Die Forschungsreise - Urs Widmer - E-Book

Die Forschungsreise E-Book

Urs Widmer

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Beschreibung

»Da seilt sich jemand in Frankfurt von seinem Balkon, schleicht sich, als gelte es, ein Menschenfresser-Gebiet zu passieren, durch die City, kriecht via Kanalisation und Hausdächer aus der Stadt ...«

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Urs Widmer

Die Forschungsreise

Ein Abenteuerroman

Diogenes

I

Ich bin in meinem Zimmer, es ist still, und ich räuspere mich. Ich kauere hinter den Vorhängen der Glastür, vor der der Balkon ist. Ich bewege mich nicht. Ich atme langsam. Ich starre auf die Eisblumen an der Fensterscheibe. Plötzlich hauche ich ein Loch hinein. Ich presse mein Auge auf das Loch. Mit meinen weit aufgerissenen Augen, durch meine Tränen hindurch sehe ich die Hausdächer, auf denen weißer Rauhreif liegt. Ich reibe mir mit der flachen Hand über den Magen. Ich schiebe den Vorhang langsam beiseite und luge durch den Spalt am Scheibenrand, auf die Straße, in der ein starrer Eismatsch liegt. Staubwolken stehen vor der Sonne, und in die Berge, die ich am Horizont zu erkennen glaube, schlagen Blitze. »Na ja«, sage ich vor mich hin, ich huste, dann sehe ich, daß das Guckloch schon wieder zugefroren ist. »Also, Blumen werden sie mir sicher nicht streuen auf meiner Expedition«, murmle ich. Ich drehe mich um. Ich blinzle. Durch den Schleier vor meinen Augen sehe ich meine Wissenschaftsinstrumente, den Zeichentisch mit dem Millimeterpapier, das Streusalz zum die Tinte trocknen, den Klebestift, den Haftspray, den Rechenschieber, die Sanduhr, das Fernrohr, dann die Planetenkarte, den Theodoliten, die Uhr mit der Weltzeit für Frankfurt, Tokio und Pontresina, das Pauspapier, den Vergrößerungsapparat, die Tusche und den Zirkel und die Logarithmentafel. Ich rülpse. Ich wische mir mit meinem zerschneuzten Taschentuch die Brille sauber. Ich höre, daß das Telefon klingelt. »Rrrr«, sage ich, meine Augenlider zucken, und ich spüre, daß meine Unterlippe bebt. Mit einem Ruck reiße ich das Kabel aus der Buchse. »Es ist düster in meinem Zimmer«, brumme ich und schalte die Taschenlampe ein. Ich schirme den Lichtkegel mit dem Körper ab. Ich richte das Licht auf die Karte mit dem dicken geraden Strich aus Filzstift, ich starre auf den Weg: die grüngelbe Ebene, die Landesgrenze, den Fluß, die Hügel, die Felsen, die Eise, die Gipfelschründe. Mit der Lupe prüfe ich die Schraffur auf dem Kartenblatt. Ich schnüffle. »Andere haben es auch geschafft, soviel ich weiß«, sage ich laut und blicke von meinen Berechnungen auf. »Sie gehen auf, bis auf einen kleinen Rest.« Ich schlage die Faust auf den Tisch, daß die Tuschflaschen nur so herumspritzen. »Scott und Livingstone und Parry und Hillary sind auch eines Tages losgegangen, sie wußten auch nicht genau, bei wieviel Grad flüssiges Vitamin C einfriert.« Ich setze mich auf den Holzhocker und tippe die Berechnungsgrundlagen ein letztes Mal in den Elektrorechner. Er rattert. Zitternd reiße ich den Papierstreifen mit dem rot gedruckten Resultat ab. Ich unterstreiche die Zahl, die mir sehr hoch vorkommt, mit meiner Spitzfeder doppelt. Ich sehe sie mir lange an. Dann lösche ich die Taschenlampe aus, ich atme tief, im dämmrigen Licht meines Zimmers. Überall stehen Bücher auf den Regalen. Ich sehe mir das Foto von den Forschern an, die Arm in Arm vor einer Holzhütte auf einer Waldlichtung stehen. Sie haben Bärte und Spitzhacken. »Der Pol, die Quellen des Nils, die höchsten Berge dieser Erde, der Mond, das sind schon Ziele, für die es sich lohnt, ein Paar Bergschuhe zu kaufen«, murmle ich. Mein Herz klopft. Ich reibe mich an der Nase. Ich vergleiche meine Uhren, die Sanduhr, die Sonnenuhr, den Küchenwecker. Ich schüttle sie und halte sie ans Ohr. »Vielleicht ist es doch dieses verdammte Klima«, sage ich dann heftig, »die Zeitungen sind ja voll davon.