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Jugendliche Gewalttäter – sie werden immer brutaler und jünger. Viele Menschen meiden mittlerweile bestimmte Straßen, Plätze und Stadtviertel sowie nächtliche Fahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln. Eltern und Lehrer fürchten die Gewalt in ihren Schulen, Polizei und Sozialarbeiter kommen an ihre Grenzen. Die unbequeme und mutige Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig war schon lange nicht mehr bereit, dies hinzunehmen: "Wenn wir nicht rasch und konsequent handeln, wenn wir unsere Rechts- und Werteordnung nicht entschlossen durchsetzen, werden wir den Kampf gegen die Jugendgewalt verlieren." In den letzten Jahren haben sich die von ihr zu Recht angeprangerten Zustände republikweit nicht verbessert, sondern verschärft. Der unkontrollierte Zustrom von unbegleiteten jungen Flüchtlingen in den letzten zwei Jahren wird die Situation weiterhin verschärfen. "Seit zwanzig Jahren arbeite ich in der Berliner Strafjustiz. Die längste Zeit war und bin ich als Jugendrichterin tätig. Meine Aufgabe besteht darin, Strafverfahren gegen junge Menschen zu bearbeiten. Ich übe meinen Beruf nach wie vor mit Überzeugung aus und möchte sinnvolle Entscheidungen treffen, die einerseits zur Reduzierung der Jugendkriminalität beitragen und andererseits dem Menschen, der sich vor Gericht zu verantworten hat, die Chance eröffnen, ein Leben ohne Straftaten zu führen. Seit längerer Zeit habe ich nicht mehr den Eindruck, beiden Zielen gerecht werden zu können." (Kirsten Heisig) Das ebenso provokante wie sachkundige Buch von Kirsten Heisig erschien bereits im Jahr 2010 und war ein Bestseller. Doch ist es heute aktueller denn je. Ergänzt mit einem Vorwort von Oberstaatsanwalt Rudolf Hausmann.
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Seitenzahl: 307
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Kirsten Heisig
Das Ende der Geduld
Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter
Titel der Originalausgabe: Das Ende der Geduld.
Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010, 2012
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal
Umschlagmotiv: © dpa Picture-Alliance
E-book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-451-81246-0
ISBN (Buch) 978-3-451-06912-3
„Gewalt ist die Waffe des Schwachen.“
Mahatma Gandhi
von Rudolf Hausmann, Oberstaatsanwalt
Es ist höchste Zeit, dass Kirsten Heisigs Buch „Das Ende der Geduld – Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter“ neu herausgegeben wird. Nicht nur, weil es zum Zeitpunkt seines Erscheinens und danach, als es mit Martina Gedeck in der Hauptrolle verfilmt wurde, wegen seiner kraftvollen Botschaft zu Recht die Bestsellerlisten stürmte, sondern auch, weil diese Botschaft heute nach wie vor unser Handeln bestimmen sollte.
Kirsten Heisig war eine bemerkenswerte Frau, die mit großer Leidenschaft für das einstand, was ihr wichtig war. Nachdem ich kurz zuvor meinen Dienst bei der Staatsanwaltschaft Berlin angetreten hatte, lernte ich sie Anfang 1992 kennen. Sie stand damals mit ihren 31 Jahren noch am Anfang ihres Wirkens.
Wie viele Kolleginnen und Kollegen waren auch wir – Kirsten Heisig und ich – in den Jahren nach der Überwindung der Teilung der Stadt voller Enthusiasmus und wollten helfen, die negativen Begleiterscheinungen der Wiedervereinigung zu überwinden. Berlin hatte seinen „Inselstatus“ verloren und zahlreiche organisierte Banden versuchten sich ihren Anteil vom Kuchen zu sichern. Es ging unter anderem um Drogenhandel, Prostitution, internationale Kfz-Verschiebung und Schutzgelderpressung. Auch die Jugendkriminalität stieg sprunghaft an, und Jugendgerichtshilfe, Polizei und Justiz mussten sich mit überwiegend berufsunerfahrenen Bediensteten diesen neuen Herausforderungen stellen. Kirsten Heisig hatte schon ein wenig Vorsprung an dienstlicher Erfahrung und gehörte damals zu den Kolleginnen/Kollegen, an die sich die „Neuen“, darunter auch ich, gern wandten, wenn sie Rat brauchten. Eine zusätzliche Aufgabe, der sie gern und kompetent nachkam.
In den Folgejahren wechselte Kirsten Heisig in das Richteramt, während ich selbst in verschiedenen Spezialabteilungen der Berliner Staatsanwaltschaft Formen der Organisierten Kriminalität, Tötungsdelikte – wie Mord und Totschlag –, aber auch Drogenkriminalität verfolgen durfte. Es war eine spannende Zeit, in der mir auch die junge Richterkollegin Kirsten Heisig immer mal wieder in gemeinsamen Hauptverhandlungen begegnete.
Aber die Zeit war nicht nur spannend. Sie zeigte uns auch, dass es so in Berlin nicht weitergehen konnte. Irgendwann im ersten Halbjahr des Jahres 2007 diskutierte Kirsten Heisig mit einigen Jugendrichterkollegen daher, was genau sich ändern müsste, um vor allem die wachsende Jugendkriminalität besser in den Griff zu kriegen. Und sie begannen erste Konturen dessen zu entwickeln, was später als „Neuköllner Modell“ bekannt wurde, jenes Modell also, das im Zentrum von Kirsten Heisigs Buch steht.
Die Strafverfahren gegen Jugendliche dauerten in Berlin damals von der Tat bis zur Hauptverhandlung teilweise deutlich mehr als sechs Monate, so dass ein Bezug zwischen Fehlverhalten und staatlicher Reaktion kaum noch wirksam herzustellen war. In der Praxis des Erziehungsstrafrechts, dem Jugendstrafrecht, stellte dies nichts anderes als eine mittlere Katastrophe dar, denn in der Pädagogik gilt es allgemein als unbestritten, dass eine Strafe – also die erzieherische Reaktion auf eine Tat – möglichst „auf dem Fuße“ folgen sollte.
Es war im Oktober 2007, als mich mein damaliger Behördenleiter mit der Aufgabe betraute, Kirsten Heisig und ihre Jugendrichterkollegen bei der Entwicklung eines neuen Verfahrens zu unterstützen, von dessen großem Potential ich von Anfang an überzeugt war. Als Kirsten Heisig und ich dann etwas später den Polizeiabschnitt 55 in Berlin-Neukölln aufsuchten, konnte aber niemand von uns beiden wissen, wie das Gespräch mit dem dortigen Dienststellenleiter verlaufen würde. Das Ergebnis ist inzwischen längst bekannt: Wir wurden begeistert von ihm empfangen: „Endlich passiert mal etwas!“, rief er uns zu, als wir ihm das Grobkonzept des „Neuköllner Modells“ vorgestellt hatten.
