Das enge Land - Urs Widmer - E-Book

Das enge Land E-Book

Urs Widmer

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Beschreibung

Es ist von einem Land die Rede, das so schmal ist, daß, wer quer zu ihm geht, es leicht übersehen könnte ­ wer längs, sowieso. Es ist zwar ziemlich lang, einige hundert Kilometer, aber nur etwa einen Meter fünfzig breit. Weiter geht es um die großen Anstrengungen der kleinen Menschen, ein zärtliches Leben zu führen, unter einen Himmel geduckt, über den Raketen zischen können ...

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Urs Widmer

Das enge Land

Roman

Diogenes

Im Frühling dieses Jahres, das nun in Eis erstarrt auf sein Ende wartet, saß ich neben meiner Mutter, einer Frau aus Urgestein, in einem Lehnstuhl und sah in den Fernseher, dessen Bildschirm – wir feierten meinen vierzigsten Geburtstag – ich gerade eben zertrümmert hatte. Er hatte eine farbige Vergangenheit gezeigt, in der ein Mann mit einem Turban und eine Frau durch tiefen Sand einem Hund nachrannten. Sie wateten. Später – nun saßen sie zwischen den Ohren der Sphinx, die der Frau, einer fremden bleichen Schönheit, ein bißchen glich – sahen sie Wange an Wange, den gefangenen Hund zwischen sich, über den Nil und den flachen Dunst einer Wüste, durch den sich weit hinten der Kopf und der Höcker eines Kamels bewegten. Irgendwie hatte ich die Geschichte nicht ertragen, vielleicht, weil die Frau den Hund, als sie ihn gepackt hatte, herzte und küßte, bis er jaulte. Der Mann, dunkelhäutig und ernst, stand daneben. Jedenfalls, der Lehnstuhl, aus dem ich einen Hammer in die flimmernde Mattscheibe warf, war der, in dem mein Vater gesessen hatte, bevor er starb. Er hatte ein Jahr lang ununterbrochen immer dieselbe Melodie gepfiffen. Immer war er um vier Uhr früh aufgestanden, mit einem Gesicht, in das die Morgenschmerzen Furchen gepflügt hatten. Dann saß er unten in der Werkstatt vor den Fernsehern, die er reparieren mußte. Sie war mit kaputten Geräten vollgestapelt; mein Vater ließ sich Zeit; dafür war er billiger als die Vertragswerkstätten von Telefunken oder Grundig. Er aß Spalttabletten, rauchte Zigaretten und trank aus einer runden Glaskugel Kaffee, eine Tasse nach der andern. Dazu pfiff er, jene fremdartige Melodie, die mir vertraut wurde wie keine andre und die ich nie nachpfeifen konnte; ihr Schluß verband sich so mit ihrem Anfang, daß er nie Luft holen mußte, und er konnte dazu rauchen. Auf der Straße hörten die Frühaufsteher seine Pfiffe. Sie sahen seinen Kopf hinter dem beschlagenen Schaufenster, seinen verbleichten Fez, den er seit einer fernen Zeit trug, in der er in Kairo gewesen war und Rundfunkgeräte geflickt hatte, runde Holzkisten mit glühenden Röhren, die nach verbranntem Staub rochen. Nach dreißig Jahren Frankfurt hatte er immer noch einen Akzent – die Laute quälten sich zuweilen seinen Rachen hinauf –, und wenn er schrieb, vergaß er manchmal die Vokale. Mit Fernsehern kannte er sich so gut aus, daß, mitten im Westend, aus den Geräten, die im Schaufenster standen, chinesische und ugandische Programme kamen. Er schaute mit seinem skeptischen Gesicht zu den Wolken hinauf, drehte an der Antenne, und plötzlich sahen wir Neger, die Engländer auspeitschten, ohne Ton. Dann lachte er. In einer Nacht weckte mich ein Geräusch, das es in der Welt der Lebenden nicht gab. Eine Sekunde später war ich im Badezimmer, wo mein Vater auf dem Rücken neben der Badewanne lag und in kurzen Stößen atmete. Während ich ihn aufs Bett schleifte, einen tonnenschweren Körper, atmete er immer leiser, und dann gar nicht mehr. Ich saß dann in der Werkstatt auf seinem Klavierhocker und machte die Aufträge fertig, die er angenommen hatte, bis zu meinem Geburtstag. Nie gelang es mir, etwas anderes vom Himmel herunterzuspiegeln als die Tagesschau. Mein Vater hatte oft nachts gearbeitet, und ich hatte hinter ihm an einem Tischchen gesessen und Lötkolen gereinigt oder Drähte zurechtgeschnitten, und vor uns liefen Stripteaseprogramme, die aus Mailand über die Alpen verweht worden waren. Männer stellten Frauen, die Augenmasken trugen, so lange Fragen, bis ein unsichtbares Orchester einen Tusch spielte; dann ließen mein Vater und ich den Lötkolben sinken. Ich arbeitete da weiter, wo mein Vater aufgehört hatte, und klebte wie er die Rechnungsformulare mit einem Tesastreifen auf die Seitenwände der Apparate. Abends stieg ich in die Wohnung hinauf und saß, keiner Bewegung mehr fähig, vor dem Fernseher. Ich atmete eine Luft, die surrte wie unter einem Hochspannungsmast. Etwas war gefährlich geworden. Ich erinnere mich, ich dachte viele Abende lang darüber nach, daß es in Asien Sprachen gibt, die das Wort Ich nicht kennen. Die Menschen dort stehen eng aneinandergedrängt in Reisfeldern, bis zu den Knien im Wasser, und versinken langsam darin. Wenn der Reis reift, ist ihr Mund überschwemmt, ihre Augen sehen gerade noch die Körner, die die Hände nicht mehr enthülsen können; und sie versickern klaglos in den Körpern ihrer Ahnen. Nie haben sie daran gedacht, andere zu werden als die Menschen ringsherum; der Reis war schon ein Ziel. Mein Vater, dem die chinesischen Programme die liebsten gewesen waren, hatte zu mir gesagt, er löte die Drähte mit einer Methode, die zwar doppelt so lange dauere wie in den Werkstätten von Sony und Philips, jedoch sei sie auch doppelt so genau. Ich, wenn ich lötete, stocherte mit dem heißen Kolben im Innern des Apparats herum, bis die Drähte aneinanderpappten. Oben aus der Wohnung hörte ich zuweilen Schritte. Ein Hund bellte. Ich schaltete dann einen der Fernseher ein, ein einheimisches Programm, einmal zum Beispiel einen Film, in dem ein Zivilbeamter des Bundesnachrichtendienstes den Auftrag erhielt, ein Hotelzimmer zu überwachen – in einem jener Autobahnmotels, wo jeder, selber ein harmlos müder Reisender, im Nebenzimmer Onkel und Nichte vermutet –, und er saß an seinem Abhörgerät und hörte die Stimmen seiner Eltern, Schreie der Leidenschaft, und blind vor Entsetzen stürzte er ins Zimmer hinüber und erschoß die beiden und raste in einem Porsche davon, gejagt von Polizeiautos mit Blaulichtern; er fuhr in einen Brückenpfeiler, und in der letzten Einstellung sprachen die untersuchenden Kommissare davon, daß es ihnen unbegreiflich bleibe, wieso der Beamte nach seinem Einsatz den Kopf verloren habe. Die Frau in dem Film wurde von derselben Schauspielerin gespielt, die dann auch in dem Film mit dem Hund und der Sphinx auftrat.