« Dann mache ich mich daran, die Ausrüstungsgegenstände auf meiner Materialliste abzuhaken: den Jägerhut aus grünem Filz, den Tropenhelm für die Wüstenhitze, den Sextanten, die Wasserflasche, die staubdichte Uhr, die Paßfotos, auf denen beide Ohren sichtbar sind, die Taschenapotheke, den Windmesser, der bis Stärke 12 ablesbar ist, das Kartographiermaterial, den Kompaß mit dem rotbemalten, nach Süden weisenden stumpfen Ende der Nadel, den Eispickel, das Gletscherseil, die Machete, den Walkie Talkie für die Notrufe, die Leichtgasflasche und die Ballone für die dringenden Nachrichten, die Pelzschuhe, den Metakocher, das Fotoalbum mit den Erinnerungen, den Traubenzucker, das Serum gegen Vipernbisse, den Sonnenschirm, die getrockneten Pflaumen gegen das Verdursten, die Kurzskis, die Brille mit den gefärbten Gläsern, das Taschenmikroskop, die Asbesthandschuhe, die Glasperlen für allfällige Eingeborene, den Plan, das Wörterbuch, die Masken und die Schminke, die kurzen Hosen, die heizbaren Wollsocken mit den Batterien, die doppelläufige Flinte und die Patronen, das Bonzo Felix für Schlittenhunde, die rotweißkarierte Ärmelschürze, den Gesichtsknet und das Einmannzelt aus Fallschirmseide. Ich wäge alles auf meiner alten Kofferwaage. Ich schichte alle Gewichtsteine in die Gewichtsteinschale, bis sich der Zeiger bewegt. »Es wird schon gehen«, sage ich dann, »ich bin ja kräftig, Gott sei Dank.« Ich schnaufe. Ich streiche mir mit dem Handrücken über die Stirn, auf der Schweißperlen stehen. Die Röhren der Zentralheizung knacken. »Daß der Fußboden so zittert, das kommt von den Autos, die draußen vorbeifahren«, sage ich. Ich renne in die Küche und mache mir ein Vitamin C. Ich sehe in den Spiegel, auf meine gescheitelten Haare, die Denkfalten, die Lachrunzeln, das spiegelglatte Kinn. »Soll ich ein sehr heißes Abschiedsbad nehmen«, murmle ich, »oder soll ich gleich aufbrechen?« Ich fahre mir mit der Bürste durch die Haare. »Stanley ahnte, daß Livingstone hinter den Bergen an seinem See saß, ganz allein, ohne Frau, zufrieden«, sage ich. Ich öffne den Wasserhahn der Badewanne, mit dem Handrücken prüfe ich die Wassertemperatur, dann renne ich durch den Korridor. Ich reiße mir das weiße Hemd, die Krawatte, die stahlblauen Hosen mit den Bügelfalten vom Leib. Ich trample darauf herum. In aller Eile ziehe ich die Forscherkleider an, die ich vorbereitet habe: die wollenen Schottensocken, die Kletterhose aus Manchestersamt, den dicken Norwegerpullover und den wasserdichten, unbrennbaren, unzerreißbaren Anorak. Ich hänge mir die Patronentasche um, die mit den Geschossen, dem Notvorrat und den Mentholzigaretten gefüllt ist. Ich befestige die Botanisiertrommel am Gürtel und die Kartentaschen am Brustriemen. Dann setze ich den Hut aus grünem Filz auf, ich greife nach oben, um zu fühlen, ob die Feder richtig steht. Grinsend, mit einem heißen Gefühl in der Brust schnüre ich die Kletterschuhe zu. Mit nach vorn gestreckten Armen mache ich ein paar Kniebeugen, dann messe ich mir den Puls. Ich schaue auf meine Stoppuhr. »Na also«, sage ich, »ich bin überhaupt nicht aufgeregt.