Kirsten Heisig zeigte sich an jenem Tag – wie so oft, wenn es um ihr Anliegen ging, die Konzepte gegen die seinerzeit (wieder) steigende Jugendkriminalität in Berlin zu verbessern – geradezu euphorisch. Ihre Begeisterung war ansteckend. Und so war auch ich mehr denn je angetan von der Idee, die Verfahrenslaufzeiten deutlich zu verkürzen, um jugendliche Straftäter möglichst wenige Wochen nach der Tat vor ihren gesetzlichen Richter zu bringen, damit eine rasche und erzieherisch wirksame Reaktion erfolgen kann.
Kein Zweifel, der Besuch beim Dienststellenleiter kann im Rückblick als die Geburtsstunde der Umsetzung des „Neuköllner Modells“ gelten, denn bereits am 17. Januar 2008 begann der besagte Polizeiabschnitt 55 nach dem vereinbarten Konzept geeignete Fälle der Jugendkriminalität zu bearbeiten.
Damit der Begriff „Neuköllner Modell“ besser verstanden werden kann, möchte ich dessen wesentliche Grundidee kurz erläutern:
Bei dem „Neuköllner Modell“ handelt es sich um eine spezielle Form des vereinfachten Jugendverfahrens nach den §§ 76 ff. des Jugendgerichtsgesetzes. Dieses Verfahren lebt von einer besonders engen Zusammenarbeit zwischen Polizei, Jugendgerichtshilfe, Staatsanwaltschaft und Jugendgerichten, in der wesentliche Koordinierungen gegebenenfalls auch telefonisch abgestimmt werden.
Ziel ist es, in Fällen leichter oder auch mittlerer Jugendkriminalität bei einfacher Beweislage einen Verfahrensabschluss im Wege eines besonders beschleunigten Verfahrens innerhalb eines Zeitraums von ca. drei bis sechs Wochen nach der Tat zu erreichen. Das Konzept kommt zur Anwendung, wenn zum einen nicht ohne eine jugendrichterliche Intervention auszukommen ist, und zum anderen schwerwiegendere Rechtsfolgen als ein Jugendarrest nicht zu erwarten sind. Die Beweislage stellt sich nach den entwickelten Kriterien als einfach dar, wenn ein glaubhaftes – auch pauschales – Geständnis vorliegt oder maximal drei Zeugen bei einem schweigenden oder bestreitenden Angeklagten seitens des Gerichts benötigt werden.
Klar ist damit auch, dass das „Neuköllner Modell“ einem relativ eng umrissenen Teilbereich der Jugendkriminalität vorbehalten ist und nicht etwa, wie seinerzeit von Teilen der Presse „gefeiert“, als neue Waffe gegen die Intensivtäterkriminalität taugt. Denn von Ausnahmen einmal abgesehen – wie etwa von gerade strafmündig (also 14 Jahre alt) gewordenen Intensivtätern – wird bei diesen allein im Hinblick auf die beklagenswerte Dauer ihrer kriminellen Karriere wie auf die erschreckende Intensität bzw. Brutalität ihrer Straftaten die Verhängung einer Jugendstrafe in Betracht zu ziehen sein. Deshalb kann bzw. darf gegen diese nicht vereinfacht im vorgenannten Sinne verhandelt werden. Auf die Intensivtäter komme ich später noch zurück.
Das „Neuköllner Modell“ entwickelte sich prächtig in Berlin. Bereits ab dem 1. Februar 2008 nahm auch der Polizeiabschnitt 54 an dem Projekt teil. Die Vorgänge wurden von speziell geschulten Vorgangssachbearbeitern der Polizei nach telefonischer Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft abgeschlossen, unter Nutzung ohnehin vorhandener Kurierkapazitäten von den betreffenden Polizeidienststellen zur zuständigen Jugendabteilung der Staatsanwaltschaft gebracht, dort direkt „von Hand zu Hand“ weiterbearbeitet, unter besonderer Kennzeichnung von dort an die zuständige Jugendabteilung des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin gesandt, wo schließlich die Verhandlungen möglichst kurzfristig terminiert wurden.
Auf diese Weise gelang es, die Zeitspannen zwischen Tat und Verhandlung deutlich zu verkürzen, in Einzelfällen sogar auf unter drei Wochen zu drücken.
Die Wirkung, die dieses Tempo auf die jugendlichen Delinquenten ausübte, war enorm. Vielfach waren außer der schnellen Verhandlung gar keine weiteren erzieherischen Maßnahmen mehr notwendig; die schnelle Reaktion erwies sich als wirksame Erziehung genug.
Wegen der überaus positiven Eindrücke, die die Verfahrensbeteiligten zügig von dem neuen Projekt gewinnen konnten, gelang bereits zum 1. Juli 2008 dessen Ausweitung auf die gesamte Polizeidirektion 5, die für die Bezirke Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin zuständig war und bis heute ist. Schnell folgten zwei weitere Polizeidirektionen diesem Beispiel und zum 1. Juni 2010 konnten wir uns über die flächendeckende Einführung des „Neuköllner Modells“ in Berlin freuen, das seitdem hier nahezu unverändert angewandt wird.
Aus der Projektphase der Polizeidirektion 5 ergaben sich von Januar bis Juni 2008 14 Fälle, von Juli 2008 bis Juni 2009 bereits 94 Fälle, von Juli 2009 bis Mai 2010 121 sowie im Jahr 2010 insgesamt 112 Fälle, die von der Staatsanwaltschaft Berlin vereinfacht nach dem neuen Konzept abgeschlossen werden konnten.
Auch die jüngere statistische Entwicklung des Neuköllner Modells ist gerade trotz insgesamt rückgängiger Jugendkriminalität in Berlin erfreulich. So sind bei der Staatsanwaltschaft Berlin im Jahr 2014 immerhin 153 Verfahren, im Jahr 2015 gar 236 Verfahren und im Jahr 2016 immerhin 186 Verfahren nach jenem Prinzip bearbeitet worden, so dass die Akzeptanz in der Anwendung seit dessen Einführung offenbar noch deutlich gesteigert werden konnte.
In vielen Fällen gelang und gelingt es, den jugendlichen Delinquenten durch ebenso intensive wie schnelle Zusammenarbeit der Verfahrensbeteiligten ein wirksames – weil gerade rasches – Stoppsignal zu setzen. Es ist und bleibt aber lediglich ein Instrument von vielen, um der Jugendkriminalität in ihren sehr verschiedenen Erscheinungsformen und mit ihren vielfältigen sozialen Hintergründen, wie sie Kirsten Heisig in ihrem Buch beschreibt, angemessen und wirksam zugleich zu begegnen.
