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Herzergreifend und Hoffnung spendend: die wahre Geschichte des kleinen Djoko, der während des 2. Weltkriegs ganz allein quer durch Europa flieht – mitfühlend erzählt von Nummer-1-Bestseller-Autorin Hera Lind. Oktober 1940 im ehemaligen Jugoslawien: In einer entlegenen Gegend führt der 5-jährige Djoko mit seinem bärenstarken Vater und seiner jungen Mutter ein einfaches, aber glückliches Leben in einem kleinen Dorf. Bis die faschistische schwarze Armee der Ustashas auftaucht und Djokos Welt im Bruchteil einer Sekunde zerstört. Eine Granate fällt in die winzige Hütte und macht ihn zum Vollwaisen. Der kleine, schwerverletzte Junge robbt sich mit letzter Kraft aus den Trümmern ins Freie. Für ihn beginnt eine Flucht, die ihn mutterseelenallein mitten durch die schlimmsten Kriegswirren über tausend Kilometer bis nach Österreich führt. Wie durch ein Wunder findet er immer wieder in letzter Sekunde ein mitfühlendes Herz, eine helfende Hand. Anrührend erzählt Hera Lind in ihrem Tatsachenroman eine wahre Geschichte von größten Gefahren – und der nie versiegenden Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Das Schicksal des kleinen Djoko ist nur ein Beispiel für etwa 250.000 Vollwaisen, die während des 2. Weltkriegs auf sich allein gestellt um ihr Überleben kämpfen mussten.
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Seitenzahl: 489
Veröffentlichungsjahr: 2023
Hera Lind
Roman nach einer wahren Geschichte
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Oktober 1940 im ehemaligen Jugoslawien: Die Familie des 5-jährigen Djoko führt ein einfaches, aber glückliches Leben in einem kleinen Dorf. Bis die faschistische Armee der Ustashas auftaucht, die allen Serben den Tod geschworen hat. Eine Granate fällt in die winzige Hütte, nur Djoko überlebt schwer verletzt. Als er sich endlich aus den Trümmern ins Freie gerobbt hat, ist sein Martyrium noch nicht zu Ende: Für den kleinen Vollwaisen beginnt eine jahrelange Flucht, die ihn mitten in den schlimmsten Kriegswirren vom heutigen Bosnien über Rumänien und Deutschland nach Österreich führen wird. Immer wieder findet Djoko Hilfe, immer wieder werden ihm Menschen entrissen. Aber eines verliert er nie: die Hoffnung.
Vorbemerkung
Irgendwo bei Sokolice, ehemaliges Königreich Jugoslawien, Landesteil Bosnien, Frühling 1939
Spätsommer 1939
Frühjahr 1940
September 1940
Sokolice, Oktober 1940
Frühling 1941
Sommer 1942
Herbst 1943
Sommer 1944
Wien, September 1944, Militärspital Währing
Wien Pötzleinsdorf, Oktober 1944
Wien, 23. Bezirk, Haymogasse 53, Weihnachten 1944
Wien, Januar 1945
Frühling 1945
Mai 1945
Sommer 1945
Im Zug nach Wien, Sommer 1947
Nachwort Djoko
Vita
Nachwort Hera Lind
Teilnehmerstimmen
Dieses Buch basiert zwar zum Teil auf wahren Begebenheiten und behandelt typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gegeben haben könnte, einen Anspruch auf Faktizität erhebt es aber nicht.
Diese Urbilder wurden jedoch durch künstlerische Gestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerkes gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbstständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist.
Für alle Leser und Leserinnen erkennbar, erschöpft sich der Text nicht in einer reportagenhaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel der Autorin mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt. Sie lässt bewusst Grenzen verschwimmen.
Es kommt die Bezeichnung »Zigeuner« vor, die heute als diskriminierend und abwertend gilt und nicht mehr gebräuchlich ist. Sie wird in diesem Buch an manchen Stellen dennoch verwendet und weder umschrieben noch vermieden oder nur angedeutet, da sie zu der Zeit, zu der die Geschichte spielt, gebräuchlich war und dazu beiträgt, die Zeit und die Zustände vorstellbar zu machen.
Nebenan machte sich meine Mame schön. Sie bemerkte mich nicht, während sie ihre langen schwarzen Haare mithilfe eines Handspiegels betrachtete und sich mit nacktem Oberkörper hin und her drehte. Ihre Mähne glänzte noch feucht, sie hatte sie im Bach gewaschen und wrang sie gerade auf der Türschwelle unserer Behausung aus. Neugierig lugte ich um die Ecke in unserem aus Lehm und Stroh erbauten Hüttchen, das in der Einsamkeit irgendwo im Nirgendwo lag.
Die Mame hatte mich auf das Strohlager im dunklen steinernen Nebenraum gesetzt, ich kleiner Knirps war wie immer nur mit einem Hemdchen bekleidet, unten herum war ich nackt. Das sparte Mame viel Arbeit, aber es war damals auf dem Lande im ehemaligen Jugoslawien absolut üblich. Alle kleinen Dreckspatzen liefen so herum. Ich war vielleicht drei oder vier Jahre alt.
»Djoko! Schlaf, Bub! Die Augen zu!« Mame wirbelte zornig herum, sie fühlte sich ertappt. Ausnahmsweise trug sie kein Kopftuch, weshalb ich nicht aufhören konnte, ihre langen Haare fasziniert anzustarren. Sie sah aus wie eine schöne Märchenfee, was nicht immer zu ihrem unberechenbaren Temperament passte.
»Aber ich kann nicht mehr schlafen, es ist ja schon heller Morgen!«
»Djoko, du sollst schlafen, habe ich gesagt! Ich will meine Ruhe haben!«
»Mame, darf ich auch einmal hineinschauen?« Ich war genauso dunkeläugig und dunkelhaarig wie Mame und hätte gern mal einen Blick in das blinkende Zauberding geworfen.
»Nein, das ist nichts für kleine Rotzbuben! Du machst mir den Spiegel noch kaputt!«
Unwirsch schickte sie mich wieder in meinen winzigen Verschlag aus Stroh. »Wenn du jetzt nicht schläfst, gibt es Ärger. Später musst du nämlich weit laufen, Djoko, und denk ja nicht, dass dich der Tate trägt!«
»Wo gehen wir denn hin?«
»Wenn Tate vom Dreschplatz zurückkommt, gehen wir zu deinen Großeltern. Aber jetzt gib Ruhe, sonst setzt es was.«
Tate war mein Vater, ein kräftiger, sehniger Mann, vielleicht zweiundzwanzig. Mame war sicher noch keine zwanzig.
Doch an Schlaf war nicht zu denken. Ich war viel zu aufgeregt! Endlich war der lange einsame Winter vorbei, in der völligen Abgeschiedenheit, in der Mame, Tate und ich auf dem winzigen kleinbäuerlichen Anwesen lebten. Mein stolzer, schöner, großer Tate hatte mit seinen Männern im Wald Wölfe gejagt, meine zierliche, mädchenhafte Mame hatte sich aus Angst vor wilden Tieren mit mir und unserer Dalmatinerhündin Cuja tage- und nächtelang in der dunklen Lehmhütte verschanzt. Aber nun stand die Tür zur grünen Wiese wieder weit offen, draußen gluckerte und plätscherte der liebliche Bach, die Vögel zwitscherten, die Blumen blühten, unsere drei Schafe, das Schwein und die Kuh grasten auf der Weide, und die kinderreiche Nachbarsfamilie, die jenseits des Baches wohnte, wusch unter lautem Hallo und Geschrei ihre Wäsche und sich selbst gleich mit.
Wie sollte ich da schlafen! Es war doch schon heller Tag! Aufgeregt buddelte ich mich auf meiner Schlafstelle im Stroh ein und warf die würzig riechenden Halme übermütig spielend in die dunkle Luft unserer stickigen kleinen Hütte.
Vor dem winzigen Fenster, in das die Morgensonne hereinschien, tanzten die Staubkörner, und ich musste husten.
»Still, Djoko! Du gehst mir auf die Nerven!«
Plötzlich raschelte etwas im Stroh, und ein glitschig-feuchter schwarzer Kriechtierleib züngelte zischend knapp an meinem nackten Gesäß vorbei.
»Mameeee! Eine Schlange!« Ich schrie wie am Spieß.
Mit einem Satz war Mame bei mir, riss mich am Schlafittchen von meiner kratzigen Schlafstätte und zerrte mich in den winzigen Wohnraum, wo sie mit dem milchigen Spiegel ein ausführliches Zwiegespräch hatte halten wollen.
»Dass du aber auch immer so einen Unsinn machst, Djoko!« Statt mich zu trösten, ließ sie eine schmale Weidenrute auf mein nacktes Hinterteil sausen. »Das werde ich dem Tate erzählen, dann gibt es Haue obendrein!«
»Au, Mame, au!« Vor Schmerzen trappelte ich barfuß auf dem lehmigen Steinboden herum.
Ich hatte es doch nicht mit Absicht gemacht! Die Schlange hätte mich fast gebissen!
»Was habe ich dir gesagt? Schlafen sollst du!« Mame ließ die dünne Weidenrute zischen. Sausend wickelte sich die lange Gerte um meinen kleinen nackten Körper und traf mein empfindliches winziges Geschlechtsteil.
Vor Schmerzen ganz taub, trippelte ich von einem Beinchen auf das andere.