« Schmunzelnd streiche ich mir den Ruß ins Gesicht und knete mir den Knet über die Nase. Ich ziehe die Schubertbrille an und schaue in den Taschenspiegel. Dann stelle ich schnell den Polaroidfotoapparat auf den Hocker, drücke auf den Selbstauslöser, stelle mich hin, reiße, nach dem Blitz, den Filzstreifen aus der Kassette, zähle auf fünfzehn und löse das Bild vom Negativ ab. »Nicht einmal meine eigene Mutter würde mich so erkennen«, murmle ich, nachdem ich das Bild lange analysiert habe. »Ich bin gleich wieder zurück«, schreibe ich auf die Rückseite. Dann lege ich den Abschiedsbrief in die Mitte des Zimmers, auf den Teppich. Ich schnaufe. Ich öffne die Terrassentür einen Spalt breit, langsam, vorsichtig. Die Sonne fällt mir ins Gesicht. Ich zucke zusammen. Weiße Wolken kommen aus meinem Mund. Ich kauere mich hinter die Brüstung der Terrasse und luge auf die Straße hinab. »Ich muß mich jetzt einfach nur ganz unauffällig benehmen, wie alle andern Menschen«, flüstere ich. Ich sehe im Taschenspiegel, der sich von meinem Atem sofort beschlägt, daß meine Zunge weiß ist. Ein leiser Wind weht. Ich mache einen Finger naß und halte ihn in die Luft. »Jeder Forscher schleicht seit eh und je das Ziel gegen den Wind an«, murmle ich. Ich höre die Autos und blicke über die Brüstung. Im Dunst der Sonne sehe ich den Feuerschein der Chemiewerke, und dahinter den tiefblauen Himmel über der Ebene. Ich zerre den Rucksack durch die Terrassentür. Ich starre auf den Abschiedsbrief. Ich fahre mit dem Handrücken über die Augen. »Will es mir jetzt schier das Herz zerreißen, oder freue ich mich unbändig?« zische ich. Dann drehe ich mich um, auf dem Kompaß an meinem Handgelenk kontrolliere ich die Himmelsrichtung. »Ich muß dahin, wo die Nadel nicht hin zeigt«, sage ich1, »auch die Polynesier saßen auf ihren Flößen aus Balsaholz im Stillen Ozean und starrten auf den Großen Bären.« Ich präge mir die Silhouette des höchsten Bergs des Gebirgs am fernen Horizont ein. Mein Herz schlägt. Ich stülpe mir die schwarze Halbmaske über die Augen und öle mir die Hände ein. Ich halte sie waagrecht vor mich hin. »Sie zittern nicht«, sage ich. Ich richte mich mit einem Ruck auf. Ich stehe unbeweglich. »Von unten, aus einem vorbeifahrenden Auto, bin ich als ein schwarzer Schatten erkennbar, wenn überhaupt«, murmle ich. Ich schlüpfe in die Rucksackriemen und stemme den Rucksack hoch. Ich pendle das Gewicht mit breitgestellten Beinen aus. »Der Rucksack sitzt natürlich wie angegossen«, sage ich, »das ist wichtig, im Dschungel, im Eis.« Ich lausche mit klopfendem Herzen, ob einer der Passanten unten auf der Straße auf das Klirren des Eßbestecks in der Gamelle aufmerksam geworden ist. Dann knote ich blitzschnell das Seil an der Brüstung fest, mit dem hundertmal geübten Griff hänge ich den Mehrzweckspaten an den Gürtel. Ich habe mir das oft vorgestellt! Ich weiß genau, was ich tue! Nachdem ich heftig am Seil geruckt habe, schwinge ich mich über das Geländer. Weinend schwebe ich hinab, mit gespreizten Beinen. Unten werfe ich mich ins feuchte Laub des Vorgartens. Keuchend sehe ich, hinter der brusthohen Mauer im Gras liegend, am Haus hoch. ›Das herunterhängende Seil, das ich in der Farbe der Hauswand eingefärbt habe, ist kaum zu sehen, wie geplant‹, denke ich. Mit einem Ruck löse ich den Knoten, das Seil fällt herunter, ich rolle es auf und binde es auf den Rucksack. Ich blicke durch die staubigen Zweige des Gebüschs nach oben, in die kalte Sonne, die direkt über mir steht. Ich luge auf die Straße. Ich mache meinen Käuzchenruf. Ich lausche. Dann schnelle ich hoch, klettere blitzschnell über das Geländer, husche über die Straße, bis in den Schatten des Hauses gegenüber. Ich keuche. Geduckt schleiche ich der Hausmauer entlang. »Es ist gut, daß ich die Schuhe mit Stofflappen umwickelt habe«, murmle ich, »aber diese verdammte Botanisierbüchse klappert.