Das Ende der Unschuld - Megan Abbott - E-Book
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Das Ende der Unschuld E-Book

Megan Abbott

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Beschreibung

Ein packender psychologischer Thriller über die dunklen Seiten des Erwachsenwerdens »Das Ende der Unschuld« ist ein atmosphärisch dichter, hochspannender Roman über zwei dreizehnjährige Mädchen, über das Erwachen der Sexualität, über Väter und Töchter, Familie und Freundschaft, Lügen und Geheimnisse. Eine zutiefst verstörende und verzaubernde Lektüre. Selten hat ein Roman das Drama der Jugend in all seiner Schönheit und Härte so schmerzlich treffend eingefangen. Die dreizehnjährige Lizzie und ihre Freundin Evie sind unzertrennlich. Nachbarmädchen, die Badeanzüge und Hockeyschläger tauschen, zusammen zur Schule gehen und scheinbar keine Geheimnisse voreinander haben. Doch eines Nachmittags ist Evie verschwunden. Einziger Anhaltspunkt: ein rotbrauner Wagen, den Lizzie morgens durch den Ort hat fahren sehen. Auf einmal steht Lizzie im Zentrum der Aufmerksamkeit: War Evie unglücklich? Hatte sie Sorgen? Hatte sie Lizzie von einem möglichen Verfolger erzählt? Würde sie zu einem Fremden ins Auto steigen?Lizzie versucht sich an Details zu erinnern und beginnt nachzuforschen. Um ihre Freundin zu finden, aber auch weil sie die Nähe von Evies zutiefst erschüttertem Vater sucht, für den sie heimlich schwärmt. Auf nächtlichen Streifzügen durch die Kleinstadt macht Lizzie seltsame Entdeckungen. Schritt für Schritt kommt sie einem Geheimnis auf die Spur und muss sich fragen, wie gut sie ihre beste Freundin überhaupt kannte.

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Seitenzahl: 347

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Megan Abbott

Das Ende der Unschuld

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Isabel Bogdan

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Megan Abbott

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel
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Für Janet Nase

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1.

Aus dem Augenwinkel: sie, lichtgestreift. Dieses Spiel, Mörder, allein der Name feuert schon eine Ladung Schrot auf die Nerven in meinem Magen, in meinem Darm, oder wo Nerven halt sind. Es ist spät, und wir sollten eigentlich nicht mehr draußen sein, aber das ist uns egal.

Mit schrillen, überschnappenden Stimmen singen wir das tödliche Lied, das sich wie ein Messer im Ohr des ausgewählten Opfers umdreht. Ein Uhr, zwei Uhr, drei Uhr, vier Uhr, fünf Uhr … Und es ist Evie, es hat sie erwischt, sie ist ausgezählt worden, und das wird ihr jetzt zum Verhängnis. Aber sie kann sich gut verstecken, die beste Versteckerin, die ich kenne, und ich rechne mit einem Geniestreich, ich rechne damit, sie zusammengerollt unter einer durchhängenden Veranda zu finden oder unter acht Zentimetern Erde in Moms Blumenbeet.

Sechs Uhr, sieben Uhr, acht Uhr, neun Uhr, ein grausiges Todestrillern, das wir anstimmen, wir Monster, zehn Uhr, elf Uhr, zwölf Uhr, Mitternacht!MORD! schreien wir, mit grausamen, kranken Stimmen, und wir stieben wie Glühwürmchen in alle Richtungen auseinander. Ich liebe den Klang unserer Keds auf dem Asphalt, dem Gussbeton. Wir sind zu fünft, vielleicht zu zehnt, wir spielen, und die Straßenlampen versprechen Sicherheit, aber für wie lange?

Oh, Evie, da sehe ich dich, zwanzig Meter vor mir, deine pfirsichfarbenen Frotteeshorts hüpfen, so schnell rennst du, und als du dich umdrehst, fliegt dir das dunkle Haar in den Mund, der ist offen, schreit, kreischt sogar. Es ist ein Spiel mit dem Horror, und dieses Ding, das in meiner Brust schlägt, ich kann es nicht aufhalten. Ich sehe dich, Evie, du bist kurz vor dem Kamin der Faheys, vor dem rettenden Mal. Oh, es ist das beste Spiel von allen, und Evie wird bestimmt gewinnen. Du kannst es schaffen, Evie, du kannst es schaffen. Mein Herz platzt, es platzt.

 

Es war vor sehr langer Zeit, Jahrhunderten. Ein flimmerndes Trugbild vom Sommer einer Dreizehnjährigen, wie eine Million andere Mädchensommer, wenn Evie nicht gewesen wäre, wenn Evies hämmerndes Herz nicht gewesen wäre und all die verdrehten Dinge sich nicht entsponnen hätten.

Da bin ich, bei den Ververs, mit spitzen Ellbogen und Sommersprossen, die Handballen aufgeschürft vom sandigen Spätsommerrasen. Ein jungenhaftes Mädchen, genau wie Evie und ganz anders als ihre Schwester Dusty mit ihren unglaublich bezaubernden siebzehn. Ein Filmstar in Neckholder-Tops und Lochstickerei und klackernden Dr. Scholls. Wimpern wie Goldfolie, Augen in der Farbe von Wassermelonenschale, sanfte Kurven. Immer mit glänzenden Lippen und leuchtend weißen Zähnen, ein Kussmund, aus dem kurz die Zunge aufblitzt, üppige Wimpern und eine leichte Rötung, die ihre Wangen noch höher wirken lässt.

Wenn ich einen Moment allein war, linste ich gern in Dustys Zimmer, das erfüllt war vom wattigen Geruch nach Babypuder und Lipgloss und Haarspray. Ihr Bett war ein großer rosa Kuchen mit leicht angeschmuddelten Volants, und ihr Fußboden übersät mit Deckeln von Nagellackfläschchen und Plastikbürsten voller Haare, wie Pfeifenreiniger zusammengekringelter Unterwäsche mit Gänseblümchen drauf, auf links gezogenen Jeans, die pudrigen Socken noch darin, zusammengefalteten Botschaften von ihren Fans und glitzernden Tamponfolien, die sich in der Tagesdecke verfangen hatten, wo sie auf den mintgrünen Teppichboden fiel. Dusty schien immer und ewig mit Putzen beschäftigt zu sein, aber nicht einmal sie selbst kam gegen die ständigen Ausbrüche überschäumender Mädchenhaftigkeit an.

Im Vergleich zu dieser ekstatischen rosa Zauberhaftigkeit waren Evie und ich die reinsten Würstchen, und wenn wir in Dustys zuckriges Allerheiligstes gelassen wurden, fühlten wir uns wie unerlaubte Eindringlinge.