»Au, mein Pipi!«
»Du bist selber schuld, Djoko, du ungehorsamer kleiner Bengel!« Sie riss mich am Arm und schüttelte mich, dass meine langen schwarzen Locken nur so flogen.
»Komm her, wenn wir schon dabei sind! Anständig sollst du aussehen, du Dreckspatz!«
Sie zwang mich mit den Knien in einen Schraubstock, griff zu Papas scharfem Jagdmesser und schor mir den Kopf kahl. »Steh still, sonst tu ich dir noch mehr weh!«
Ich ließ die Prozedur mit zusammengekniffenen Augen über mich ergehen. Meine schwarzen Locken fielen in langen verfilzten Strähnen auf den Lehmboden. Nach getanem Werk drückte Mame mir den Reisigbesen in die Hand und befahl mir, sie wegzufegen.
»So, jetzt hast du wenigstens keine Läuse mehr.«
Warum meine Mame zu mir so hart war, konnte ich als drei- oder vierjähriger Knirps nicht begreifen. Wir hatten doch nur uns, sie hatte mich in dieser Hütte geboren! Aber der Umgangston war rüde und das Verhauen an der Tagesordnung. Mein Tate war auch nicht immer nett zu ihr, was wohl an der damaligen Rollenverteilung einer üblichen Ehe lag.
Wenn nicht sofort gehorcht wurde, ließen die Stärkeren ihre Fäuste oder die Weidenrute sprechen.
»Und jetzt ab in den Bach mit dir, Djoko!«
Wie ein Paket klemmte sie sich mich zappelndes Bündel unter den Arm und schleppte mich hinunter zum eiskalt sprudelnden Bach.
Die Nachbarsfamilie Jovanovic war bereits damit beschäftigt, ihre Kinder im Bach zu waschen. Auf der mit Morgentau bedeckten Wiese lagen ihre Laken, Blusen und Hemden zum Trocknen ausgebreitet, der laue Wind ließ sie lebendig aussehen wie riesige Schmetterlinge, die versuchen, zum Fliegen abzuheben.
»Ich will nicht!« Wütend strampelte ich mit den Beinen, mein Weinen ging aber in Lachen über, als ich die etwa gleichaltrige Nada bereits in den gurgelnden Fluten planschen sah.
»Hallo, Djoko! Komm rein, das Wasser ist so schön!« Mit ihren weißen Milchzähnchen im dunklen Gesicht grinste sie mich an. Vor ihr konnte ich ja wohl keinerlei Schwäche zeigen. Schaudernd ließ ich mich in das eiskalte Wasser gleiten.
»Wirf mir mal die Kernseife rüber!« Mame fackelte nicht lange und tauchte mich zur Gänze in das sprudelnde Nass, bevor sie mich wieder hochriss, um mich einzuseifen. Zitternd vor Kälte stand ich da und versuchte, mein Zipfelchen mit den Händen zu bedecken. Denn eines hatte ich schon herausgefunden: Das Nachbarmädchen Nada hatte keines! Und genau deshalb starrte es immer so unverhohlen auf diese offenbar kostbare Seltenheit.
Mame hatte übrigens auch keines. Da die Frauen unter ihren Röcken niemals Unterhosen trugen, hatte ich auch diese für mich hochinteressante Tatsache schon herausgefunden. Während der Feldarbeit, bei der wir Kinder mit unseren Hunden und Katzen in der Nähe unserer Eltern herumtollten, setzten sich die Frauen einfach an den Waldrand, hoben ihre Röcke und verrichteten, was sie verrichten mussten. Wir Kinder taten es ihnen nach. Auch wenn unser karges Leben in der Abgeschiedenheit einsam und hart war, so fühlten wir Kinder uns doch wie Adam und Eva im Paradies. Außer, wenn wir eine Schlange aufscheuchten oder in einen verbotenen Apfel bissen, natürlich. Dann fuhr zwar nicht Gottes Zorn, aber der unserer temperamentvollen Eltern in Form von Stockhieben auf uns herab.
»Du hast Djoko seine schönen Locken abgeschnitten!« Johanna Jovanovic seifte ihre Tochter ein und ließ dabei ihre kräftigen Armmuskeln spielen. Harte Feldarbeit und der Umgang mit den Tieren hatten die Frauen zu starken Amazonen gemacht.
»Er war nicht brav. Statt zu schlafen, hat dieser kleine Satansbraten sich im Stroh eingegraben und es in die Luft geworfen. Und natürlich war da eine Schlange drin.«
»Dann musst du ihn verhauen.« Dieser nachbarschaftliche Rat kam nicht etwa spöttisch, sondern im Brustton der Überzeugung.
»Habe ich schon gemacht.« Mame schrubbte an mir herum.
»Auch wenn er mit seinen großen braunen Augen und seinen langen Wimpern aussieht wie ein Unschuldslamm. Du musst hart bleiben, Marusha. Mach einen Mann aus ihm.«
»Ich weiß. Davon lasse ich mich nicht beeindrucken. Er weiß nämlich selbst, wie süß er ist.«
Während die beiden Mütter handfeste pädagogisch wertvolle Ratschläge austeilten, ließ ich mich bereitwillig einseifen und abschrubben. Dass das eiskalte Wasser auf meinen frischen Striemen brannte, ließ ich mir nicht anmerken. Stattdessen liebäugelte ich mit der nackten Nada, die mir beiläufig kleine Kieselsteinchen zuwarf.
»Wir gehen heute zu unseren Großeltern!« Hoffentlich imponierte diese Verlautbarung der kleinen Nachbarstochter. »Wir warten nur noch auf meinen Tate. Der ist mit seinem Gewehr im Wald und bringt bestimmt einen Hasen oder Fasan mit.«
»Weiß ich doch. Mein Tate ist ja auch im Wald. Der bringt gleich zwei Fasane und drei Hasen mit! Und bestimmt einen Fuchs und vielleicht sogar einen Wolf.«
»Pah, den Wolf kann man ja gar nicht essen!«
»Aber das Fell abziehen und im Dorf verkaufen, Djoko, du Dummi!«
Der Punkt ging eindeutig an sie. Und zählen konnte sie auch! Vielleicht war sie ja schon fünf. Woher sollte ich das wissen.
Unsere Mütter ratschten, was das Zeug hielt. Der Frühling, die Morgensonne, der milde Wind, der sanft über die Erlen und Weiden am Bachufer strich wie heute früh die Haarbürste über Mames schwarz glänzendes Haar, die Hühner, die gackernd und aufgekratzt vor der offenen Feuerstelle scharrten, die Schafe, deren wollige Lämmchen sich an ihrem jungen Leben erfreuten, die zufrieden grunzende Sau, die sichtbar trächtig war: all das trug sicher zu ihrer ausgelassen fröhlichen Laune bei.
»Da kommen sie!«
Beide Frauen reckten die Köpfe, die schon wieder in bunten Kopftüchern steckten, und starrten auf den Waldrand, aus dem nun unsere Papas stapften. Sie hatten tatsächlich Erfolg gehabt und winkten triumphierend mit ihrer Beute.
»Stipan!« Mame platzierte mich unsanft auf einem Stein und rannte mit fliegenden Rockschößen meinem Tate entgegen. »Ich hatte wieder solche Angst um dich!«
»Geh, Marusha!« Tate breitete die Arme aus und drückte sie an seine dunkel behaarte Brust, ohne das blutende Federvieh, das er an den Krallen in seinen starken Händen hielt, loszulassen. Sein Blick unter seinem Sonnenhut, der ihn verwegen aussehen ließ, fiel auf mich.
»Warum hat Djoko eine Glatze? Er sieht aus wie ein gerupfter Vogel!«
»Der Bengel war nicht artig, und Läuse hatte er bestimmt auch!«
Sicher war sie oft einfach nur überfordert mit mir, der ich allerlei Flausen im Kopf hatte. Wochenlang war sie während des strengen Winters in der winzigen Hütte mit mir allein gewesen. Aus Angst vor den herumstreunenden Wölfen hatte sie während der schneereichen Zeit das einzige Fenster und die Tür mit Holzbrettern verbarrikadiert. In der dunklen Enge des Raumes, in dem nur ein kleines Bodenfeuer brannte, waren ihr meine kindlichen Streiche wohl allzu oft auf die strapazierten Nerven gegangen. Wie sollte sie mich auch beschäftigen, die ganze Zeit? Wir hatten doch nichts, keine Spiele, nichts zu lesen, keinen Zeitvertreib. Meine einzigen Spielgefährten waren die Katzen, die nachts die Mäuse fingen, und Cuja, unsere unendlich geduldige Dalmatinerhündin.
Eines Nachts, mitten im Winter, als Mame und ich alleine waren, hatte Cuja plötzlich angefangen zu knurren. Mame und ich lagen dich aneinandergeschmiegt mit der warmen Hündin im Stroh, als ihr ganzer Hundekörper sich versteifte, die Lefzen zitterten und ihre Ohren in die Höhe standen. Tate war mit einigen anderen Männern in den Wäldern zum Jagen. Sie übernachteten dann irgendwo in einsamen Unterständen oder Höhlen, immer bedacht darauf, nicht von Wölfen angefallen zu werden. Tate hatte schon die schauerlichsten Geschichten erzählt: wie die Wölfe nachts in der schwarzen kalten Finsternis den Jägern auflauerten und den Männern keine Zeit mehr für einen gezielten Schuss blieb. Wenn man Glück hatte, konnte man sich noch in letzter Sekunde auf einen Baum retten, während die ausgehungerten Bestien bereits heulend am Stamm heraufsprangen und nach den Waden schnappten.