Die darin skizzierten Hintergründe wie Taten sind nach wie vor „hochaktuell“. Denn gerade im Bereich der Jugendgewaltkriminalität sind es aus Sicht eines Praktikers mit mehr als 25jähriger Berufserfahrung eigentlich immer wieder dieselben Risikofaktoren, die kriminalitätsfördernd wirken: ein geringer Bildungshintergrund in den Elternhäusern, früheste eigene und regelmäßige Gewalterfahrungen bereits als Kleinkind, täglicher und übermäßiger Alkoholkonsum des bzw. der Erziehungsberechtigten und früher Kontakt zu kriminellen Kreisen sowie eigener exzessiver Alkohol- und/oder Drogenkonsum.
Es bedarf dann schon einer Menge Selbstdisziplin und glücklicher Fügungen, wenn aus einem solchen sozialen Milieu stammende Kinder nicht kriminell werden. Insbesondere die Gewalterfahrungen sind fatal: Wer bereits als Kind erlernt, dass soziale Konflikte in der Familie mit (teilweise brachialer) körperlicher Gewalt gelöst werden, der fällt leicht auf solch Erlerntes zurück, wenn er später selbst über entsprechende körperliche Voraussetzungen verfügt. Oft lösen dann bereits banale Alltagskonflikte Gewaltexzesse aus – mit Messern, Tot- oder Baseballschlägern, Schlagringen oder auch Schusswaffen, die „helfen“ sollen, sich „sicher“ in dem tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Konflikt durchzusetzen.
Kein Zweifel: Derartig sozialisierten – oder besser: „konditionierten“ – jungen Menschen nahezu ausnahmslos männlichen Geschlechts andere gesellschafts- und rechtskonforme Verhaltensweisen beizubringen ist alles andere als einfach. Es ist dann die Justiz, die als letzte Reparaturkolonne der Gesellschaft antritt, um diese Gewalttäter von ihrem Tun abzubringen und ihnen anderes Handeln beizubringen.
Konzeptionelle Anstrengungen zur Eindämmung der Jugendkriminalität vor und auch nach Kirsten Heisigs Tod Ende Juni 2010 gab und gibt es reichlich, gerade auch in Berlin. Viele insbesondere in der jüngeren Vergangenheit entwickelte Konzepte, sowohl präventiver wie auch repressiver Natur, hätten ihr mit Sicherheit sehr zugesagt.
Zu nennen als eines mit präventiver Ausrichtung ist das Jugendgerichtsprojekt, das seit 2008 durch die Vermittlung eines freien Trägers, der Programmagentur Rechtskunde der Stiftung des SPI (Sozialpädagogischen Institut Berlin „Walter May“), Rechtskundeprojektwochen für die Schulklassenstufen 9 und 10 in Berlin anbietet.1
Herzstück einer solchen Projektwoche ist die „gespielte Hauptverhandlung“, in der die betreffenden Schülerinnen und Schüler selbst Rollen übernehmen, wie u.a. die der Angeklagten, des/der Geschädigten, der Zeugen und der Jugendschöffen. Die Verhandlungen werden von „richtigen“ Richtern und Staatsanwälten – in Robe – geleitet und in einer authentischen Verhandlungsatmosphäre im Berliner Kriminalgericht in den dortigen Gerichtssälen durchgeführt, um eine möglichst anschauliche pädagogische Wirkung zu erzielen.
Die Klassen, die an diesen Projektwochen teilnehmen, kommen nicht nur, aber gerade auch aus sogenannten Berliner Brennpunktschulen, in denen es bereits Gewaltvorfälle oder andere Rechtsbrüche gegeben hat. Die durchgespielten Fälle haben deshalb pädagogisch wichtige Themen wie Gewalt, Bewaffnung im Schulalltag oder Vertrauensmissbrauch zwischen Jugendlichen zum Thema. Ziel ist es, die Empathie der Schülerinnen und Schüler zu stärken, ihnen andere Konfliktlösungsstrategien als Gewaltanwendung zu vermitteln, sie kritisch gegenüber sogenannten Meinungsführern in der Schule zu machen (den „Coolen“) und ihnen spielerisch und zugleich sehr deutlich die Konsequenzen für strafbares Verhalten aufzuzeigen.
Ich selbst wirke in diesem Projekt seit Ende November 2009 mit. Seit dessen Beginn haben es insgesamt 52 Berliner Richter/innen sowie 66 Staatsanwälte/Staatsanwältinnen durch ihre wiederholte und regelmäßige Teilnahme bzw. durch die Leitung der „gespielten Hauptverhandlungen“ unterstützt.
Das mit EU-Mitteln geförderte Projekt wird mit großer Begeisterung aller Beteiligten durchgeführt. Seit Oktober 2015 haben daran allein 123 Berliner Schulklassen teilgenommen (Stand: Juli 2017); für das kommende Schuljahr 2017/18 wird mit voraussichtlich 95 weiteren Klassen gerechnet.
Als ein weiteres Instrument mit dem Ziel der Eindämmung der Jugendkriminalität ist ferner das Intensivtäterprogramm der Berliner Polizei und Staatsanwaltschaft zu nennen, das sich seit Mitte 2003 besonders jungen Gewaltserientätern widmet und durch Spezialkommissariate auf Seiten der Polizei und mittlerweile zwei Sonderabteilungen der Staatsanwaltschaft wertvolle Arbeit in der Hauptstadt leistet.
Ich habe die – ursprünglich eine – Sonderabteilung der Berliner Staatsanwaltschaft zur Verfolgung der Intensivtäter (Abteilung 265) von 2011 bis 2014 selbst leiten dürfen.
Im Wege von sogenannten täterorientierten Ermittlungen konzentriert das Programm die Zuständigkeiten bei Polizei und Staatsanwaltschaft in Berlin stets bei denselben Strafverfolgern, so dass diese für den einzelnen Intensivtäter immer den jeweiligen kompletten aktuellen Stand kennen. Sie müssen sich so nicht eigens einarbeiten und können sofort handeln.
Junge Intensivtäter erfahren in der Regel bereits dadurch eine erzieherisch wirksame Reaktion auf ihr Handeln, dass sie deutlich überdurchschnittlich oft entweder in Heimen der Jugendhilfe untergebracht oder aber – sofern die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen – auf richterliche Anordnung in Untersuchungshaft genommen werden. Regelmäßig werden sie von den Jugendgerichten wegen ihrer „schädlichen Neigungen“ und/oder der „Schwere der Schuld“ (§ 17 Jugendgerichtsgesetz) zu Jugendstrafen verurteilt. Die Rechtsfolgen für diese Tätergruppe müssen jedoch im Hinblick auf ihren Verwahrlosungs- und den damit verknüpften Gefährdungsgrad besonders konsequent und deutlich eingriffsintensiver ausfallen als bei anderen Jugendlichen, die auch häufiger mit delinquenten Verhalten bei den Strafverfolgungsbehörden anfallen.2
Seit Gründung der Intensivtäterabteilung der Berliner Staatsanwaltschaft am 1. Juni 2003 konnten inzwischen mehr als 650 Personen wieder von der Intensivtäterliste Berlins gestrichen werden, und zwar deshalb, weil sie nach ihrer letzten Verurteilung und mindestens ein Jahr in Freiheit nicht mehr erneut mit Gewalt- oder anderen schwerwiegenden Straftaten in Erscheinung getreten sind. Das ist ein großer Erfolg.
