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Während Alchemisten ihrem Ziel, wertlose Materialien in Gold zu verwandeln, bislang nicht näher gekommen sind, können moderne Banken eine bessere Erfolgsbilanz aufweisen: Gold können sie zwar nicht erschaffen, dafür jedoch neues Geld – und das aus dem Nichts. In dieser »modernen Alchemie« verortet Lord Mervyn King, ehemaliger Gouverneur der britischen Zentralbank, die grundlegenden Probleme des heutigen Kapitalismus, deren Ausmaße in der weltweiten Finanzkrise virulent wurden und bis heute die Weltwirtschaft in ständiger Unsicherheit halten. In »Das Ende der Alchemie« fordert er zu einer Umkehr auf. Statt Banken mit der Möglichkeit zu adeln, neues Geld zu schaffen, müssen endlich wirksame Regularien des Bankensektors in Kraft gesetzt werden. Damit sich eine Krise dieser historischen Dimension nicht wiederholt und die weltweite Wirtschaft sich nachhaltig erholt, braucht es kreative Ideen, die Mervyn King in diesem einmaligen Buch liefert. Mit einem exklusiven Vorwort von Lord Mervyn King für die deutsche Ausgabe.
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Seitenzahl: 635
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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1. Auflage 2017
© 2017 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Copyright © 2016 by Mervyn King. All rights reserved. Die englische Originalausgabe erschien 2016 bei Little, Brown and Company unter dem Titel »The End of Alchemy«.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Petra Pyka
Korrektorat: Sonja Rose
Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt
Umschlagabbildung: Joseph Wright of Derby, The Alchemist (1795) © 2017 Derby Museum Trust
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein
ISBN Print 978-3-95972-021-2
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-024-3
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-025-0
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
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Für
Otto, Alexander, Livia und Sofie
Impressum
Widmung
Zitat
Vorwort für die deutsche Ausgabe
Dank
Einleitung
Kapitel 1: Zwei glorreiche Halunken oder: Positives, Negatives und Unschönes
Die Grundlagen des Wirtschaftswachstums
Wirtschaftliche Experimente
Die Geschichte der Krise
Drei Fragen
Ungleichgewicht in der Weltwirtschaft
Kapitel 2: Wohl und Übel – »In Money We Trust«
Akzeptanz in guten und in schlechten Zeiten
Stabilität des Geldwerts
Gold und Papier im Vergleich
Die Ökonomen und das Geld
Die Bedeutung des Vertrauens
Geld und die radikale Ungewissheit
Kapitel 3: Die verlorene Unschuld – Alchemie und die Banken
Wie sich das Bankwesen seit Bagehot verändert hat
Was ist eine Bank?
Systemimmanente Risiken und Verflechtungen
Die Größe des Bankensektors
Kapitel 4: Radikale Ungewissheit – Sinn und Zweck der Finanzmärkte
Die Illusion der Gewissheit
Die beiden Arten von Ungewissheit
Bewältigungsstrategien als rationales Verhalten bei Ungewissheit
Finanzmärkte und Derivate
Die Parabel von den Finanzmärkten auf der einsamen Insel
Die Illusion von Liquidität
Kapitel 5: Helden und Schurken – die Rolle der Zentralbanken
Preisstabilität – Inflationssteuerung als Bewältigungsstrategie
Alte Probleme, neue Instrumente
Erwartungen und Kommunikation
Neue Probleme, alte Instrumente
Geldpolitik für schlechte Zeiten: Notgeld
Die Zukunft der Zentralbanken
Kapitel 6: Ehe und Scheidung – Geld und Nationen
Die Europäische Währungsunion
Der Irak zwischen den Golfkriegen
Ein unabhängiges Schottland
Kapitel 7: Die wiedergewonnene Unschuld – Reform des Geld- und Bankwesens
Reformen im öffentlichen Sektor
Radikalere Reformen
Eine neue Herangehensweise – der Pfandleiher für alle Fälle
Die Zukunft des Geldes
Kapitel 8: Heilung und Hybris – die Weltwirtschaft heute
Keynesianismus und neoklassische Volkswirtschaftslehre
Eine andere Geschichte: unscharfe Budgetbeschränkungen, Narrative und Ungleichgewicht
Ursachen und Folgen der Krise von 2008
Eine alternative Geschichte der Vorkrisenzeit
Kapitel 9: Pessimismus wagen – das Gefangenendilemma und die nächste Krise
Die nächste Krise: Staatsschuldenerlässe – nötig, aber nicht ausreichend
Der Ausweg aus dem Gefangenendilemma: breiter angelegte internationale Reformen
Pessimismus wagen
Literaturverzeichnis
Über den Autor
Das Kreisen ohne Ende von Idee und Tat,
Das endlose Erfinden, endlose Versuchen
Führt uns zur Kenntnis der Bewegung, nicht des Stillstands;
Kenntnis der Sprache, nicht des Stillschweigens;
Wo blieb die Weisheit, die uns in Beschlagenheit entglitt?
Wo die Beschlagenheit, die uns in Nachrichten entglitt?
T.S. Eliot, The Rock, 19341
1 T.S. Eliot, Gesammelte Gedichte 1909-1962, Suhrkamp Verlag, 1988. S. 239.
»Das Ende der Alchemie« wurde für den Leser geschrieben, der über keine oder nur geringe Kenntnisse in Ökonomie verfügt. Ökonomen glauben gerne, dass ihr Zugang zum Thema dem von Wissenschaftlern gleicht – eine Beobachtung der Welt gefolgt vom Ziehen von Rückschlüssen, die in Theorien gegossen werden. Nach der erschütternden Erfahrung der Hyperinflation der 1920er-Jahre und der Großen Depression in den 1930ern kam es zu einer Welle des Aufruhrs, sowohl wirtschaftlich als auch politisch, besonders in Deutschland. Der Finanzkrise von 2008–09 folgte nichts mit dieser intellektuellen Revolution Vergleichbares.
Ökonomen und Politiker scheinen damit zufrieden zu sein, bescheidene Veränderungen vorzunehmen und denselben Denkmustern zu folgen, die bereits vor der Krise Anklang fanden. Die meisten Menschen außerhalb der in sich geschlossenen Welt der Politik und Universitäten reagierten darauf mit einem gewissen Grad an Ungläubigkeit. Nur Ökonomen konnten glauben, dass negative Zinssätze die Lösung dafür sein könnten, wirtschaftliches Wachstum wieder herzustellen, und nur Banker konnten glauben, dass unser Geld- und Bankensystem im Grunde gesund sei. Die Erfahrungen der Finanzkrise sollten uns dazu bringen, die Theorien infrage zu stellen, die vorher als garantiert galten.
Leser der deutschen Ausgabe haben vielleicht den Eindruck, dass die deutsche Wirtschaft gut funktioniert – kaum Inflation, geringe Arbeitslosigkeit, ein Haushaltsüberschuss und ein großer Handelsüberschuss. Doch hinter der scheinbaren Erfolgsgeschichte verbergen sich große Probleme. Deutschland opferte seine erfolgreichste Errungenschaft der neuen und demokratischen Nachkriegsgesellschaft – die Deutsche Mark – in dem Glauben, dass die Bindung an Europa durch eine Währungsunion alle Ängste vor einem übermäßig mächtigen deutschen Staat beseitigen würde. Das Gegenteil war der Fall. Heute ist Deutschland wirtschaftlich und politisch mächtiger als 1999, als die Währungsunion begann, und der Gegensatz zwischen Deutschland und Ländern wie Griechenland und Italien ist heute größer als zu irgendeinem Zeitpunkt seit dem Zweiten Weltkrieg.
Die Europäische Union muss sich zwei existenziellen Herausforderungen stellen: Erstens dem gescheiterten Versuch, eine nachhaltige ökonomische Basis für die Einheitswährung, den Euro, zu schaffen. Zweitens das Ausmaß der Migration, sowohl von Flüchtlingen als auch Wirtschaftsflüchtlingen, über die Grenzen der Europäischen Union. Das erste droht die Währungsunion zu untergraben, das zweite das Bekenntnis zur Bewegungsfreiheit der Menschen in Europa – eine löbliche Zielvorgabe früherer Zeiten, aber eine, die fast unmöglich zu halten ist angesichts eines Zustroms von Millionen, die versuchen nach Europa zu kommen.
Das zerbrechliche Gleichgewicht in der Währungsunion wird nur von niedrigen Zinssätzen, einem schwachen Euro und hoher Arbeitslosigkeit in den Randstaaten getragen. Wie in Kapitel 6 erklärt, ist es für eine Lösung der anhaltenden Probleme im Euroraum nötig, dass Europa einem oder einer Kombination aus vier Pfaden folgt: dauerhaft anhaltende hohe Arbeitslosigkeit in den Randstaaten, eine Phase hoher Inflation in Deutschland, unbegrenzter Finanzausgleich zwischen Deutschland und seinen südlichen Nachbarländern oder die Auflösung des Euroraumes. Keine der Möglichkeiten erscheint verlockend, weshalb die aktuelle Strategie eher darin besteht, sich irgendwie durchzuwursteln. Aber eine Entscheidung in dieser Sache kann nicht auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Darum ist die derzeit gute Verfassung der deutschen Wirtschaft nicht aufrechtzuerhalten. Deutschland braucht höhere Zinssätze und einen stärken Euro; Italien und andere Randstaaten brauchen das genaue Gegenteil. Die Idee, alles käme in Ordnung, wenn nur andere Staaten Deutschland folgen würden, ist ein Mythos. Wenn eine Wirtschaft von der Größe der deutschen einen großen Handelsüberschuss hat, müssen andere Länder Handelsdefizite haben. Eine einfache Rechnung besagt, dass nicht jedes Land einen Handelsüberschuss haben kann – das deutsche Modell kann nicht reproduziert werden.