Tate hatte für solche Angriffe immer ein Seil mit, damit er sich für die restlichen Stunden der Nacht hoch oben auf den starken Ästen anbinden konnte. Denn die Wölfe gaben so schnell nicht auf. Tate hatte mir staunendem Dreikäsehoch schon oft geschildert, was passierte, wenn man auf dem Baum einschlief und den Wölfen quasi vor den Rachen fiel: Mehr als die Füße in den Stiefeln blieben von so einem Menschen selten übrig. Hatte man aber einen Wolf erwischt und erschossen, stürzten sich gleich Dutzende von Artgenossen gierig auf das tote Tier und fraßen es bis auf die Knochen auf. Das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein war dagegen Babykram.
Cujas eigenartiges Knurren verschärfte sich. Aus nicht allzu großer Entfernung war das rasch herannahende, schauerliche Heulen von Wölfen zu hören.
»Mame! Ich habe Angst!«
»Still, Bub! Keinen Laut!«
Mame presste mich an sich und hielt Cuja die Schnauze zu. Das Knurren und Zittern des Hundes hielt an, ebenso wie das immer näher kommende mehrstimmige, schaurige Heulen der Wölfe. Mein kleines Herz raste wie verrückt. All die schrecklichen Szenen, die Tate mir erzählt hatte, jagten wie Blitze durch mein kleines Kindergehirn. Hatten sie meinen Tate schon in Fetzen gerissen und vertilgt? Hing noch ein Fuß von ihm aus einem der gefräßigen Mäuler? Schleppten sie seine blutdurchtränkten Opanken im Maul?
Plötzlich war es ganz still. Kein Heulen mehr, kein Knurren. Grausame Stille. Nur mein eigenes Herz polterte wie die Wackersteine, die der Wind manchmal vom Hügel riss.
Und plötzlich fingen die Kuh, das Schwein, die Schafe und Hühner an zu kreischen und zu schreien, wie ich es noch nie aus tierischen Kehlen vernommen hatte. In ihrer Todesangst gaben sie Geräusche von sich, die mir das Blut in den Adern stocken ließ.
Mame hatte sich über mich geworfen und mir die grobe Wolldecke über den Kopf gepresst. Ihre Brust hämmerte an meinem kleinen Rücken. »Still, Bub!«
Sie krallte ihre Fingernägel in meine Schultern und biss sich selbst auf die Fäuste.
Draußen wütete und tobte das tödliche Gemetzel. Nach einer Ewigkeit wurde es plötzlich wieder bedrückend ruhig, als wäre nichts vorgefallen. Noch lange lagen wir wie erstarrt und wagten kaum zu atmen.
Am nächsten Morgen getrauten Mame und ich uns nicht aus der Hütte und warteten dicht aneinandergeschmiegt mit Cuja, der angsterfüllten Dalmatinerhündin, bis Tate endlich aus dem Wald gestapft kam. Als er das aufgerissene Strohdach des Stalles sah, stieß er einen lauten Fluch aus. Erleichtert schoben wir den dicken Balken von der Tür weg und stoben barfuß in den Schnee unserem lang ersehnten Retter entgegen.
»Heiliger Strohsack!« Tate warf seine blutende Jagdbeute in den Schnee und riss sich die Mütze vom Kopf. »Und das konntet ihr nicht verhindern?«
»Stipan, wir sind vor Angst fast gestorben!«
»Gut, dass wenigstens euch nichts passiert ist.« Tate schüttelte sich den Schnee von der Schulter und gab mir einen zärtlich rauen Kuss. Sein Dreitagebart kratzte nasskalt.
»Tapferer kleiner Bengel.«
Mit seinen löchrigen durchnässten Handschuhen riss Tate die Stalltür auf und prallte zurück. »Seht euch das an!«
Die Kuh und drei Schafe waren bis auf die Knochen aufgefressen. Ihre noch vom Schrei aufgerissenen Mäuler ragten skelettartig in das Dunkel des Stalls hinein. Die Zungen waren zerrissen und hingen in blutigen Fetzen schlaff aus blutigen Kiefern. Scharf stieg mir der Gestank nach Blut auf fauligem Stroh in die Nase. Verschreckt vergrub ich mein Gesicht in Mutters langen Röcken, doch mit einer rüden Handbewegung scheuchte sie mich weg.
»Geh, Bub, sei nicht lästig!«
»Das Schwein hat wenigstens überlebt.« Vater stiefelte auf seinen Opanken über das knackende Stroh und besah sich die trächtige Sau, die sich verstört die blutenden Klauen leckte. »Die kriegen wir wieder hin.«
»Und ein paar Hühner konnten sich auch retten.« Mutter schob mich von sich und inspizierte den Hühnerstall. »Wie gut, dass wir die steile Hühnerleiter gebaut haben.«
Überall lagen Federn, Knochen und blutige Tierfetzen. Doch niemand machte sich Gedanken darüber, ob das meine kleine Kinderseele belasten könnte. Die Eltern hatten andere Sorgen.
»Verfluchtes Wolfspack, euch werde ich es zeigen!« Vater knurrte und fluchte fürchterlich. Er hob die Faust zum wolkenverhangenen Himmel: »Der gottverdammte Schaden ist für so einen kleinen Bauernhof fast nicht wiedergutzumachen! Was soll jetzt aus uns werden, bei allen verdammten Heiligen?«
»Stipan, du versündigst dich!«
»Herrgottnochmal! Wir rackern und schuften Tag und Nacht bis zur totalen Erschöpfung und ziehen unseren Jungen groß, damit der Herrgott uns diese Ausgeburt der Hölle schickt und uns ausrottet?« Mein Tate schleuderte seine Mütze in den Schnee und stampfte darauf herum. Verstört spürte ich, wie meinem Vater der Schock heftig in allen Gliedern saß. Erst jetzt wurde ihm das Ausmaß der Zerstörung bewusst.
»Lass den Herrgott aus dem Spiel!« Mame überspielte ihren Schock, indem sie die kaputten Eier einsammelte, die sie aus der Nähe des Hühnerstalls fischte. »Da kann man zur Not Rühreier draus machen … Bub, eil dich und hol ein Gefäß! Was stehst du noch hier rum und hältst Maulaffen feil?«
Als die Nachbarn, Herr und Frau Jovanovic, die meine Eltern mittels Rauchzeichen über die schneebedeckten Sträucher herbeigelockt hatten, den Schaden sahen, brachen auch sie mit den Eltern in lautes Wehklagen aus. »Oh, Gott, dass euch das passieren musste! Ihr hättet selbst in Fetzen gerissen und bis auf die Knochen abgefressen sein können … Verfluchte Bestien, wir werden euch ausrotten, und wenn die letzte Pistolenkugel dafür draufgeht!«
Niemand nahm auf eine drei- oder vierjährige Kinderseele Rücksicht.
»Wir werden wohl wegziehen müssen«, ächzte Vater, der inzwischen mit Herrn Jovanovic ein paar Sliwowitz heruntergekippt hatte. Mutter und Frau Jovanovic labten sich an heißem Kaffee, und mir hatte man eine Schale warme Honigmilch über den Holztisch geschoben.
»Ach nein, das könnt ihr uns nicht antun!«, jammerten die Nachbarn. »Wir leben jetzt seit Jahr und Tag friedlich miteinander am Bach, weit und breit gibt es keine andere Menschenseele, ihr dürft uns in dieser Einöde nicht zurücklassen!«
»Aber wir haben nichts mehr, von dem wir leben können!« Verzweifelt kippte der Tate sich den nächsten Stumpen Sliwowitz hinter den Kehlkopf, der auf faszinierende Weise auf und ab hüpfte. Mit dem Handrücken wischte er sich über die Nase. Fasziniert starrte ich auf seine schwarzen Bartstoppeln, die sich während seiner Wolfsjagd im Wald gebildet hatten.
»Wir gehen im Frühling hinunter ins Dorf und schauen auf dem Viehmarkt, was es für euch günstig zu erwerben gibt.« Der Nachbar schlug meinem Tate beruhigend auf die Schulter.
»Das wird, Stipan, lass den Kopf nicht hängen!«
Glücklicherweise war der Winter ohne weitere Vorkommnisse zu Ende gegangen, und jetzt, im Frühling, sprangen auf ihren staksigen Beinchen schon wieder zwei Kälbchen um eine Mutterkuh herum, die mit weichem Maul friedlich im Grase lag und wiederkäute.
Und ich lag mit meinem frisch geküssten Popo auf einem warmen Stein und ließ mir die Sonne auf die Glatze scheinen. Das war wirklich ungewohnt, plötzlich so ganz nackt da oben wie da unten. Die kleine Nada kicherte, und ich warf einen Stein nach ihr.
»Also was ist, gehen wir los?«
Mein Tate zwickte mich in den nackten Popo, und ich schrie verzückt wie verschreckt auf.