Vor Einführung des Intensivtäterprogramms in Berlin gab es aufgrund einer Aufsplitterung der Zuständigkeiten bei Polizei und Staatsanwaltschaft Lebensläufe junger Krimineller, die bereits 50 (!) Gewalttaten und mehr – darunter Raubüberfälle und gefährliche Körperverletzungen – begangen hatten und immer noch „draußen rumliefen“. Solche „Karrieren“ gibt es seit Einführung des Programms nun nicht mehr. Denn wenn die betreffenden jungen Intensivtäter durch entsprechende Entgrenzungen mit ihren Gewalttaten auffallen, wird unverzüglich interveniert, um ein weiteres soziales Abgleiten in eine völlige Verwahrlosung zeitnah zu verhindern.
Im Übrigen: Diese positive Wirkung durch Konzentration der Verfahren kombiniert mit einer engeren Zusammenarbeit der Behörden im Rahmen täterorientierter Ermittlungen sollte uns angesichts der Bedrohung durch islamistische Gefährder auch Anlass geben, schnellstens über die weitere Optimierung unserer Strafverfolgungsstrukturen für diese Täterkreise nachzudenken. Anderenfalls drohen diese – die ja zum Teil als „reisende Straftäter“ in Deutschland unterwegs sind – in „prozessualen Lücken“ unseres föderalen Systems gleichsam verloren zu gehen. Die Folgen könnten fatal sein. Klare und verbindliche Zuständigkeitszuweisungen innerhalb der Behörden zur Konzentration der Verfahren sowie klare und verbindliche Zuständigkeitszuweisungen zwischen den Behörden der Bundesländer müssen daher so schnell wie möglich her.
Das zuvor grob umrissene Intensivtäterkonzept der Berliner Staatsanwaltschaft wird jedenfalls seit dem 15. März 2007 durch ihr Schwellentäterkonzept ergänzt. Ziel des Schwellentäterkonzepts ist die effektivere Bearbeitung von Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende (also Personen zwischen 14 und 21 Jahren), die nach Anzahl und Gewicht der von ihnen verübten Straftaten an der Schwelle zum Intensivtäter stehen. Seit dem 1. Juli 2014 hat die für die jungen Intensivtäter zuständige Abteilung der Berliner Staatsanwaltschaft konsequenterweise auch die Zuständigkeit für die Schwellentäter übernommen.
Mit Stand vom 31. Dezember 2016 wurden in den gemeinsamen Listen von Polizei und Staatsanwaltschaft in Berlin insgesamt 461 Personen als Intensivtäter und 79 Personen als Schwellentäter geführt.
Rund 80 Prozent dieser Personen (Intensiv- und Schwellentäter) weisen einen Migrationshintergrund auf, was nach meiner dienstlich gewonnenen Überzeugung nicht etwa auf empirisch ohnehin nicht zu belegende Umstände zurückzuführen ist, wie sie beispielsweise in Stammtischparolen propagiert werden, so „Ausländer sind eh krimineller als Deutsche!“, „der Islam ist für die steigende Kriminalität verantwortlich!“ oder ähnlicher Unsinn. Vielmehr ist der erhöhte Anteil nach meiner Erkenntnis Ausdruck einer jedenfalls in Teilen gescheiterten Integration von Migranten. Es zieht sich wie ein „roter Faden“ durch die betroffenen Familien, aus denen Intensiv- oder Schwellentäter hervorgegangen sind, dass dort früheste Gewalterfahrungen im Alltag und der Erziehung eine prägende Rolle gespielt haben.
Diese aus zahllosen Lebensläufen junger Intensivtäter gezogene Erkenntnis impliziert eine klare Handlungsbotschaft in Richtung der in Deutschland und Berlin politisch Handelnden:
Angesichts der vielen Flüchtlinge, 2015/2016 allein über eine Million Menschen, die Asyl bei uns begehrten und noch begehren, müssen die staatlichen Stellen rasch die Entscheidung treffen, wer bleiben darf und wer wieder gehen muss. Die ganz überwiegend selbst von staatlichen Vertretern in der Bundesrepublik Deutschland beklagte träge Abschiebepraxis führt dazu, dass sich hier in einem großen Umfang Menschen illegal und ohne dauerhafte Bleibeperspektive aufhalten, die nicht in die Gesellschaft im Wege wirklicher Teilhabe integriert werden können und dürfen. Dass diese Menschen enttäuscht, möglicherweise wütend und bestimmt oft verzweifelt sind, ist absolut verständlich. Das muss von der Politik gelöst und die Vollzugsdefizite im Asylverfahren, wie überlange Verfahrensdauern und Abschiebehindernisse, müssen dringend aufgelöst werden.
Hinzu kommt, dass unsere staatlichen Institutionen oftmals selbst hinsichtlich derjenigen Menschen heillos überfordert sind, die hier mit anerkanntem Asylstatus leben. Es ist völlig klar, dass dieser Umstand, nämlich einen anerkannten Asylstatus zu besitzen, noch nicht allein zu einer gelungenen Integration führt.
Es gibt seit 2016 eine vom UNHCR initiierte Petition3, die an die Vereinten Nationen in New York gerichtet ist, mit der folgende Forderungen an nationale Regierungen weltweit gestellt werden sollen:
sicherzustellen, dass jedes Flüchtlingskind eine (schulische) Erziehung erhält
sicherzustellen, dass jede Flüchtlingsfamilie ein sicheres Zuhause erhält
sicherzustellen, dass jeder Flüchtling arbeiten darf oder neue berufliche Fähigkeiten erlernen darf, um einen positiven Beitrag in der Gesellschaft leisten können.
Dem ist nichts hinzuzufügen, zeigt der völlig logische Forderungskanon doch nur auf, woran es auch in unserem Land leider oftmals noch mangelt.
Die Umsetzung derartiger Forderungen wird viel Geld und Anstrengungen kosten. Noch kostenintensiver wird es allerdings sein, die Folgen einer misslungenen Integration zu beheben, die sich in einer Daueralimentierung durch staatliche Transferleistungen wie auch durch eine signifikant erhöhte Kriminalitätsbelastung von Flüchtlingskreisen und einer Stärkung radikaler Kräfte in unserer Gesellschaft zeigen könnten.