« Ich stopfe den Filzhut hinein, samt der Feder. Ich schüttle sie. »Jetzt ist es unmöglich, daß die Leute mich sehen«, sage ich dann. Ich husche vorwärts. Ich presse mich an einen Gartenzaun. ›Später dann sammle ich unbekannte Pflanzen‹, denke ich, ›zum Beispiel den Hauswurz.‹ Ich sehe die Wolken, die mein Atem macht. Ich zittere. Ich gehe schnell weiter. Ich halte mich im Schatten der Buschhecken vor den Villen. ›Ich weiß, daß Livingstone sich nie an die Geräusche in seinem Haus und in seiner Straße gewöhnen konnte oder wollte‹, denke ich2, ›darum ist er ja zu den Quellen des Nils.‹ Ich atme. ›Wird mir jetzt schlecht, oder ist das die Vorfreude?‹ denke ich. Der Wind fährt in die Blätter der Alleebäume über mir. Durch die Äste, an denen weiße Eisbärte hängen, dringt das Licht der Sonne. Ich schleiche. Mit kaum geöffneten Augen, langsam, unmerklich, rücke ich bis zum Selbstbedienungsladen vor. Ich werfe mich hinter einen Stapel Kisten. Ich sehe durch die Ritzen, wie Autos durch die breite Allee fahren. Ihre Reifen donnern. ›Auf diese Weise sehen mich die unzähligen Passanten nicht‹, denke ich. Die Luft ist kalt. Hastig binde ich die Schutzmaske aus Gaze vor den Mund. »Ich darf mich nicht durch meine Atemwolken verraten«, murmle ich, mit einem fiebrigen Kopf, »Scotts Karawane wurde von den feindlichen Eskimos über Kilometer hinweg an den Kondenswolken erkannt.« Ich prüfe, ob die Schaumgummipolster an den Ellbogen richtig sitzen. Dann gehe ich mit schnellen Schritten zum Kanalisationsdeckel in der Mitte des Trottoirs. Ich schaue weder rechts noch links und ramme den spitzen Teil des Eispickels ins Griffloch. Ich stemme das Knie unter den Griff. Ich ächze. Mit einem heftigen Schwung wuchte ich den Deckel hoch, mit den Händen schiebe ich ihn so weit beiseite, daß eine Öffnung entsteht, durch die ich in den Schacht einsteigen kann. Ich lasse den Rucksack an der vorbereiteten Schnur in den Schacht hinuntergleiten. Ich horche in das schwarze Loch hinab. Ich fröstle, am Dolenrand hockend. Als ich kurz aufblicke, sehe ich die Beine der Passanten, die an mir vorbeigehen. ›Ich muß mich einfach so selbstverständlich benehmen, daß ich niemandem auffalle‹, denke ich. Mein Kopf ist heiß. Schnell steige ich die Metalleiter des Schachts hinunter und ziehe, nachdem auch mein Kopf vom Erdboden verschwunden ist, den Deckel über mir zu. Ich keuche. Ich taste mich in der Dunkelheit nach unten, auf der phosphoreszierenden Skala des Kompasses kontrolliere ich die Marschrichtung. »Ich darf keinen Fingerbreit vom geraden Weg abweichen«, sage ich, und meine Stimme dröhnt. Ich schalte die Blendlaterne auf meinem Forscherhelm an. Sie beleuchtet den Korridor vor mir taghell, ich sehe, daß ich in einem Schlamm stehe. Die Luft ist stickig. Ich notiere die Werte des Hydrometers, dessen Nadel wie wild ausschlägt. »Na sowas!« sage ich, klappe das Logbuch zu und stecke es in die handgeschneiderte Tasche aus Segeltuch, die an meinem Gürtel hängt. Ich ziehe meinen Rucksack an. Ich gehe los, durch den Schlamm. ›Wie vorgesehen hat der schmale feuchte Gang genau die Breite meines Gepäcks‹, denke ich, ›Stanley zum Beispiel kam deshalb so langsam voran, weil er mit seinen Fotoutensilien immer wieder in den Lianen des Dschungels hängenblieb.