In der Nacht nach meiner Geburtstagsfeier saß ich in der Werkstatt, aß den Rest des Kuchens, und gegen zwei Uhr hatte ich alle Aufträge fertiggemacht. Dann holte ich ein großes Wachstuchheft aus einer verborgenen Schublade, Ölfarben, Pinsel, schlug die letzte Seite auf und malte, ohne zu zögern, ein Bild fertig, das mich seit Wochen gequält hatte. Schnee; gebirgige Grate; einen Wald im Hintergrund; eine undeutliche Frau zwischen Ästen. Seit ich in Frankfurt lebte, seit immer eigentlich, malte ich an diesem Heft, Seite um Seite; Tag für Tag; nie aber sah ich mir ein schon fertiges Blatt nochmals an. Die einzigen Zugänge zu den älteren Schichten waren Tunnels, die ich mit Rasierklingen ins Papier schnitt; denn vom Anfang zum Ende liefen Geleise. Um vier Uhr war ich auch damit fertig, reckte mich, daß die Knochen knackten, stieg leise in den ersten Stock hinauf, legte das Heft unter eine Vase mit überquellenden Blumen, nahm eine Segeltuchtasche mit ein paar Hemden und Unterwäsche, Ausweise, Geld und schlich auf den Zehenspitzen die Treppe hinab und setzte mich, während die Sonne hinter dem Lurgi-Hochhaus aufging, in mein Auto, einen grauen R4, der seit Wochen zum TÜV mußte. Während ich mit Anlasser und Choke fummelte, sah ich unsern Hund in der offengebliebenen Werkstattür stehen. Ich winkte. Auf dem Weg zur Auffahrt West pfiff ich alle Melodien, die mir in den Sinn kamen. Die Glasfassaden der Bürostadt schienen wegen der tiefen roten Sonne in Flammen zu stehen; ein Flugzeug, eine DC10 der Varig, landete über meinen Kopf hinweg, im Licht glitzernd. Die Bäume links und rechts waren frühlingsgrün, und einmal sah ich zwei Hasen, die hintereinander herrannten, direkt vor einem dieser KZ-Türmchen. Vögel flogen. Ich überholte einen Lastzug nach dem andern. In der Autobahnraststätte Gräfenhausen aß ich ein Sandwich, das mir gut schmeckte. In Italien, sagte ich zum Kaffee, den ich dazu aus einem Plasticbecher trank, sind deine Brüder schwarz und müssen mit viel Zucker in Schach gehalten werden. In einer warmen breiten Morgensonne fuhr ich dann weiter, an Baggerseen, Hallen aus Fertigteilen, Tankstellen vorbei, in einem immer dichteren Verkehr, aus Deutschland hinaus und in die Schweiz hinein und durch sie hindurch – am Zürichsee tankte ich und rannte ein bißchen auf und ab; im San Bernardino-Tunnel flogen Schwalben nordwärts zwischen der Tunneldecke und den Autodächern – bis nach Chiasso, wo die Sonne immer noch schien, eine weiche Spätnachmittagssonne. Ich wechselte mein ganzes Geld in Lire um. Viel langsamer als bisher, mit dem Ellbogen im offenen Fenster, fuhr ich in die Po-Ebene hinein; Pappelstraßen und riesige Felder, in denen ockerfarbige Häuser standen. Mein Großvater, einer von den beiden, war ein Italiener gewesen; er kam aus einem von diesen Häusern und hatte in seiner Kindheit immer und nur den Mais gegessen, der jetzt noch auf den Terrassen hing. Dann ging er nach Mailand und wurde Chemiker in einer Firma namens Monteverdi, die ihn nach Frankfurt schickte, wo er in einem Laboratorium arbeitete. Jede Nacht fuhr er mit seinem Fahrrad dort hin, um Experimente, irgendwelche Bakterien, zu überwachen. Im Ersten Weltkrieg brauchte sie das deutsche Heer. In den Zwanzigerjahren kaufte er sich einen Fiat, den ersten in Frankfurt, er holte ihn in Turin ab und fuhr in einer nicht abbrechenden Staubwolke über die Berge nach Hause. Es gibt ein Foto von ihm, da sitzt er, im noch aufgewirbelten Staub, am Steuer vor dem Gotthardhospiz, mit einer Mütze und einer Rennfahrerbrille. Es war die Zeit, wo die Polizeibehörden eine Kuh vor den Autos hertrieben, und wenn das Auto vor der Kuh ankam, büßten sie den Fahrer. Später wurde der Großvater wieder arm und aß wieder Polenta. Da war seine Tochter längst vor ihm geflohen, bis in den Orient, und zurückgekommen mit Mann und Kind. Sie hielt das Leben nicht aus ohne ihr Land.