»Zieh ihm irgendwas an und dann machen wir uns auf die Socken!«
Da ich noch sehr klein war, konnte ich den schwierigen steilen Hohlpfad, der zu unseren Verwandten ins etwa fünf Kilometer weit entfernte Dorf Sokolice führte, nicht allein gehen. Mein Tate hatte mir lederne Opanken angefertigt, mit denen ich zuerst tatendurstig über Stock und Stein sprang, die mich aber bald arg an den nackten Füßchen drückten. Also stemmte mich mein Tate auf seine Schultern, was ich mit einem glücklichen Jauchzen quittierte. Nun überragte ich die mir bekannte Welt um ein Vielfaches und schlug übermütig mit meinem Stock das Dickicht über unseren Köpfen weg.
»Verwöhn den Bengel nicht so!« Eifersüchtig stapfte Mame auf ihren Opanken hinter uns her. Sie sah heute so wunderhübsch aus, ohne ihr Kopftuch, mit dem frisch geflochtenen langen schwarzen Zopf, der ihr glänzend über den Rücken hing. Bei jedem Schritt baumelte er wie ein großer Kuhschwanz hin und her. Damit konnte sie doch prima das Ungeziefer vertreiben!
Auf dem Hügel angekommen, setzte mein Tate mich schnaufend ab.
»Geh pieseln, Junge.« Er wischte sich ein paar verräterische Tropfen vom Nacken und wedelte die Fliegen weg.
Artig pinkelte ich in hohem Bogen in die Büsche, während die Mame ihre Röcke hob und sich in den Nachbarbusch verzog.
»Was machen die Leute da, Tate?« Viel lieber wendete ich mich an meinen vergötterten Tate, der mich nie schlug oder schimpfte, im Gegensatz zu meiner unberechenbaren Mame, die ihre jugendlichen Launen an mir ausließ.
»Sie dreschen.«
»Wen verdreschen sie?«
»Nicht verdreschen. Dreschen. Schau, Djoko …« Mein Tate drehte mich so, dass ich den kreisrunden Platz auf der ebenen Fläche sehen konnte, in deren Mitte ein Pfahl steckte.
»Dieser Pfahl dient zum Getreidedreschen, siehst du?«
Zwei Ackergäule trotteten gemächlich im Kreis herum, mit einem langen Seil an den Pfahl gebunden, in ihr Schicksal ergeben.
»Warum gehen die Pferde im Kreis?«
»Ach Junge, frag deinem Vater keine Löcher in den Bauch!« Meine Mame war mit dem Pieseln fertig und kam hinter den Büschen hervor. »Sammele lieber ein paar Beeren, damit wir anständig Rast machen können.« Behände ließ sie sich neben uns auf einem Baumstumpf nieder und wickelte das frisch gebackene Brot und den würzig riechenden Speck aus dem Tuch, das sie mit einem Knoten zusammengebunden und auf dem Rücken getragen hatte.
»Lass den Jungen Fragen stellen!« Tate zupfte ein frisches grünes Blatt aus dem Fresspaket und stopfte es sich in den Mund. »Sonst lernt er doch das Landleben nie!«
»Magst du probieren?«
Der saftig frische Geschmack des knackigen Salatblattes zerging mir auf der Zunge.
»Schau, die Pferde gehen im Kreis herum, um die Getreidekörner aus den Halmen zu treten.«
»Und was machen die Leute mit den Schaufeln?«
»Sie werfen den verbleibenden Rest gegen den Wind, und so sind die Getreidekörner von der Spreu getrennt.«
»So trennt man die Spreu vom Weizen.« Krachend biss die Mame in eine Paprika. »Sagt man doch so.« Sie kaute verzückt und wischte sich roten Saft vom Kinn.
»Den Platz hier nennt man den Arman«, klärte Tate mich geduldig weiter auf. »Der Arman wird von mehreren Familien in Gemeinschaftsarbeit genützt. Du warst auch schon hier, im letzten Sommer. Kannst du dich daran noch erinnern? Wir haben das Mittsommernachtsfest gefeiert!«
»Stipan, da konnte der Kleine ja kaum laufen! Wie soll er sich daran erinnern?« Mame schenkte sich aus dem mitgebrachten Krug Wasser in den Becher.
»Ich erinnere mich aber wohl!«, behauptete ich, um auf jeden Fall auf der Seite von meinem Tate zu sein.
»Und was ist das da unten im Tal? Das Spitze, das in den Himmel ragt?« Mit ausgestrecktem Finger zeigte ich auf den steinernen grauen Turm. Eigentlich buhlten die Mame und ich ständig mit kindlicher Eifersucht um Tates Aufmerksamkeit.
»Das ist ein Kirchturm. Er gehört zur Siedlung Sokolice, wo deine Großeltern wohnen.«
»Warum sind da zwei Kreuze drauf?«
»Weil wir serbisch-orthodoxe Christen sind.«
»Was sind särbisch orthodexe Christel –«
»Es reicht!« Mame sprang auf. »Der Junge fragt uns noch Löcher in den Bauch! Wenn wir heute bei Opa und Oma ankommen wollen, gehen wir jetzt weiter!« Leichtfüßig sprang sie auf die Füße und richtete ihre Röcke und ihr Bündel neu. »Und untersteh dich, den Jungen weiter zu tragen! Du verwöhnst ihn mir zu sehr! Das muss ich nachher wieder ausbaden!«
Abwärts ging es nun zuerst über einen steilen Weg durch einen dunklen Wald, dann über weite Wiesen, auf denen friedlich Pferde grasten. Jetzt mussten wir nur noch einen breiteren Bach überqueren, auf einem schmalen Holzsteg. Da der aus rohen Holzplanken zusammengezimmerte Steg stark wackelte, hob ich Hilfe suchend meine Arme zu Tate hinauf. Ein Geländer gab es natürlich nicht.
»Der Junge soll laufen!«, beharrte Mame. »Sonst trägst du ihn eines Tages noch zur Schule!«
Also nahm ich all meinen Mut zusammen und rannte barfuß, so schnell mich meine Beinchen trugen, über die Holzplanken. Obwohl ich vom vielen Barfußlaufen eine starke Hornhaut an den Fußsohlen hatte, spürte ich doch den stechenden Schmerz, als sich ein herausstehender dicker Nagel in meine rechte Ferse bohrte.
»Au, ich habe mir wehgetan!« Ich hüpfte auf dem linken Bein und fing an zu weinen.
»Jetzt reiß dich zusammen und lauf weiter! Oder willst du, dass wir alle noch hineinfallen? Ich habe heute mein Festtagsgewand an!« Meine Mame packte mich im Nacken und schob mich mit eisernem Griff vor sich her. Der Steg schwankte umso stärker, und vor Angst und Schmerz heulte ich laut.
»Au, au, in meinem Fuß steckt was drin!« Es fühlte sich an wie ein Schlangenbiss oder ein Wespenstich.
»Wir sind gleich bei den Großeltern, und dann kannst du dein Bein ausruhen.«
Gutmütig, wie mein Tate war, stemmte er mich wieder huckepack auf seinen breiten Rücken, und ich kuschelte mich Trost suchend an ihn und presste mein tränenfeuchtes Gesicht in seinen braun gebrannten Nacken. Dabei legte ich meine Ärmchen um seinen starken Hals und strich mit meinen Fingern behutsam über seine Bartstoppeln. Er roch so gut nach frischem Gras, nach starken Gewürzen und nach Tabak! Ich hätte mein Leben dafür gegeben, immer nur an ihm riechen zu dürfen.
Bei meinen Großeltern angekommen, hatten meine Eltern mein kleines Aua längst vergessen. Der Sliwowitz kreiste, das bäuerlich einfache Essen mundete, und ich schlief auf der Holzbank vor ihrer Feuerstelle vor Erschöpfung ein. Erst als ich Stunden später erwachte und es schon dunkel geworden war, spürte ich den pochenden und hämmernden Schmerz unter meinem Fußballen wieder. »Au, aua, das tut weh!«
Die Großmutter besah sich den Schaden mithilfe ihrer Petroleumlampe.
»Oje. Da steckt wirklich ein dicker Nagel drin. Den hat er sich ja richtig eingetreten, konntet ihr das nicht sehen?«
»Ach, der Junge macht ständig so ein Geschrei.« Mame zuckte mit den Schultern. »Er will immer nur getragen werden, da weiß man ja nie, wenn es wirklich ernst ist.«
Die Großmutter schüttelte den Kopf. »Das hat sich ja schon entzündet.« Sie ruckelte sich ihre Brille zurecht und stocherte mir einer Stricknadel an meiner Fußsohle herum.
»Au, aua! Das tut so weh!« Ich heulte und strampelte und schrie hysterisch herum.
»Junge, das muss jetzt ein paar Tage anschwellen, bis der Nagel herauseitert. Die Eiterstelle muss ungefähr die Größe einer Mokkaschale erreichen, bevor sie aufgestochen werden darf.«
»O nein, nicht stechen«, wimmerte ich, vor Schmerzen schon ganz fiebrig.
»Da muss deine Mame Zwiebeln drauflegen, dann geht die Eiterung schneller voran. Das wird aber einige Tage dauern, da musst du ganz tapfer sein. Dein Heulen und Jammern macht es auch nicht besser.« Die Großmutter hielt mich im Klammergriff. »Und wenn die Eiterblase voll ist, wird sie mit einer Nadel durchgestochen und ein Wollfaden eingezogen, weißt du, Kleiner. Wegen der Saugwirkung.«
»Ich will nicht, das tut weh, ich will auch immer brav sein …«
»Junge, das muss aber sein, sonst wirst du nie wieder laufen können. Und das willst du doch nicht, oder?«
So verging mein erster Frühlingsausflug im Jahr 1939. Mit Schmerzgeheul und Todesangst.