‹ Der Boden ist glitschig. Ich halte mir mit der linken Hand die Nase zu und atme durch den Mund. Das Rucksacktuch streift über die Tunnelwände. »In diesen Korridor hat seit Menschengedenken niemand den Fuß hineingesetzt«, sage ich. Von der Rolle an meinem Handgelenk lasse ich die Lawinenschnur abrollen, für alle Fälle. Ich stütze mich mit den Händen rechts und links ab. Die Nagelschuhe glucksen im Morast. Spinnweben streifen mein Gesicht. »Das hätte ich mir nicht gedacht«, sage ich, »daß ich wirklich einmal in einen wirklichen unterirdischen Gang komme, wie ein Höhlenforscher oder ein Agent.« Ich niese. »Ja verdammt noch mal«, sage ich dann leise, »sind das jetzt Fledermäuse oder Ratten?« Ich stampfe heftig auf den Boden, das Wasser spritzt mir an die Beine. Ich höre ein Rauschen in den Ohren. Ich komme zu einer Metalleiter, die nach oben führt, hastig rolle ich die Lawinenschnur wieder ein. Sie ist zerfetzt. Mit klopfendem Herzen lausche ich in den Korridor hinein. »Je nun«, sage ich schließlich, »es muß auch solcher Gattung Tiere geben.« Ich sehe mir, mit stockendem Atem, das zerfaserte Ende der Schnur an. »Mit solchen Zähnen kann man einen Kinderarm vom Rumpf trennen, mit einem Biss«, flüstere ich. Ich sehe in den schwarzen Ausstiegsschacht hoch. »Wenn ich die unter dem Kanalisationsdeckel hängende Fledermaustraube verscheuche, patschen mir die Tiere gegen Körper und Gesicht, auf ihrer Flucht«, sage ich. Ich räuspere mich. Dann steige ich los. Ich klettere langsam, regelmäßig die Sprossen hoch. Das Metall liegt kalt in meinen Händen. »Ich weiß schon«, schreie ich, unter dem Eisendeckel stehend, »warum ich kein Tierfreund bin.« Das Echo meiner Stimme dröhnt minutenlang durch das Kanalisationssystem.

Ich stemme meine Handflächen gegen das Metall) Ich stehe auf einem glitschigen Metallbügel und lehne mich mit meinem Rucksack gegen die Schachtwand. Meine Adern schwellen an, dann schiebe ich den Deckel mit einem wilden Ruck über den Lochrand. Ich blinzle ins Sonnenlicht. »Es ist ein Wahnsinn, was ich da mache«, sage ich. Ich schalte die Blendlaterne aus. Ich luge vorsichtig aus dem Loch, hinter einem Kastanienast aus Plastic, den ich mir vors Gesicht halte. Ich sehe Autos, ferne Passanten, den Kistenstapel jenseits der Straße. »Das hätten wir geschafft«, sage ich aufatmend, klettere aus dem Loch und renne in den Schatten des Gartencafés. Ich kauere hinter den Büschen, auf denen grauer Staub liegt, und schaue auf das Haus zurück. ›Hat jemand die Terrassentür bewegt?‹ denke ich. Mein Herz klopft. Ich winke. Ich fasse mich an den Hals. »Was ich tue, ist völlig legitim«, schreie ich. »Ich erinnere mich, Stanley hatte jahrelang ein Gefühl, als würde ihm jemand etwas in den Rücken bohren. Erst Livingstone sagte ihm, daß es ein Unsinn war.« Mit fahrigen Bewegungen suche ich in der Taschenapotheke, die in der Außentasche des Rucksacks steckt, nach den Asthmatabletten. Ich nehme eine in den Mund, mit verzerrtem Gesicht öffne ich den Verschluß der Feldflasche. Ich schlucke. Ich lächle. »Wie lange schon habe ich keinen Himbeersirup mehr getrunken«, murmle ich, »kaum je eigentlich.« Ich drehe die Sanduhr an meinem Gürtel um. Geduckt springe ich von Auto zu Auto. »Nicht nur die Deckung ist wichtig beim panischen Davonschleichen«, murmle ich, hinter einem Auto kauernd, »auch, ob man einen Tarnanzug in den richtigen Farben trägt.