Ich hielt in einem kleinen Ort, einer langen Straße eher, mit Autowerkstätten und einer Kirche, aus deren Turm Büsche wuchsen, und aß einen Teller Spaghetti. Der Wirt hinter einer Theke, die in Neonfarben leuchtete, wusch Kaffeetassen ab. Wir sprachen ein bißchen darüber – ich, um mein Italienisch auszuprobieren, jeder Ton ein Erbe –, daß, wenn in Deutschland sich einer nicht recht im Strumpf fühle, er nach Italien gehe. Der Wirt lachte und sagte, ja, aber hier gebe es kein Sauerkraut, und die Frauen, ich wisse, was er sagen wolle. Ich bezahlte lächelnd und fuhr weiter, durch Rebenfelder, in denen Klöster leuchteten, später durch Seveso, wo alle Schilder, die der Straße entlang aufgestellt waren, mit schwarzer Farbe vollgesprayt waren und hinter Gitterzäunen Männer in so etwas wie Mondfahreranzügen zwischen den Häusern herumgingen; sie hatten lange Zangen und sammelten Erdproben in Plasticsäcke ein. In Verona, das im Abendrot glühte, nahm ich ein Zimmer im Hotel Giulietta e Romeo und trank einen Grappa nach dem andern zusammen mit einem Portier, der sich nach Mannheim zurücksehnte, wo er einmal gearbeitet hatte, das heißt, der Portier lehnte den Grappa immer ab, war aber später in der Nacht auch nicht mehr sicher auf den Beinen. Am nächsten Morgen fuhr ich in einem lichten Dunst bis Venedig, über den Damm; links rollte ein Zug, aus dem Mädchen winkten, rechts verschwamm die Lagune – vorne Barken, hinten Tankschiffe – im Himmel. Ich stellte das Auto auf einen der Parkplätze und ging, die Hände in den Hosentaschen – meine Segeltuchtasche war mir in Verona aus dem Auto gestohlen worden, von jemandem, der die Hecktür danach wieder zugeschlossen hatte –, zur Anlegestelle der Schiffe und fuhr zum Markusplatz, wo ich zu Füßen eines Orchesters, das das Echo eines zweiten auf der gegenüberliegenden Platzseite war, einschlief und stöhnend träumte, bis mich ein Kellner schüttelte und fragte, was ich bestellen wolle. Ich aß einen Fruchtsalat. Überall waren die Tauben, von denen ich gehört hatte; sie machten aus Touristen Federviehe, flogen dann alle zusammen plötzlich auf und verdüsterten die Sonne. Ich hatte gelesen, am schönsten sei die Stadt im November, wenn nur die Reiseschriftsteller da seien, und zuweilen schleiche ein Einheimischer den Mauern entlang. Aber heute war es warm, und überall gingen Leute wie ich, und ich schaute mit brennenden Augen auf den Campanile, der am Tag, an dem mein Vater zur Welt kam, eingestürzt war und die Touristen von damals unter sich begraben hatte.