Evie so gut zu kennen, bis auf die Knochen zu kennen, bedeutete, ihre ganze Familie zu kennen, zu wissen, welche Bücher im Wohnzimmerregal standen (Die Libelle, Das neue Kochbuch von Better Homes & Gardens, Weg in die Wildnis), wie sich der Stuhl aus Bananenrattan im Esszimmer anfühlt und die Rosenmilchlotion auf Mrs. Ververs Frisiertisch duftet – am liebsten hätte ich mein Gesicht darin vergraben.

Ich konnte mich an keine Zeit erinnern, in der ich nicht die mit Teppich belegten Stufen in ihrem Haus hinuntergejagt, um den Esszimmertisch gerannt und auf dem Ehebett der Ververs herumgesprungen war.

Und es gab immer etwas Neues zu erfahren. Geheimnisse, so aufregend, dass man sie nur unter ersticktem Kichern in einem kuscheligen Schlafsack weitererzählen konnte. Wusstest du das?, flüstert Evie und erzählt mir, dass Dusty nach der Sängerin benannt wurde, deren Platte ihre Eltern in der Nacht, in der sie gezeugt wurde, sechzehnmal gehört haben. Das ist spannend und total unmöglich. Nicht mal meine schlimmsten Vorstellungen über die Verruchtheit und Verrücktheit der Erwachsenen lassen den Gedanken zu, dass Mrs. Verver ihrem Kind einen Namen gibt, der eine so intime, schaurige Anspielung ist.

Nicht Mrs. Verver. Ich habe mein ganzes Leben lang neben ihr gewohnt und sie nie laut lachen hören, sie zum Telefon rennen oder auf den feuchtfröhlichen Straßenfesten im Juli tanzen sehen. Ordentlich, verbindlich, ausdruckslose Stimme, sie hatte etwas Flüchtiges, war ein Schatten, der von einem Zimmer ins andere huschte. Sie arbeitete als Beschäftigungstherapeutin im Krankenhaus der Veteranenvereinigung, und ich wusste gar nicht genau, was das eigentlich hieß, aber es sprach auch nie jemand darüber. Meistens sah man sie nur aus dem Augenwinkel vom Flur in ein Zimmer schlüpfen, einen Wäschekorb im Arm oder ein dickes Taschenbuch in der knochigen Hand. Diese Hände schienen immer trocken zu sein, fast staubig, und ihr Körper zu brüchig, als dass ihre Töchter oder ihr Mann sie in den Arm genommen hätten.

Oh, und Mr. Verver, Mr. Verver, Mr. Verver, er ist derjenige, der immer in meinem Herzen vibriert, unter meinen Fingernägeln, an allen möglichen Stellen. Es gibt so viel über ihn zu sagen, und mein Mund bringt es nicht fertig, immer noch nicht. Er summt dort immer noch.

Mr. Verver, der einen Football 50 Meter weit werfen und für seine Töchter kleine Prinzessinnen-Frisiertische bauen konnte, der mit uns Rollschuhlaufen und Bowlen fuhr, der nach frischer Luft und Limonen und Muskatnuss gleichzeitig roch – ein Duft, der für seine Mädchen für immer »Mann« bedeuten würde. Mr. Verver, er war da. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, zu der ich nicht zu ihm aufsah, immer noch mehr hören wollte, mir wurde ganz schwindelig, wenn er mir seine Aufmerksamkeit schenkte.

 

Das sind die guten Dinge, und es gab so viele gute Dinge. Aber dann gab es noch andere Dinge, sie schienen erst später zu kommen, aber was, wenn das gar nicht stimmt? Was, wenn das alles schon die ganze Zeit da war, geräuschlos von einem Winkel in den anderen kroch, aus Evies nächtlichem Geflüster herauszitterte, aus den dunklen Löchern dieses sonnengedeckten Hauses, und ich habe es nicht gehört? Nicht gesehen?

Ich wusste alles und gar nichts.

Heute denke ich manchmal an die Wochen, bevor es passierte, und sie haben etwas Enthüllendes. Es war alles da, all die Hinweise, jeder Winkel ausgeleuchtet. Aber so war es natürlich nicht. Ich hätte es nicht sehen können. Ich konnte es nicht. Nein.

Manchmal, nach all der Zeit, träume ich, ich würde wieder mit Evie Fußball spielen. Erst bin ich allein auf dem Feld. Es ist grün-schwarz, und ich dribble vor mich hin. Meine kurzen, stämmigen Beine. Mein komischer, kleiner, dreizehnjähriger Körper, kompakt und fremdartig. Blauer Fleck auf dem Oberschenkel. Schorf auf dem Knie. Tinte an den Fingern vom Herumkritzeln in der Schule. Strähniges Haar, von kühlem Mädchenschweiß an die Stirn geklebt. Arme wie kurze Spindeln mit kleinen Wurstfingern dran. Kaum Knospen unter meinem glänzenden grünen V-Ausschnitt. Wenn ich mir mit den Händen darüberfahre, sind sie kaum zu spüren. Das Becken noch eckig wie bei einem Jungen, ich drehe mich mit jedem Kick, trete den Ball zwischen meinen Füßen hin und her, warte auf Evie, die blitzartig vor mir ist, heiß und schwarz. Ihr Atem trifft mein Gesicht, ihr Bein schiebt sich zwischen meine und tritt den Ball frei, weg in die grüne Ferne, weiter als sie es beabsichtigt hatte.

Wenn ich jetzt an Evie denke, schlüpft sie durch die Schatten. Große, dunkle, gehetzte, blutunterlaufene Augen. Sie rennt über das Fußballfeld, das Gesicht gerötet, die glatten schwarzen Haare kleben ihr auf dem Rücken. Sie rennt so schnell, der Atem sticht ihr in der Brust von der Anstrengung, noch schneller zu rennen, schneller auf den Rasen einzutrommeln, ihre Beine immer noch schneller zu bewegen, als könnte sie etwas durchbrechen, etwas, das niemand sonst gesehen hat.

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2.

Es ist Mai, der letzte Monat an der Junior High, und Evie, meine beste Freundin, liegt aufgestützt auf Schwester Stangs Untersuchungsliege, die so stahlkalt ist, dass es mir in den Zähnen schmerzt, auch nur hinzusehen.

»Tut das weh?«, frage ich, und Schwester Stang sieht mich irritiert an. Sie hält einen großen Eisbeutel an Evies linkes Auge.

»Von denen hat man nur ein Paar«, sagt sie und stupst Evie genau zwischen die Augen. »Was ist denn das für ein Mädchen, das einem anderen einfach eins mit dem Schläger überzieht?«

»Das war ihre Schwester«, sage ich und lächle Evie vorsichtig an, unter Schwester Stangs erhobenem Arm hindurch.

