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Ernst Wiechert beschreibt in diesem Erzählband, wie einzelne Menschen das Leben Anderer prägen. In "Atli der Bestmann" wagen sich junge Seefahrer hinaus in das große Unbekannte. Nach dem Tod ihres Kapitäns verlässt sich die Truppe auf den schweigsamen, aber faszinierenden Atli. In seiner zweiten Erzählung setzt sich Wiechert mit der Frage der Schuld auseinander. Nachdem Tobias eine schreckliche Tat begangen hat, scheinen einzig und allein sein Kindheitszuhause und seine Großmutter ihn retten zu können. Doch kann der junge Student das schweigsame und urteilende, aber nicht verurteilende Wesen seiner Großmutter ertragen, ohne daran zu zerbrechen?-
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Seitenzahl: 56
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Ernst Wiechert
Saga
Atli der Bestmann und Tobias - Zwei Erzählungen
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1938, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726927474
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Er kam an Bord, nachdem der Motor anderthalb Stunden angelassen war. Die Jungs warteten an den Haltetrossen, der Kapitän stand am Ruder und fluchte, dass das Bollwerk sich bekreuzigte, der Lotse tat, als habe er eine Erfindung am Ankerspill gemacht, und ich stand unter dem Schonermast und überlegte, ob es nicht besser sei, noch von Bord zu gehen.
Es war nicht sehr gemütlich.
Dann kam der Kapitän nach vorn, als sei ihm die Resonanz am Ruder zu gering, wobei er dem Abzugsrohr des Motors einen Fusstritt gab, und starrte den Lotsen und mich abwechselnd aus seinen kleinen Augen an, die vor Zorn überliefen. „Angelogen hat mich das Schwein“, schrie er, „diese Schweine lügen immer.“
Das „Schwein“ war einer der Freunde des Kapitäns, Heuerbaas, Schankwirt, ship-chandler, Mann für alles. Um vier Uhr morgens hatte er einen etwas schmierigen Zettel geschickt: „Bestmann 1 kommt um sieben an Bord.“ Koarl, der bisherige, war am Abend ins Lazarett gegangen, nachdem die „Marianne“ ausklariert und der Lotse auf sechs Uhr früh bestellt worden war. Jetzt war die Uhr acht.
Es war nicht sehr gemütlich.
Er kam um viertelneun, nicht besonders eilig, einen altertümlichen Seemannssack auf der linken Schulter. Bevor er über das Laufbrett kam, blieb er stehen und sah einmal prüfend über das Schiff, vom Klüverbaum bis zum Windwimpel über dem Besan. Es war ein misstrauischer, spähender Blick aus zusammengekniffenen Augen, und dann nickte er flüchtig über uns alle hin, als sei nun alles in Ordnung und wir dürften nun „bequem stehen“.
Es war entwaffnend.
Alle Augen hingen am Gesicht des Kapitäns wie an einer Dynamitkiste. Aber es geschah nichts, er hatte die Sprache verloren, und wir härten, dass er stöhnte.
„Plenty of time, captain“, sagte Atli und warf den Sack vor das Logis, „hatte noch einiges auszuklaren, können starten, scheint mir.“
Der Kapitän frass ihn gleichsam mit seinen Augen, aber Atli wickelte sich einen Wollschal um den Hals, band den Sack wieder zu und ging einmal um das ganze Schiff, nickte dem Maschinisten zu, der am Fuss seiner Treppe stand, beugte sich über das geöffnete skylight, legte die Hand im Vorübergehen auf das Ruder und machte Bekanntschaft mit seiner neuen Heimat. Alles an seinen Augen und Bewegungen war schnell, sorgfältig, überlegen, selbstverständlich.
„Vorne los!“ brüllte der Kapitän unvermittelt und stürzte nach dem Ruder. Die Leine flog los, der Motor sprang an, die „Marianne“ kam vorne frei, dann achtern, der Lotse seufzte erleichtert auf, das Bollwerk blieb zurück, das Schicksal hatte entschieden.
„Klüver hoch!“ brüllte der Kapitän.
„Klüver hoch!“ wiederholte Atli gehorsam mit der gleichen Tonstärke.
Es rauschte leise am Bug, und es gab keine Rückkehr mehr.
Das war Atli, wie wir ihn zuerst sahen. Wir sahen später noch mehr von ihm, aber gleichsam nur dem Umfang, nicht dem Inhalt nach. Der Inhalt blieb verborgen, war aus Worten, Gebärden, Handlungen zu erraten, zu vermuten. Wir hörten ihn auf einer nächtlichen Strasse gehen und schlossen aus dem Klang seiner Schritte auf den Sinn seines Weges. Aber wir sahen ihn nicht. Er war ein Mensch im Dunklen.