Ich mietete ein Zimmer in einem schmalen Haus und schlief zwanzig Stunden lang. Als ich aufwachte, stand die Vermieterin, eine robuste gesunde Frau, die im Stockwerk unter mir die Buchhaltungen von Schustern und Gemüsehändlern führte, mit einer Tasse Tee an meinem Bett; sie lächelte mich an, stellte die Tasse hin und ging. Ich trank. Dann saß ich am Fenster und sah auf einen engen Kanal hinab, in dem Kartons und Flaschen schwammen. Ich hatte in mir ein Gefühl, daß ich ein sehr langes Gedicht schreiben wollte, etwas Wuchtiges: jemand geht weg, und dann kommt er zurück. Als ich noch später das Haus verließ, weil ich Hunger hatte und Wasch- und Rasierzeug kaufen mußte, lernte ich eine Frau kennen, eher ein Mädchen, die eine skeptische Nase hatte, wenn sie lachte, und große dunkle Augen; wir aßen am gleichen Tisch und blieben lange sitzen mit immer mehr Kaffee und Wein. Wir trafen uns oft. Ich holte sie in der Apotheke ab, in der sie Verkäuferin war. Einmal nahm sie mich mit nach Hause. Sie wohnte mit einer kleinen Tochter in einem Dachzimmer, und die Tochter warf wutschäumend ihre Spielsachen nach mir. Später dann machten wir lange Spaziergänge durch immer einsamere Gassen, bis wir schließlich dahin kamen, wo Venedig aufhört und man übers Meer bis nach Triest oder Jerusalem sieht, und sie sagte plötzlich, ich halte das nicht mehr aus, und wir stürzten da, wo wir gerade waren, zu Boden. Wir waren blind und unsichtbar. Im Morgengrauen rappelten wir uns auf und gingen auf ein paar Lichter zu, Wirtshaustische an einer Mole, an denen Hafenarbeiter saßen. Wir tranken Kaffee und sahen, daß wir aussahen, als seien wir einer Bergwerkskatastrophe entronnen. Wir hielten uns die Hände. Später aber war die Frau mit mir, als sei nie etwas gewesen. Sie kam nie in mein Zimmer, in dem kein Kind wohnte. Sie sprach viel von ihrem Vater, der in einem Erdbeben im Friaul umgekommen war. Er hatte in der Nähe von Udine eine Garage betrieben und die Geheimnisse der Natur gekannt, daß Moos auf der Westseite von Pinien bedeutet, daß dort im Herbst Totentrompeten wachsen. Dann begann sie mir aus dem Weg zu gehen – ich verstand nicht, warum, und dachte immer hitziger an den einen Rausch im Staub am Meer – und öffnete die Tür nicht mehr, wenn ich klopfte. Die Tochter hüpfte zuweilen grußlos an mir vorbei. Ich machte lange Spaziergänge, Märsche eigentlich, durch all die winkligen Gassen zuerst und dann, als mir die Stadt zu klein wurde, den alten Kanälen auf dem Festland entlang, von Schleusenhaus zu Schleusenhaus. Wenn es dämmerte, stand ich wieder in einem dunklen Torbogen ihrem Haus gegenüber und starrte auf das Licht in ihrem Mansardenfenster, bis es ausging. Einmal gab ich der Tochter eine auf einen Zettel geschriebene Nachricht mit, deren Schnipsel ich dann auf der untersten Treppenstufe liegen sah, als ich mich zum Tor vorwagte. Ach Gott. Nachts im Bett stöhnte ich in mich hinein und spielte mir den Film unsrer Umarmung vor. Einmal ging ich in die Apotheke und kaufte bei einer Kollegin Vitamin C, und die Frau – ihr Gesicht, wenn es lachte, sah aus, als weine es gleich; ihr Weinen glich einem Lächeln – stieg derweil auf eine Leiter und suchte ein Medikament für einen alten Mann, dessen Hände zitterten, und tat keinen Fehltritt. Da rannte ich über Bretterstege, unter denen Hochwasser flutete, zur Vaporettostation, fuhr zu den Parkplätzen, setzte mich in mein Auto und merkte erst in der Gegend von Vicenza, daß ich die Miete nicht bezahlt hatte und der Beginn meines epischen Gesangs – ein Mann brach auf einem Floß auf, ein unbekanntes Meer zu durchpflügen – noch auf dem Fensterbrett lag. Weiß leuchteten die fernen Alpen. Kuh, murmelte ich, eine Kuh, eine blöde, zickige katholische Kuh. Dann saß ich irgendwo am Straßenrand auf einem gefällten Baum, die Füße in übriggebliebenem Herbstlaub. Später trösteten mich die blauen Wasser des Corner Sees, Villen, die von Glyzinien zugewuchert waren, und über der Straße hängende Gärten, aus denen Blumen in allen Farben quollen. Palmen dem Ufer entlang; Grotten; plötzlich schossen Bäche über die Straße hinweg und verschwanden gurgelnd in Abgründen, die aussahen wie künstlich angelegt. Im Veltlin wuchsen Reben zwischen Felsbändern; Häuser klebten über der Straße, auf der mich hupende Lastzüge überholten und in schwarze Dieselwolken hüllten. Von Felsvorsprüngen hingen Kapellen übers Tal, dahinter Dörfer aus den Steinen des Bodens, auf dem sie standen; im Tal selber Silos und Möbelzentren und einmal eine Kirche, eine Kathedrale fast, die unter ihrem Gewicht im Boden versunken war, so daß nur noch ihr Turm und Dach aus Gebüschen hervorsahen.