Dem zu begegnen, ist auch Anliegen der Berliner Justiz. So wird seit 2016 in Berlin – wie im Übrigen auch in anderen Bundesländern – ein hervorragendes präventives Projekt mit der Bezeichnung „Willkommen im Rechtsstaat“ in Kooperation mit den Volkshochschulen verfolgt, an dem hier auch zahlreiche Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte regelmäßig teilnehmen. Ziel dieses Projektes ist es, den Flüchtlingen möglichst bald nach ihrer Ankunft die wesentlichen Grundsätze unserer Verfassung zu vermitteln.
Dieses Angebot gibt es sowohl für Erwachsene als auch für Jugendliche. Wesentliche Aspekte der Schulungen zu den Grundrechten in der Bundesrepublik Deutschland sind natürlich die Gleichheit von Mann und Frau, freie Berufswahl und Freiheit der Berufsausübung, Rechtsstaatlichkeit oder auch das Gewaltmonopol des Staates, also Rechte und Prinzipien, die oftmals im diametralen Gegensatz zu den Lebenswirklichkeiten der Herkunftsländer der Flüchtlinge stehen.
Ich selbst nehme auch an diesen Schulungen teil und habe damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Mein erster Termin insoweit betraf eine Willkommensklasse, die aus etwa 20 jungen Männern im Alter von 17 bis 24 Jahren bestand, die fast ausnahmslos aus Syrien geflüchtet waren. Die sprachen und verstanden noch kaum Deutsch, und der zuletzt eingetroffene Flüchtling jener Gruppe war zu dem Zeitpunkt gerade mal drei Wochen hier. Als Sprachmittlerin fungierte eine Frau, die selbst aus Syrien stammte, mit einem Deutschen seit einigen Jahren verheiratet ist und die Verhältnisse in beiden Ländern bestens kennt. Die Schüler der Willkommensklasse waren sehr interessiert zu erfahren, wie das Zusammenleben in Deutschland funktioniert.
Ich nutzte die Gelegenheit, insbesondere auf das Thema „Gleichberechtigung von Mann und Frau“ einzugehen. Einige erzählten dann, dass manche mit ihnen bekannte oder verwandte erwachsene und verheiratete Männer aus Flüchtlingskreisen sich darüber beklagen würden, dass die nun hier über ihre Rechte informierten Ehefrauen sich von diesen abgewendet und ihre Männer verlassen haben. Das führten diese auf „unsere Gleichberechtigung“ zurück, die deshalb als negativ von den betroffenen Männern wahrgenommen wurde. Ich habe dem entgegnet, dass nach unserer Kultur wie nach unserem Rechtssystem arrangierte (Zwangs-) Ehen verboten sind – wie auch verboten und strafbar ist, dass die Ehemänner ihre Frauen schlagen oder einsperren, um ihren Willen durchzusetzen. Es wurde dann herausgearbeitet, dass die Probleme in den von den Schülern genannten Fällen nicht erst in der Bundesrepublik Deutschland entstanden sind, sondern bereits im Heimatland angelegt worden waren und hier lediglich offen zu Tage getreten sind.
Klare Ansage: Wer die Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht akzeptiert, ist im falschen Land gelandet und sollte sich besser ein anderes suchen! Das wurde von allen Schülern auch so gesehen und so haben wir uns in etwa sechs Stunden mit zahlreichen Themen befassen können, die für eine (gelungene) Integration unabdingbar sind. In den letzten 90 Minuten haben wir dann – unter meinem „Vorsitz“ – eine Gerichtsverhandlung mit pädagogischer Zielsetzung durchgespielt, an der die syrischen Flüchtlinge mit großer Begeisterung als Angeklagte, Staatsanwälte und Zeugen mitwirkten. Zentrales Thema war bei dem Fall ein Straßenraub und dessen juristische Aufarbeitung. Die Fragen der jungen Männer wie die von ihnen geschilderten Alltagsprobleme zeigen, dass unsere Gesellschaft derlei Angebote möglichst frühzeitig nach dem Eintreffen der Flüchtlinge vorhalten sollte. Das größte Problem für diese ist die mangelnde Kenntnis der deutschen Sprache. Viele haben recht konkrete Berufswünsche, die sich natürlich nur bei dem Vorhandensein ausreichender deutscher Sprachkenntnisse realisieren lassen. Ein großes Problem ist, dass die Flüchtlinge mit völlig unterschiedlichen Fertigkeiten hier ankommen. Das wird noch viel Mühe und Geld kosten, um allen, die hier bleiben sollen, eine auskömmliche Bildung zu vermitteln. Aber da müssen die staatlichen Verantwortungsträger noch mehr tun. Es kann auch nicht sein, dass unser staatliches Schulsystem diese Aufgabe ohne erhebliche zusätzliche Mittel- und Personalzuweisung stemmen muss. Die Integration junger Flüchtlinge in den Regelschulbetrieb ist wahrscheinlich eine der größten Herausforderungen überhaupt.
Nach meiner Einschätzung, auch wenn ich selbst nicht in diesem Berufsbereich hauptamtlich tätig bin, müssen Bund, Länder und Kommunen hier noch ganz andere – größere – Anstrengungen unternehmen, damit nicht letztlich ein signifikant hoher Anteil der Migranten am unteren Rand der Gesellschaft landet, von denen dann nicht wenige ihr Heil in der Kriminalität suchen werden. Das käme den Opfern der betreffenden Straftaten aber auch uns als Gesellschaft insgesamt erst recht teuer zu stehen!
Eine weitere, aber ebenfalls eindeutig positive Entwicklung, über die Kirsten Heisig sich sicherlich gefreut hätte, hat sich in meiner Behörde ergeben:
Seit dem 1. Juli 2015 wird von der Staatsanwaltschaft Berlin das Pilotvorhaben „Staatsanwalt für den Ort“ praktiziert, und zwar zunächst ausschließlich für den Bezirk Berlin-Neukölln. Während Polizei, Jugendgerichtshilfe und Jugendgerichte in Berlin bis dahin über regionalisierte Strukturen verfügten, war (und ist) die Berliner Staatsanwaltschaft im Bereich der allgemeinen Jugendabteilungen nach Buchstaben, also den Familiennamen der Beschuldigten organisiert, das heißt, dass sich daraus stets die Zuständigkeiten der sechs allgemeinen Jugendabteilungen ergeben haben. Die Kritik, die seit Langem geäußert wird, betrifft insbesondere die dadurch einhergehenden Erkenntnisverluste und Kommunikationsdefizite auf Seiten der Staatsanwaltschaft.