Es ist wahrscheinlich, dass die Mitglieder der Eurozone versuchen werden, die Bildung einer finanziellen und politischen Union sowie den Erhalt des Schengen-Raums (eine Gruppe von EU-Ländern ohne Kontrollen an den Binnengrenzen) weiter voranzutreiben. So wie es aussieht, ist es nicht wahrscheinlich, dass der lange Weg hin zur politischen Einheit, wie sie von den die Europäische Union regierenden politischen Eliten gewünscht wird, nicht zu einem demokratischen Ziel führen wird. Diejenigen, die auf den Nationalismus schimpfen, sollten sich bewusst machen, dass der Versuch einer Elite, widerwilligen Wählern die politische Union aufzuzwingen, eine der Hauptantriebskräfte der extremen, nationalistischen Meinungen ist, die sie verabscheuen. Für welchen Kurs in Europa sich unsere Enkel und deren Nachkommen auch entscheiden, er muss auf einem demokratisch legitimen Prozess basieren, wenn die Entstehung einer Spaltung verhindert werden soll, die die Architekten des Nachkriegseuropas so angestrengt bemüht waren zu verhindern. Eine aufgezwungene politische Einheit wird für den Kontinent weniger statt mehr Stabilität bedeuten.
Wirtschaftliche Probleme, welcher Art auch immer, sind nicht allein auf Europa begrenzt. Seit einem Jahrzehnt versuchen Zentralbanken auf der ganzen Welt, eine ökonomische Erholung herbeizuführen. Trotz ihrer Bemühungen bleiben nachhaltige Besserungen flüchtig. Es ist Zeit, die Grenzen der Geldpolitik zu erkennen. Zentralbanken können der Wirtschaft nicht länger zusätzliche Unterstützung bereitstellen, da finanzielle Anreize nicht den dauerhaften Wandel der Geldausgabemuster bewirken können, der benötigt wird. Die größte Bedrohung für die Zukunft und Unabhängigkeit der Zentralbanken stellt heute die Gefahr des Zu-viel-Versprechens dar.
All das ist weit entfernt von den unbesonnenen Tagen im Oktober 2008, als in Washington DC die Gouverneure der Zentralbanken und die Finanzminister der G7-Staaten versprachen, »das Vertrauen in das Finanzsystem wiederherzustellen«. Niemand von uns konnte sich vorstellen, dass fast ein Jahrzehnt später die außerplanmäßigen Währungs- und Finanzmaßnahmen, die die Wirtschaft ankurbeln sollten, nicht nur noch in Kraft wären, sondern, dass die Zinssätze in vielen Teilen der Welt tatsächlich negativ und der Bedarf an finanzieller Unterstützung größer sein würde als zum Höhepunkt der Krise. Und die Alchemie des Geldes und Bankwesens begleitet uns noch immer. Nach knapp zehn Jahren der Reformen und neuen Regelungen sowie Beteuerungen der Zentralbanker und Behörden, dass das Bankensystem jetzt unvergleichlich sicherer ist als vor der Krise, ist es besorgniserregend, dass der Gesamtschuldenstand gestiegen ist und es Bedenken über die Gesundheit der Finanzbranche gibt.
In der gesamten industrialisierten Welt bedroht die Kluft zwischen der politischen Klasse und der großen Anzahl desillusionierter und unzufriedener Wähler das Vertrauen. Zeitweise scheint es so, als habe die regierende Klasse ihren Glauben in die Menschen und die Menschen ihren Glauben in die Regierung verloren. Und die beiden Seiten scheinen außerstande, einander zu verstehen. Die Finanzkrise und das Scheitern, radikalere Veränderungen zu beschließen, haben in den Ländern dazu beigetragen – so lässt es sich heute sowohl in Europa als auch den USA beobachten. Um die Kluft zwischen Anführern und Wählern zu überbrücken, braucht es politische Vorstellungskraft, ein Verständnis für die Fehler des herkömmlichen Wissens und die Bereitschaft, neue Ideen anzunehmen. Ich hoffe, die Leser finden einige dieser Ideen in »Das Ende der Alchemie« und werden angeregt, ihre eigenen Gedanken in die öffentliche Debatte mit einzubringen. Wie in diesem Buch dargestellt, war die Krise ein Scheitern eines Systems und der Ideen, die dieses ausmachten. Es ist jetzt Zeit, das Selbstvertrauen und den Mut zu haben, die bestehende Ordnung infrage zu stellen.
Mervyn King
Petham Oast, Mai 2017
Den allergrößten Dank schulde ich meinem Team bei der Bank of England, mit dem ich 22 Jahre lang zusammengearbeitet habe. Als ich 1991 als Chefvolkswirt in die Bank eintrat, wurde mir rasch klar, wie viel Glück ich hatte. Die Menschen, die mich umgaben, waren außerordentlich intelligente junge Ökonomen, die teamorientiert zusammenarbeiteten. Über die Jahre ist es der Bank gelungen, außergewöhnlich kongeniale und fähige Mitarbeiter anzuwerben. Ohne eine so engagierte Mannschaft wäre keiner der großen Erfolge der vergangenen 20 Jahre möglich gewesen – einer Zeitspanne, in der sich die Bank of England von einer im Schatten und hinter den Kulissen agierenden Einrichtung zu einer unabhängigen Zentralbank entwickelt hat, die erheblichen Einfluss ausübt. Gleich bei meinem Eintritt am 1. März 1991 wurde ich ganz und gar in Anspruch genommen von einer turbulenten, doch letztlich konstruktiven wirtschaftspolitischen Periode des Vereinigten Königreichs. Damals verbrachten wir unsere Zeit überwiegend im ehrwürdigen Herbert-Baker-Haus an der Threadneedle Street, aber an vielen Wochenenden auch auf internationalen Konferenzen in fensterlosen Räumen, von Basel bis New York und Frankfurt bis Washington. Am Tag meines Ausscheidens, dem 30. Juni 2013, der mit der jährlichen »Governor’s Day«-Party für die Bankmitarbeiter und ihre Familien im Sports Centre der Bank in Roehampton zusammenfiel, wusste ich, dass ich eine Familie verließ, um zu meiner Familie zurückzukehren. Entsprechend herzlich fiel der Abschied aus – auf beiden Seiten.
Allen meinen Kollegen über die Jahre gebührt Dank dafür, dass sie mir meine Aufgabe erleichtert haben. Das gilt für alle Beschäftigten der Bank, aber auch für die Mitglieder des Monetary Policy Committee von 1997 bis 2013, des Financial Policy Committee von 2011 bis 2013 und des Verwaltungsrats der Prudential Regulation Authority 2013. Weil die Bank ein Team ist, wäre es unfair, einzelne Namen zu nennen – mit Ausnahme einer Gruppe. Wie ich in der Einleitung ausführe, handelt es sich bei diesem Buch nicht um meine Memoiren. Die interessantesten und relevantesten Erinnerungen an die Krise wären ohnehin nicht die der Direktoren, sondern die ihrer Privatsekretäre und -sekretärinnen. Durch deren Gespräche mit Amtskollegen in Behörden im In- und Ausland und in der Wirtschaft und mit vielen verschiedenen Personen in ihren eigenen Einrichtungen wären ihre Memoiren sicherlich weit aufschlussreicher und, wenn ich das sagen darf, auch objektiver als die ihrer Vorgesetzten. Ich stehe für immer in der Schuld der Personen, die mir während meiner Amtszeit bei der Bank als Privatsekretäre und Wirtschaftsassistenten zur Seite standen: Alex Brazier, Alex Bowen, Mark Cornelius, Spencer Dale, Phil Evans, Neal Hatch, Andrew Hauser, James Proudman, Chris Salmon, Tim Taylor, Roland Wales, Jan de Vlieghe und Iain de Weymarn. Ihren weiteren beruflichen Aufstieg verfolge ich mit freundschaftlichem Stolz. Ich werde immer wieder gefragt, wie ich die Belastungen aushielt, die meine Tätigkeit bei der Bank of England während der Krise mit sich brachte. Meine Antwort lautet stets: Belastend ist, wenn man seine Arbeit verliert und eine Familie ernähren muss – nicht, wenn man einen Job hat, in dem man viele Jahre lang von einem fantastisch engagierten und loyalen Büroteam unterstützt wird. Dazu gehören Aishah Aslam, Nikki Bennett, Ian Buggins, Carol Elliott, Alexandra Ellis, Sue Hartnett, Michelle Hersom, Lucy Letts, Michelle Major, Jo Merritt, Nicole Morey, Verina Oxley, Frances Pearce, Vicky Purkiss, Lisa Samwell und Jane Webster. Seit ich die Bank verlassen habe, gilt mein Dank meinen persönlichen Assistentinnen Rachel Lawrence in England und Gail Thomas in New York, die mir dieses Team ersetzen.
Dankbar bin ich aber auch der Stern School of Business und der Law School der New York University, weil ich mich der Gemeinschaft der Dozenten und Studenten anschließen und in dieser ganz besonderen Stadt am breiteren intellektuellen Leben teilhaben durfte. Einen besseren Weg der Anpassung, um ins ›Zivilleben‹ zurückzufinden, hätte es nicht geben können. Robert S. Pirie ermutigte mich zu diesem Aufenthalt in New York und versüßte ihn mir. Bis zu seinem tragischen Tod Anfang 2015 war er mir ein großartiger Freund, den nicht nur ich allein schmerzlich vermisse. Ich bedanke mich bei der London School of Economics, die mir die Rückkehr an einen Ort der glücklicheren Erinnerungen und in eine ausgesprochen anregende intellektuelle Atmosphäre ermöglichte.
Im Laufe der Jahre habe ich enorm viel aus Gesprächen mit Kollegen aus Lehre und Forschung und aus der Politik gelernt, die vielfach Brücken schlugen vom einen zum anderen. Ich kann sie hier unmöglich alle aufzählen, doch häufiger ausgetauscht habe ich mich unter anderem mit Alan Budd, meinem Amtskollegen im britischen Finanzministerium und Mitangehörigen des Monetary Policy Committee, Martin Feldstein, meinem Tutor in Harvard, und seiner Frau Kate, mit denen ich seit über 40 Jahren befreundet bin, Stanley Fischer, mit dem ich als Chef der Bank of Israel und langjährigem Freund vertrauensvoll verkehren und diskutieren konnte, Charles Goodhart, der mit mir mehrere Jahre lang die Financial-Markets-Gruppe der LSE leitete und dessen Sachkenntnis und Urteilsvermögen im Zentralbankgeschäft legendär ist, Otmar Issing, der intellektuellen Leitfigur in den heiklen Anfangsjahren der Europäischen Zentralbank, Larry Summers, dessen brillanter Intellekt und dessen Originalität in der politischen Analyse ihresgleichen suchen, und John Vickers, der mir als Chefvolkswirt der Bank of England nachfolgte und unter dessen Vorsitz die unabhängige Bankenkommission einen höchst effektiven Bericht über die Bankenreform im Vereinigten Königreich erarbeitete. Das sind längst nicht alle, und ich kann mich nur dafür entschuldigen, dass ich nicht jeden beim Namen nenne. Sehr profitiert habe ich über viele Jahre auch von meinen Gesprächen mit Bernard Connolly, einem der klarsichtigsten Autoren zur Weltwirtschaft der vergangenen Jahre, mit Nick Stern, der mich durch seine persönliche und geistige Verbundenheit viele Jahre lang energisch unterstützt hat, mit Adair Turner, der als Vorsitzender der britischen Finanzdienstleistungsaufsicht in der Krise mit mir zusammenarbeitete und dessen Fähigkeit, in kürzester Zeit prägnante, innovative Berichte und Bücher zu verfassen, mich immer wieder in Erstaunen versetzt, und nicht zuletzt Martin Wolf, dessen Bücher und Kolumnen für die Financial Times unsere Welt in ihrer Gänze unvergleichlich aufschlussreich kommentieren.