Die „Marianne“ war ein Dreimastschoner mit Hilfsmotor, dreiundzwanzig Meter lang, in Dänemark gebaut, auf den Färöern gekauft. Sie fuhr mit fünfundsechzig Standard Holz nach England, lief zwölf Seemeilen mit Motor und voller Leinwand, hatte einen Kapitän, „Schiffer für grosse Fahrt“, einen Bestmann, vier Jungs und mich.
Ich war Passagier und der Ordnung halber als Koch angemustert. Ich hatte ein Gedicht auf „Marianne“ in der Zeitung veröffentlicht, und der Reeder war zu mir gekommen und hatte mich gefragt, ob ich nach England mitfahren wollte. Zwar der Kapitän sei etwas schwierig. Ich erwiderte, dass meine seelische Verfassung schwieriger sei als alle Kapitäne der Welt zusammen und dass ich mit dem schwierigen Kapitän bis Cayenne fahren würde. Der Reeder meinte, Dichter schienen ihm ebenso schwierig zu sein wie Kapitäne, und der Handel war abgeschlossen.
Es war eine solide, ja es war eine fast bürgerliche Angelegenheit. Fünfundsechzig Standard Bretter, Bohlen und Stempel für Dawson Walker & Co. Ltd. Dort nach Möglichkeit Heringe von den Shetlandinseln oder beliebige Fracht nach Skandinavien, von dort mit Steinen oder Papierholz zurück. Dauer vier bis fünf Wochen, Fracht, Ölverbrauch, Lotsen, Assekuranz, alles aufs genaueste auskalkuliert.
Ich betone es ausdrücklich, dass es eine fast bürgerliche Angelegenheit schien. Ich fuhr hinaus wie zu einer Ferienreise, des Kommenden in den Einzelheiten nicht ganz gewiss, aber in Unterkunft, Verpflegung und frischer Luft hinreichend gesichert. Und da England nicht der Kongo war, machte es kein besonderes Aufsehen, dass ich nach England fuhr.
Der Kapitän war nicht schwieriger als Verleger oder andere Diktatoren. Er hatte mich ins Mannschaftslogis gesteckt und sah mich nicht. Er hatte drei Kisten Genever in seiner Kajüte und war ein Mann, der keine Gesellschaft brauchte. Unter dem skylight hing eine Kompassscheibe, und er konnte von seinem Sofa den Wimpel am Besan sehen. Infolgedessen brüllte er seine Befehle für den Mann am Ruder aus der Unterwelt. Ich dachte, dass das so sein müsse. Ich wusste nichts von Segelschiffahrt und Kapitänen.
Er pflegte mich erst nach einer bestimmten Genevermenge zu sehen. Er trank ihn aus einer flachen, edelgeformten Schale, von der ich immer glaubte, er habe sie bei einem Überfall geraubt. Es fiel ihm dann „wie Schuppen von den Augen“, und er machte, nicht vor der Abendzeit, ein paar Kunden um das Deck. „Alles klar?“ fragte er im Vorübergehen, die rötlichen Augen mörderisch auf mich gerichtet. „Alles klar, Kapitän“, erwiderte ich höflich. Womit beide Teile befriedigt schienen.
Mit den Jungs ging es gut. Sie betrachteten mich als ihren Schützling, eine Art von König, der kronenlos an ihre Küste gespült war, hatten harte Arbeit und schliefen, wenn sie am Mast standen, in fünf Minuten ein. Gemein sei der Alte nicht, aber hart wie eine Stahltrosse. Der Älteste war siebzehn, und sie schrieben jeden Abend eine Karte nach Hause. Auf Vorrat.
Aber alles dieses, Kapitän, Jungs, Segel, Wind und Meer, war für mich nicht Inhalt. Es waren Bilder an der schwankenden Wand meiner Tage und Nächte, nahe und entferntere, deutliche und verschwimmende.
Der Inhalt war Atli, Atli war das Meer, das Schiff, der Horizont, das Unbekannte, das Geheimnis. Alles andere war einzuordnen in mein Leben, war fremdartig, neu, selbst zugeschlossen. Aber es gehörte nicht einer anderen Erde an. Es gehorchte Gesetzen, hatte Ursache und Wirkung, war zu enträtseln, zu begreifen.