Mit dem genannten Pilotvorhaben sind Teile einer allgemeinen Jugendabteilung der Berliner Staatsanwaltschaft „umgewidmet“ worden; jene Abteilung bearbeitet seitdem alle Verfahren, die sich gegen solche Personen richten, die unter das Jugendgerichtsgesetz fallen und ihren Wohnsitz in Neukölln haben. Sie ist mithin nunmehr „regional“ ausgerichtet.
Diejenigen Jugendstaatsanwältinnen und Jugendstaatsanwälte, die bisher in dem Pilotvorhaben mitgewirkt haben, berichteten mit großer Begeisterung von einer deutlich verbesserten Zusammenarbeit mit den anderen beteiligten Stellen. Dies ist beabsichtigt und ist letztlich logisch, da meine Kolleginnen und Kollegen immer wieder mit denselben Akteuren aus dem Bezirk Neukölln kooperieren.
Die engere Zusammenarbeit führt zu einer Vereinfachung und Harmonisierung von Verfahrensabläufen, was ebenfalls eine Steigerung der Motivation wie Optimierung der Arbeitsergebnisse der beteiligten Institutionen zur Folge hat. Daraus ergibt sich allerdings ein zusätzlicher Arbeitsaufwand, um die gleiche Anzahl von Verfahren wegen der zahlreicheren Verfahrensabstimmungen zwischen den am Verfahren Beteiligten im selben Zeitraum zu bewältigen. Wenn also die betreffenden Jugendstaatsanwältinnen und Jugendstaatsanwälte „vor Ort“ z.B. an dienstlichen Besprechungen mit der Polizei und/oder Jugendgerichtshilfe teilnehmen, kostet das zusätzliche Zeit, die durch eine entsprechende Personalzuweisung ausgeglichen werden muss, damit die Arbeit insgesamt bewältigt werden kann.
Die positiven Rückmeldungen aus dem Pilotvorhaben sind jedenfalls so eindeutig ausgefallen, dass dieses zum September 2017 auf den gesamten Bereich der Polizeidirektion 5 in Berlin – also neben Neukölln auch auf Friedrichshain-Kreuzberg – ausgeweitet werden soll, so dass dann die betreffende Jugendabteilung der Staatsanwaltschaft Berlin (Abteilung 286) fortan ausschließlich regional zuständig sein wird.
Eine erfreuliche Option hat sich auch durch den vom Gesetzgeber mit dem am 7. März 2013 in Kraft getretenen § 16a des Jugendgerichtsgesetzes ergeben:
Seitdem ist es möglich, einen nach dem Jugendrecht zu beurteilenden jugendlichen oder heranwachsenden Angeklagten neben einer bedingten – also zur Bewährung ausgesetzten – Jugendstrafe auch zu einem Jugendarrest zu verurteilen, der sogenannte Warnschussarrest“.
Zwar ist auch diese Rechtsfolgenoption nur einem recht kleinen Täterkreis vorbehalten, da die Kombination einer solchen bedingten Jugendstrafe mit einem Arrest regelmäßig bei denjenigen Angeklagten keinen Sinn macht, die bereits über „Arresterfahrung“ verfügen. Für diejenigen allerdings, die insoweit noch keine Erfahrungen gemacht haben, kann durchaus der kurze Freiheitsentzug eines Arrests (bis maximal 4 Wochen Arrest sind möglich!) für die notwendige Ernsthaftigkeit sorgen, um die Bewährungszeit ohne neue Straftaten durchzustehen. Dieses ergänzende Instrument ist daher zu begrüßen.
Größere Neuerungen sind künftig im Zuge der Umsetzung der EU-Richtlinie „Verfahrensgarantien für Kinder im Strafverfahren“ (Anmerkung: gemeint sind Personen unter 18 Jahren) zu erwarten; sie sind zum 11. Juni 2019 in die nationalen Gesetze der Mitgliedsstaaten umzusetzen. Die darin beschriebenen Vorgaben sind durchaus als weit- und tiefgreifend zu bezeichnen. Beispielsweise sieht die Richtlinie vor, es sei zu gewährleisten, dass die beschuldigten Jugendlichen grundsätzlich bereits im Ermittlungsverfahren vor der ersten verantwortlichen Vernehmung einen Rechtsbeistand konsultieren können, oder dass die Jugendgerichtshilfen in jedem Ermittlungsverfahren einen Bericht zu den verdächtigten Jugendlichen verfassen sollen. Fachleute wissen und Laien erahnen, dass solche Vorgaben deutlich mehr Zeit, Geld und Personal kosten werden – und das das benötigte Personal eigentlich bereits jetzt ausgebildet werden müsste!
Zum Ende meiner Ausführungen möchte ich aber noch einmal auf die Kernbotschaft von Kirsten Heisig, nämlich „Konsequenz gegen jugendliche Gewalttäter“, zurückkommen:
Allen Konzepten muss gemein sein, dass schnell und zugleich pädagogisch wirksam interveniert wird. Schnelligkeit ist durch eine verbesserte Zusammenarbeit der am Ermittlungs- und Strafverfahren Beteiligten vielfach sicherzustellen – sofern die Täter nicht schon untergetaucht sind. Pädagogisch wirksame Maßnahmen – und hier gibt Kirsten Heisig in ihrem Buch sehr gute Beispiele und Hinweise – sind demgegenüber deutlich schwieriger zu bewirken.
Das liegt auch nach meiner Erfahrung im Wesentlichen daran, dass wir in der Hauptverhandlung oftmals nicht wissen, welchen Gewalttätertypus wir vor uns haben. Der Angeklagte muss, wenn er nicht will, nichts sagen. Und wenn er vor Gericht lügt, kann er dafür nicht zusätzlich bestraft werden. Wenn also ein Gewalttäter, der Freude an der Erniedrigung seiner Opfer empfindet, gelernt hat, dass sein soziales Umfeld mit Verständnis reagiert, sobald er sagt, er sei bei Begehung der Tat so erregt und außer sich gewesen, könnte eine solche (obwohl falsche) Behauptung in der Hauptverhandlung das Jugendgericht in seinem Urteil zu solchen Therapiemaßnahmen bewegen, die bei diesem Delinquenten völlig wirkungslos sind.
Ich meine, dass wir Kirsten Heisigs kritische Ausführungen in der jugendgerichtlichen Spruchpraxis weiter aufgreifen und jugendliche Gewalttäter deshalb eher zu solchen Trägern und Einrichtungen schicken sollten, deren Therapiekonzepte offen, d.h. grundsätzlich für alle Gewalttätertypen geeignet sind. Denn nur so sind die Mängel im Erkenntnisverfahren (also dem Strafverfahren bis hin zum Urteil) im anschließenden Vollstreckungsverfahren durch eine nach dem Urteil folgende Psychoanalyse des Gewalttäters zu beheben, um am Ende eine möglichst adäquate Therapie zu gewährleisten, die sowohl den verurteilten Täter von neuen Gewalttaten abhält als auch letztlich der gesamten Gesellschaft zu Gute kommt.