Vorentwürfe des Manuskripts haben Alan Budd, Marvin Goodfriend, Otmar Issing, Bethany McLean, Geoffrey Miller, Ed Smith und Doktoranden der Stern School of Business ausführlich kommentiert. Ebenso hilfreich waren Besuche bei der University of Chicago, der Princeton University, der Stanford University und Seminare mit Studenten der London School of Economics. Unschätzbare Hilfe bei den Recherchen leisteten David Low, Diego Daruich und Daniel Katz.
Zu Dank verpflichtet bin ich ferner meinem Literaturagenten Andrew Wylie, dessen Zuspruch und Rückhalt für die erfolgreiche Fertigstellung dieses Projekts entscheidend waren. Ich hatte das Glück, mit Verlagen zusammenzuarbeiten, die mich geduldig und unablässig dabei unterstützten, die in diesem Buch dargelegten Ideen und Erklärungen gründlich zu durchdenken. Bei Little, Brown and Company im Vereinigten Königreich gilt mein Dank Tim Whiting, Iain Hunt und Emily Burns, bei Norton in den USA Drake McFeely, Jeff Shreve und Rachel Salzman.
Dieses Buch ist meinen vier Enkelkindern gewidmet, weil es ihre Generation ist, die ganz neu über Volkswirtschaft nachdenken und unser Geld- und Bankensystem umgestalten muss, wenn eine weitere globale Finanzkrise verhindert werden soll. Ohne meine Frau Barbara wäre dieses Buch nie begonnen und erst recht nicht zu Ende geschrieben worden. Barbara spricht mehrere Sprachen und versteht es, beim Schreiben in jeder davon die richtigen Worte zu finden. Sie war und ist meine strengste Kritikerin und meine wichtigste Stütze – vor, nach und vor allem in der Krise.
»Es war die beste und die schlimmste Zeit,
ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns,
eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens ...«
Charles Dickens, Eine Geschichte aus zwei Städten2
Die vergangenen 20 Jahre in der modernen Welt waren tatsächlich die beste und die schlimmste Zeit zugleich, wie eine Geschichte aus zwei Epochen – einer ersten des Wachstums und der Stabilität, gefolgt von der zweiten mit der schlimmsten Bankenkrise, die die industrialisierte Welt je erlebt hat. In kaum mehr als einem Jahr, zwischen August 2007 und Oktober 2008, verwandelte sich das vermeintliche Zeitalter der Weisheit in eines des Unsinns, und Glaube in Unglaube. Die größten Banken an den wichtigsten Finanzplätzen strauchelten, lösten einen weltweiten Einbruch des Vertrauens aus und zogen die schlimmste Rezession seit den 1930er-Jahren nach sich.
Wie konnte es dazu kommen? War es das Versagen Einzelner? Oder scheiterten Institutionen oder Ideen? Die Ereignisse von 2007/2008 brachten eine Flut von Artikeln und Büchern, ja, auch Theaterstücken und Filmen über die Krise hervor. Wäre die Wirtschaft nach der Krise ähnlich rasch gewachsen wie die Zahl der Bücher zum Thema, hätten wir längst wieder Vollbeschäftigung.
Die meisten Darstellungen – ob in den Medien oder seinerzeit im öffentlichen Diskurs – fokussieren sich auf die Symptome, nicht auf die eigentlichen Ursachen. Schließlich waren diese Ereignisse, so stark sie sich Betroffenen und Zuschauern auch ins Gedächtnis eingebrannt haben, lediglich die letzte einer ganzen Reihe von Finanzkrisen, seit unser bestehendes Geld- und Bankensystem nach der Industriellen Revolution im 18. Jahrhundert zum Eckpfeiler des modernen Kapitalismus wurde. Die zunehmende Verschuldung, der Zusammenbruch von Banken, die anschließende Rezession – das alles waren Anzeichen für viel tiefer sitzende Probleme unseres Finanz- und Wirtschaftssystems. Und wenn wir nicht bis zu den eigentlichen Ursachen vordringen, werden wir nie begreifen, was wirklich passiert ist. Wir werden nicht verhindern können, dass es sich wiederholt. Und wir werden nicht in der Lage sein, unseren Volkswirtschaften zu einer echten Erholung zu verhelfen. Dieses Buch beleuchtet die großen Fragen, die von der deprimierenden Regelmäßigkeit der Krisen in unserem Geld- und Bankensystem aufgeworfen werden. Warum treten sie auf? Weshalb verursachen sie so hohe Kosten durch Arbeitsplatzverluste und Produktionseinbußen? Und was können wir tun, um sie zu verhindern? Das Buch greift aber auch neue Ideen auf, die Antworten auf diese Fragen andeuten.
Im Frühjahr 2011 war ich in Peking, um mich mit einem leitenden Mitarbeiter der chinesischen Zentralbank zu treffen. Beim Abendessen im Diaoyutai State Guesthouse, wo wir zuvor Tennis gespielt hatten, sprachen wir darüber, welche Lehren sich zur Lösung der anstehenden Probleme aus der Geschichte ziehen ließen – vor allem für die größte Herausforderung: die Wiederbelebung der Weltwirtschaft nach dem Zusammenbruch des westlichen Bankensystems 2008. In Erinnerung an die apokryphe Antwort von Premierminister Zhou Enlai auf die Frage, welche Bedeutung der Französischen Revolution beizumessen sei (das könne man »noch nicht sagen«), fragte ich meinen chinesischen Kollegen, welche Bedeutung er denn der Industriellen Revolution in Großbritannien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zuordne. Er dachte lange nach. Dann entgegnete er: »In China haben wir vom Westen eine Menge darüber gelernt, wie Wettbewerb und eine Marktwirtschaft die Industrialisierung vorantreiben und einen höheren Lebensstandard herbeiführen. Das wollen wir nachmachen.« Sein Nachsatz enthielt dann eine kleine Spitze: »Aber das Geld- und Bankwesen, das habt ihr meiner Ansicht nach noch nicht richtig im Griff.«3 Diese Bemerkung war es, die mich zu diesem Buch anregte.
Seit der Krise haben sich viele daran versucht, die Schuldigen an dem verheerenden Ergebnis auszumachen. Mit dem Finger auf Einzelne zu zeigen, ist aber kontraproduktiv – verleitet es doch zu der Annahme, dass wir nie wieder eine Krise erleben werden, wenn wir die Betreffenden nur zur Rechenschaft ziehen – ganz gleich, wie viele es sind. Ach, wenn es doch nur so einfach wäre. Eine ganze Generation der klügsten und fähigsten Köpfe wurde ins Bankgewerbe gelockt, und insbesondere ins Handelsgeschäft, weil das enorme finanzielle Vorteile versprach, und weil die Arbeit, die so reiche Früchte trug, eine solche intellektuelle Herausforderung darstellte. Sie waren fatal irregeleitet. Die Krise war das Versagen eines Systems und der Ideen, die dahinterstanden – nicht das Versagen einzelner Politiker oder Banker, so inkompetent und gierig manche von ihnen zweifellos gewesen sein mochten. Es herrschte ein allgemeines Missverständnis darüber, wie die Weltwirtschaft funktioniert. Ist es angesichts der Größe und des politischen Einflusses des Bankensektors zu spät, den Geist wieder in die Flasche zu sperren? Nein – es ist nie zu spät, die richtigen Fragen zu stellen, und genau das will ich mit diesem Buch versuchen.
Wenn wir die Schuld schon nicht bei den Darstellern suchen, dann doch vielleicht bei den Drehbuchschreibern? Die wahren Schurken sind in den Augen vieler die Ökonomen. Als abstrakte und zunehmend mathematische Disziplin wird der Wirtschaftswissenschaft ein Versagen angelastet, weil sie die Krise nicht vorhergesehen hat. Das ist ein bisschen so, als würden wir die Naturwissenschaft für das wiederholte Auftreten von Naturkatastrophen verantwortlich machen. Allerdings müssten wir den Wissenschaftlern aber vorwerfen, wenn falsche Theorien die Wahrscheinlichkeit solcher Katastrophen erhöhten oder den Eindruck erweckten, als könnten keine auftreten. Eines der Argumente dieses Buches ist, dass die Wirtschaftswissenschaft Denkrichtungen Vorschub geleistet hat, die Krisen wahrscheinlicher machten. Das haben sich die Ökonomen selbst zuzuschreiben, weil sie vorgeben, Prognosen stellen zu können. So leicht lässt sich eine unerforschbare Zukunft aber nicht vorhersagen, auch nicht für Ökonomen. Trotz aller Kritik liefert uns die moderne Wirtschaftswissenschaft eine klare, hilfreiche Weltanschauung. Doch kein Fachgebiet kann auf seinem Stand verharren, und die Wirtschaftswissenschaft muss sich aufgrund der schlimmen Krisenerfahrung verändern – womöglich radikal. Eine brauchbare Theorie für die heutige Zeit erfordert eigenständiges Denken. Wir müssen auf den Schultern der Riesen der Vergangenheit stehen – nicht vor ihnen auf den Knien liegen.