« Gebückt gehe ich an Bankenhochhäusern, Bauzäunen, großen farbigen Reklamen, am altmodischen Postamt, an einer Pizzeria vorbei. »Eigentlich darf man sich beim Schleichen nur auf den zehn Fingerspitzen halten«, sage ich. Hinter einer Ulme verborgen schaue ich über einen weiten Platz, in dessen Mitte ein Kiosk steht. Ich lächle. ›Ich lächle diabolisch‹, denke ich. Ich werfe eine Handvoll Kieselsteine gegen eine Hauswand. Während die Passanten verwundert nach dem seltsamen Geräusch starren, renne ich, mit meinem scheppernden Rucksack, über den Platz, bis zur Rückseite des Kiosk. Ich presse mich gegen die Bretter. Ich atme heftig. »Sogar die kühnsten Abenteurer finden sich hin und wieder im Kleiderschrank ihrer Geliebten wieder«, murmle ich. Ich höre die Stimmen der Kioskkunden auf der andern Seite des Verstecks. Ich wage kaum zu atmen. Prüfend blicke ich nach vorn, über die Straße, dann starre ich auf den Kompaß, den Höhenmesser und den Windmesser. Ich rechne die notwendige Geschwindigkeit meines Spurts aus, bis zum schattigen Eingang eines kleinen Hotels. Mädchen mit Handtaschen gehen auf und ab. »Nie habe ich gehört, daß Forscher sich Frauen auf ihre Reisen mitgenommen haben, ganz im Gegenteil«, sage ich. Jetzt spurte ich los. Das Mehrzweckwerkzeug schlägt gegen meinen Oberschenkel. Mit heftigen Sprüngen erreiche ich das Hotel, wie ein Wiesel husche ich weiter. Ich werfe mich in die dunkle Einfahrt eines Parkhauses. »Falls mich diese Mädchen gesehen haben, denken sie, da ist aber ein merkwürdiger Kunde vorbeigerannt«, sage ich. »Sie interessieren sich sicher nicht für mich.« Ich hocke mich auf den kalten Zement, nestle an den Riemen der großen Rucksackaußentasche, ziehe die Perücke aus echten blonden Schwedenhaaren hervor und stülpe sie mir über. Vorsichtig schaue ich dann auf die Straße, auf der ein blasses Sonnenlicht liegt. »Als Livingstone durch ein Gebiet von Menschenfressern mußte, nähte er seine ganze Expedition in Zebrahäute ein«, brumme ich, »auf allen vieren gingen sie zwischen den fletschenden Negern hindurch.« Der Wind weht schmutzige Papiere vorbei, Staub wirbelt auf. Geduckt gehe ich bis zu den aufgestapelten Tischen eines Terrassenrestaurants. Ich sehe mich dauernd um. Ich halte meine Jagdwaffe griffbereit, ich spüre, daß meine trockene Zunge am Gaumen klebt. Als ich sehe, daß die Ampel von rot nach grün wechselt, spurte ich los. Ich renne, mit meinen Stachelschuhen, neben einem Lastwagen her, im schwarzen Abgasqualm. Hustend breche ich auf der andern Straßenseite im Hof eines Pelzgroßhändlers zusammen. »Außer dem südländischen Fahrer, der in den Seitenspiegel geschaut hat, kann mich kein Mensch gesehen haben«, sage ich, nach Luft ringend, auf einem Haufen Häute sitzend. »Was für ein Irrsinn!« flüstere ich. Wie in ferne Träume versunken wische ich mir mit einem in Terpentin getränkten Wattebausch die Tarnfarbe vom Gesicht. Ich schiebe das asphaltgraue Tarnnetz, das ich über dem Rucksack getragen habe, zwischen die Schafshäute. Dann nehme ich die Schere aus dem Instrumentenetui und schneide aus einem weißen Fell einen Kälteschutz. Ich stecke den Kopf durch das Loch. Das Fell stinkt. »Auf einer Reise wie dieser muß man auch angesichts der größten Gefahren die Ruhe bewahren«, brumme ich, »wie zum Beispiel Stanley, als über den Victoriafällen das Sicherungsseil der Seilbrücke riß.« Ich spucke aus. Klirrend zerspringt der Eis gewordene Speichel auf der Metallplatte der Pelzwaage. »Parry marschierte drei Monate lang über das Packeis«, sage ich, »schließlich war er 60 Meilen weit gekommen, weil das Eis ihm unter den Füßen weggedriftet war.