Auch hier wird wieder deutlich: Qualität – auch in der Bekämpfung der Jugendkriminalität – ist ohne mehr Geld nicht zu haben!
Berlin, im August 2017
Rudolf Hausmann, Oberstaatsanwalt
Seit zwanzig Jahren arbeite ich in der Berliner Strafjustiz. Die längste Zeit war und bin ich als Jugendrichterin tätig. Meine Aufgabe besteht darin, Strafverfahren gegen junge Menschen zu bearbeiten. Ich übe meinen Beruf nach wie vor mit Überzeugung aus und möchte sinnvolle Entscheidungen treffen, die einerseits zur Reduzierung der Jugendkriminalität beitragen und andererseits dem Menschen, der sich vor Gericht zu verantworten hat, die Chance eröffnen, ein Leben ohne Straftaten zu führen.
Seit längerer Zeit habe ich nicht mehr den Eindruck, beiden Zielen gerecht werden zu können.
Etliche Taten lassen zunehmend erkennen, dass eine schleichende Brutalisierung in den Köpfen vieler Kinder und Jugendlicher stattgefunden hat, die sich nicht nur in besonders schrecklichen Fällen wie dem tödlichen S-Bahn-Überfall in München-Solln entladen kann, sondern mit graduellen Unterschieden eine Art Standardisierung erfahren hat. Deshalb möchte ich den Blick auch darauf lenken, dass die Gewaltkriminalität allein mit den Mitteln der Strafjustiz nicht bewältigt werden kann. Es ist nötig, auf mehreren Ebenen andere als die bisher angewandten Mechanismen zu entwickeln.
Für die Erarbeitung dieses Buches war es erforderlich, einzelne Lebensläufe und die sich daraus ergebenden Straftaten darzustellen, da beides nicht voneinander getrennt betrachtet werden kann. Man soll nachvollziehen können, welche Taten begangen werden, wie es dazu kommen kann und ob es Erfolg versprechende Gegenstrategien gibt. Die in den Fallbeispielen erwähnten Personen habe ich zur Wahrung ihrer Persönlichkeitsrechte anonymisiert bzw. ihr Einverständnis eingeholt, ihre Geschichte erzählen zu dürfen. Die Tathergänge wurden ebenfalls abgewandelt, ohne dass Art und Intensität der dargestellten Vorfälle verändert wurden. Die dargestellten Strafverfahren sind abgeschlossen.
Dieses Buch nimmt überwiegend eine „Berliner Perspektive“ ein. Es beinhaltet meine Sicht der Dinge. Ich vermute aber, dass sich einige meiner Beobachtungen und Schlussfolgerungen auch auf andere Großstädte übertragen lassen.
Wir müssen uns gemeinsam Gedanken darüber machen, wie es in dieser Gesellschaft weitergehen soll. Und wir müssen handeln. Jetzt.
Hierzu möchte ich einen Beitrag leisten. Als Richterin, aber auch als Bürgerin dieses Landes.
Berlin, im Sommer 2010
Familie Lehmann wohnt in Neukölln. Zunächst sind noch alle beisammen. Die Eltern, das sind eine Mutter ohne erlernten Beruf und ein Vater, der als Handwerker tätig ist. Sie bekommen fünf Söhne und zwei Töchter. Das älteste und das jüngste Kind trennen vierzehn Jahre. Keine leichte Aufgabe für die Eltern! Bald trennen sie sich. Zu häufig hat der Vater geschlagen, und zwar alle und heftig. Die Mutter fängt das Trinken an, weshalb sie mit den Kindern nicht zurechtkommt. Die drei kleineren Jungen ziehen zum Vater, die Töchter kommen bei den Großeltern unter, zwei große Brüder sind bald weg, begehen Straftaten und kommen in Haft. Beim Vater haben es Paul, Ingo und Felix nicht gut. Das Prügeln hört nicht auf. Einige Jahre geht das so, dann ziehen die Jungen zur Mutter. Dort kennen sie den Alkohol schon von früher. Kein Wunder, dass Paul, der älteste der verbliebenen Jungen, mit acht Jahren erstmals Alkohol konsumiert, mit dreizehn regelmäßig trinkt und zusätzlich Cannabis raucht. Als er mit neunzehn gemeinsam mit seinen achtzehn und fünfzehn Jahre alten Geschwistern wegen schweren Raubes und gefährlicher Körperverletzung vor Gericht steht, gibt er an, täglich Bier zu trinken, mehrere Gramm Cannabis zu rauchen und am Wochenende einige Flaschen Schnaps zu sich zu nehmen.
Erstaunlicherweise ist es ihm dennoch gelungen, im Rahmen einer berufsfördernden Maßnahme einen Hauptschulabschluss zu erreichen, denn in der Regelschule war er bereits im Grundschulalter verhaltensauffällig und aggressiv, was eine Wiederholung der zweiten Klasse und einen Schulwechsel nach sich zog. Die siebte Klasse einer Hauptschule durchlief er dreimal. Ein BB-10-Lehrgang (Berufsbefähigender Lehrgang im 10. Schuljahr) im Bereich „Kfz-Mechatroniker“ verlief erfolglos, weshalb das Jugendamt ihn mit siebzehn Jahren in einem Jugendheim unterbrachte. Dort kam er nicht klar, wechselte das Heim, beging Straftaten, hielt sich vorübergehend bei Bekannten auf, um dann schließlich in eine Pflegefamilie zu ziehen. Hier lebte er knapp zwei Jahre und stabilisierte sich deutlich. In der Geborgenheit und mit der Zuwendung des Familienverbandes konnte er dann den besagten Hauptschulabschluss erwerben und sich mit seiner offensichtlichen Alkoholproblematik auseinandersetzen. Aus mir nicht bekannten Gründen endete die Unterbringung in der Pflegefamilie, was tragische Folgen haben sollte. Wahrscheinlich war er inzwischen schlicht zu alt für die Jugendhilfemaßnahme. Paul stürzt jedenfalls wieder ab, trinkt, haust bei „Freunden“ bzw. bei der späteren Mitangeklagten Sandy. Es kommt zu der Tat, die ihm insgesamt sechs Jahre und drei Monate Jugendstrafe einbringen soll.