Volkswirtschaften, die in der Lage sind, Menschen auf den Mond zu schicken und außergewöhnlich komplexe und innovative Waren und Dienstleistungen zu produzieren beziehungsweise zu erbringen, haben offenbar Schwierigkeiten, das viel profanere Problem des Umgangs mit dem Geld- und Bankwesen zu meistern. Die Häufigkeit und vor allem anderen die Schwere der Krisen hat, wenn überhaupt, im Lauf der Zeit eher zu- als abgenommen. Auf dem Höhepunkt der Krise im Oktober 2008 schulterten Nationalstaaten die Verantwortung für alle Anleihen und Verbindlichkeiten des globalen Bankensystems. Bilanziell war das Bankensystem praktisch verstaatlicht worden, jedoch ohne kollektive Kontrolle über das operative Geschäft. Diese staatliche Rettungsaktion kann nicht einfach unter den Teppich gekehrt werden. Als es hart auf hart ging, durfte genau der Sektor, der stets die Vorzüge der Marktdisziplin gepriesen hatte, weitermachen, obwohl er dafür auf die Unterstützung der Steuerzahler angewiesen war. Die Kreditwürdigkeit von Staaten stand auf dem Spiel und ging in manchen Fällen, etwa in Island und Irland, verloren. Gott mag das Universum geschaffen haben, doch wir Sterblichen schufen Papiergeld und risikobehaftete Banken. Sie sind menschliche Erfindungen und wichtige Quellen der Innovation, des Wohlstands und wesentlichen Fortschritts, aber auch der Gier, der Korruption und der Krisen. Auf Gedeih und Verderb haben sie maßgebliche Auswirkungen auf das Wohlergehen der Menschen.
In der Geschichte der Neuzeit gelten Banken nicht ohne Grund als die magischen Elemente, die uns aus einem stagnierenden Feudalsystem befreiten und die Entstehung dynamischer Märkte zuließen, welche in der Lage waren, die langfristigen Investitionen vorzunehmen, um eine wachsende Wirtschaft zu tragen.
Die Idee, dass Papiergeld Gold und Edelmetalle mit Substanzwert ersetzen könnte, und dass Banken sichere kurzfristige Einlagen hereinnehmen und sie in langfristige riskante Investments umwandeln könnten, kam mit der Industriellen Revolution im 18. Jahrhundert auf. Sie war ebenso revolutionär wie abgrundtief verführerisch. Das war nichts anderes als Finanzalchemie – die Erschaffung gewaltiger finanzieller Kräfte, die der Realität und dem gesunden Menschenverstand zuwiderliefen. Das Streben nach diesem monetären Elixier brachte eine Reihe von Wirtschaftskatastrophen mit sich – von Hyperinflationen bis zum Kollaps von Banken. Warum haben sich Geld- und Bankwesen, die Alchemisten einer Marktwirtschaft, in ihre Achillesferse verwandelt?
Diese Frage soll das vorliegende Buch beantworten. Es erläutert zunächst, warum die Fehlschläge einer modernen kapitalistischen Wirtschaft von unserem Geld- und Bankensystem herrühren, erörtert die Folgen für die Gesamtwirtschaft und lotet schließlich aus, wie wir die Alchemie ausmerzen können. Unsere Vorstellungen vom Geld- und Bankwesen sind ebenso ein Produkt unserer Zeit wie unsere politische Praxis und unsere Sicht auf die Vergangenheit. Die Depressions-, Hyperinflations- und Kriegserfahrung des 20. Jahrhunderts veränderte die Welt und die Weltanschauung der Wirtschaftswissenschaftler. Vor der Weltwirtschaftskrise in den frühen 1930er-Jahren sahen die Zentralbanken und Regierungen ihre Rolle in der Stabilisierung des Finanzsystems und im Haushaltsausgleich. Nach der Weltwirtschaftskrise richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung. Doch die Zuversicht der Nachkriegszeit, die keynesianischen Ideen – die Steigerung der Gesamtnachfrage in der Wirtschaft durch Staatsausgaben – würden verhindern, dass wir vergangene Fehler wiederholen, sollte sich als rührend naiv erweisen. Die expansive Politik der 1960er-Jahre, noch verschärft durch den Vietnamkrieg, führte zur großen Inflation der 1970er-Jahre, die mit schleppendem Wachstum und steigender Arbeitslosigkeit einherging – eine Mischung, die auch »Stagflation« genannt wurde. Die direkte Folge war, dass die Zentralbanken als unabhängige Institutionen wiedererstanden, die der Preisstabilität verpflichtet waren. Das funktionierte so gut, dass in den 1990er-Jahren nicht nur die Inflation auf ein seit einer ganzen Generation beispielloses Niveau zurückging, sondern auch die Zentralbanken und ihre Chefs für das Einläuten eines Zeitalters des Wirtschaftswachstums bei niedriger Inflation gepriesen wurden – die große Stabilität oder große Mäßigung. Politiker huldigten am Finanzaltar, brachten Gaben in Form laxer Vorschriften dar und empfingen im Gegenzug Unterstützung und mitunter auch Wahlkampfspenden. Dann kam der Absturz: die ersten Anzeichen, dass manche Banken 2007 keinen Zugang zu kurzfristiger Finanzierung mehr fanden; 2008 dann der Zusammenbruch des Bankensystems der industrialisierten Welt; im Anschluss die große Rezession, und die immer verzweifelteren Versuche der Politik, eine Erholung zu inszenieren. Heute befindet sich die Weltwirtschaft nach wie vor in der Depression. Begeisterung für politische Anreize ist wieder en vogue, und das Rad hat sich einmal um sich selbst gedreht.
Die Rezession trifft Menschen, die für unsere aktuelle Misere nicht verantwortlich sind, und diese sind verständlicherweise ergrimmt. Dieser Zorn muss kanalisiert werden in eine eingehende Analyse darüber, was schiefgelaufen ist, und in die Entschlossenheit, die Dinge geradezurücken. Die Wirtschaft hat ein Verhalten gezeigt, dass wir so nicht erwartet haben, und es werden neue Ideen gebraucht, wenn wir verhindern sollen, dass sich die große Rezession wiederholt, und wenn wir den Wohlstand wiederherstellen wollen.
Es wurden bereits viele Berichte und Erinnerungen zur Krise veröffentlicht. Die Titel sind zahlreich, tragen aber alle denselben unsichtbaren Untertitel: »Wie ich die Welt rettete«. Obwohl ich im Interesse der Transparenz zwar klarstellen sollte, dass ich ein Handlungsträger in dem Drama war – ich war zehn Jahre lang Gouverneur der Bank of England, von 2003 bis 2013, sowohl während der großen Stabilität als auch während der Bankenkrise, der anschließenden großen Rezession und der einsetzenden Erholung –, handelt es sich hierbei nicht um eine Reminiszenz an die Krise mit Enthüllungen über vertrauliche Gespräche und im Verborgenen ausgetragene Konflikte. Natürlich hat es diese gegeben – wie immer im Leben. Doch die Frage, wer wann was zu wem gesagt hat, darf getrost und ordnungsgemäß leidenschaftslosen, objektiven Historikern überlassen bleiben, die die ihnen verfügbaren Indizien sondieren und abwägen können, wenn ausreichend Zeit verstrichen ist und alle einschlägigen offiziellen und inoffiziellen Dokumente bereitgestellt wurden. Unmittelbare Erinnerungen, ob von Politikern oder Amtsträgern, sind in aller Regel parteiisch und eigennützig. Ich sehe wenig Sinn darin, zu versuchen, Dinge richtigzustellen, wenn doch jede meiner Äußerungen naturgemäß eigenen Interessen zu dienen scheint. Meine eigenen Unterlagen zu den Ereignissen und die zugehörigen Papiere der Bank werden den Historikern zugänglich gemacht, sobald die 20-Jahres-Regelung ihre Veröffentlichung erlaubt.
In diesem Buch geht es um wirtschaftliche Konzepte. Während meiner Amtszeit bei der Bank of England zeigte sich, dass Ideen Regierungen und ihre Politik beeinflussen – zum Guten wie zum Schlechten. Die Einführung der Inflationsziele Anfang der 1990er-Jahre und die der Bank of England 1997 zugestandene Unabhängigkeit sind herausragende Beispiele dafür. Wirtschaftswissenschaftler sorgten für intellektuelle Stringenz in der Wirtschaftspolitik und insbesondere im Zentralbankgeschäft. Doch meiner Erfahrung bei der britischen Notenbank nach offenbarten sich auch die Unzulänglichkeiten der »Modelle« – ob in Form verbaler Beschreibungen oder mathematischer Gleichungen –, die von den Ökonomen herangezogen wurden, um Trendwenden bei den Gesamtinvestitionen oder der Produktion zu erklären. Vor allem sagten solche Modelle nichts aus über die Bedeutung des Geldes und der Banken und des ganzen Spektrums der Finanzmärkte, die in der Presse und auf dem Bildschirm so viel Raum einnehmen. Hat das intellektuelle Bezugssystem der Wirtschaft, das dem zeitgenössischen Denken zugrunde liegt, eine fundamentale Schwachstelle?
Eine Ergründung verschiedener dieser grundlegenden Fragen erfordert keine technische Darstellung, und ich habe bewusst darauf verzichtet. Natürlich verwenden Wirtschaftsfachleute mathematische und statistische Methoden, um eine komplexe Welt zu verstehen – alles andere wäre fahrlässig. Die Wirtschaftswissenschaft ist eine intellektuelle Disziplin, in der Aussagen nicht nur plausibel sein müssen, sondern auch schlüssige logische Beweise erfordern. Dennoch findet sich in diesem Buch keine Mathematik.4 Es ist in (hoffentlich) verständlicher Sprache geschrieben und beruft sich auf Beispiele aus dem wirklichen Leben. Es wäre mir zwar durchaus recht, wenn meine Ökonomenkollegen dieses Buch läsen – in der Hoffnung, dass sie ein paar der darin präsentierten Ideen weiterentwickeln –, doch das Zielpublikum sind Leser, die kein wirtschaftswissenschaftliches Studium absolviert haben, aber Interesse am Thema mitbringen.
In diesem Buch werde ich die eigentlichen Ursachen der Krise erläutern und aufzeigen, wie die Weltwirtschaft aus dem Gleichgewicht geriet; wie sich in früheren Gesellschaften das Geld entwickelte und welche Rolle es heute spielt; warum die Fragilität unseres Finanzsystems direkt mit dem Umstand zusammenhängt, dass die Banken die Hauptquelle der Geldschöpfung sind; warum Zentralbanken künftig anders auf Krisen reagieren müssen; warum Politik und Geld Hand in Hand gehen; warum die Welt vermutlich mit einer weiteren Krise konfrontiert wird, wenn die Staaten keine andere Politik verfolgen; und vor allem anderen, wie wir die Alchemie in unserem aktuellen Geld- und Bankwesen beenden können.
