier unter der Hand des Menschen zum ersten Male geschehe.

Er dachte an sein Kind und wie es dort aufwachsen mußte, behütet, aber inmitten der Bilder des Verfalls und des Rausches; wie er es für ein paar Jahre zurücklassen mußte, aber wie er hier mit ihm einmal stehen wollte, hier oder an ähnlicher Stelle, um ihm zu zeigen, wofür man leben müßte, überall auf der Erde, wo die Menschen sich noch Mühe gaben.

Um die Dämmerung erst kehrte er ein, in einem Waldkrug, den er an der Straße fand und den auch seine Karte angezeigt hatte. Kaum in seinem Leben hatte er Armut und Verfall so nahe gesehen, doch schien ihm das erste eine gute und nützliche Einleitung zu dieser Reise zu sein, die ja, wie er hoffte, nicht nur eine Reise bleiben sollte. Und da er sein kleines Zimmer sauber fand, mit dem freien Blick auf abendliche Schonungen, war er es alles zufrieden und bat nur, bis zur Bereitung des Essens am Feuer in der Küche sitzen zu dürfen, was ihm nach einigem Widerstreben auch gewährt wurde.

Eine schweigsame Frau schaffte am Herde, zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, in Joachims Alter etwa, sahen mit großen Augen von der Holzbank aus ihm zu, indes der Mann hinter dem Tisch stehenblieb, den Rücken gegen das Fenster gewendet, und erst auf besonderen Zuspruch hin seine Arbeit an einem kleinen Netz wiederaufnahm, durch das er mit einer hölzernen Nadel neue Maschen zog. Er war gekleidet wie die Menschen, die Thomas unterwegs gesehen hatte, in hohe Stiefel und hartgewebtes graues Zeug, und auch in der Wärme des Raumes hatte er sein Halstuch nicht abgenommen, das in zwei Zipfeln ihm über den Kragen hing. Die Gesichter schienen Thomas schwer, müde und gleichsam schon von den großen Ebenen mitgeformt, die sich hinter diesen Wäldern und Seen nach Asien hin erstreckten.

Ja, er sei zur See gefahren, sagte Thomas auf die erste ungeschickte Frage hin, sein ganzes Leben lang, als Steuermann auf einem großen Dampfer. Aber da es nun damit zu Ende sei, es ihm auch in den engen Städten nicht gefiele, wo der Wind nur Staub und Papierfetzen vor sich hertreibe statt des salzigen Schaumes der See, so habe er beschlossen, sich in dieser Landschaft umzutun, ob er nicht etwas wie eine Fischereipacht fände, von der man bei harter Arbeit doch sein Brot habe und zum mindesten sein Essen, wenn das bedruckte Geld schon immer schneller in den Rauchfang stiege.

Das könne wohl möglich sein, meinte der Mann langsam, und wenn er auch hier in der Gegend nichts wisse, vielmehr alles in festen Händen sei, so könne er ihm doch hier und da einen Namen an den Seen sagen, wo er Bescheid und wohl auch Rat finden werde. Denn es sei viel Unruhe in der Landschaft, nicht nur wegen der Angst vor den Polen, sondern es sei überall auch wie bei ihnen selbst, daß die jungen Leute den Dienst aufsagten, nicht nur, weil es ihnen zu einsam sei, sondern auch weil sie meinten, die Arbeit werde nun abgeschafft oder mindestens denen aufgelegt, die bisher nach ihrer Meinung nicht gearbeitet hätten. So seien auch sie allein geblieben, und Knecht und Magd seien des Weges gegangen, in die Hauptstadt der Provinz, wo sie nun wahrscheinlich schon auf einem goldenen Throne säßen.

Nur eines scheine ihm bedenklich, daß der Herr bei aller schweren Arbeit auf See doch so zarte Hände behalten habe und daß es ihm vielleicht nicht leichtfallen könnte, bei allem guten Willen, an dem er nicht zweifle, dies harte Handwerk zu ergreifen.