« Ich zucke mit den Schultern. »Tja«, sage ich. Durch die Maschen meiner Wollhandschuhe hindurch spüre ich, wie eisigkalt die Metallsprossen der Feuerleiter sind, die ich hochklettere. Die Nägel meiner schweren Schuhe kratzen auf den Stufen. An meinen Schnurrbarthaaren bilden sich Eiskristalle. »Es ist der kürzeste Weg«, sage ich. Oben, auf dem Dach, weht ein stürmischer Wind. Er heult. Der Plan, auf dem ich mit meinem Filzstift die erste Etappe einzeichnen will, flattert wild in meiner Hand. Ich stehe breitbeinig auf dem eisblanken Flachdach, ich zurre das Sturmband meines roten Plastic-Helms fest. Ich hebe das Windrad im korrekten Winkel, dann zähle ich, mit der Stoppuhr in der Hand, die Umdrehungen pro Sekunde. Ich notiere die Ziffer auf dem Handrücken. Ich reibe mir heftig die Augen, während ich, gegen den Wind, nach dem Horizont vor mir blicke. Durch die Rauchschwaden, die aus den Kaminen steigen, sehe ich für einen Augenblick die Silhouette der fernen Berge. Ich sehe die weiße Spitze des höchsten Gipfels, über dem die Wolken stehen. »Heilandssack!« sage ich. Meine Augen tränen. Ich reibe mir die Rußpartikel aus den Augen. Ich fluche. »Aber wenn Scott immer mit dem Wind gegangen wäre statt gegen ihn, wäre er in Peru gelandet«, sage ich. Durch den Tränenschleier hindurch sehe ich die Giebel der Häuser, die Brandmauern, die Feuerleitern, die Kamine, die Leuchtreklamen, die Ziegel, die Dachluken, die Oberlichtfenster der Schnellgaststätten. Ich huste. Ich stecke das Windrad in die Windradhülle zurück, schiebe sie in die Schlaufe am Gürtel und wuchte den Rucksack auf den Rücken. Die Kochgeschirre klappern. Ich balanciere den Schwung aus, die Spitzen der Greifklammern, die ich mir an meine Schuhsohlen geschnürt habe, graben sich im Eis und im Zement ein. Ich ziehe die Klappen meiner Pelzmütze über die Ohren. Ich gehe. Der Rauhreif auf den Ziegeln knirscht. Ich sehe meine Spur hinter mir, wie die von einem Geiervogel. »Da unten am Fuß des Abgrunds«, sage ich lächelnd, während ich mich mit dem Enterhaken an einem Kamin festhalte, »ist die Straße mit den Bierbars, den Bars mit den nackten Mädchen, den Wurstbars und den Schießbars.« Ich lache. Tauben fliegen auf, mit knirschenden Flügeln. Rittlings auf einem Dachfirst reitend, schiebe ich mich vorwärts. Die Ziegel sind schwarz und schmierig. Ich blicke, während ich vorwärts robbe, auf die vorrückenden Ziffern meines Schrittzählers. Ein Ziegel löst sich unter meinen Schuhen, gleitet das Dach hinab, schlägt in der Dachrinne auf und verschwindet, in kleinen Stücken, über der Kante des Dachs. »Kolumbus überquerte den ganzen Atlantik im Mastkorb hockend«, sage ich, »er hatte nur sein Ei als Proviant, aber er sah als erster den neuen Kontinent.« Ich lausche. Mit einem Spreizschritt erreiche ich einen dünnen Kamin aus Metall. Ich klammere mich daran. Vorsichtig hole ich die Sandseife aus dem Necessaire und reibe auf meinen schmierigen Händen herum. Ich schaue zum Himmel hoch. Ich spucke auf die Handflächen, dann wische ich sie an den Hosenbeinen ab. Mit den Zähnen ziehe ich mir die Segeltuchhandschuhe über die Finger. Der Wind donnert. »Das ist sicher«, schreie ich, »in diesem blöden Norden bleibe ich nicht ein Leben lang, ich nicht.«

Schnell binde ich das Gletscherseil um den Kamin, mit dem Weberknoten. Das andere Ende knüpfe ich an meinen Gürtel3. Ich hänge mir den Rucksack vor die Brust. Mit beiden Händen balancierend gehe ich mit schnellen, kleinen Schritten über den eisglatten First. Das Stegbrett, über das ich dann gehe, wippt auf und ab. »Ein Amerikaner stürzte sich in einem Faß den Niagarafall hinunter«, sage ich, »unten drehte sich das Faß tagelang in einem gischtigen Wirbel, und der Amerikaner verhungerte oder wurde verrückt.« Mit zitternden