Dass das im Vergleich zu späteren Erfahrungen gar nichts war, wusste ich zum Glück noch nicht.
Ich musste inzwischen vier Jahre alt geworden sein, doch niemand unterrichtete mich davon. Sehr viel später wurde mein Geburtsdatum auf den 12. Juli 1935 geschätzt, und so steht es auch heute in meinem Pass.
Es war die übliche Zeit, um Schweine zu schlachten. Unsere Sau hatte inzwischen geworfen, und nun war sie an der Reihe.
Tate machte durch die gängigen Rauchzeichen unseren Nachbarn, Herrn Jovanovic, darauf aufmerksam, dass er Hilfe brauchte, und dieser kam alsbald unternehmungslustig über den Bach gestiefelt, ausgerüstet mit Hacke und Spaten, einem Messer und einem Seil.
»Auf geht’s, zum Saustechen!«
Das Schlachten war eine sehr brutale Angelegenheit, aber wir kannten es nicht anders.
»Grüß dich, Stipan. Soll der Junge zusehen?«
»Natürlich, sonst lernt er es nie.«
»Also, Djoko. Stell dich da hinten an das Gatter. Und wenn die Sau flüchten will, dann stoß sie mit dieser Hacke wieder hinein. Aber so fest du kannst. Mit aller Macht. Sie darf dir nicht entwischen.«
Artig nahm ich meinen Platz im würzig riechenden Matsch ein. Natürlich war ich barfuß, wie immer. Die Sau spürte genau, dass wir Arges im Schilde führten. Mit misstrauischem Blick aus ihren kleinen schwarzen Augen beäugte sie mich. Ihre Ferkel waren bereits in den Stall gesperrt, wo sie jämmerlich quietschten, aber die brauchten wir noch für nächstes Jahr.
»Also los, treiben wir sie aus dem Unterstand hinaus!«
Mit großen Gebärden und wildem Geschrei versuchten die beiden Männer, die arme Sau ins Freie zu lotsen. Ich stand bereit, um sie mit der Hacke in ihre Richtung zurückzustoßen.
»Jetzt hab ich dich, du Mistvieh!« Herr Jovanovic drosch mit der verkehrten Seite der Spitzhacke auf den Schädel der armen Sau ein. »Verdammt, sie geht einfach nicht ein!«
»Lass mich mal!« Tate schob ihn zur Seite und schlug nun seinerseits mit seinem Beil auf den Kopf des kreischenden Tieres ein. Doch die Sau war immer noch nicht tot. In ihrer Not und vielleicht auch, weil sie das erbärmliche Geschrei ihrer Ferkel aus dem Stall hörte, griff sie die beiden Männer an und hieb ihren bereits stark blutenden Kiefer in ihre Hüften.
»Achtung! Verdammtes Vieh! So stirb endlich!«
»Tate! Sie kriegt dich!« Entsetzt sah ich dem grausamen Schauspiel zu. In meinem kindlichen Hirn spielten sich grässliche Szenen ab: Was, wenn die vor Schmerzen und Pein irre gewordene Sau nun meinen geliebten Tate totbiss und auffraß wie ein Wolf?
Doch ein weiterer kräftiger Hieb von Tate mit seinem Beil ließ das quietschende Riesenschwein endlich zu Boden sinken. Es wälzte sich in Todespein im Dreck und versuchte immer wieder, zappelnd auf die Beine zu kommen. Die Hufe gaben unter dem massigen borstigen Körper nach, knickten mehrfach ein, bis das Schwein, alle viere von sich streckend und heftig zuckend, am Boden liegen blieb.
Vater stürzte aus der Deckung und rammte dem Tier sein Messer in den Hals. Mit weit aufgerissenen braunen Kinderaugen starrte ich auf das sterbende Vieh, das nun in einer schwarzroten, immer größer werdenden Blutlache schnaufend und zuckend verendete. Die Ferkel drinnen quietschten und randalierten weiter um ihr Leben. Immer wieder stießen ihre Körper von innen an die Holzwand des Stalles, dass dieser heftig wackelte. Sie spürten genau, dass ihre Mame sie verlassen hatte. Aber ich hatte kein Mitleid. So war das eben, um als Mensch zu überleben. Wir würden den ganzen Winter etwas zu essen haben.
»Gut gemacht, Tate!« Ich sprang auf meinen nackten Beinchen im Matsch auf und ab und fuchtelte jubelnd mit meiner Hacke herum. In diesem Moment liebte ich meinen Tate so sehr, dass ich mir einbildete, ich hätte das mächtige Tier selbst erlegt. Eines Tages würde ich das auch schaffen. Und mein Leben lang nichts anderes mehr tun. Schließlich würde ich ja Nada heiraten, und wahrscheinlich würden wir eine Menge Kinder bekommen. Also konnte ich gar nicht früh genug lernen, wie das ging mit dem Saustechen.
»Komm, Stipan, wir lassen sie ausbluten.« Der Nachbar schlug Vater auf die Schulter und entkorkte mit den Zähnen eine Flasche Sliwowitz, die er aus der Jackentasche zog. »Und du, Kleiner, hast uns ja mächtig geholfen. Kriegst einen Apfel.« Er warf mir eine schrumpelige Frucht zu, die ich in meiner kindlichen Ungeschicklichkeit noch nicht fangen konnte. Dankbar fischte ich sie aus dem Schweinematsch, wischte den Dreck an meinem Kittel ab und verzehrte sie strahlend. Waren wir im Paradies oder etwa nicht!
»Geh sag deiner Mame, sie soll uns helfen, die Borsten abzubrennen.«
Aufgeregt stürzte ich in die Hütte, die meine Mame gerade mit dem Reisigbesen ausgefegt hatte. Als sie meine Dreckspuren auf dem sauberen Lehmboden sah, benutzte sie den Besen gleich, um ihn auf mein nacktes Hinterteil sausen zu lassen.
»Scher dich raus, du Drecksbengel! Immer machst du mir Ärger!«
Doch kurz darauf half ich eifrig beim Abbrennen der Borsten und sah danach begeistert dabei zu, wie die Erwachsenen die Sau aufschnitten, die Innereien herausholten, sie klatschend und dampfend in mehrere bereitstehende Kübel warfen und schließlich gegen Abend die ersten Fleischteile an Spießen ins offene Feuer hielten. Selig schielte ich zu Nada hinüber, die für dieses Festessen ebenfalls herübergekommen war. Auch sie saß barfuß in ihrem Kittelschürzchen selig kauend auf einem Stein und ließ meine Blicke an sich abprallen. Dabei würde ich sie eines Tages heiraten, und ihre drei kostbaren Bauklötze, mit denen sie mich nie spielen lassen wollte, würden in meinen Besitz übergehen. Das wusste sie genau.
Im Herbst, als die Zwetschgen reif waren, wurden sie getrocknet und eingelegt und während des Winters verzehrt. Meine Mame verstand es ganz großartig, aus dem schwarzen klebrig süßen Sud ein hervorragendes Mus zu bereiten. Aber ein Großteil der Ernte wurde im Brennofen am unteren Ende des düsteren Waldes zu Sliwowitz gebrannt.
Die Bauern aus der Umgebung brachten ihre Zwetschgen in Leiterwagen oder Buckeltragen heran und kippten sie vor der tiefen schwarzen Grube aus.
Unter großem Geschrei wurden die schwarzen reifen Früchte mit einer Balkenwaage gewogen, von Wespen ebenso umkreist wie von neugierigen Kindern. Ich war natürlich immer mittendrin in der schmutzig klebrigen Kinderschar. Der abfließende Schnaps floss in eine metertiefe Grube, aus der wiederum die bunt berockten Bauersfrauen mithilfe mitgebrachter Gefäße ihren Anteil schöpften. Die Männer tranken das warme dampfende Gebräu mit dem süßlich scharfen Geruch an Ort und Stelle, johlten und lachten immer lauter, und so manches melancholische Lied wurde angestimmt.
»Geht von der Grube weg, ihr kleinen Scheißer!« Jemand scheuchte uns mit dem Besenstiel davon. »Ihr wärt nicht die Ersten, die da reinfallen und elendiglich ersticken!«
»Ach, das muss ein schöner Tod sein«, lallte einer von den Männern, ließ sich rückwärts ins bereits gelbe Gras fallen und lachte sich kaputt. Wir Kinder krabbelten übermütig auf der Schnapsleiche herum, auf dessen verschmierten Mundwinkeln sich die Fliegen tummelten.
»Djoko! Komm da weg, du Lausebengel!« Meine Mame kam in ihren ledernen Opanken über die Wiese gerannt und drohte mir schon von Weitem mit dem Stock. »Kann man dich keine Minute aus den Augen lassen! Stipan, pass auf den Jungen auf!«
»Aber Marusha, lass ihn doch, er hat uns so eifrig geholfen!« Tate war wohl auch nicht mehr ganz nüchtern. Aber ich liebte ihn dafür, dass er immer für mich Partei ergriff.