Darüber beruhigte ihn Thomas nun, schrieb sich auch die Namen in sein Taschenbuch, die der Mann ihm nannte, und bat schließlich, daß er zusammen mit ihnen hier in der Küche essen dürfte, wo es warm sei, er ihnen Mühe erspare und er sich schließlich auch gleich zu Beginn an die Welt gewöhne, in der er doch nun sich einrichten wolle.

Beim Essen, vor dem die Frau ein Gebet gesprochen hatte, erfuhr er, daß sie einer religiösen Gemeinschaft angehörten, die in der Gegend weit verbreitet sei, daß sie mit Sorgen auf den Gang der Zeit blickten und einige von ihnen sogar der Meinung seien, daß die Gesichte des heiligen Johannes sich nun bald erfüllen würden.

Dem widersprach nun Thomas, meinte, daß das deutsche Volk auch aus diesen Zeiten der Wirrnis sich wiederaufrichten werde, und berichtete auch von seinem Besuch bei dem Pfarrer, der ihn recht eigentlich auf diesen Weg gebracht habe und bei dem er wieder gelernt habe, wie gefährlich es sei, ganze Klassen oder Stände oder Berufe leichthin abzuurteilen, da wir ja doch nie mehr als einzelne Menschen unter ihnen kennten.

Dann ging das Gespräch auf seine Fahrten und die Seeschlachten des Krieges und wieder zurück zu Schicksalen und Gebräuchen dieser Landschaft, indes sie ihre kurzen Pfeifen rauchten, die Frau ihr Strickzeug in den Händen hielt und die Kinder atemlos auf seine Reden lauschten, als sei Sindbad der Seefahrer aus den vertrauten Kiefernwäldern aufgestanden, um seinen Glanz über ihr Leben zu legen.

Und als Thomas ihnen gute Nacht bot und die schmale Treppe zu seinem Schlafraum hinaufstieg, ein Licht in der Hand, schien das Ganze ihm als ein schönes Tor zu seiner neuen Welt, voll guter Vorbedeutung und von allem Gewohnten und Vergangenen wie durch Jahrzehnte geschieden.

Immer tiefer nahm das Land ihn nun auf. Tag für Tag fuhr er an den Seen entlang und von Dorf zu Dorf, mitunter verweilend, wenn ihn etwas zu halten schien.

Die Witterung wechselte in den Zeiten der Nacht- und Taggleiche, Stürme und Regen fielen über das Land, und eines Abends trieb sogar der Schnee in weißen Streifen zwischen den grauen Stämmen hin. Dann aber gewann die Sonne wieder das Feld, trocknete Straßen und Pfade, das Eis in den Buchten schmolz, und über der jungen Saat hingen hoch im Blau die singenden Lerchen. Immer aber gingen die großen Wälder mit ihm mit, wechselnd zwischen Laub- und Nadelholz, aufblauend, erglühend und sich wieder verdunkelnd mit dem Gang der Sonne, und mit ihnen die strenge und reine Luft, die das Atmen leicht machte und die sorgenlosen Jahre wieder heraufrief, als er hoch über Segeln und Meer im Mastkorb gesessen hatte.

Der Rat des Mannes aus dem Waldkrug hatte sich als nützlich erwiesen, einige Angebote fand er gut und sogar verlockend, doch hielt er die Zusage noch hin, weil ihm das Letzte noch zu fehlen schien, die jähe Zustimmung des Herzens, von der er meinte, daß sie einmal kommen werde, und die ihm wichtiger schien als Verstand und kühle Berechnung.

So kam er am späten Nachmittag des zehnten Tages zu einem Meilenstein an einer breiten Landstraße, von dem ein schmaler Weg zu einer Försterei abbog, und da der Wald ihm schöner schien als jeder andere, den er bisher durchfahren hatte, von Birkenschonungen und alten Eichen durchsetzt, so ließ er den breiten Weg und meinte, er werde zur Nacht schon unterkommen, wenn nicht im Forsthaus, so doch wenigstens in einer Feldscheune oder in einem der Wildheuhaufen, die er hier und da in den Schonungen angetroffen hatte. Die Luft war milder geworden, ein südlicher Wind ging durch den Wald und brachte den schweren Duft des Seidelbastes mit, der an den sonnigen Hängen blühte.