»Ich war vorm Tor«, sagt Evie, ihr Auge tränt. »Sie konnte nicht anders.«

Dusty hatte uns ihre Tricks gezeigt. Der Star der Highschool, die güldene Göttin der Green Hollow Celts, bereitete uns auf unser erstes Probespiel im August vor. Sie zupfte an unseren zweigdünnen Ärmchen und sagte: Ihr beiden Papierpüppchen habt Jahre mit Fußball verplempert. Mit erhobenem Kinn und den Händen in den Hüften erklärte sie uns, die Zeit sei reif, dass wir den Schritt tun, auf den einzig wahren Sport umzuschwenken und die höheren Weihen des Feldhockeys zu empfangen.

Ich hätte alles getan, was Dusty sagte. Meinetwegen hätte sie uns ewig trainieren können. Selbst wenn sie uns so fertigmachte, dass uns vor lauter Erschöpfung und Hitze fast übel wurde, machte es nichts, denn wir waren mit ihr zusammen, und sie war alles, was wir wollten. Wir waren kurz vorm Kollaps, aber dann sahen wir auf, und sie stand vor uns, mit strahlendem Gesicht, und sagte, ohne es auszusprechen: Das kannst du doch besser, oder? Und wir konnten.

»Du hättest dich schützen sollen«, sagt Schwester Stang. »Die sollen euch Mädchen doch Hockeybrillen geben.«

»Wir haben nur zum Spaß gespielt«, sagt Evie und spuckt ihren Mundschutz aus, der ganz rot ist. Wir alle drei starren ihn an.

»Was zum Henker«, sagt Schwester Stang, plötzlich mit schrillerer Stimme. Sie wirft mir den Eisbeutel zu und guckt tief in Evies Mund, stochert mit dem Finger darin herum und sucht etwas.

»Ich hab mir auf die Zunge gebissen«, sagt Evie mit belegter Stimme. »Ich hab reingebissen.« Ein Strom Blut läuft ihr übers Kinn und mir wird schwummerig. Ich betrachte den Mundschutz, der sauber durchgebrochen ist.

»Du«, ruft Schwester Stang mir zu und hält Evies Zunge zwischen ihren neuerdings purpurroten Fingern, »hol mir mal Nadel und Faden.«

 

Wir gehen nach Hause, und Evie hält sich dicht an mich, streckt mir die Zunge raus, die Mullbinde kitzelt mich fast im Gesicht. Sie gibt gnadenlos damit an. Wir sind ganz versessen auf Kriegsverletzungen. Oh, war sie wütend, als ich mir den Arm verstaucht habe, als ich von der rostigen alten Rutsche im Rabbit Park gefallen bin!

»Dein Dad wird bestimmt sauer auf Dusty«, sage ich und lasse den Schläger über den Gehweg kratzen, was ich nicht soll, aber das Geräusch ist irgendwie befriedigend.

»Glaub ich nicht«, lispelt Evie. »Das gehört zum Spiel.«

Ich denke an die ringellockige Dusty, die Torhüter-Maske keck über die Stirn geschoben. Dann lass mal sehen, du Wurm.

»Du hast das Spiel nicht verstanden«, fügt Evie hinzu.

»Ich verstehe genauso viel wie du, Mamacita«, sage ich und schnipse gegen die Bandage an ihrer herausgestreckten Zunge.

Vor ihrem Haus bleiben wir stehen. Es steht kein Auto in der Einfahrt, und kein einziges Licht im Haus ist an. Solche Gelegenheiten muss man beim Schopf ergreifen, nur nichts verschwenden.

»Gehen wir zu Perry’s?«, sagt sie und zupft die Mullbinde endgültig ab. Ich sehe das Fadenkreuz auf ihrer Zungenspitze. Eins, zwei, drei, vier. Einer für jeden Eckzahn.

 

Das Perry’s: gestreifte Markise, sonst alles weiß wie weiches Vanilleeis. Alle aus unserer Klasse gehen dorthin. Ab Herbst, wenn wir auf der Highschool sind, müssen wir ins Ram’s Horn Restaurant, wo auch mein Bruder Ted hingeht, und da gibt es nichts unter fünf Dollar und keine Barhocker, auf denen man sich drehen kann, und das Licht ist erwachsenenmäßig gedimmt.

Ich esse einen Oreo Sundae und muss mir dauernd Kekskrümel aus den Backenzähnen pulen. Evie isst hochkonzentriert ihr Lieblingseis: Reese’s Peanut Butter Cup Sundae – so eins, wo man einen langen Löffel für den ganzen Erdnussbutterschleim unten in der Spitze des Bechers dazubekommt. Sie schiebt sich den Löffel weit hinten in den Mund, um an den Stichen vorbeizumanövrieren.

Am Tresen stehen ein paar Jungs aus der Schule, werfen die Strohhalmhalter um und knuffen sich, sie wissen gar nicht, wohin mit ihrer Energie. Ihr Lachen klingt wie Eselsschreie.

Einer von ihnen, Jed, entdeckt uns und wirft zusammengeknüllte Strohhalmpapierchen in unsere Richtung. Ich würde am liebsten gleich wieder gehen. Aber Evie sieht mich fest an und schüttelt den Kopf, ihr Pony hängt ihr vor den Augen. Ich streiche ihn ihr zur Seite und sehe, dass sie langsam blaue Flecken im Gesicht bekommt. Ich winde mich auf dem Sitz, meine Schenkel kleben am Plastik. Jed hat lockiges blondes Haar und eine Hakennase. Ich weiß noch, wie er in Sport einmal Evie hinten die Hose runtergezogen hat.

Sie sagt, er hat sie dort auch angefasst, und alle haben es gesehen.

Wir warten zu lange, Jed gerät in Wallung und stolziert auf uns zu wie eine Taube. Ich versuche, Evie in die Augen zu gucken. Ihr Pony ist wieder darübergefallen, und sie starrt in ihren Eisbecher und matscht mit dem Löffel in der schaumigen Sprühsahne herum. Aber sie wird ein kleines bisschen rot, also sieht sie Jed.

Sie steckt sich die Zunge in den Mundwinkel.

»Hey«, sagt er, die Hände in den Hosentaschen, den Kopf auf die Seite gelegt.

»Hey«, sage ich und trete Evie leicht vors Schienbein.

Jed steht eine Weile schweigend da, dann steckt er seinen Knubbelfinger in Evies Eisbecher und zieht einen klebrigen Faden heraus, der zwischen seinen Fingern hängt. Mit einem fiesen Grinsen steckt er sich die karamellklebrigen Finger in den Mund und schmatzt.