»Komm sofort ins Haus, Djoko! Du erkältest dich noch mit deinem nackten Hinterteil! Es wird jetzt schon empfindlich kühl!«
Widerwillig ließ ich mich in die Bretterhütte ziehen. Dort zog meine Mame mir ein wärmeres Hemd an und streifte mir zusätzlich einen selbst gestrickten Pullover über. Meine Haare, die inzwischen wieder zu einer dichten schwarzen Lockenpracht gewachsen waren, verfingen sich in der groben Wolle. »Au, das kratzt!«
»Sei nicht so wehleidig! Den lässt du jetzt den ganzen Winter über an, Djoko!« Meine Mame klemmte mich erneut zwischen ihre Knie und zwang mir auch noch selbst gestrickte Socken über die Füße. Zum Glück war die Wunde, die der Nagel verursacht hatte, inzwischen verheilt und vergessen.
Eine Hose gab es allerdings während des gesamten Winters nicht.
»Und wenn du wieder rausrennst, ziehst du die Opanken an!« Mutter verstrubbelte mir die Haare, zog mich leidenschaftlich an sich und schmatzte mir einen Kuss auf die Wange.
»Bist der hübscheste Bengel der Welt«, raunte sie mir leidenschaftlich ins Ohr. »Das ganze Dorf beneidet mich um dich. Na, nun lauf schon und hole Tate, bevor der nicht mehr gehen kann!«
Meine Mame meinte es eigentlich immer gut mit mir, wenn ich mich heute an sie zurückerinnere. Es war ihre raue, herzliche und oft temperamentvolle Art, mit mir umzugehen. Sie war damals, aus heutiger Sicht betrachtet, ja fast selbst noch ein Kind. Auch mein Tate war ja erst Anfang zwanzig. Aber groß, schlank und kräftig. Und so stark! Er war einfach der wunderbarste Papa der Welt. Er war der beste Jäger und Fallensteller von allen Männern der gesamten Gegend. Sie alle waren in den umliegenden Wäldern zu Hause, aber keiner fand sich in dieser Wildnis so gut zurecht wie Tate.
Eines Tages überraschte er mich mit einem Messer, welches aus einem Holzgriff und einer einklappbaren Klinge bestand.
»Schau mal her, Kleiner, was ich für dich habe.«
»Gib dem Jungen doch kein Messer, Stipan! Er ist noch nicht mal fünf!«
»Er muss lernen, damit umzugehen!«
Tate ignorierte Mames Gezeter, die sich wütend mit dem Rupfen eines Waldvogels zu schaffen machte, und zeigte mir, wie man schnitzt.
Tagelang hockte ich nun glücklich im Schneidersitz auf der Ofenbank und schnitzte für meine angebetete Nada an einem Holzstück herum. Es sollte ein wunderbares Schmuckstück werden. Schließlich konnte man ja mit seiner Verehrung für eine Auserwählte gar nicht früh genug beginnen. So hatte es Tate mir gesagt. Er hatte Mame auch etwas geschnitzt.
»Du wirst dich verletzen, Djoko.« Mame rupfte das Federvieh und warf den toten Vogel, dessen Köpfchen schlaff herunterhing, mit dem Schnabel zuerst in einen Trog.
»Nein, Mame, ich passe schon auf.«
»Was soll das überhaupt werden?«
»Ein Glücksbringer.«
»Für mich?«
Ich senkte den Kopf und vergrub mein verlegenes Gesicht unter meinen herabfallenden Locken. Erwartete sie etwa ein Geschenk von mir? Eine tiefe innere Freude breitete sich in mir aus. Wenn das so war, sollte das hier natürlich als Erstes für meine Mame sein. Vielleicht wäre sie dann auch wieder lieb zu mir.
Mit Entschlossenheit stieß ich das Messer erneut in mein Holzstück und rammte es mir unglücklicherweise mit voller Wucht in den nackten Oberschenkel. Blut spritzte hervor, und mir wurde schwarz vor Augen.
»Du dummer Bengel du!« Wütend schlug Mame mit dem blutigen Küchenfetzen auf meinen Nacken ein. »Ich habe es dir gesagt, du wirst dich verletzen!«
»Ich habe es doch nicht mit Absicht getan!« Ich schrie vor Schreck und Schmerzen.
Sie presste den schmierigen Fetzen auf meine klaffende Wunde. »Du wirst deine Strafe schon kriegen!«
Heulend und wimmernd saß ich da. Wieso tröstete mich Mame nicht? Es tat längst weh wie Hölle! Warum musste sie mich jetzt auch noch zusätzlich bestrafen? Ich wollte ihr doch ein Schmuckstück schnitzen, damit sie mich lieb hatte!
»Los, du musst es lernen. Lauf in den Wald und schneide eine Weidenrute ab.«
Mit tränennassen Augen starrte ich sie an. Meinte sie das ernst?
»Na! Was ist! Wenn du so gut mit einem Messer umgehen kannst, dann gehst du jetzt in den Wald und schneidest damit eine Weidenrute ab! Aber eine biegsame, lange!« Sie packte mich am Nacken und zerrte mich zappelndes Bündel vor die Hüttentür. »Ich bleibe hier stehen und warte. Und zähle bis zehn. Und wenn du nicht bei neun wieder hier bist, sollst du was erleben!«
Leider war Tate wie so oft mit den Männern in der Stadt, wo neuerdings geheimnisvolle Versammlungen stattfanden, sodass ich dem Wutanfall meiner Mame schutzlos ausgeliefert war. Trotzig, zutiefst enttäuscht und verletzt, stapfte ich zum Wald hinüber.
»Pst! Djoko! Musst du eine Rute holen?«
Die Jovanovic-Kinder spähten verstohlen durch die knackenden Äste. Der große Bruder von Nada war älter als ich und hatte noch mehr Flausen im Kopf als wir alle zusammen. Erst neulich hatte er mich dazu angestiftet, mit ihm ein Amselnest auszuheben, und mir eingeredet, dass frisch geborene Amselküken über dem Feuer gebraten hervorragend schmecken, wenn man erst einmal die Federn abgerupft und den Schnabel ausgerissen hat.
Er wusste auch schon, wie man Feuer macht, und während ich auf den Bäumen herumkraxelte und die Amselnester plünderte, war der Rauch bereits hoch hinauf über die Wipfel gezogen. Meine Mame war in ihren Opanken schreiend über die Wiese gelaufen und hatte nicht nur mich, sondern auch den Jovanovic-Buben an Ort und Stelle verdroschen. Und ihn dann seiner Mame übergeben, die dasselbe mit ihm laut schreiend noch mal machte.
»Ja, muss ich.« Ich heulte und schniefte und tat mir ganz fürchterlich selber leid. Am peinlichsten war es mir, dass meine angebetete Nada ebenfalls durch die Äste lugte und meiner Demütigung beiwohnte.
»Hör zu, Djoko. Du musst die Rute in der Mitte einschneiden, damit sie beim Hinschlagen bricht!«
»Ja, das versuche ich.«
»Neun«, schrie meine Mutter von der Hütte her. Ich flitzte, so schnell ich konnte, mit der präparierten Weidenrute zurück und überreichte sie ihr zu meiner Züchtigung.
»Leg dich über meinen Schoß!«
Widerwillig tat ich das. Wie gern hätte ich mich stattdessen einmal auf ihren Schoß gesetzt und mich von ihr liebkosen lassen. Aber dazu war meine Mame viel zu zornig. Hatte sie mir doch gesagt, dass ich mit dem Messer aufpassen sollte! »Wer nicht hören will, muss fühlen!«
Sie holte aus und ließ die Rute auf mein nacktes Hinterteil sausen, wobei diese wunschgemäß durchbrach.
»Nein, mein Freund. So haben wir nicht gewettet. Ich zähle bis zehn!«, schnaubte sie, weiß vor Wut, weil sie meinen Plan durchschaut hatte. »Ich lasse mir doch von dir Rotzbuben nicht auf der Nase herumtanzen. Du holst eine neue Rute. Aber schnell.«
»Mist«, zischte ich, als ich an den Büschen vorbeikam, hinter denen meine Freunde lauerten.
»Sie hat’s gemerkt!«
»Kneif die Augen zu und denk an was Schönes«, flüsterte Nada mitfühlend. Ja, ich würde sie heiraten, und ich dachte an die Bauklötze, die damit in meinen Besitz übergehen würden.
Bei der zweiten Rute kannte meine Mame kein Erbarmen. Sie drosch auf mich ein, dass ich tanzte vor Schmerzen. Meine kleinen Hände vor das nackte Gesäß gestreckt, ließ sie die Rute auch auf meine Handflächen sausen.
»Au! Das tut weh! Aua, Mame, ich brauche doch meine Hände noch!«
»Dann zieh das Hemd aus.«
Vor Scham wollte ich mich in ein Mauseloch verkriechen! Schließlich schauten Nada und ihr Bruder der Züchtigung zu! Doch es half nichts. Ich musste mich splitternackt ausziehen, damit meine Mame mich verdreschen konnte. Das Schlimme war, dass diese Rute lang und dünn war und sich mit jedem Schlag um meinen Körper wickelte und mein kostbarstes kleines Teilchen traf! Meine gutmütige Hündin trottete jaulend um uns herum und litt mit mir. Sie stupste Mame mit der Schnauze an, als wollte sie sagen: Nun lass es gut sein.