Mit Alchemie meine ich die Überzeugung, dass sich alles Papiergeld bei Bedarf in Rohstoffe mit Substanzwert wie Gold verwandeln lässt und dass Geld auf der Bank jederzeit abgehoben werden kann, wenn es der Einleger will. Das Vertrauen in das Papiergeld beruht auf der Fähigkeit und Bereitschaft der Staaten, ihre Befugnis, Geld zu drucken, nicht zu missbrauchen. Bankeinlagen liegen langfristige risikobehaftete Darlehen zugrunde, die sich nicht ohne Weiteres in Geld umwandeln lassen. Jahrhundertelang war Alchemie die Basis unseres Geld- und Bankensystems.5 Wie dieses Buch belegt, können wir die Alchemie beenden, ohne auf die enormen Vorzüge verzichten zu müssen, die Geld- und Bankwesen einer kapitalistischen Wirtschaft bringen.
Vier Begriffe tauchen in diesem Buch immer wieder auf: Ungleichgewicht, radikale Ungewissheit, das Gefangenendilemma und Vertrauen. Vielen sind diese Konzepte vertraut, nicht unbedingt jedoch der Kontext, in dem ich sie verwende. Ihre Bedeutung klärt sich im Zuge meiner Argumentation. Dennoch könnte es sinnvoll sein, eine kurze Definition und Erklärung vorauszuschicken.
Ein Ungleichgewicht ist die Abwesenheit eines Gleichgewichtszustands zwischen den auf ein System einwirkenden Kräften. Auf die Wirtschaftswissenschaft angewendet ist ein Ungleichgewicht eine unhaltbare Position. Das heißt, dass es irgendwann zu einer tiefgreifenden Veränderung der Investitions- und Produktionsmuster kommt, wenn die Wirtschaft zu einem neuen Gleichgewicht findet. Der Begriff beschreibt präzise die Entwicklung der Weltwirtschaft seit dem Fall der Berliner Mauer, um die es im ersten Kapitel geht.
Radikale Ungewissheit bezieht sich auf eine so tiefgreifende Unsicherheit, dass es unmöglich ist, die Zukunft als bekannte und erschöpfende Liste möglicher Ergebnisse darzustellen, denen wir Wahrscheinlichkeiten zuordnen können. Üblicherweise gehen Ökonomen davon aus, dass »rationale« Menschen solche Wahrscheinlichkeiten ermitteln können. Doch wenn Unternehmen Investitionen tätigen, dann nicht, indem sie Würfel fallen lassen, die statt Zahlen bekannte und finite Ergebnisse tragen. Sie sind vielmehr mit einer Zukunft konfrontiert, in der die Möglichkeiten ebenso grenzenlos wie unvorstellbar sind. Fast alles, was unser modernes Leben ausmacht und was wir als selbstverständlich erachten, wie Autos, Flugzeuge, Computer und Antibiotika, war einst unvorstellbar. Die wesentliche Herausforderung, vor der alle stehen, die in einer kapitalistischen Wirtschaft leben, liegt in der Unfähigkeit, sich auszudenken, was die Zukunft bringen könnte. Dass es nicht gelungen ist, radikale Ungewissheit in die Wirtschaftstheorien einfließen zu lassen, war ein Faktor, der zu den Fehlurteilen beitrug, die in die Krise führten.
Das Gefangenendilemma lässt sich definieren als die Schwierigkeit, das optimale Ergebnis zu erzielen, wenn es Hindernisse für die Kooperation gibt. Stellen Sie sich zwei Inhaftierte vor, die in verschiedenen Zellen im Gefängnis sitzen. Beiden wird derselbe Deal angeboten: Wenn sie sich bereit erklären, gegen den anderen auszusagen, erhalten sie ein mildes Urteil. Weigern sie sich, werden sie strenger bestraft, wenn sie vom anderen beschuldigt werden. Belastet keiner den anderen, werden beide freigesprochen.6 Das optimale Ergebnis wäre, dass beide die Aussage verweigern. Doch wenn keine Absprache möglich ist, erschwert das die Entscheidung. Sie können nur dann sicher sein, einer harten Strafe zu entgehen, wenn sie gegen den anderen aussagen. Tun das beide, kommen beide mit einem glimpflichen Urteil davon. Doch durch Kooperation ließe sich ein befriedigenderes Ergebnis erzielen. Aus der Schwierigkeit, zusammenzuarbeiten, ergibt sich das Gefangenendilemma. Solche Probleme sind der Schlüssel zum Verständnis des gesamtwirtschaftlichen Verhaltens (das Fachgebiet der Makroökonomie) und zur Klärung der Frage, wie wir in die Krise geraten sind und wie wir jetzt auf eine dauerhafte Erholung zusteuern können. Die folgenden Seiten liefern noch viele Beispiele dafür. Eine Lösung des Gefangenendilemmas in einer kapitalistischen Wirtschaft ist die Grundvoraussetzung dafür, unser Geschick zu begreifen und zum Positiven zu wenden.
Vertrauen ist das Element, das die Marktwirtschaft funktionieren lässt. Wie könnten wir Auto fahren, essen oder auch kaufen und verkaufen, ohne anderen zu vertrauen? Ohne Vertrauen wäre das Alltagsleben unmöglich: Wir teilen Fremden unsere Kreditkartendaten mit und essen in Restaurants, die wir zuvor noch nie besucht haben. Natürlich wird Vertrauen durch Regulierung ergänzt – Betrug ist ein Verbrechen, und Restaurantküchen unterliegen Kontrollen. Doch eine Wirtschaft funktioniert mit Vertrauen effizienter als ohne. Vertrauen ist die Lösung für das Gefangenendilemma. Es ist ein zentraler Faktor für die Funktion von Geld und Banken und für die Institutionen, die unsere Wirtschaft steuern. Vor langer Zeit betonte Konfuzius die entscheidende Rolle von Vertrauen in die Obrigkeit: »Dsï Gung fragte nach (der rechten Art) der Regierung. Der Meister sprach: ›Für genügend Nahrung, für genügende Wehrmacht und für das Vertrauen des Volkes (zu seinem Herrscher) sorgen.‹ Dsï Gung sprach: ›Wenn man aber keine Wahl hätte, als etwas davon aufzugeben: auf welches von den drei Dingen könnte man am ehesten verzichten?‹ (Der Meister) sprach: ›Auf die Wehrmacht.‹ Dsï Gung sprach: ›Wenn man aber keine Wahl hätte, als auch davon eines aufzugeben: auf welches der beiden Dinge könnte man am ehesten verzichten?‹ (Der Meister) sprach: ›Auf die Nahrung. Von alters her müssen alle sterben; wenn aber das Volk keinen Glauben hat, so läßt sich keine (Regierung) aufrichten.‹«7
Diese vier Konzepte ziehen sich durch dieses Buch und machen uns begreiflich, wie es zur Alchemie im Geld- und Bankwesen kam, und wie wir diese Alchemie verringern oder sogar ganz ausmerzen können.
Als ich 2013 aus der Bank of England ausschied, beschloss ich, den Fehlern in der Theorie und Praxis des Geld- und Bankwesens auf die Spur zu kommen und ihre Zusammenhänge mit der Gesamtwirtschaft zu ergründen. Im Zuge dessen vertiefte ich mich immer mehr in die grundlegenden wirtschaftswissenschaftlichen Fragestellungen. Ich gelangte zu der Überzeugung, dass wir makroökonomisch radikal umdenken müssen – und ebenso in der Frage der Wirtschaftssteuerung durch die Zentralbanken. Eine wesentliche Funktion einer Marktwirtschaft ist der Brückenschlag zwischen Gegenwart und Zukunft und die Koordination von Entscheidungen zu Investitionen und Produktion, und zwar nicht nur für heute, sondern auch für morgen und die Folgejahre. Familien bilden Ersparnisse, wenn die Zinsen hoch genug sind, um die angeborene Ungeduld zu überwinden, Geld lieber heute als morgen auszugeben. Unternehmen investieren in Produktionskapital, wenn die voraussichtliche Rendite die Finanzierungskosten übersteigt. Und Wirtschaftswachstum erfordert Ersparnisse und Investitionen, damit das Produktionskapital zunimmt und so die potenzielle künftige Wirtschaftsleistung steigt. In einer gesunden Wachstumswirtschaft liegen alle drei Größen – die Sparzinsen, die Rendite von Investitionen und die Wachstumsrate – deutlich über null. Heute jedoch verharren die Zinsen auf außergewöhnlich niedrigem Niveau. Das schreckt nicht nur Sparer ab, die die künftige Nachfrage sichern, sondern es lässt – falls diese Entwicklung unbegrenzt anhält – Ressourcen in unrentable Projekte abfließen. Beide Effekte werden die Wachstumsraten künftig dämpfen. Diesen Weg haben wir bereits eingeschlagen. Wie es scheint, gelingt unserer Marktwirtschaft der Brückenschlag zwischen Gegenwart und Zukunft zurzeit nur bedingt.
Dafür gibt es meines Erachtens zwei Gründe. Erstens ist es von Natur aus problematisch, eine bekannte Gegenwart mit einer unbekannten Zukunft zu verknüpfen. Radikale Ungewissheit stellt eine Marktwirtschaft vor ein unlösbares Problem: Wie sollen wir Märkte für Waren und Dienstleistungen hervorbringen, die wir uns jetzt noch gar nicht vorstellen können? Geld- und Bankwesen sind Teil der marktwirtschaftlichen Reaktion auf diese Herausforderung. Zweitens wird die gängige Meinung dazu unterschätzt, wie Staaten und Zentralbanken die Wirtschaft stabilisieren sollten, welche Bedeutung radikale Ungewissheit für die gelegentliche Entstehung eines großen Ungleichgewichts hat. Krisen kommen nicht von ungefähr. Sie sind die Folge unvermeidlicher Fehler von Menschen, die sich bemühen, mit einer unbekannten Zukunft zurande zu kommen. Beide Probleme haben gravierende Auswirkungen und werden in den Folgekapiteln noch eingehender beleuchtet.
