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Percy wird als Sohn eines deutschen Handelsmannes in Asien geboren, seine Mutter stirbt bei der Geburt. Geborgenheit findet er bei den Bediensteten des Vaters und in der Schönheit der ihn umgebenden Natur. Doch nichts bleibt wie es ist. Mit elf Jahren muss er sein neues Zuhause im kalten Deutschland finden. In "Geschichte eines Knaben" beschäftigt sich Ernst Wiechert mit einem Thema, das auch heute noch von großer Bedeutung ist: Die Schwierigkeit eine Heimat in der Fremde zu finden, sich anzupassen und doch man selbst zu sein.-
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Seitenzahl: 77
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Ernst Wiechert
Novelle
Saga
Geschichte eines Knaben
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1928, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726951875
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Er hieß Percy und war in Batavia geboren worden. Nicht in der Benedenstadt, der Stadt der Speicher, Giebelhäuser und Kanäle, wo auf bebauten Sümpfen eine erbarmungslose Sonne brütet und wo vom Sonnenuntergang bis zum -aufgang die Anopheles todbringend aus der Fiebererde steigt. Sondern in Weltevreden, der weißen Stadt, zu der die breite Doppelstraße sich aufhebt, an deren Innenrändern, im Wasser des Tjiliwoengflusses, die javanischen Mädchen ihr Haar spülen und ihren Sarong waschen.
Von den Balkonen eines jener weißen Häuser hatte seine Mutter zehn Jahre lang auf den glühenden Traum der Bataverstadt hinabgeblickt, mit Augen, die aus Jubel und fassungsloser Trunkenheit sich langsam zu Müdigkeit, zu Schwermut und Hoffnungslosigkeit verdunkelt hatten. Sie hob wohl noch die Hand zum Gruße, wenn am Abend das Signal des Autos zu ihr emporrief, aber sie erhob sich nicht mehr, wenn ihr Gatte die Veranda betrat. Ihre Hände blieben im Schoß gefaltet, und mit einem müden Lächeln empfing sie den gewohnten Kuß auf ihre Stirne. Herr Schurmann, groß, schlank und mit Sorgfalt gekleidet, blieb einen Augenblick hinter ihr stehen und folgte mit wenig verhüllter Gedankenlosigkeit dem Blick ihrer halbgeschlossenen Augen über die regungslosen Palmenwipfel hinaus bis an das schon dunkelnde Meer, wo die Signallichter der Häfen aufzuckten und erloschen. »Müde, Kind?« fragte er mit der gütigen Herablassung des Erwachsenen. »Ja, ich bin sehr müde«, erwiderte sie gehorsam. Dann ging er, sein abendliches Bad zu nehmen, und sie blieb noch eine Viertelstunde in ihrem Stuhl, während die Nacht sich mit betäubender Plötzlichkeit über Haus und Garten stürzte, die Sterne aufflammten und die Düfte der tropischen Erde mit furchtbarer Nacktheit sich über sie warfen.
Einmal in jedem Jahr fuhr sie hinunter zur Merians-besar, zur heiligen Kanone im Tor des Batavia-Kastells. Dort kaufte sie Blumen von einem der Händler und irgendeine der zahllosen Votivgaben, kniete nieder, verbrannte sie an einem Opferfeuer und blieb im Gebete versunken, ihrer Rasse entkleidet, gleich allen anderen javanischen und chinesischen Frauen, deren Leib nicht gesegnet war und deren Hoffnung leise frohlockend in einer Gebärde erglühte, die seit Jahrhunderten täglich neu uralte Götter im Staube rief.
Als sie erhört war, wußte sie, daß sie mit dem Leben zahlen würde. Allen Bitten und Befehlen, bis zur Geburt in die Heimat zu gehen, setzte sie einen Widerstand entgegen, dessen Beugung nur auf Kosten ihres Lebens möglich schien. Als man sie gewähren ließ, erblühte sie noch einmal in einer traurigen Schönheit, die Jugend und entsagende Reife zu einem ergreifenden Bilde zusammenschloß. Täglich fuhr der Kraftwagen sie die weiße Straße hinauf, die irgendwo in der Ferne gleich einem leuchtenden Pfeil in den grünen Schild des Urwaldes stieß. Dann stieg sie hinter dem Diener her den Pfad zur Bergkuppe empor, von der man die Gipfel der Vulkane sah, den blühenden Rausch der Wälder, die blitzenden Reisebenen, den weißen Traum der Städte und das schmerzhafte Blau eines Meeres, das vor dem Paradiese lag. »Amaga«, sagte sie leise, »weshalb ist dein Land so schön?« Dann traf der feuchte Blick seiner Tieraugen sie in Ergebenheit und Trauer. »Die Götter haben es gewollt, Herrin«, erwiderte er, und seine Augen gingen über das glühende Land.
Oft, im Dunkel der Veranda, pflegte sie nun den Vorhang von dem Gemälde ihres Lebens zu ziehen und mit nie gehörten Worten zu deuten, was in dunkler Tiefe sich ihr je offenbart hatte. Schwirrende Insekten spannen ihre glühenden Fäden von Wipfel zu Wipfel, und die Brandung des Meeres stand hinter den Gärten wie der langgehaltene Ton einer gestrichenen Saite.
»Dies Land hat mein Blut getrunken«, sagte sie mit glücklichem Lächeln, »und ich wehrte mich mit der Kraft des Abendlandes. Nun aber habe ich mich ihm hingegeben, und wir tauschen Blut um Blut gleich einer neuen Geburt ... du sollst ihn Parzival taufen, Magnus, hörst du? Ich habe es Sawah gesagt, die ihn nähren soll, wenn du es vergessen solltest ... du sollst ihn Parzival taufen und ihm sagen, seine Mutter habe Herzeloide geheißen.«
»Sprich doch nicht so«, bat er unbehaglich. Aber sie lächelte weiter vor sich hin.