»Au! Mame, es tut mir leid, ich will es nie wieder tun!«
»Du musst es lernen, Junge, du musst es lernen!« Sie drosch, bis sie außer Atem war. Ihre Augen waren ganz schwarz geworden und ihre Lippen ganz weiß.
»So. Und jetzt gehst du ohne Essen ins Bett!«
Vor Schmerz und Scham gepeinigt, lief ich jedoch schreiend vor der Hütte herum und konnte mich nicht beruhigen. Dass sie mir das antat! Dass sie mich so vor den anderen Kindern demütigte! Dass sie derart die Beherrschung verlieren konnte!
»Willst du wohl ins Bett gehen, oder muss ich noch mal nachhelfen?«
Meine Mame hatte sich in kalte Wut gesteigert, riss mich an den Haaren und zerrte mich in die Hütte. In ihrer Machtlosigkeit sagte sie etwas ganz Entsetzliches: »So. Und jetzt gehe ich weg. Und komme nie mehr wieder. Cuja nehme ich mit.«
Sie raffte ihr Bündel an sich, zog den verdutzten Hund heraus, verließ die Hütte und sperrte von außen ab.
Fassungslos stand ich im Dunkeln, schmerzgepeinigt und angsterfüllt. Das würde sie nicht wirklich tun?
Draußen jaulte Cuja und scharrte an der Tür. Ich kletterte auf einen Schemel und starrte durch das einzige milchige kleine Fenster. Doch Mame wickelte dem Hund ein Seil um den Hals und zog das widerstrebende Tier hinter sich her. »Ich gehe jetzt für immer mit Cuja weg und wir kommen nie mehr wieder. Dein Tate kommt auch nie mehr wieder. Unartige Kinder haben es nicht verdient, Eltern zu haben!« Sie drehte sich um und zog das widerspenstige Tier mit sich.
Tatsächlich ging sie auf den Wald zu, der sie vor meinen Augen in der Dunkelheit verschluckte.
In meinem Schmerz und meiner Not konnte ich das Ausmaß dieser Ungeheuerlichkeit gar nicht begreifen. Hatte sie mich, ihr einziges Kind, gerade für immer verlassen? Weil ich mich mit dem Messer verletzt hatte, obwohl sie gesagt hatte, ich solle besser aufpassen?
War das der Grund, mich hier verhungern zu lassen? Bestimmt würden in der Nacht die Wölfe kommen. Denn die konnten Angst riechen. Und kleine nackte Kinder, die sowieso schon nach Blut rochen, waren ihre Lieblingsspeise, das hatte meine Mame mir oft genug gesagt.
In meiner Panik schob ich den Schemel an das hölzerne Küchenregal und angelte nach dem Glas mit dem Kaffeesud. Ich war dem Wahnsinn nahe, denn was ich tat, erscheint mir heute ganz und gar nicht kindgerecht. Ich begann den Kaffeesud zu essen, weil ich überzeugt war, dann abstoßend zu riechen. Und vielleicht schmeckte ich dann auch den Wölfen nicht mehr. Löffelweise schob ich den bitteren schwarzen Kaffeesud in mich hinein, und als mir zum Erbrechen schlecht wurde, verschmierte ich noch mit meinen kleinen Kinderhänden die Scheibe des einzigen Fensters, bevor ich daran herunterglitt und in Ohnmacht fiel.
Wie viel Zeit vergangen war, wusste ich nicht, als mich irgendwann eine hysterische Stimme kreischend aus dem Zustand des Todes riss. Ich war überzeugt, dass ich tot war. Obwohl ich schwarze Galle würgte. War ich in der Hölle? Verdient hatte ich es bestimmt! War es der Teufel selbst, der auf mich einschlug und mich anschrie? Oder eine böse Hexe?
»Djoko! O Gott, Junge, wach auf! Ich habe es doch nicht so gemeint! Ich wollte dich nur ein wenig erschrecken!«
Eine eiskalte Hand patschte auf meinen fiebrigen Wangen herum, und sie schüttelte mich wie ein nasses Handtuch.
»Djoko, bei allen Heiligen, Jungfrau Maria, ich flehe dich an! Wach doch auf! Bitte stirb nicht!« An meinen Beinen fühlte ich die bekannte nass-raue Zunge meiner geliebten Cuja.
Irgendwann schlug ich die Augen auf. Es war meine Mame, die wie durch ein Wunder zurückgekommen war! Hatte sie es sich anders überlegt? War ich doch nicht so ein schlimmes Kind, dass ich den einsamen Hungertod verdient hatte?
»Da sind sie wieder, deine braunen Kulleraugen!« Mame riss mich an sich und bedeckte mein von Kaffeesud verschmiertes Gesicht mit heißen Küssen und noch heißeren Tränen.
»Du lebst, mein kleiner Engel, du lebst! Gott und allen Heiligen sei Dank!«
Das Folgende habe ich nur schemenhaft in Erinnerung. Wahrscheinlich liegen Wochen oder sogar Monate zwischen dem gerade geschilderten Ereignis und dem, was irgendwann danach geschah. Mein Tate war wieder einmal besorgten Gesichtes in die Stadt gegangen, um an einer Versammlung teilzunehmen, und meine Mame war mit ihrer Angst und ihrer Einsamkeit mit mir, ihrem kleinen Satansbraten, allein.
Eben noch hatte sie mir liebevoll eine heiße Milch hingestellt, an der ich selig schlürfte. Fasziniert zupfte ich an der Haut, die sich über der dampfenden Milch gebildet hatte. Wie konnte das sein, dass sich plötzlich etwas Flüssiges in etwas Festes verwandelte?
»Lass den Unfug, Djoko!«
»Ich mag aber die Haut nicht!«
»Du wirst deine eigene Haut bald nicht mehr mögen, ich warne dich!«
Zornig stapfte meine Mame in ihren ledernen Opanken aus der Hütte, um mit der Mistgabel bewaffnet ihre tägliche Stallarbeit zu verrichten. Über der offenen Feuerstelle hing der Kessel, voll mit kochender Milch. Meine Mame hatte sie frisch vom Melken unserer einzigen Kuh direkt hereingebracht. Ich ließ meine Fingerkuppe weiter über die eklige Haut gleiten und fischte sie schließlich im Ganzen aus dem Becher. Na also. Das ließ sich doch leicht bewältigen. Ich schüttelte sie angewidert ab und bot sie der Katze an, die sie sofort schnappte und damit unter einer Holzbohle verschwand. Neugierig ließ ich mich von der Bank gleiten und beugte mich über den Kessel, der über dem offenen Feuer hing. Wenn ich die Haut aus dem viel größeren Gefäß auch noch rausfischen würde, hätte ich etwas, womit ich Nada imponieren könnte. Ich könnte ihr das Ding zeigen und behaupten, es sei die Haut einer Schlange, die ich ganz allein erschlagen hätte. Das wäre doch was!
Vorsichtig beugte ich mich über den kochend heißen Kessel und steckte meinen Finger hinein. Autsch! Das war heiß! Schmerzverzerrt ließ ich meine Kinderhand zurückschnellen, um den verbrannten Finger in den Mund zu stecken, stieß dabei an den Kessel und brachte ihn dazu, immer heftiger zu schaukeln und in Sekundenschnelle seinen kochenden Inhalt über meinen linken Arm zu gießen.
Meine furchtbaren Schmerzensschreie gellten über das kleine Anwesen. Wutentbrannt kam Mame herbeigestapft, um mir mit der Mistgabel eins überzubraten, aber da stürzte auch schon die Nachbarin, Frau Jovanovic herzu. Mein ganzer Arm war verbrannt mit kochender Milch! Sofort hatten sich Brandblasen gebildet, wovon eine handflächengroß war. Vor Schmerz fiel ich in Ohnmacht und klatschte auf den nackten Fußboden. Als ich wieder zu mir kam, hatten die beiden Frauen meinen Arm in die Höhe gerissen und behandelten mit vereinten Kräften die Blase auf der Unterseite meines Armes. Hier ist sie auch heute, dreiundachtzig Jahre später, noch deutlich zu sehen.
»Junge, was hast du nur wieder angestellt!« Mit Tränen in den Augen massierte meine Mame mir eine kühlende Salbe ein, die Frau Jovanovic für solche Fälle selbst hergestellt hatte. Es gab weder einen Arzt noch einen Apotheker, den man fragen konnte. Die Menschen waren auf die Wirkung von Naturheilkräutern angewiesen.
Nachdem mein Arm nach Wochen abgeheilt war, kam Mame infolge irgendeines aktuellen Wutanfalls auf die Idee, mich für die Angelegenheit nachträglich zu strafen. »Du warst nicht folgsam, Djoko. Geh in den Wald und hol mir eine passende Rute. Aber wehe du schneidest sie ein, ich schicke dich erneut los, um eine noch viel längere und biegsamere zu holen!«
Das konnte doch nicht ihr Ernst sein!
Hatte sie mich nicht leiden sehen, tage- und wochenlang? Hatte ich meine Strafe für meine unvorsichtige Tat nicht längst erhalten?
»Djoko, worauf wartest du? Ich zähle bis zehn!«
Mame presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und schickte mich vor die Tür. Sie warf mir mein Messer vor die Füße. »Nun mach schon. Strafe muss sein.«
Das konnte ich nicht fassen. Mein Gerechtigkeitsgefühl randalierte in meinem kleinen Gehirn. Nein, das mache ich nicht. Ich ließ mich bockig in den Sand vor der Hütte fallen und fing an, kleine Kreise in den Sand zu malen. Mein Inneres stellte sich tot und blendete sich aus.