Aus meinen Ansichten sprechen unweigerlich die beiden Seiten meines beruflichen Werdegangs, die eine in der Wissenschaft, als Student im englischen Cambridge und Kennedy-Stipendiat in Harvard im anderen Cambridge, gefolgt von Positionen in der Lehre auf beiden Seiten des Atlantiks. Ich erlebte aus erster Hand, wie sich die Makroökonomie von der literarischen Exposition – die Aussagen plausibel erscheinen ließ, doch nie vollständig überzeugend – zur mathematischen Disziplin entwickelte – deren Aussagen logisch überzeugten, doch nie so richtig plausibel waren. Erst während der Krise von 2007 bis 2009 erkannte ich im Rückblick, welcher Art die Spannungen zwischen den verbleibenden Anhängern von John Maynard Keynes waren, die mich in den 1960er-Jahren unterrichteten, allen voran Richard Kahn und Joan Robinson, und dem Eintrag von Mathematikern und Wissenschaftlern in eine Thematik, die im selben Zeitraum für die rasche Expansion der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten sorgte. Die »Keynesianer« der alten Schule waren der irrtümlichen Ansicht, dass das Werk eines großen Denkers der Weisheit letzter Schluss war, und infolgedessen ging ihr Einfluss zurück. Die Neuzugänge brachten mathematische Disziplin in ein Fachgebiet, das sich selbst seiner Stringenz rühmte. Doch in der Begeisterung für die Vorstellung, dass rationale Menschen die Wirtschaft zu einem effizienten Gleichgewicht führen würden, ging die informelle Analyse des Ungleichgewichts von Volkswirtschaften, der radikalen Ungewissheit und des Vertrauens als Lösung für das Gefangenendilemma unter. Es ist an der Zeit, diese Konzepte ernster zu nehmen.
Die zweite Hälfte meiner Karriere umfasste 22 Jahre bei der Bank of England, der ältesten ununterbrochen tätigen Zentralbank der Welt, von 1991 bis 2013, als Chefvolkswirt, stellvertretender Vorsitzender und zuletzt als Vorsitzender. Dort hatte ich auf jeden Fall Gelegenheit, zu sehen, wie Geld verwaltet werden konnte. Ich erfuhr und vertrat auch öffentlich, dass dies nicht dadurch am besten geschieht, dass man sich auf fähige Köpfe verlässt, die ihre persönlichen Wunder vollbringen, sondern indem man Institutionen konzipiert und aufbaut, die von Menschen geleitet werden, die schlicht ihr Handwerk verstehen. Natürlich sind Einzelne bedeutsam und können viel bewirken, vor allem in einer Krise. Doch die Macht der Märkte – des Abbilds Hunderttausender von Investoren aus aller Welt – ist jedem Einzelnen, ob Zentralbanker oder Politiker, gewachsen, der sich einbildet, der wirtschaftlichen Arithmetik trotzen zu können. Wie ein Berater von Präsident Clinton anmerkte: »Früher dachte ich immer, wenn es die Wiedergeburt gibt, dann würde ich gerne als der Präsident oder der Papst zurückkommen, oder als Baseballstar. Jetzt möchte ich als Rentenmarkt wiedergeboren werden. Der kann nämlich jeden das Fürchten lehren.«8 Und diese Feststellung ist heute noch so zutreffend wie vor 20 Jahren, als er sie äußerte.
2012 machte ich die erste Radiodurchsage eines Gouverneurs der Bank of England in Friedenszeiten, seit Montagu Norman im März 1939, nur Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, auf BBC sprach. Als Norman den Sender verließ, wurde er von Demonstranten der British Social Credits Party bedrängt, die Flaggen und Transparente trugen mit der Aufschrift: SCHICKT ALS ERSTES DIE BANKER AN DIE FRONT! Auch 2012 kochten die Gefühle hoch. Die Folgen der Ereignisse von 2007 bis 2009 sind nach wie vor präsent, und der Zorn über ihre Effekte auf die Normalbürger ist unvermindert. Diese Katastrophe hat sich langsam entwickelt, und ihre Bereinigung wird ebenso lange dauern. Doch die Kosten in Form von entgangenem Output und Beschäftigung, die durch unser anhaltendes Versagen beim Management des Geld- und Bankwesens und der Verhütung von Krisen anfallen, sind zu hoch, als dass wir es auf eine weitere Krise ankommen lassen könnten. Wir müssen vorher handeln, um künftige Generationen zu schützen.
Charles Dickens’ Roman Eine Geschichte aus zwei Städten beginnt nicht nur mit einem berühmten Satz, sondern endet auch mit einem solchen. Als sich Sydney Carton für einen anderen auf der Guillotine opfert, sinniert er: »Es ist etwas weit, weit Besseres, was ich tue, als was ich je getan habe …«9 Wenn wir einen Weg finden können, die Alchemie des Geld- und Bankensystems zu beenden, die wir ererbt haben, so ist das, zumindest in der Welt der Wirtschaft, tatsächlich weit, weit besser als alles, was wir je getan haben.
2 Berlin: Insel Verlag, 2011.
3 Dass das auch für China galt, musste er nicht eigens hinzufügen.
4 Zu viele einfältige Kritiker der Wirtschaftswissenschaft äußern sich abfällig über den Einsatz von Mathematik. Doch, wie der große britische Ökonom Alfred Marshall geschrieben hat: »(1) Verwende die Mathematik eher als Kurzschrift denn als Instrument der Untersuchung. (2) Halte dich daran, bis du fertig bist. (3) Übersetze ins Englische. (4) Illustriere das Ganze mit Beispielen, die im realen Leben eine Rolle spielen. (5) Verbrenne die Mathematik. (6) Wenn dir (4) nicht gelingt, verbrenne (3).« (Marshall, 1906; deutsche Übersetzung s. Diana Coyle, Sex, Drugs & Economics, Campus, Frankfurt, 2004, S. 252).
5 In einem Kommentar zu Goethes großartigem Stück Faust schrieb Hans Binswanger unter bewusster Anspielung auf Clausewitz, »Die moderne Wirtschaft ist eine Fortsetzung der Alchemie mit anderen Mitteln.« (Binswanger, 1994, S. 33; deutsche Übersetzung s. Hans Christoph Binswanger, Eine ökonomische Deutung von Goethes Faust, Murmann, Hamburg, 2005, S. 51). Clausewitz’ bekanntes Wort war, der Krieg sei eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.
6 Dies ist eine vereinfachte Variante des klassischen Gefangenendilemmas, in dem es vier mögliche Szenarien gibt: Straffreiheit, mildes, mittleres und hartes Urteil. Bei diesem »Spiel« steht die Strategie im Vordergrund, den anderen zu belasten, während in meinem Beispiel eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, dass Verschwiegenheit am meisten bringt.
7 Waley (1938), xii, 7, S. 164; deutsche Übersetzung unter http://www.zeno.org/Philosophie/M/Kong+Fu+Zi+(Konfuzius)/Lunyu+-+Gespr%C3%A4che/Buch+XII/7.+Staatsregierung/1.+Vertrauen
8 James Carville, berichtet im Wall Street Journal (25. Februar 1993, S. A1).
9http://gutenberg.spiegel.de/buch/eine-geschichte-von-zwei-stadten-7744/47.
»Ich für meinen Teil bin der Ansicht,
dass ein klug geleiteter Kapitalismus die wirtschaftlichen Aufgaben
wahrscheinlich besser erfüllen wird als irgendein anderes,
vorläufig in Sicht befindliches System.«
John Maynard Keynes, Das Ende des Laissez-Faire (1926)
»Die Erfahrung eines katastrophalen Fehlers ist heilsam;
sie sollte keinem Volkswirtschaftler versagt bleiben,
und in der Tat bleibt sie nur wenigen erspart.«
John Kenneth Galbraith, Leben in entscheidender Zeit (1982)10
Geschichte ist, was vor der eigenen Geburt passierte. Deshalb ist es auch so schwer, aus der Geschichte zu lernen: Die Fehler wurden von einer früheren Generation begangen. Als Student in den 1960er-Jahren wusste ich, warum die 1930er-Jahre so eine schlimme Zeit gewesen waren. Die Entscheidungen von Regierungen und Zentralbanken waren von überholten wirtschaftlichen Konzepten geleitet worden, und die Schlüsselfiguren wurden von zeitgenössischen Aufnahmen als alte Käuze mit Backenbärten und Hüten entlarvt, die keine Ahnung von moderner Wirtschaftswissenschaft hatten. Eine jüngere Generation in Forschung, Lehre und Regierung, die eine moderne wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung genossen hatte, würde sicherstellen, dass sich eine solche Krise niemals wiederholen konnte.
In den 1960er-Jahren schien alles möglich. Alte Ideen und Konventionen wurden über Bord geworfen und eine neue Welt eingeläutet. Der Zustrom von Mathematikern, Technikern und Physikern brachte einen neuen, wissenschaftlichen Ansatz in die Ökonomie, die der Philosoph und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts Thomas Carlyle als »trostlose Wissenschaft« bezeichnet hatte.11 Das stellte nicht nur ein besseres wirtschaftswissenschaftliches Verständnis in Aussicht, sondern auch eine bessere Wirtschaftsleistung.
In den folgenden 50 Jahren erlebten wir viel Unterschiedliches. In diesem Zeitraum konnte sich das Nationaleinkommen in den Industrieländern mehr als verdoppeln, und in den sogenannten Entwicklungsländern wurden Millionen von Menschen aus extremer Armut gehoben. Dennoch folgte auf die galoppierende Inflation der 1970er-Jahre von 2007 bis 2009 die größte Finanzkrise aller Zeiten. Wie sollen wir das verstehen? War die Nachkriegszeit nun ein Erfolg oder ein Fehlschlag?