Sie sieht ihm zu, wir beide, in mir fängt etwas an zu hüpfen, und ich muss mich beherrschen, weil es um Evie geht, es ist ihr Eis, und ich bin nicht sicher, was hinter ihren dunklen Augen vorgeht.

Aber sie tut nichts, sie sieht mich an und fragt, ob wir gehen können, und ich sage ja. Sie ist so cool, so normal, als sie ihre Sachen zusammensucht, und wir schweben fast zur Tür.

Jed folgt uns, klar, und ärgert uns mit Sprüchen wie »Was habt ihr denn, Mädels, wollt ihr nichts abgeben? Wollt ihr mir nicht die Finger ablecken?«

Der Rest der Jungs spielt Publikum und sieht sich die Show an. Evie rückt ihren Rucksack zurecht und will gehen, aber ich halte es nicht mehr aus. Mein Blick fällt auf den modderigen alten Springbrunnen, wo die Kinder glitschige Pennies rausfischen, ich lasse meine Tasche fallen, tauche die Hände hinein und spritze Jed mit einem großen Schwung nass.

Die Jungs lachen sich kaputt, und Jed ist schlammnass und begeistert.

Das will er also von mir, denke ich, das wollen sie doch alle.

Er packt mich um die Taille, so fest um die Rippen, dass es wehtut, und reibt sein nasses Haar an meinem Hals. Ich kann nicht anders als das herrlich finden, alle Kinder kreischen, und ich befreie mich, stolpere fast und ziehe meinen runtergerutschten BH-Träger wieder hoch.

Ich kann mich kaum zu Evie umdrehen, als Jed sie auch schon gepackt hat und sie zum Springbrunnen zieht, ihre Sneaker rutschen über den Boden. Sie ringen kurz an dem bräunlichen Wasserstrahl, Evie tritt um sich, und dann stößt sie ihm kräftig den Ellbogen in die mageren Rippen und befreit sich aus seinen sommersprossigen Armen.

Sie taumelt zurück und ist irgendwie das Zentrum von uns allen.

Wir alle sehen, dass Evies gelbes T-Shirt patschnass von der ekligen Brühe ist.

Der Anblick ist überwältigend. Jed kann den Blick nicht von ihr wenden.

Evie bedeckt die harten Konturen ihrer kleinen Brüste nicht, aber ich möchte, dass sie das tut. Ich möchte sie bedecken, diese kieselsteinartigen Brüste. Ich merke, dass ich rot werde und senke den Kopf, ich möchte die Arme vor meiner eigenen Brust verschränken. In mir steigt ein sonderbares Lachen auf.

Aber Evie stemmt die Arme in die Seiten und starrt Jed mit ihren schiefergrauen Augen nieder. Durch ihre Haltung liegt das klebrige T-Shirt nur noch enger an.

Ich lache mit der Hand vor dem Gesicht.

 

»Die Jungs kommen wegen ihr«, hat Evie mir einmal erzählt. Spät nachts hatten wir, in ihrem Bett aneinandergeschmiegt, über Dusty geredet. Wir reden gern über sie und spinnen ganze Knäuel von Geschichten. Was, wenn Becky Hode versucht, an ihrer Stelle Teamcaptain zu werden? Was, wenn das mit Mr. Douglas, dem hohlwangigen Naturwissenschaftslehrer, stimmt? Hat er wirklich gesagt, es gebe kein besseres Beispiel für die subtile Poesie der Strömungslehre als Dusty, wenn sie den Gang im dritten Stock langgeht?

»Auf der anderen Straßenseite sitzt Bobby Thornhill in seinem Auto«, erzählte Evie. »Er glaubt anscheinend, man sieht ihn nicht. Ist das nicht gruselig?«

»Kann sein«, sagte ich und dachte an Bobby Thornhill, den galoppierenden Star der Aschenbahn, mit dem schwarzen Haarschopf und den Murmelaugen, die geradezu um seinen Kopf herumrollen, wenn er mit seinen Pferdebeinen auf die Bahn trommelt.

»Was macht er da?«, fragte ich vorsichtig. »Wenn er da sitzt, du weißt schon, macht er da was?«

Evie sah mich an. »Ich schätze, kann schon sein.«

»Oh«, sagte ich und fühlte mich ganz komisch, als wäre alle Luft aus mir rausgesaugt worden. Ich denke an Bobby auf dem Fahrersitz im Auto seiner Eltern, in der tannengrünen Uni-Jacke mit dem Chenille-C. Er kauert da und starrt hoch zu Dustys Schlafzimmerfenster, den duftigen Vorhängen, Dustys duftiger Mädchenhaftigkeit.

Es muss ein wundersames Ding für ihn sein, die Vorhänge und das rosa Licht aus ihrem Zimmer. Ein herbeischwebender Hauch von Dusty. Ein Hauch, den er nur so gerade eben wahrnimmt. Und das Gefühl muss so toll sein, ein solcher Druck in ihm, und er kann, er kann …

Der Gedanke kommt mir, das kenne ich auch, das kenne ich. Aber er ist schon verschwunden, bevor ich ihn zu Ende denken kann.

Ich liege da und lausche Evies Atem, er geht schnell.

 

Ich bin dreizehn, wie gesagt, und ich habe weiche Grübchen, wo meine Oberschenkel in die Knie übergehen. Nachts liege ich im Bett, die Hände zwischen die Beine gesteckt, und denke über alles Mögliche nach, und dann wird es so real, und da ist so eine Hitze und so ein Druck, und wenn ich mir Mühe gebe, kann ich, als wäre eine Spannung in mir drin, dafür sorgen, dass die ganze Welt aufbricht und mich in Stücke reißt.

Es gibt Jungs und es gibt Jungs, aber in meinem Kopf sind sie besser, weil sie da nicht so ruppig sind, Jungs wie Brad Nemeth, der mich auf der Party bei Tara Leary auf seinen Schoß ziehen wollte, mich auf seinen Schoß zog, sodass meine Shorts hochrutschten und ich den Jeansstoff seiner Hose unter meinem Schenkel spürte, und dann hat er so geguckt, und sein Gesicht so nah an meinem.

»Der hat sich ja an dir gerieben wie im Pfadfinderlager«, sagte Evie später. »Als könnte er Feuer machen, wenn er doll genug rubbelt, und eine Medaille kriegen.«

Evie konnte solche Sachen sagen, und dann war plötzlich alles einfacher. Wir lachten und lachten, und Jungs hassen es, wenn man zusammen über sie lacht. »Als würde man einen rosa Radiergummi abradieren«, sagte Evie. »Er wollte sich an dir reiben, bis von dir nur noch der Metallring übrig ist.«

In dieser Nacht, in dieser Nacht aber spürte ich den weichen Teil zwischen meinen Schenkeln, das rosa Tüpfelchen brennen, zart wie neue Haut. Es machte Dinge mit mir.