In einem kleinen Ort, in dem Nonnen auf einem weiten Platz standen, umkreist von einer Altnonne im Tempo eines Hirtenhunds, bog ich nach Norden ab und fuhr auf einer schmalen, sofort steilen Straße in die Berge hinein, in einer Schlucht zuerst, dann, nach einem Zollamt, wo ein Beamter mit einem Knabengesicht mich etwas fragte, was ich nicht verstand, und ich den Kopf schüttelte, zwischen Kastanienbäumen und kleinen Tabakfeldchen, Beeten eher, auf jedem die Ernte für zwei, drei Zigarren. Die Orte nahe der Grenze rochen alle nach frisch geröstetem Kaffee. Später, höher oben, wurde das Tal weiter, ich fuhr einem grünen See entlang, aus dem Tannenhänge wuchsen, und kam in ein Städtchen, dessen Häuser, obwohl sie unter Wasserfällen und Felsstürzen standen, zu schweben schienen im Abendlicht. Die Luft war eisig, als ich ausstieg. Hier schien die Sonne zum letzten Mal im Oktober und kam, durch immer dieselbe Berglücke, erst im März wieder; dann tanzten die Bewohner in glühenden Kohlen und verbrannten Frauen aus Stroh. Das erzählte mir die Wirtin in einem höhlenartigen Wirtshaus, eine uralte Dame, die schrie und die ich anschreien mußte, und nach einer halben Stunde ging eine Tür im dämmrigen Hintergrund auf, und eine zweite, genau gleich aussehende Dame kam herein, und wir schrien zu dritt. Sie habe ein Kaninchenragout, schrie die neue alte Dame. Ich aß es. Dazu trank ich einen von den Rotweinen aus dem Tal unten; das sei keine Säure, schrien die Damen, das sei der schwarze Felsstein selber, der so schmecke. »Der Paß ist doch zu? Wo wollen Sie denn hin?« Ich machte eine undeutliche Handbewegung, mich brachte jetzt niemand mehr südwärts; dann bezahlte ich. Ich hatte nur die Lire von Chiasso, und die beiden Schwestern brüllten sich Zahlen zu, die sie auf immer neuen Zetteln zusammenrechneten. Draußen dämmerte es. Aber die Höhen, da wo die Straße hinführen mußte, lagen in einer hellen Sonne, die den Schnee rot färbte. Gleich nach dem Ort sperrte eine Schranke die Straße ab; ich hob sie hoch und senkte sie hinter mir wieder. Dann fuhr ich die sonnige Flanke des nun weiten Tals hinauf – die andre verschwand hinter blauem Abendlicht –, Kurve um Kurve, zwischen immer braunerem Gras, auf dem bald Schneeflecken lagen, von denen manche, mit langen Schleifspuren, auf die Straße hinabgerutscht waren. Vor so einem Schneehaufen packte ich dann das Steuer mit beiden Händen und wühlte mich hindurch. Bäche rauschten unter Brücken oder sprudelten aus Stützmauern. Kleine weiße Kapellen überall. Einmal hing eine Föhre quer über dem Auto; ihre Äste streiften das Dach. Der Talboden, in dem ich gerade eben noch Dörfer mit Schieferdachkirchen gesehen hatte, war nun in der Nacht verschwunden, die, so schnell ich auch fuhr, stets ein paar Meter hinter mir den Berg hinaufkletterte. Das Licht wurde unglaublich klar, hoch oben am Berg sah ich Vogeltritte, und der riesige Schatten meines Autos fuhr neben mir her, mit meinem Schädel drin. Jetzt waren die Föhren, die vielleicht Arven waren und lange Flechtenbärte trugen, tief verschneit; verharschte Wildspuren gingen zwischen den Stämmen, und als die Nacht mich einholte, lag auch auf der Straße Schnee. Ich pfiff, ich weiß nicht was, und steuerte wie auf dem Wäldchestag, in Haarnadelkurven ging ich nicht vom Gas, auch wenn das Heck sich querstellte. Dann blieb ich stecken. Ich ließ das Auto stehen, wie es stand – schräg in einer Böschung –, und ging zu Fuß weiter. Alles Licht war jetzt aus dem Tal verschwunden. Auf der einen Seite der Straße rauschte ein unsichtbarer Bach, auf der andern ragten Felsen auf, aus denen Bäume hingen. Meine Füße wurden so kalt, daß sie nicht mehr wehtaten. Ich machte mir Mut mit Geschichten wie der von Scott oder einer, die ich einmal in einer russischen Fernsehsendung gesehen hatte, in der ein Sibirienflüchtling – ständig schwamm er durch Flüsse, zwischen Eisschollen und treibenden Baumstämmen, ich glaube, es war noch die Zarenzeit – auf seinem Marsch nach Süden mit einer so dicken Eisschicht zufror, daß er auf den Uferpromenaden des Schwarzen Meers noch immer ein starrer blauer Klumpen war; blind