Es wird niemanden überraschen, dass Paul viele strafrechtliche Vorbelastungen aufweist. Allerdings müssen sich die Jugendrichter in diesem Zusammenhang einmal nicht vorhalten lassen, zu lasch reagiert zu haben. Allenfalls zu stereotyp, denn unter den ersten sechs Eintragungen im Bundeszentralregister finden sich drei Arreste. Diese wurden immer länger, ohne dass man eine andere Maßnahme damit kombiniert hätte. Dabei kommt in einigen Körperverletzungen, Sachbeschädigungen und anderen Delikten ab dem 15. und 16. Lebensjahr ein massives Aggressionspotenzial zum Ausdruck: So steht Paul unter anderem wegen eines Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz vor Gericht. Seine Tat findet während einer Heimunterbringung statt. Paul amüsiert es, einen Hund, der der Familie des Hausmeisters gehört, an einen Baum zu binden und gemeinsam mit anderen Bewohnern mit einem Fußball zu beschießen. Wer das Tier trifft, erhält einen Punkt. Das Tier überlebt die Misshandlungen nicht. Das Gericht verhängt einen vierwöchigen Dauerarrest. Dies geschieht allerdings erst Monate nach der Tat. Bis zur Verbüßung des Arrestes vergehen weitere Wochen. Möglicherweise wäre ein zusätzliches Anti-Gewalt-Training hilfreich gewesen. Aber welches kommt bei dieser speziellen Gewaltproblematik in Betracht? Es gibt eine Fülle verschiedener Angebote.
Einige Monate später wird Paul erneut verurteilt. Wieder liegen die Taten zum Teil ein Jahr zurück. Unter anderem wird Paul Brandstiftung vorgeworfen. Eigentlich fängt alles relativ harmlos an: Paul, Ingo und ein anderer Jugendlicher langweilen sich und inspizieren eine Kleingartenkolonie. Als es Nacht wird, beschließen die drei, ein Gartenhaus aufzubrechen, was ihnen ohne Probleme gelingt. Einer der Beteiligten findet eine Flasche Brennspiritus. „Nur so“ schüttet Paul die Flüssigkeit auf einen Laubhaufen mit trockenem Geäst neben dem Haus. Er lässt sich Feuer für eine Zigarette geben, die er auch zunächst anzündet. Aus Neugierde, „was passieren kann“, hält er dann die offene Flamme an den Spiritus. So schnell, wie das Feuer aufflammt und sofort auf das Holzhaus übergreift, das komplett niederbrennt, können Paul und seine Kumpane gar nicht gucken. Der Sachschaden ist erheblich, der ideelle Schaden für das Rentnerehepaar, das das Häuschen in Eigenarbeit über Jahre aufgebaut und liebevoll gestaltet hat, ist nicht zu bemessen. Paul wird wegen dieser und anderer, weniger schwerwiegender Taten zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt. Die Vollstreckung wird für die Dauer von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt und Paul wird für diesen Zeitraum der Leitung und Aufsicht eines hauptamtlichen Bewährungshelfers unterstellt. Da Paul kurze Zeit später genau wie sein ein Jahr jüngerer Bruder Ingo in Untersuchungshaft kommt, bleibt für die Arbeit des Bewährungshelfers nicht viel Zeit. Paul hat die meisten Termine bei ihm ohnehin versäumt.
Ingo hat im Wesentlichen dieselbe Entwicklung genommen wie Paul – wen wundert’s? Auch er lebt nach der Trennung der Eltern zunächst beim Vater, dann bei der Mutter. Schrecklich ist beides. Die Mutter trinkt, der Vater schlägt. Gemeinsam mit seinem Bruder Felix verschlägt es Ingo zunächst in eine Kriseneinrichtung und dann gemeinsam mit Paul in ein bzw. mehrere verschiedene Kinderheime, danach in eine Wohngemeinschaft und schließlich mit dem kleinen Bruder wieder zur Mutter. Das ewige Hin und Her tut keinem der Kinder gut. Die schulische Entwicklung verläuft entsprechend. Die fünfte Klasse der Grundschule muss wiederholt werden. Die Hauptschule verlässt Ingo mit einem Abgangszeugnis der achten Klasse; einen anschließenden vom Jobcenter geförderten Berufsfindungslehrgang als Bäcker bricht er ab. Die strafrechtliche „Karriere“ verläuft gegenüber Paul etwas dezenter, insbesondere wird er nicht wegen der verheerenden Brandstiftung verurteilt. Er hat lediglich einige kleinere Diebstähle auf dem „Kerbholz“.
Der Jüngste der Lehmann-Familie, Felix, hat trotz der widrigen familiären Umstände die Grundschulzeit relativ unauffällig hinter sich gebracht. Gute Leistungen konnte er allerdings zu keinem Zeitpunkt erzielen, weshalb er die Schule weiterführend an einem pädagogischen Förderzentrum besucht, ohne einen Abschluss zu erreichen.
Sandy hatte ich bereits als Pauls vorübergehende „Vermieterin“ eingangs erwähnt. Dieser lebte zeitweilig bei ihr, auch seine Brüder Ingo und Felix hielten sich häufig dort auf. Sandy stammt eigentlich aus München. Sie hatte ein gutbürgerliches Elternhaus. Irgendwann ist sie dennoch ausgebrochen und mit sechzehn Jahren nach Berlin abgehauen. Sie hat dann ebenfalls die große Runde durch allerlei Jugendheime gedreht, verfügt über keinen Schulabschluss, aber inzwischen über eine eigene Wohnung, nachdem sie zeitweise auch in einer Obdachlosenunterkunft gelebt hat. Aus dieser Zeit stammt ihre Bekanntschaft mit Chris, der wesentlich älter ist als die Geschwister Lehmann und Sandy. Er ist auch erheblich krimineller. Seine Kindheit und Jugend in Polen sind desaströs verlaufen. Beide Eltern waren Alkoholiker, die sich nicht darauf beschränkten, Chris zu verprügeln, sondern ihn zusätzlich an Heizkörper und an sein Bett fesselten. Bereits kurze Zeit nach der Einschulung nimmt ihn das Jugendamt aus der „Familie“. Es schließt sich eine nicht enden wollende Kette von Unterbringungen an. Alle scheitern letztendlich daran, dass Chris nicht in der Lage ist, sich an Regeln zu halten oder ein irgendwie geartetes sozialverträgliches Verhalten an den Tag zu legen. Auch er konsumiert bereits vor dem zehnten Lebensjahr Bier, mit zwölf kommen noch LSD, kurze Zeit später Kokain, Heroin, Speed und Amphetamine hinzu: ein kindlicher Polytoxiker. Zur schulischen Entwicklung erübrigen sich sämtliche Ausführungen, zumal Chris wegen der Schwierigkeiten in den Heimen immer wieder wegläuft, pausenlos stiehlt, um seinen Drogenkonsum zu finanzieren, und die restliche Zeit mit Inhaftierungen und erfolglosen Therapieversuchen verbringt. Gewaltstraftaten gehörten allerdings nicht zu seinem Repertoire.