Ich wache erschrocken auf, meine Beine zucken. Eine Autotür muss zugeschlagen worden sein, es muss gedonnert haben, oder ein Waschbär in jemandes Mülltonne gewesen sein, ein verfrühter Feuerwerkskörper, irgend so was. Ich zerre an meinen Füßen, befreie meine Fesseln aus dem Knoten im Bettlaken und warte einen Augenblick, lausche, was es war, aber da ist nichts mehr außer dem Ächzen des schlafenden Hauses. Dieses einsame, verlorene Gefühl, als wären alle anderen außer einem selbst in einer prächtigen Samtwelt versunken.

Meine Zahnspange rutscht mir über die Zähne und kitzelt, ich lege mich wieder hin und schaue auf die verschwommenen weißen Stellen der Fußballpinnwand an meiner Tür.

Ein paar Sekunden später fällt mir ein, dass ich geträumt habe. Mein Traum hat mich geweckt, und der Traum ging so:

Evie liegt auf dem Boden neben meinem Bett, in ihren Schlafsack eingemummelt, dunkelrosa wie üppige Lippen. Ich schaue zu ihr hinunter, ihr Mund ist mit Wattebäuschen vollgestopft, wie eine Aspirinflasche. Mit dunklen Augen, die wie lose in ihrem Kopf sitzen, sieht sie zu mir auf, und eine gebräunte, knochige Hand schießt hoch und zuckt, die Wattebäusche purzeln ihr büschelweise aus dem Mund. Ich habe keine Ahnung, ob sie lacht. Irgendwie muss sie wohl lachen, als wären wir gerade mitten in einem Witz, und ich müsste eigentlich auch lachen, aber ich höre die ganze Zeit so ein merkwürdiges Plärren, und ich kann mich nicht konzentrieren.

Etwas zerrt an meinem Knöchel, ihre knotigen Finger, ihre Augen sind groß und verzweifelt, und sie flüstert, und es ist, wie wenn man bei einer Schlafanzugparty einen Film mit schimmernden Sägen und glitzernden Hackmessern guckt, und mein Herz wird ganz kalt. »Passiert es? Passiert es?«

Der Traum lässt mich immer noch nicht los, ich setze mich wieder auf und versuche, dieses düstere Gefühl abzuschütteln, aber es geht nicht. Das Gesicht, Evies heiße Hand an meinem Bein, ich bin immer noch dort. Ich zähle dreimal bis zehn, wie damals als Kind bei Gewitter. Das funktioniert immer, auch dieses Mal.

Aber als ich fast wieder eingeschlafen bin, ist mir auf einmal, als würde ich die Stimme meiner Mutter hören, sie redet und seufzt dann schwer.

Da ist es wieder, dieses komische, haltlose Gefühl, als wäre alles verrutscht, während ich geschlafen habe. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie außer in der Zeit der Scheidung jemals um diese Uhrzeit telefoniert hätte. Ihre Stimme klang dann immer kratzig und gehetzt, voller Heulen und Zähneknirschen.

Das hier klingt fröhlich, mit einem koketten Kichern dazwischen.

Es klingt, als stünde sie vor dem Haus, und mir fällt ein, wie ich sie einmal, kurz nachdem mein Vater ausgezogen war, im Garten überraschte, das Telefon an Wange und Ohr gedrückt, sie stand weinend hinter der alten Eiche, weinte heiser, verzweifelt, die Hand vorm Gesicht.

Aber dann höre ich eine tiefere Stimme, und ich weiß Bescheid. Ich weiß, sie telefoniert gar nicht. Ich weiß, es bedeutet, dass dieser Mann bei ihr ist. Ted hat ihn zuerst gesehen, aus seinem Fenster. Am nächsten Tag hat er mir davon erzählt, und von da an habe ich darauf geachtet. Dr. Aiken heißt er, sagt Ted.

Und sieh dir mal seinen Ehering an, hatte Ted gesagt, aber ich war nie nah genug dran, um ihn sehen zu können.

Er kommt immer ganz spät und betritt nie das Haus. Deshalb weiß ich, dass sie draußen auf der Veranda sitzen und Whiskey trinken, und er fährt sich übers Gesicht und sagt immer und immer wieder: »Ich weiß, ich sollte nach Hause gehen, Diane, ich weiß das.«

Er geht aber nicht, oder erst morgens um fünf, die Schuhe in der Hand, die Krawatte lose um den Hals, schleicht er über den Rasen zu seinem Auto.

 

Am nächsten Tag stehen Evie und ich vor der Schule, klopfen unsere Schläger im Takt aneinander. Der Traum von letzter Nacht schwirrt mir noch im Kopf herum, und ich denke darüber nach, Evie davon zu erzählen, aber dann überlege ich es mir anders. Eigentlich will niemand die Träume anderer Leute hören.

Jedenfalls ist es einer dieser Tage, an denen wir nicht miteinander reden, nur zusammen sind, zusammen herumlaufen, unsere neuen Hockeyschläger aneinanderschlagen und uns die verschwitzten T-Shirts vom Körper zupfen.

Ich muss immer noch die ganze Zeit den lila Fleck auf Evies Schläfe anstarren. Er sieht aus, als könnte er sich einfach ablösen und davonfliegen. Wie ein lila Schmetterling, der über dein Gesicht flattert, erkläre ich ihr.

Sie tastet mit der Hand danach, und ich spüre es fast so deutlich, als würde er auf meinem eigenen Gesicht pulsieren, ein leises Pochen.

»Was hat dein Dad gesagt?«, frage ich sie und stelle mir Mr. Ververs gerunzelte Stirn vor, wie damals, als ich bei ihnen auf der Treppe ausgerutscht bin, ich war zu schnell gerannt und hatte nur Strümpfe angehabt, war drei Stufen hinuntergeschlittert und hatte mir die Waden aufgescheuert.

»Er hat mir bei Ketchums ein rohes Steak zum Drauflegen gekauft«, sagt Evie. »Mom meinte, es hätte mehr gekostet als ihr Hochzeitstagsessen.«

Das klingt genau nach Mrs. Verver, die alles irgendwie gelangweilt sagt.

»Er hat mich den ganzen Abend Rocky genannt.« Evie grinst.

Wir verdrehen die Augen, aber eigentlich finden wir es toll. Wenn die Jungs sich lustig machen, will man es lieber nicht abkriegen, aber wenn Mr. Verver einen aufzieht, fühlt man sich wie von warmen Händen getragen.