Die Geschichte des Kapitalismus ist eine Geschichte des Wachstums und des steigenden Lebensstandards, unterbrochen durch Finanzkrisen, die zumeist von unserem Missmanagement des Geld- und Bankenwesens herrührten. Mein chinesischer Kollege hatte eine gewichtige, nachgerade profunde Wahrheit ausgesprochen. Die Finanzkrise von 2007 bis 2009 (im Folgenden »die Krise«) war nicht bestimmten Personen oder wirtschaftspolitischen Richtungen anzulasten. Sie war vielmehr die neueste Manifestation unseres kollektiven Versagens im Management der Beziehung zwischen dem Finanzwesen – also der Struktur des Geld- und Bankwesens – und einem kapitalistischen System. Dass dies nicht wahrgenommen wird, erklärt, warum sich die meisten Berichte zur Krise auf die Symptome fokussieren, nicht auf die eigentlichen Ursachen für die Fehlentwicklungen. Dass wir das alles noch nicht richtig einordnen, bedeutet aber nicht, dass eine kapitalistische Wirtschaft zu Instabilität und zum Scheitern verurteilt ist. Es bedeutet lediglich, dass wir noch gründlicher darüber nachdenken müssen, wie wir dafür sorgen können, dass sie funktioniert.
Über viele Jahre hat sich die kapitalistische Wirtschaft als erfolgreichster Weg aus der Armut und zum Wohlstand bewährt. Kapitalismus nach meinem Verständnis ist ein Wirtschaftssystem, in dem nichtstaatliche Eigentümer von Kapital Lohnempfänger einstellen, damit sie in ihren Unternehmen arbeiten, und Investitionen tätigen, die sie über Banken und Finanzmärkte finanzieren.12 Die westliche Welt hat die Einrichtungen aufgebaut, die einem kapitalistischen System zugrunde liegen – die Rechtsstaatlichkeit, um privatwirtschaftliche Verträge durchzusetzen und Eigentumsrechte zu schützen, die intellektuelle Freiheit, um innovativ zu sein und neue Ideen zu veröffentlichen, das Kartellrecht, um Wettbewerb zu fördern und Monopole zu zerschlagen, und kollektiv finanzierte Dienste und Netze, etwa für Bildung, Wasser, Strom und Telekommunikation, die die nötige Infrastruktur für eine florierende Marktwirtschaft liefern. Diese Einrichtungen sorgen für Balance zwischen Freiheit und Einschränkung und zwischen ungezügeltem Wettbewerb und Regulierung. So hat sich über die Zeit ein empfindliches Gleichgewicht herausgebildet und weiterentwickelt.13 Und es hat unseren Lebensstandard verändert. Ein Wachstum von 2,5 Prozent pro Jahr, wie es im Durchschnitt seit dem Zweiten Weltkrieg in Nordamerika und Europa erzielt wurde, verzwölffacht das Gesamtnationaleinkommen über 100 Jahre – ein wahrhaft spektakulärer Erfolg.
In den vergangenen 200 Jahren haben wir Wirtschaftswachstum zunehmend als selbstverständlich erachtet. Der schottische Philosoph und Politökonom Adam Smith, der genau in der außergewöhnlichen Zeit des wirtschaftlichen Wandels Mitte des 18. Jahrhunderts wirkte, erkannte die Quelle des Aufbruchs aus relativer wirtschaftlicher Stagnation – einer Epoche, in der die Produktivität (also die Wirtschaftsleistung pro Kopf) mehr oder minder konstant war und jede Steigerung auf der Entdeckung neuer Länder oder anderer natürlicher Ressourcen beruhte – in eine längere Zeit anhaltender Produktivitätssteigerungen: die Spezialisierung. Es war dem Einzelnen möglich, sich auf bestimmte Aufgaben zu spezialisieren – die Arbeitsteilung –, und durch die nötigen Investitionsgüter konnte er seine Produktivität auf ein Vielfaches dessen erhöhen, was ein »Alleskönner« erzielte. Dieses Argument veranschaulichte Smith durch sein mittlerweile berühmtes Beispiel von der Stecknadelfabrik:
»Ein Arbeiter … könnte, selbst wenn er sehr fleißig ist, täglich höchstens eine, sicherlich aber keine zwanzig Nadeln herstellen. Aber so, wie die Herstellung von Stecknadeln heute betrieben wird, ist sie nicht nur als Ganzes ein selbständiges Gewerbe. Sie zerfällt vielmehr in eine Reihe getrennter Arbeitsgänge, die zumeist zur fachlichen Spezialisierung geführt haben. Der eine Arbeiter zieht den Draht, der andere streckt ihn, ein dritter schneidet ihn, ein vierter spitzt ihn zu, ein fünfter schleift das obere Ende, damit der Kopf aufgesetzt werden kann. … Um eine Stecknadel anzufertigen, sind somit etwa 18 verschiedene Arbeitsgänge notwendig, die in einigen Fabriken jeweils verschiedene Arbeiter besorgen.«14
In der Fabrik, die Smith beschrieb, waren zehn Arbeiter beschäftigt, die pro Tag 48.000 Stecknadeln produzierten.
Dass bei immer mehr Aufgaben technisches Know-how zum Einsatz kam, verstärkte die Spezialisierung und steigerte die Produktivität. Die Spezialisierung ging einher mit einem wachsenden Bedürfnis nach einem Mittel zum Tausch des Lohns der Arbeit gegen eine immer größere Vielfalt von Gütern, die von anderen Spezialisten hergestellt wurden – Geld – und nach einem Weg, den Kauf der Investitionsgüter zu finanzieren, die die Spezialisierung ermöglichten – Banken. Mit der zunehmenden Spezialisierung aller Arbeiter waren mehr Maschinen und Investitionen erforderlich, um sie zu unterstützen, und Geld und Banken wurden immer bedeutsamer. Nach tausend Jahren mit einigermaßen konstanter Wirtschaftsleistung pro Kopf begann sich die Produktivität Mitte des 18. Jahrhunderts zu erhöhen und stieg langsam aber sicher immer weiter an.15 Der Kapitalismus produzierte buchstäblich Güter. Die Historiker werden sich weiter streiten, warum die Industrielle Revolution in Großbritannien ihren Ausgang nahm. Als potenzielle Gründe werden in aktuellen Artikeln das Bevölkerungswachstum, das reichliche Angebot an Kohle und Eisen, die förderlichen Institutionen, die religiösen Überzeugungen und weitere Faktoren angeführt. Doch die Entwicklung des Geld- und Bankwesens war eine notwendige Voraussetzung für den Erfolg dieser Revolution.
Fast hundert Jahre später, mit der Erfahrung der Industrialisierung und einer gewaltigen Verschiebung der Arbeit vom Land in die städtischen Fabriken im Rücken, sahen sozialistische Autoren die Dinge anders. Für Karl Marx und Friedrich Engels war die Zukunft klar. Der Kapitalismus war eine Etappe auf dem Weg vom Feudalismus zum Sozialismus. In ihrem Kommunistischen Manifest von 1848 präsentierten sie ihre Vorstellung von einem »wissenschaftlichen Sozialismus« mit ihrer deterministischen Ansicht, der Kapitalismus werde letztlich zusammenbrechen und durch Sozialismus oder Kommunismus ersetzt werden. Später, im ersten Band von Das Kapital (1867), ließ sich Marx (sehr ausführlich) über diese These aus und prognostizierte, dass die Eigner des Kapitals immer reicher werden und die exzessive Anhäufung von Kapital zu fallenden Renditen führen werde, sodass der Anreiz zu Investitionen wegfallen und die Arbeiterklasse im Elend verhaftet bleiben würde. Die britischen Industriearbeiter des 19. Jahrhunderts litten tatsächlich unter erbärmlichen Arbeitsbedingungen, wie sie Charles Dickens in seinen Romanen so bildhaft beschreibt. Doch die Tinte von Marx’ berühmtem Werk war noch nicht trocken, als die britische Wirtschaft in eine lange Phase steigender Reallöhne eintrat (also der um die Lebenshaltungskosten bereinigten Geldlöhne). Selbst die beiden Weltkriege und die dazwischen liegende Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre konnten den Anstieg von Produktivität und Reallöhnen – und weitgehend stabile Gewinnzuwächse – nicht aufhalten. Wirtschaftswachstum und steigender Lebensstandard wurden zur Norm.
Der Kapitalismus brach zwar nicht unter dem Gewicht seiner eigenen inneren Widersprüche zusammen, brachte aber auch keine wirtschaftliche Sicherheit. Im 20. Jahrhundert nagten die Extreme der Hyperinflation und der Depression in vielen kapitalistischen Volkswirtschaften am Lebensstandard und am aufgebauten Vermögen der Bürger, ganz besonders während der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren, als Massenarbeitslosigkeit vor allem in Europa neues Interesse an den Möglichkeiten des Kommunismus und der Zentralverwaltungswirtschaft entfachte. Der britische Ökonom John Maynard Keynes vertrat die Auffassung, dass staatliche Interventionen zur Unterstützung der Gesamtinvestitionen in der Wirtschaft wieder Vollbeschäftigung herbeiführen könnten, ohne dass man sich gleich gänzlich in den Sozialismus flüchten musste. Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte verbreitet die Überzeugung, dass es staatliche Planung gewesen war, die den Krieg gewonnen hatte, und dass mit ihr auch der Frieden herbeizuführen war. In Großbritannien kündigte noch 1964 die neu gewählte Labour-Regierung einen »National Plan« an. Inspiriert von einer recht naiven Version keynesianischer Ideen, war er auf Maßnahmen zur Steigerung der Nachfrage nach Gütern ausgerichtet statt auf die Fähigkeit der Wirtschaft, diese zu produzieren. Da die Nachfrage diese Fähigkeit überstieg, kam es zu Inflation. Auf der anderen Seite des Atlantiks sorgten die steigenden Kosten des Vietnamkrieges Ende der 1960er-Jahre ebenfalls für eine anziehende Inflation.