tappte er zwischen blühenden Oleandern und Russen in hochgeschlossenen Badeanzügen herum, in einer Schmelzspur; niemand wagte ihn bei der Hand zu nehmen; er wurde verhaftet, aufgetaut und, nachdem ihn die Schergen des Zaren verhört hatten – oder waren es doch Angehörige der Roten Armee? –, nach Sibirien zurückgeschickt; vom Trittbrett seines Viehwaggons aus hielt er eine Rede, in der er sagte, dereinst werde das Volk auch in diesem Land frei sein – vermutlich, auch diese Sendung sah ich ohne Ton; die Schergen oder Rotarmisten hauten ihm ihre Gewehrkolben an den Schädel, und der Zug fuhr ab. Ich lachte mit klappernden Zähnen, eine tiefgefrorene Erinnerung an das Lachen von früher. Plötzlich, nach einer Kurve, standen Häuser in einem weiten ebenen Talkessel. Ihre verschneiten Dächer leuchteten im Licht eines Monds, der hinter schwarzen Bäumen verborgen blieb. Ich erstarrte; dann rannte ich los. Das erste Haus, ein milchblau leuchtender Kasten, war ein Hotel mit gußeisernen Balkonen, verrammelten Fenstern und einer schweren Tür, gegen die ein Holzkoch gelehnt war, der mir das Menü des vergangenen Herbsts entgegenhielt. Ich rief. Jenseits des Bachs, der jetzt sichtbar durch den Schnee glitzerte, stand der gewaltige Schatten einer Patrizierfestung mit unzähligen Fensterlöchern und noch mehr Kaminen. Als ich über eine Brücke ohne Geländer näherwatete, sah ich auf die Mauern gemalte Wappen – Katzenköpfe mit Beilen drin und Tabakblätter – und Merksprüche, die ich in dem bißchen Licht nicht lesen konnte. Der Schnee sei, wie der Tod, dem einen Feind, dem andern Freund? Auch hier waren alle Türen verschlossen. Nur durch eine Luke in einem Tor unter einer wuchtigen Steintreppe, die zum Haupteingang im ersten Stock führte, sah ich die großen runden Scheinwerfer eines uralten Autos aus der Finsternis glotzen, eines aus jenen Zeiten, da noch alle Teile bis hin zu den Bremsklötzen aus Mahagoniholz angefertigt wurden. Ich konnte gegen die Tür treten, wie ich wollte, sie gab keinen Millimeter nach. Eisscherben weinend, stapfte ich schließlich in einem bauchhohen Schnee ums Haus herum und sah – am Himmel stand ein hoher Mond – einen Anbau, einen Stall vielleicht oder ein Gesindehaus, zugeweht bis fast unters Dach, aus dessen Kamin ein weißer Rauch bis vor die Mondscheibe stieg. Ich schrie auf und wühlte mich wie ein wahnsinniger Maulwurf in den Schnee hinein, bis zu einer Tür, gegen die ich mich keuchend lehnte. Von drinnen hörte ich das Schnaufen von Erstickenden, oder war das mein Atem? Die Tür ging ohne Widerstand auf. Ich stand in einem niedern, von einer Gaslampe erleuchteten Raum mit einem gestampften Lehmboden, durch den in einer Rinne ein schmaler geräuschloser Bach lief, unter der einen Wand herein, auf der andern Seite unter einer niedern Tür hindurch wieder hinaus. Dort waren Bretter über das Wasser gelegt, auf denen Teller und Pfannen standen. In einem Gußeisenherd brannte ein Feuer, dessen Flammen durch breite Ritzen loderten. Direkt vor mir saß, den Rücken gegen mich, ein Mann an einer Staffelei und malte an einem Bild, einer Madonna, die ihr Kind, ein nacktes Elend mit einem Greisengesicht, im Arm hielt. Ich räusperte mich; aber da der Mann nicht aufsah, ging ich zum Herd, dessen Hitze mich anzog wie eine Umarmung. Vor mir: Weinflaschen, eine Kiste, in der Kartoffeln voller Keime lagen, eine nicht mehr neue Autobatterie und eine rote Butangasflasche, von der aus ein langer Gummischlauch zur Lampe führte. Dahinter – die Luft war rauchig und dick – hing über die ganze Breite des Raums ein blaßblauer Vorhang, durch den das Geräusch jetzt deutlicher zu hören war; ein Schimpfen eines Manns und ein hohes Singen einer Frau. Ich begann zu zittern. Der Mann malte, die Nase beinah in der Leinwand, an einem Ohr Marias herum, und erst als ich aufstöhnte, weil meine Hände kribbelten, fuhr er hoch, starrte mich an und stellte langsam sein Bild unter den Tisch. Ich deutete eine Verbeugung an, über den Herd gekrümmt. In mir war kein Gefühl. Die Geräusche hinter dem Vorhang waren noch lauter geworden, aber am lautesten hörte ich mein auftauendes Blut im Gehirn.