Evie stößt ihren Hockeyschläger in die Luft wie Zorro. »Dusty meinte, ich sehe eher aus wie eine verprügelte Ehefrau in einer Talkshow.«

Dann erzählt sie, wie sie nach dem Abendessen noch zu Reynold’s gegangen sind und er ihr Pekannusskuchen spendiert hat, den guten, der so süß zwischen den Zähnen knirscht. Sie tat der Kellnerin so leid, dass sie sogar noch eine Extrakugel Eis dazu bekam.

Ich stelle mir vor, selbst mit Mr. Verver dort zu sitzen, Teller mit klebrigem Kuchen zwischen uns, und dass die Kellnerin ihm bestimmt sowieso immer eine Extrakugel Eis serviert. Kellnerinnen sind immer so zu Mr. Verver, genauso wie sämtliche Mütter beim Elternabend aufgeregt um ihn herumflattern, ihm Kekse mit Zuckerguss auf den Teller legen und ihn zu ihren Lesekreisen einladen.

Ich wünschte, sie hätte mich zu Reynold’s mitgenommen, wie sonst manchmal, und Mr. Verver hätte mir wieder Schlagsahne auf die Nase getupft.

Ganz plötzlich jucken mir die Knöchel, und ich würde gern die Tennissocken ausziehen.

Ich sehe die Straße hinunter, die nachmittagsstill daliegt. Die Sommerhitze hat früh eingesetzt, sie flirrt über dem Asphalt.

»Wohin gehst du denn mit deiner Mom?«, fragt mich Evie und sieht einem Auto nach, das über die Bremsschwelle vor der Schule hoppelt.

»Shoppen«, sage ich. »Ziehst du das alte Kleid von deiner Schwester an?« Ich muss an das lavendelfarbene Laura-Ashley-Kleid mit dem Bahnenrock denken, das Dusty bei ihrer Middle-School-Abschlussfeier getragen hat. Ihre üppigen Locken, wie sie ihren Rücken hinunterflossen, und ihr stolz strahlendes Gesicht – das vergaß man nicht so schnell.

Ein rotbraunes Auto taucht wie aus dem Nichts auf und fährt schnell an uns vorbei.

»Weiß ich noch nicht.« Evie tritt mit der Schuhspitze auf den Gehweg.

Sie kneift die Augen zusammen und sieht die Straße entlang. »Ich glaube, da kommt sie.«

Der hellbraune Tempo meiner Mutter taucht am Horizont auf.

»Wir können dich mitnehmen.«

»Ach, lass mal.«

Evie hat den Hockeyschläger über ihre Schulter geschwungen und dreht ihn hin und her. Ich höre den stotternden Motor unseres Autos, meine Mutter hält neben uns.

Der Augenblick zieht sich in die Länge, ich weiß nicht, warum.

Evie sieht am Auto meiner Mutter vorbei Richtung Schule.

»Da hat sich wohl jemand verfahren«, sagt sie.

»Was …« will ich gerade fragen, als das rotbraune Auto noch einmal lautlos an uns vorübergleitet. Ein Gedanke flackert kurz in mir auf, aber ich kann ihn nicht einordnen.

Ich drehe mich um und sehe diesen typischen Evie-Ausdruck, ruhig und gefasst, ihr Mund ein Strich und ihr argloses, offenes Gesicht wie ein glattgezogenes, weiches Laken, alle Ecken versteckt. Ich wirble meinen Schläger herum und lasse ihn gegen ihren knallen.

»Ruf mich an«, sage ich und wende mich zum Auto. Meine Mutter sieht uns durch ihre große Sonnenbrille an und lächelt gedankenverloren.

Ich öffne die Autotür und stecke den Kopf hinein. »Mom, kann Evie mitkommen?«

Aber als ich mich wieder umdrehe, ist Evie nicht mehr da, hinter der hohen Hecke verschwunden, hinter den Steinsäulen der alten Schule.

Sehe ich es ihr an, als sie mich anschaut, als sie jeglichen Ausdruck aus ihrer Miene tilgt? Höre ich sie sagen, mit leiser Stimme, in diesem gegenseitigen Wissen, das wir immer hatten, höre ich sie sagen Das ist das letzte Mal, das ist das letzte Mal?

Dieses Gesicht, mein Gesicht, für immer verloren.

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3.

Das Telefon klingelt, es ist halb elf abends. Ich putze mir gerade die Zähne, als es passiert, und ich hoffe, es ist nicht mein Vater, der aus Kalifornien anruft, vom Balkon seiner Wohnung, ein Schwanken in der Stimme, und davon redet, wie wir früher am Old Pine Lake Kanus gemietet haben, oder wie er die Schaukel im Garten aufgebaut hat oder andere Sachen, an die ich mich gar nicht mehr richtig erinnere, er aber schon, immer dann, wenn er ein zweites Glas Wein getrunken hat.

Aber er ist es nicht, und meine Mutter klingt besorgt und verwirrt.

»Ich spreche sofort mit ihr«, sagt sie, und ich überlege, was ich ausgefressen habe. Ich war letzte Woche zweimal zu spät in Mathe, aber rufen sie deswegen abends um halb elf die Eltern an?

Nachdem sie aufgelegt hat, lässt sie die Arme sinken und holt tief Luft.

Sie streicht sich Haarsträhnen hinters Ohr, was sie immer tut, wenn sie aufgebracht ist, und ich muss mich an den Küchentisch setzen.

»Ich frage dich jetzt was«, sagt sie, »und du musst mir die Wahrheit sagen.«

Ich sage, natürlich tue ich das.

»Okay«, sagt sie, ihre Hände zittern, und ich habe ein schlechtes Gewissen, obwohl ich keine Ahnung habe, weswegen. »Weißt du irgendetwas darüber, warum Evie heute nicht aus der Schule nach Hause gekommen ist?«

Ich schüttele den Kopf und sage, dass ich nichts weiß. Ich weiß überhaupt nichts. Das ist die Wahrheit, aber ich fühle mich, als würde ich lügen.

Meine Mutter, das Gesicht ganz weich und rosig, nimmt meine Hand in ihre und fragt mich noch einmal. Und noch einmal.

Aber ich weiß nichts. Ich weiß es nicht, ich weiß gar nichts.

Aber irgendwo, irgendwo im hintersten Winkel meines Kopfes ist irgendetwas. Da ist etwas. Ich komme nur nicht ran.

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4.

Jetzt passiert es, denke ich, aber ich weiß selbst nicht, was das bedeuten soll. Irgendwie fühlt es sich an, als ob das, was gerade geschieht – was auch immer es ist –, eigentlich schon länger geschieht, schon ganz lange, ich habe das Gefühl, ins Bodenlose zu stürzen, etwas Namenloses, das Gefühl einer Gefahr, und ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll.