Die zunehmende Inflation übte Druck auf das international vereinbarte System aus, nach dem viele Länder seit dem Bretton-Woods-Abkommen von 1944 miteinander Handel getrieben hatten – so genannt nach der in der gleichnamigen Stadt in New Hampshire im Juli des nämlichen Jahres veranstalteten Konferenz. Das Abkommen war so konzipiert, dass es einem kriegsgeschädigten Europa den allmählichen Wiederaufbau seiner Wirtschaft und die Reintegration in das globale Handelssystem ermöglichen sollte, demzufolge die Länder ihre Zinsen selbst festsetzten, jedoch untereinander Wechselkurse vereinbarten. Um das zu ermöglichen, musste der Kapitalverkehr zwischen Ländern stark eingeschränkt werden, weil sonst das Kapital dorthin fließen würde, wo die Zinsen am höchsten waren. Das würde entweder die Zinsunterschiede oder die festen Wechselkurse unmöglich machen. Devisenkontrollen waren allgegenwärtig, und Länder begrenzten Investitionen in Fremdwährungen. Ich kann mich aus meiner Studentenzeit noch daran erinnern, dass man in den 1960er-Jahren als britischer Tourist maximal 50 Pfund mitführen durfte, um sie im Ausland auszugeben.16
Die neuen internationalen Institutionen, der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank, sollten von ihren Mitgliedern bereitgestellte Mittel verwenden, um vorübergehende Fremdwährungsengpässe zu überbrücken und die nötigen Investitionen zu finanzieren, um die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Industrie und Infrastruktur zu ersetzen. Aus diesem System sprach die Überzeugung, dass alle Länder ähnliche und niedrige Inflationsraten aufweisen würden. Man ging davon aus, dass ein Rückgang der Wettbewerbsfähigkeit eines Landes aufgrund höherer Inflation bei einem seiner Handelspartner zeitlich begrenzt wäre und von einer Deflationspolitik konterkariert würde, um die Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen, während ein kurzfristiges Handelsdefizit durch IWF-Kredite finanziert würde. Doch Ende der 1960er-Jahre zeigte sich, dass das Inflationsgefälle zwischen Ländern und insbesondere zwischen den USA und Deutschland mehr als vorübergehend war, und das führte 1970/71 zum Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems. In den frühen 1970er-Jahren hatten sich die maßgeblichen Volkswirtschaften auf ein System »freier« Wechselkurse umgestellt, in dem der Wert einer Währung durch Angebot und Nachfrage der Privatwirtschaft auf den Devisenmärkten bestimmt wurde.
Als die Wechselkurse freigegeben wurden, verringerte sich zunächst unweigerlich die Disziplin für Länder, eine niedrige Inflationsrate anzustreben. In den 1970er-Jahren erschütterten die beiden Ölschocks – 1973, als ein Embargo arabischer Staaten die Preise aufs Vierfache klettern ließ, und 1979, als sich die Preise nach Angebotsstörungen infolge der Revolution im Iran verdoppelten – die westliche Welt. Die Folge war eine große Inflation, mit jährlichen Raten von bis zu 13 Prozent in den Vereinigten Staaten und 27 Prozent im Vereinigten Königreich.17
Ab den späten 1970er-Jahren führte die westliche Welt durch, was sich aus heutiger Sicht als drei kühne Experimente zur besseren Steuerung von Geld, Wechselkursen und dem Bankensystem darstellt. Das erste Experiment bestand in deutlich unabhängigeren Zentralbanken, um die Inflation zu drücken und zu stabilisieren, was sich im Anschluss in der Politik der Inflationssteuerung manifestierte – mit dem Ziel nationaler Preisstabilität. Das zweite Experiment bezog sich auf den freien Kapitalverkehr zwischen Ländern und auf die Förderung einer Umstellung auf feste Wechselkurse innerhalb Europas, die in der Gründung der Währungsunion mündete, und in einem erheblichen Teil des wachstumsstärksten Segments der Weltwirtschaft, insbesondere in China, das seinen Wechselkurs an den US-Dollar koppelte – mit dem Ziel der Wechselkursstabilität. Das dritte Experiment schließlich war die Verringerung behördlicher Auflagen, die die Aktivitäten des Banken- und Finanzsystems einschränkten, um den Wettbewerb zu fördern und es den Banken zu ermöglichen, ihr Geschäft einerseits durch neue Produkte und Regionen breiter zu diversifizieren und andererseits auszuweiten. Das sollte Stabilität in ein Bankensystem bringen, das sich vordem durch Risiken bedroht sah, die entweder eine geografische oder eine spartenbezogene Konzentration aufwiesen – mit dem Ziel der Finanzstabilität.
Diese drei parallel durchgeführten Experimente lassen sich im Rückblick am besten anhand dreier Folgeerscheinungen beschreiben – positiver, negativer und unschöner. Die positiven Folgen offenbarten sich im Zeitraum ab etwa 1990 bis 2007 in Form einer nie dagewesenen Beständigkeit von Wirtschaftsleistung und Inflation – der großen Stabilität. Die Geldpolitik veränderte sich weltweit drastisch. Nach und nach betrieben über 30 Länder Inflationssteuerung und gestanden ihrer Zentralbank Unabhängigkeit zu. Und es gab erhebliche Veränderungen in der Inflationsdynamik, die im Schnitt deutlich nachließ, weniger stark schwankte und nicht so hartnäckig anhielt.18
Die negativen Konsequenzen äußerten sich im Anstieg der Verschuldung. Dass die Wechselkurse in Europa und in Schwellenländern unflexibel wurden, führte zu wachsenden Handelsüberschüssen und -defiziten. Manche Länder legten enorme Ersparnisse an, während andere Kredite aufnehmen mussten, um ihr Außendefizit zu finanzieren. Der Sparwillen der Erstgenannten war größer als die Ausgabebereitschaft der Letztgenannten, sodass die langfristigen Zinsen auf dem integrierten globalen Kapitalmarkt zurückgingen. Der Preis eines Vermögenswerts, ob es sich dabei um ein Haus, um Aktien eines Unternehmens oder einen anderen Anspruch an die Zukunft handelt, entspricht dem heutigen Wert der künftig erwarteten Erträge (Mieten, der Wert der Vorteile, im eigenen Heim zu leben, beziehungsweise Dividenden). Zur Errechnung dieses Preises muss der zukünftige Wert mit einem bestimmten Satz auf den Gegenwartswert abgezinst werden. Der unmittelbare Effekt eines Zinsrückgangs ist ein Anstieg der Vermögenspreise in allen Kategorien. Mit weltweit rückläufigen langfristigen Zinsen erhöhte sich daher der Wert von Vermögenswerten – allen voran Wohnimmobilien. Und mit steigendem Wert von Vermögenswerten mussten die Menschen entsprechend höhere Kredite aufnehmen, um solche Vermögenswerte zu erwerben. Von 1986 bis 2006 kletterte die Verschuldung der Haushalte in den Vereinigten Staaten von knapp 70 Prozent des gesamten Haushaltseinkommens auf fast 120 Prozent und im Vereinigten Königreich von 90 Prozent auf rund 140 Prozent.19
Die unschöne Folge schließlich war die Entwicklung eines extrem fragilen Bankensystems. In den USA erreichte die zunehmend großzügige Auslegung der Bestimmungen zur Trennung zwischen klassischem Bankgeschäft und Investmentbanking, die 1933 mit dem Bankgesetz (oft auch Glass-Steagall Act genannt, nach den beiden Senatoren, die seiner Verabschiedung Vorschub geleistet hatten) eingeführt worden war, durch die US-Bankenaufsicht mit dem Gramm-Leach-Bliley Act von 1999 ihr unausweichliches Ende. Dieses Gesetz kassierte alle verbliebenen Einschränkungen des Bankengeschäfts. Im Vereinigten Königreich führte der sogenannte Big Bang von 1986, der zunächst als Maßnahme zur Einführung von Wettbewerb an der Börse begann, zu Übernahmen kleiner Maklerhäuser und zu Fusionen zwischen Geschäftsbanken und Wertpapierunternehmen.20 Nach der Deregulierung diversifizierten die Banken ihr Geschäft rasch und expandierten zügig. In Kontinentaleuropa waren sogenannte Universalbanken lange die Norm gewesen. Das Vermögen großer internationaler Banken hatte sich in den fünf Jahren vor 2008 verdoppelt. Weil die Banken untereinander mit neuen und hochkomplexen Finanzprodukten handelten, entstand eine so enge Vernetzung, dass ein bei einem Institut auftretendes Problem rasch auf andere Banken übergreifen würde. Dadurch vergrößerten sich die Risiken statt dass sie breiter gestreut wurden.21 Banken verließen sich immer weniger auf eigene Ressourcen, um das Kreditgeschäft zu finanzieren, und wurden immer abhängiger von Fremdfinanzierung.22 Das Eigenkapital der Banken – die Mittel, die von ihren Aktionären eingebracht wurden – machte einen schrumpfenden Anteil an der Gesamtfinanzierung aus. Der Verschuldungsgrad – also das Verhältnis von Fremd- zu Eigenkapital einer Bank – beziehungsweise die Fremdkapitalquote stieg außergewöhnlich stark an. Kurz vor Einsetzen der Krise lag die Leverage Ratio bei vielen Banken bei 30 oder höher und bei manchen Investmentbanken sogar zwischen 40 und 50.23 Ein paar Banken wiesen sogar noch höhere Kennzahlen aus. Dabei reichte schon mit einer Leverage Ratio von 25 ein Wertrückgang des durchschnittlichen Vermögens einer Bank um nur 4 Prozent, um das gesamte Eigenkapital aufzuzehren. Eine solche Bank wäre dann nicht mehr in der Lage, ihre Schulden zu bedienen.
2008 verdrängten die unschönen Folgen die positiven und die negativen. Die Krise – man könnte auch sagen, die Katastrophe –, die sich 2007 vor den Augen einer ungläubigen Welt abspielte, bestand im Scheitern aller drei Experimente. Die an sich durchaus erstrebenswerte größere Stabilität von Wirtschaftsleistung und Inflation verschleierte die Entstehung eines maßgeblichen Ungleichgewichts in der Zusammensetzung der Ausgaben. Manche Länder sparten zu wenig und nahmen zu viel Kredit auf, um ihren Ausgabeplan künftig aufrechtzuerhalten, während andere so viel sparten und verliehen, dass ihr Konsum auf untragbares Niveau zurückging. Das gesamte globale Sparaufkommen war so hoch, dass die Zinsen inflationsbereinigt auf ein Niveau fielen, das auf lange Sicht mit einer rentablen, wachsenden Marktwirtschaft unvereinbar war. Feste Wechselkurse erschwerten die Schuldenlast, und die 1999 erfolgende Gründung der Währungsunion in Europa zehrte an den Kräften vieler europäischer Volkswirtschaften, da sie immer mehr an Wettbewerbsfähigkeit einbüßten. Große, fremdkapitallastige Banken erwiesen sich als instabil und gerieten bereits durch einen nur geringen Vertrauensverlust unter Druck. Es kam zu Ansteckungseffekten unter den Banken und 2008 zum Zusammenbruch des Systems.