»Frühling!« schrie der Mann. Er war um die vierzig und trug einen wirren Schnurrbart. »Der Frühling!«

Hinter dem Vorhang hörte das Singen und Schimpfen abrupt auf, es rumpelte, und der rote Schädel eines weit älteren Manns fuhr durch einen Spalt, aufgerissene Augen, die mich ansahen.

»Da«, sagte der jüngere Mann und deutete auf mich. »Was sagst du jetzt?«

»Wenn es nicht gestimmt hätte«, sagte der Kopf im Vorhang, »ich hätte dich umgebracht.«

Er verschwand, und eine Hand zog den Vorhang wieder zu. Während ich ein brennendes Ameisengefühl in Händen und Füßen zu spüren begann, sagte der jüngere Mann plötzlich sehr gut gelaunt, er heiße Benjamin, er sei der älteste und der jüngste gleichzeitig, und auf einen wie mich hätten sie seit Wochen gewartet, kochen würden sie längst mit den Stühlen und Bettbeinen, morgen wäre die Staffelei drangekommen, und während er sprach und die Madonna in den Fuß eines mächtigen Bauernschranks legte, heulte die Frau hinter dem Vorhang, und der Mann brüllte, ein Erdbeben, in dem eine Menschheit umkam, und dann wurden sie ruhig, und der Mann redete laut und lachte und riß den Vorhang auf, und ich sah ihn, einen Bären in einem dicken Pullover und breiten Hosen, und hinter ihm der Rücken einer Frau, die ein blaues Wollkleid über den Kopf zog und mit nach oben gereckten Armen so lange auf und ab tanzte, bis ihr Kopf sichtbar wurde; und während sie ihn nach mir umwandte – sie glich der Madonna des Bilds aufs Haar –, wurde ich so müde, daß ich auf den Tisch fiel und einschlief.