Ich habe sie gesehen, ihre dunklen Haarsträhnen, die Sportsocken hoch bis übers Knie gezogen. Ich habe sie gesehen.

Evie war da, und dann war sie weg.

Ich schiebe die Finger zwischen die Lamellen der Jalousie und spähe zum hell erleuchteten Haus der Ververs hinüber.

Erst vor fünf Tagen habe ich dort übernachtet, wir haben Pyjamas getauscht und Musik gehört und uns sogar ein Kapitel aus dem dicken Taschenbuch vorgelesen, das neben Mrs. Ververs Sessel lag, das mit dem leicht geöffneten Frauenmund auf dem Cover, und ein männlicher Finger berührt ihn. Evie meinte, der Finger sei so behaart, und ihr gefalle es nicht, dass sie immer Sex im Stehen haben. Trotzdem lasen wir einige der Szenen zwei- oder dreimal, immer abwechselnd. Ich versuchte mir vorzustellen, wie das wohl ist, diese Körper und das rauschende Blut und die hervorschnellenden Zungen. Es schien alles so heftig, drängend, feucht. Ich hatte ein komisches Gefühl im Bauch, und wir legten das Buch beiseite, und ich war froh darüber.

Stunden später dachte ich noch immer an das Buch, in Evies Zimmer war es dunkel, ich betrachtete das Fußball-Mobile, das tanzende Schatten an die Wand warf. Dusty und Mr. Verver saßen auf Gartenstühlen auf der Veranda, ihre Stimmen drangen zu uns herauf. Ich hörte sie lachen, sein Lachen war immer so heiter, so heiter, wie er nun mal ist.

Man spürt Mr. Verver immer im ganzen Haus, dieses Lachen, tief und karamellig. Er erfüllt das Haus, durch ihn ist es voller schöner Dinge und Dummheiten und Spaß. Als wir noch kleiner waren, hat er mit uns Brettspiele gespielt und dabei immer geschummelt, aber man konnte ihm nicht böse sein. Er hat es angekündigt, als wäre es Teil seiner Strategie, und dann zwinkerte er, und man fühlte sich wie sein Komplize. Man wollte ihm fast noch dabei helfen. Dusty schimpfte immer mit ihm und ließ ihn manchmal auch einfach eine Runde aussetzen. Diese Spiele dauerten Stunden, und man wollte nicht, dass sie je aufhörten.

»Dusty ist von ihrem Date zurück«, flüsterte Evie, und mir wurde klar, dass sie ebenfalls den beiden da unten lauschte. Ich setzte mich in meinem Schlafsack auf und rutschte an ihr Bett heran.

»Mit Tom Mullan?«, fragte ich, und Evie machte »pssst«.

»Hör mal«, wisperte sie, »hör einfach zu.«

Die Stimmen von Dusty und Mr. Verver drangen ganz leise durchs Fenster zu uns herauf. Wir hörten Dusty, sie klang abgeklärt und albern zugleich, so war sie immer gegenüber ihrem Dad, bei niemandem sonst.

»Er macht also den Motor aus und …«

»Sag nicht, er hat behauptet, das Benzin wäre alle.«

Schallendes Gelächter von Dusty. Ich erinnerte mich an eine Woche im letzten Sommer, als mein Bruder ein paar Mal mit Dusty ausgegangen war, und überlegte, ob sie danach auch mit Mr. Verver da gesessen und mit ihm über meinen Bruder gelacht hatte.

»Nein, er macht einfach den Motor aus und dreht sich zu mir um und sagt: ›Baby …‹«

»Baby? Er hat dich im Ernst Baby genannt? Der Arme. Der muss echt komplett verknallt sein.«

»Er sagt also: ›In diesem weißen Kleid siehst du aus wie ein Engel.‹ Und dann …«

»Aber das bist du ja auch, Baby, das bist du …« Ich konnte Mr. Ververs Grinsen geradezu sehen.

»Dad, hör auf!« Dusty konnte sich vor Lachen kaum noch halten. »Er beugt sich also zu mir, und auf einmal lutscht er an meinem Ohr rum.«

»Und, hast du das bei ihm auch gemacht? Ich habe dir doch Benimm beigebracht. Ich meine, er wollte dich doch zum Essen einladen, oder?«

Dusty quiekte nur noch atemlos.

»Sag schon. Was hast du gemacht?« Mr. Verver lachte. »Der arme Junge.«

»Was soll ich schon gemacht haben? Er hat meinen Perlenohrring verschluckt und wäre fast erstickt. Ich konnte nur noch lachen. Ich hab ihm auf den Rücken gehauen, und da kam er wieder raus.«

»Kann ich mir gut vorstellen, dass er da wieder rauskam«, sagte Mr. Verver, eine winzige Atempause folgte, und dann schrien beide vor Lachen wieder los.

Evie starrte mich die ganze Zeit an, wartete darauf, dass ich lächeln oder etwas sagen würde, aber ich blieb still, ich wusste nicht, was sie hören wollte.

Ich war einfach fasziniert – ach, diese beiden. Jeder lässt sich gern von ihnen verzaubern, sie mit ihrem harten, taxierenden Blick, er mit seinem weichen, einladenden.

So war es bei ihnen zu Hause, und man konnte so viel Spaß haben. Wäre es nicht toll, dachte ich – war das wirklich erst vor fünf Tagen? –, wenn ich mich so mit Mr. Verver über Jungs unterhalten könnte? Mit Evie stundenlang UNO spielen und Dusty dabei zusehen, wie sie ihre duftigen Kleider anprobiert, und bis zum Morgengrauen mit Mr. Verver Musik hören?

 

Es ist eine lange Nacht, und meine Mutter geht auf dem Flur auf und ab, kontrolliert dreimal die Fensterläden, und die Haustür auch. Sie scheint die ganze Nacht herumzulaufen, gegen Stühle zu stoßen, den Fernseher an- und wieder auszuschalten. Und ich versuche zu schlafen, ich versuche, die Gedanken wegzuschlafen, die sich wie dunkle Flecken in meinem Kopf ausbreiten.

Aber die Gedanken kommen trotzdem, und die Gedanken fühlen sich an, als ob sie für sehr schlechte Träume sorgen werden.

 

Am nächsten Tag begleitet meine Mutter mich zu den Ververs. Im Fernsehen muss man immer vierundzwanzig Stunden abwarten. Erst nach vierundzwanzig Stunden hat es was zu bedeuten. Es ist erst einen halben Tag her. Das sage ich meiner Mutter, die meine Hand während der sieben Schritte zwischen unseren Häusern fest umklammert hält.