»Dann musst du im Dunkeln gehen, Djoko. Sieh nur, die Sonne ist schon untergegangen. Und du weißt ja, was du nachts im Wald finden wirst. Schlangen und Wölfe.«
Erbarmungslos verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Ich habe Zeit, Djoko. Und du wirst deine Strafe kriegen. Je länger du wartest, desto mehr Schläge wirst du bekommen.«
Nachdem sie mir noch weitere schreckliche Strafen angedroht hatte, trollte ich mich schließlich weinend in den dichten dunklen Wald. Längst hatte sich die Dämmerung wie eine schwere kratzige Decke über die Wurzeln und Steine gelegt und ließ vor meinen Augen Feen und Zwerge, wilde Tiere und unheimliche Fabelwesen um mich herum aufsteigen.
Ich fürchtete mich zu Tode. Was tat Mame mir da nur an? In meiner Verzweiflung und meinem Zorn beschloss ich, nie mehr nach Hause zu kommen. Sollte sie doch verhungern und vor Angst um mich weinen! Und wenn Tate nach Hause kam, würde sie richtig Ärger bekommen! Und das gönnte ich ihr von Herzen! Sie hatte mich als ihr Kind nicht verdient! Weinend und schluchzend irrte ich herum und ließ mich schließlich kraftlos in einen Blätterhaufen fallen. Moderiger Geruch stieg in mir auf, und die Kühle des feuchten Mooses verlieh mir das Gefühl, mir mein erlösendes Grab zu schaufeln, als ich mich bis zum Hals in die Blätter einbuddelte. Hier würde mich niemand finden, weder Mame noch ein böser Wolf.
Irgendwann schlief ich vor Erschöpfung und Verzweiflung ein. Aufgeregte Stimmen und der Lichtschein von Petroleumlampen weckten mich, vermutlich Stunden später.
»Djoko! Verdammt, irgendwo muss der Bengel stecken!«
»Djoko, Djooooookooooo!«, hallte es durch die unheimlich schwarze Nacht. Doch ich war so beleidigt, dass ich mich nicht zu erkennen gab. Sollten sie ewig nach mir suchen, sie würden mich nicht finden!
»Djoookoooo!«, durchschnitt die hysterische Stimme Mames die Stille, und »Djooookooooo« hörte ich die tiefe, besorgte Stimme meines Tates rufen. Nein, auch meinem geliebten Tate wollte ich mich nicht zu erkennen geben. Denn er war mit schuld daran, dass er mich nicht vor den Zornesausbrüchen meiner Mame beschützt hatte. Was ging er auch immer in die Stadt zu seinen langweiligen Männer-Versammlungen. Was konnte denn wichtiger sein als ich, sein einziger Junge?
Ja, Krieg, davon war in letzter Zeit immer öfter die Rede. Pah, blöder Krieg. Sollte er doch erst mal nach mir schauen, seinem einzigen Sohn! Mame und ich, wir hatten schon lange Krieg! Dass Tate von einigen zwielichtigen Männern zum Kartenspielen verführt worden war und dass er unser mühsam verdientes Geld verspielt hatte, das machte meine Mame so wütend. Aber was konnte ich denn dafür? Warum ließ sie ihre ganze Frustration an mir aus? Es war so ungerecht! Wenn Tate uns nicht mehr liebte, sollte er sich doch eine neue Familie suchen!
In mich zusammengekauert und innerlich versteinert ließ ich die Stimmen und den zuckenden Lichtschein weiterziehen. Leiser und leiser wurde das Rufen, schwächer das kleine Licht, und schließlich hörte es ganz auf. Schwärze und Finsternis umgaben mich wie eine Höhle, und nur mein eigener weißer Atem war zu sehen. Geister und Feen tanzten um mich herum, und überall knackte es in den Bäumen. Ich hockte im Stockdunkeln, in einem Blätterhaufen und fühlte mich innerlich schon verwest. Sie hatten mich aufgegeben. Mein kleines Herz zog sich vor Liebe und Schmerz zusammen: Nun würde ich also hier im Wald sterben. Bestimmt war in dem Blätterhaufen eine Schlange, und dann würde es vielleicht ganz schnell gehen. Sie würden mein kleines Gerippe finden, von Wölfen zerfetzt, und dann würde es ihnen bitterlich leidtun, ihren kleinen Jungen so schlecht behandelt zu haben.
Plötzlich raschelte es dicht neben mir, und kurz darauf fühlte ich etwas Klebriges, Glitschiges durch mein Gesicht kriechen. Da war sie schon, die Giftschlange! Nun würde ich also sterben, und sie hatten es verdient. Aber das vertraute Hecheln, der bekannte Geruch und das glückliche Jaulen passten nicht so recht dazu. Es war Cuja, die als Einzige nicht aufgegeben hatte! Cuja hatte mich gefunden. Mit einem lauten Bellen meldete sie ihren Erfolg. Ich klammerte mich an den warmen, vertraut riechenden Hundeleib und ließ mich von Cujas streng riechender Zunge ablecken. Sie stupste mich mit der feuchten Schnauze vorwurfsvoll an, als wollte sie sagen: Junge, mach das nie wieder. Dummer Bub.
Ganz steif gefroren und vom vielen Weinen schon nicht mehr in der Lage zu sprechen, fanden meine Eltern mich und fischten mich aus dem Laubhaufen. Selbst Mame schimpfte nicht mehr, sondern weinte bitterlich. Wahrscheinlich hatte Tate sie mal ordentlich verhauen, und recht geschah es ihr.
Als mein Tate mich auf seine starken Schultern nahm, war ich der glücklichste kleine Junge der Welt. Ich kuschelte mich Wärme und Schutz suchend an ihn und schwor mir, ihn nie wieder zu verlassen.
Tate, was ist ein König?«
Beine baumelnd hockte ich neben Mame auf der einfachen Holzbank in unserem kleinen Wohnraum und rieb mir müde die Augen. Seit dem Erlebnis mit dem Wald war Mame viel netter zu mir. Tate hatte ihr mal kräftig den Hintern verhauen. Das fand ich absolut gerecht und wünschte mir, er würde das öfter tun.
Tate war in letzter Zeit immer öfter in der Stadt und in den Wäldern geblieben, und die Männer kamen nie mehr lachend und fröhlich, so wie früher, in unseren abgelegenen Weiler zurück. Sie hatten ernste und besorgte Mienen, und heute hatte Tate uns aufgefordert, seinen Ausführungen zuzuhören.
»Der König ist ein mächtiger Mann, Djoko. Er herrscht über alle Menschen in Jugoslawien.«
»Wie macht er das?« Meine großen braunen Kulleraugen auf Tate gerichtet, hatte ich meinen Kopf auf die Hände gestützt, um nicht einzuschlafen. »Mit dem Stock?«
»Nein, Junge. Nicht mit dem Stock.« Tate sandte meiner Mame einen schmerzvollen Blick. »Die Menschen in Jugoslawien lieben ihn, obwohl ihn die meisten noch nie gesehen haben.«
»Wieso lieben die ihn denn? Schenkt er ihnen Spielsachen?«
»Nein, eher nicht. Er wohnt in einem wunderschönen großen Haus, das man Schloss nennt. Er ist immer schön angezogen und hat auch eine wunderschöne Frau.«
»Warum?«
»Weil er der König ist, darum!« Mame stupste mich mit dem Ellbogen an. »Ich habe dir doch schon viele Märchen erzählt, in denen Könige vorkommen, oder nicht? Also sei nicht begriffsstutzig und stell nicht so viele dumme Fragen.«
»Marusha, ich warne dich.« Mein Tate funkelte meine Mame wütend an.
»Ist das denn jetzt auch ein Märchen?« Ein bisschen fühlte ich mich wie im Märchen, denn meine Mame hatte mich seit dem Walderlebnis nie mehr geschlagen. Vielleicht war sie eine verzauberte Prinzessin, die von meinem Tate wach geküsst worden war?
»Nein, das ist die Wirklichkeit.« Tate seufzte. »Und ich erkläre euch jetzt, was sich in unserem Land gerade abspielt.«
Mühsam versuchte ich, wach zu bleiben. Draußen war es schon lange finster, die Wölfe heulten von ferne aus dem Wald, die Käuzchen klagten, der Mond stand in einer blassen Sichel über dem Waldrand, und aus den feuchten Wiesen stiegen Nebelschwaden.
»Der König muss nicht schwer arbeiten und kann jeden Tag gute Sachen essen.« Meine Mame strich mir ungewohnt liebevoll die verfilzten Locken aus dem Gesicht. »An besonderen Tagen trägt er eine goldene Krone auf dem Kopf. Die ist sehr schwer. Dann fährt er mit seiner wunderschönen Frau in einer offenen Kutsche, die von weißen Pferden gezogen wird, durch das Land. Die Menschen stehen am Straßenrand und werfen ihre Hüte in die Luft und jubeln ihnen zu.«
Ich klappte meinen Mund auf, um etwas zu fragen, aber ich war so überwältigt von diesem ernsten, liebevollen Gespräch meiner Eltern mit mir, dass ich ihn wieder zuklappte.
»Schau, Djoko. Hier ist das Wappen unseres schönen Königreiches.«