Ich träumte, Feuer wiege mich.

Als ich aufwachte, stand die Tür offen, und helles Licht fiel auf den Tisch. Ich war allein. Das Herdfeuer brannte nicht mehr, der Vorhang war beiseite gezogen, auf zwei Betten lagen ungeordnete Decken. Der Bach am Boden floß schnell dahin, weg unter der Tür, hinter der, als ich sie öffnete, ein Klo war. Ich kroch ins Freie. Herrgott. Es gibt kein helleres Licht als Sonne, die aus Schnee strahlt. Ich kniff die Augen zusammen und erkannte die drei von gestern – die Frau, die ein heißes junges Gesicht hatte, den alten Mann und den, der Benjamin hieß; sie gruben einen Autobus aus dem Schnee, von dem sie bis jetzt den Kühler freigeschaufelt hatten, eine zerbeulte rostige Wabe, auf der ein Blech mit einem gelben Posthorn befestigt war. Hinter dem busförmigen Schneehaufen breitete sich der Talkessel von gestern aus, tatsächlich eine weite Hochebene, durch die ein Bach mit weißem Eiswasser rauschte. Da und dort Steinhütten. Die Berge weit zurückgetreten, so daß sie einen riesigen Himmel über uns ließen. Von einem der Grate hatte eine Lawine Föhrenstämme bis vor unsre Füße geschwemmt; ein kleiner Bach kämpfte sich unter Ästen und Felsbrocken hindurch, lief dann im Zickzack durch den Schnee und verschwand unter dem Anbau des Hauses, dessen fensterlose Rückwand den Blick nach dieser Seite der Weltverstellte. Alles war so unglaublich farbig, Bäume, Schnee, Steine, Himmel, daß ich die Augen zupreßte, als wolle ich sie ins Hirn zurückdrücken, und dann wieder aufriß bis zu den Haaren hinauf. Ich stand da wie ein Gelähmter. Die Frau und Benjamin warfen jetzt den Schnee vom Autobusdach hinunter, und der alte Mann, dessen Runzeln leuchteten vor Freude, rannte ins Haus, kam mit der Batterie zurück und baute sie im Motor ein. Ich tat keinen Wank.

»Ohne Sie hätte ich noch lange so weitergemacht«, rief der Alte hinter der aufgeklappten Motorhaube hervor. »Wer weiß, wie lange mein Fleisch noch tut, was mein Herz will. Im Dunkeln hat man keine Ahnung von den Jahreszeiten.«

»Ich wäre erfroren ohne Sie«, sagte ich und stellte mich neben ihn.

»So einer wie Sie hat uns noch nie gefunden.« Er schloß die Motorhaube. »Die andern waren vom Winter gebleicht.«

Ohne sich weiter um mich zu kümmern, kletterte er hinters Steuer und zog den Anlasser, bis der Motor – lange ruckelte er und stank – ansprang. Die Frau und Benjamin klatschten, sprangen in den Schnee hinab und wälzten sich darin, bis sie sich keuchend in den Wurzeln einer Föhre verhedderten. Ich schlug auch die Fäuste gegeneinander. Inzwischen hatte der Alte einen Gang eingelegt und pflügte durch Schneehaufen ums Haus herum, wir in einer Dieselwolke hinter ihm drein, an der Vorderfront des Haupthauses vorbei, über die Brücke, zur Straße, auf der der Bus nach dem Gerutsche ein bißchen Fuß faßte und schneller fuhr. Wir im Galopp. Der Alte stand jetzt hinter dem Steuer, winkte uns – oder reckte er den Arm wie ein Römer? –, und sein Bus schlingerte die immer steilere Straße hinab bis zur Kurve, hinter der der R4 stand, wo er sich querstellte, die Kurvenabschrankung durchbrach, sich überschlagend einen Abhang hinunterstürzte und, die Räder nach oben, gegen einen Baum krachte. Einen Augenblick standen wir starr in einer Welt ohne Geräusche. Dann rannten wir die Schneehänge hinab bis dahin, wo hinter dem Steuer kopfüber der Fahrer hing.

Wie viele Begräbnisse habe ich seither beschrieben. Zuerst behauptete ich, das Grab des alten Manns sei in einen schneebedeckten Acker hineingegraben gewesen, und der Mann habe gleichzeitig neben mir gestanden und eine Rede auf sich selber gehalten, die von einem Fluß handelte, auf dem er mit einem Schiff