In den letzten Wochen wollte sie niemand um sich dulden als Sawah, die Gärtnersfrau, die ihr erstes Kind geboren hatte und, zu ihren Füßen kauernd, die Lieder des Urwaldes singen mußte, die Lieder des Vollmonds und die Lieder der Zuckerrohrernte, die Melodien des Gamelang und die Weise des Ganderung, aus der Zeit, da sie selbst den Legon getanzt unter dem tausendjährigen Waringibaum von Karang Asem. Waren sie dann verklungen und verweht, aus Leidenschaft und Klage vertropfend wie Regen im Wald, dann schwiegen die beiden Frauen, bis Sawah sich lautlos erhob und sich über ihre Herrin beugte. »Weinst du, Herrin?« – »Es ist das Glück, Sawah, nichts als das Glück ...«
Sie starb, als sie ihre Stunde vollendet hatte, den Schrei des Geborenen in der erlöschenden Seele, und die Tränen der Malaiin waren die erste Spur, die das Leben über das gefurchte Antlitz des Kindes zog.
Es wurde nicht Parzival getauft, weil es dem Sohn von Magnus Schurmann, zweitem Chef des Exporthauses Walker & Sons, Ltd., schlecht angestanden hätte, einen solchen Namen zu führen. Doch vereinigte er eine dunkle Achtung vor dem Wunsche seiner verstorbenen Frau mit den Pflichten und sprachlichen Bindungen seiner Stellung, indem er ihn Percy taufte. Sawahs erbitterten Widerstand nahm er mit befremdetem Lächeln zur flüchtigen Kenntnis. Es war ein schlechtes Zuckerjahr, und er hatte andere Sorgen, als mit Namen zu spielen. Er fühlte sich einsamer in seinem großen Hause und nährte eine dumpfe, langsam wachsende Erbitterung gegen die Tote, die gleich einem unfaßbaren Duft noch immer die Räume erfüllte, wie sie sein Leben erfüllt hatte; fremdartig, körperlos, aller Berechnung entzogen. Er begann die Abende im Klub zu verbringen und etwas mehr Whisky mit Soda zu trinken. Er sah das Kind am Morgen, wenn es noch schlief, und nach erschöpfendem Tagewerk, wenn Sawah es zur Gutenacht hereinbrachte. Er pflegte es ungeschickt über die Wange zu streichen und aus einer inneren Ferne prüfend anzusehen, als blickte er über seinen Schreibtisch hinweg auf einen jener fremdländischen Agenten, die in seinem Kontor ihm gegenübersaßen und aus deren unbewegten Gesichtszügen er auf die Zuverlässigkeit des Angebots zu schließen versuchte. Mitunter wußte er nicht, ob dies Kind sein eigen sei, und er sah ihm lange nach, wenn schon die Türe sich geschlossen hatte, mit dem kalten und grübelnden Blick, mit dem man in der Benedenstadt eine Bilanz betrachtete.
Percy trank die Milch seiner malaiischen Amme, und seine Haut war braun wie die Farbe der Brust, die ihn nährte. Sein Haar war hell wie der Bast des Rotangs, und seine dunklen Augen waren die Augen der Toten, von einer Trauer erfüllt, die niemand zu deuten wußte. Das Seltsame, das aus dem dunklen Kelch seiner Seele langsam in die Enthüllung trat und das bei wachsamer Behütung und Erziehung sich hätte beugen, richten und leiten lassen, schoß unter der glühenden Sonne verzauberter Zonen gleich der Blüte im Urwald fieberhaft in Farbe und Form und war Besitz und Keim einer neuen Flamme, ehe Herr Magnus auch nur an die Möglichkeit einer Seele bei seinem Kinde gedacht hatte. Er gab ihm eine englische Bonne und einen holländischen Sprachlehrer, einen deutschen Erzieher und einen sorgsam ausgearbeiteten Unterrichtsplan, aber als er alles dieses um die Seele seines Sohnes herumstellte, war diese Seele schon zu Entscheidungen erwacht, mit denen zu rechnen gewesen wäre, zu Neigungen und Abneigungen, zu Urteilen über Gut und Böse, ja selbst zur Liebe und zum Haß. Sawah und mit ihr alle Malaien des großen Haushaltes betrachteten Percy als ihr Kind, und was seine immer schweigsame und immer aufmerksame Seele in den ersten Jahren empfangen hatte, war aus ihren Händen in sie hineingeflossen, gleich der Muttermilch, die er getrunken hatte. Die ersten Worte, die seine Lippen bildeten, waren malaiische Worte, und die ersten Töne, die seine Hände auf den Tasten des Flügels suchten, waren die Töne eines malaiischen Liedes. Es war keine Tafel, auf die zu schreiben war, sondern eine Tafel, die zu löschen war, mühsam und sehr sorgfältig, bevor man schreiben konnte.
Es war ein Kind, bei dem das Schweigen erwachte, wie bei anderen Kindern die Sprache erwacht. Ein sanftes und schwermütiges Schweigen wie das der Tiere, und früh legte er dabei die Hände zusammen, wie seine Mutter es auf der Veranda getan hatte. Seine erste Liebe erschloß sich den Blumen, um die er behutsam die Finger zu falten pflegte, um dann mit geschlossenen Augen ihren Duft in sich hineinzuatmen. Später kamen die Tiere, viel später die Menschen. Als die Engländerin erschien, war seine Welt schon klar geteilt in Dunkel und Hell, und Wärme, Güte, Glück und Trost lagen allein auf der dunklen Seite.