Sie bleibt stehen und sieht mich erschöpft an. »Bei Kindern nicht«, sagt sie, »bei Kindern muss man nicht abwarten.«

»Aha«, sage ich, und sie sieht aus, als wolle sie noch etwas sagen, aber sie tut es nicht, zwingt sich dazu, es nicht zu tun. Aber dann schafft sie es doch nicht.

»Bei Kindern kommt es auf jede Minute an. Da kann in einer halben Stunde alles vorbei sein. Du machst dir keine Vorstellung.«

Ich spüre ein hartes Stechen in der Brust. Das ist das Schlimmste, was ich je gehört habe. Was meint sie denn damit. Was soll das heißen?

Sie ist so angespannt, dass sie gar nicht merkt, wie ich zusammenzucke, und bevor ich etwas erwidern kann, hat sie mich durch die Seitentür der Ververs gezogen.

 

Im Wohnzimmer stehen zwei Detectives, sie bitten meine Mutter zu warten und bringen mich nach oben. Ich habe immer noch Mr. Ververs Gesicht vor Augen, als er uns die Tür aufgemacht hat, voller Emotionen, sein ganzer Körper irgendwie in Bewegung, er kratzte sich an den Oberarmen und wippte auf den Füßen.

Er gibt sich viel Mühe, finde ich. Er gibt sich Mühe, und Dusty kocht Kaffee, eingehüllt in ein übergroßes Sweatshirt, bei dessen Anblick ich schon anfange zu schwitzen. Sie versucht, sich zusammenzureißen, und verschüttet immer wieder Kaffeepulver, und als sie sich hinkniet, sehe ich eine große Träne, die ihr die Wange hinunterläuft, aber sie wischt sie mit ihrem ballonartigen Ärmel schnell weg, und als sie wieder aufsteht und mich ansieht, hat sie wieder trockene Augen und wirkt gefasst.

Oben in Evies Zimmer, mit den beiden Männern in Schlips und Kragen, fühlt sich mein Kopf heiß an, und alles in mir ist aufgewühlt, als ob meine Nerven zucken. Es ist einfach alles zu viel, und ich stehe hier und soll mich erinnern, soll erzählen.

Ich atme ein und aus, ganz oft, ganz tief. Als Erstes fragen sie mich, ob irgendetwas in ihrem Zimmer anders aussieht, tut es aber nicht. Ich soll mich genau umsehen, aber es gibt nichts zu sehen. Ich sehe nichts. Ich denke nur die ganze Zeit, wie seltsam es ist, dass dieses Eviezimmer – die Fußballlampe, ordentlich gestapelte Schulbücher, säuberlich aufgereihte Bleistifte mit leuchtend bunten Radiergummis am Ende und der Magic 8 Ball auf ihrem Schreibtisch (der jedes Mal Frag später noch einmal antwortet) – jetzt von zwei Männern mit gestreiften Krawatten eingenommen wird, die die Köpfe einziehen müssen, um sich nicht an den Dachschrägen zu stoßen. Sie stellen mir bestimmt eine halbe Stunde lang Fragen, immer dieselben. Ich sitze auf dem Bett, auf Evies knotiger gelber Tagesdecke. Ich weiß nicht, wo ich hinsehen soll, also starre ich auf den dicken rötlichen Schorf auf meinem Knie, vom Training, ich fahre mit den Fingernägeln unter dem Rand entlang, zupfe ganz vorsichtig daran.

»Lizzie«, sagt einer der beiden, »hat Eveline – Evie – gesagt, dass sie auf jemanden wartet?«

»Nein. Sie wollte zu Fuß nach Hause gehen.«

»Geht ihr sonst immer zusammen nach Hause?«

»Ja, aber ich bin einkaufen gefahren.«

Sie wiederholen ihre Fragen. Ich wiederhole meine Antworten, fahre mit den Fingern über mein Knie, über die Struktur des Schorfs. Die Fragen gehen jetzt in eine andere Richtung.

»Hat Evie einen Freund?«

Ich merke, dass ich rot werde, und fühle mich dann blöd deswegen.

»Nein«, sage ich.

»Hat sie jemals mit dir über Jungs geredet? Jungs, die sie mag, oder die sie vielleicht mögen?« Einer der Detectives setzt sich neben mich, die Matratze ist plötzlich schief.

»Nein«, sage ich noch einmal. »Nie.«

VERMISST: Eveline Marie Verver, dreizehn Jahre alt. Größe 1,55 m, Gewicht 40 kg. Haarfarbe: Dunkelbraun. Augenfarbe: grau.

Zuletzt gesehen am 28.5. auf dem Heimweg von der JFK Junior Highschool. Sie ist bekleidet mit einem gelben T-Shirt mit einem Schmetterling darauf, blauen Shorts und Turnschuhen.

Besondere Kennzeichen: Bluterguss über dem linken Auge. Kleine weiße Narbe am Oberschenkel innen.

Das hängt jetzt an allen Strommasten und in den Schaufenstern. Alles daran wirkt falsch, schon der Name.

Wenn man als Mädchen zusammen aufwächst wie wir, ist man sich körperlich so nah. Manchmal sah ich an meinem linken Bein hinunter und wunderte mich, wo der weiße Kringel geblieben war, die halbmondförmige Narbe, von einem Nagel, der sich dort hineingebohrt hatte, als Evie in der zweiten Klasse mit Dustys Fahrrad hingefallen war, Dusty hatte sie so schnell angeschoben, die Hände an Evies Rücken. Dann fiel mir ein, dass das ja gar nicht meine Narbe war, sondern Evies, obwohl ich sie manchmal mit den Fingerspitzen fast ertasten konnte, wie bei den Soldaten, über die wir in Geschichte gesprochen hatten, mit ihren Phantomgliedmaßen.

Diese körperliche Nähe, das kommt von den vielen Nächten, aneinandergekuschelt im Pfadfinder-Zelt im Garten hinterm Haus, oder davon, im Schwimmbad gemeinsam das Chlor abzuduschen, zusammen im weichen Gras neben dem Fußballfeld zu liegen, unsere Verletzungen zu vergleichen, auf dem blauen Fleck der anderen herumzudrücken. An unseren Badeanzügen zu zupfen, gespannt zu sein, wer als Erste einen BH tragen wird, obwohl Evie schon wusste, dass ich es sein würde, aber sie war diejenige, die solche Bauchkrämpfe hatte, dass sie sich krümmte und ganz weiß wurde. Manchmal fühlte ich diese Krämpfe mit. Manchmal fühlte ich die Schmerzen genauso wie sie. Ich wollte sie mit ihr fühlen.

Wir teilten alles, unsere Tennissocken und Radiergummis, unsere Zopfspangen und Winterstrumpfhosen. So nah waren wir uns. Manchmal blinzelten wir sogar im Gleichtakt.