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›Die gestohlene Schöpfung‹, selbst eine Schöpfung, ist modernes Märchen, Actionstory und ›realistische‹ Geschichte zugleich; in diesem Buch wird viel gelogen, und gewiss hängt das damit zusammen, dass es von Geld handelt. Eine Geschichte, die die Welt mit Zuneigung zu betrachten versucht (sie macht einem das nicht leicht, diese Welt). Und eine Geschichte schließlich, die glücklich endet.
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Seitenzahl: 253
Urs Widmer
Die gestohleneSchöpfung
Ein Märchen
Die Erstausgabe erschien 1984
im Diogenes Verlag
Umschlagillustration: Fernando Botero,
›Kolumbianerin, Apfel essend‹, 1982
Alle Rechte vorbehalten
Copyright ©2015
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 21403 1 (4. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60471 9
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5]1
Bei uns zu Hause wurde nicht von Geld gesprochen, nie. Oft saßen wir zu viert (meine Schwester und ich halfen uns durch Blicke, das tägliche Vermeiden des Themas auszuhalten, das das einzige gemeinsame Interesse unsrer Eltern war) miteiner Wurst und hörten dazu meine Mutter sagen, in Schlesien, da wo sie herkam, würden alle Leute steinalt, weil sie ausschließlich Grünkohl äßen. Der Vater meiner Mutter war einmal ein paar Jahre lang reich gewesen (er hatte an einer Erfindung mitgewirkt, einem nichtflüssigen Treibstoff), aber irgendwann einmal war dieser Reichtum wieder zerronnen. Ein Mythos seither. Meine Mutter (die jetzt in Bad Vilbel wohnt, weil ihr die Miete des Hauses in Frankfurt, eines baumumwachsenen Westendparadieses, zu hoch geworden war) geht dennoch zum Supermarkt, als habe ihr Chauffeur gerade seinen freien Tag. Ringe überall; Ketten. Sie hat, wenn sie ihr Haus verlässt, jenen Charme der Wohlhabenden, denen nichts Menschliches fremd ist; beugt sich, obwohl sie klein wie ein Knubbel ist, zu den Nachbarinnen hinunter und hört sich deren Probleme mit der Wäsche an: als wüsche sie nie. Zuweilen allerdings erzählte sie Witze, in denen der Geiz gelobt wurde; Gutsherren verweigerten Bettlern mit einem Bonmot ein Essen. Einmal im Jahr löste die Steuererklärung, obwohl sie immer leichter auszufüllen war, leidenschaftliche Ausbrüche [6]aus. Die Mutter schluchzend und haareraufend, der Vater türenschlagend.
Mein Vater war in seiner Kindheit wirklich arm gewesen (Gebete um Speise hatten ihn genährt) und hatte nach seiner Hochzeit den Rest des schwiegerväterlichen Erbes so entschlossen ausgegeben, dass ihn die Begeisterung darüber weitertrug bis in seine alten Tage; er gab weiterhin Geld aus als sei welches da. Geld wurde für ihn ein noch verboteneres Wort als für meine Mutter; wie in andern Häusern der Name des Gottseibeiuns. Zu seinen Lebzeiten wurde nie geklärt (niemand auch versuchte es), woher die immer neuen Lutherbriefe und Faksimiles von Schriftrollen stammten; mein Vater war ein leidenschaftlicher Bibelsammler; als er tot war, bemerkte ich, dass drei Schubladen seines Schreibtisches verschlossen waren und ohne Schlüssel. Ich holte ein Brecheisen und einen Hammer und erwartete, Fotos von Frauen zu finden, oder eine Neufassung des Alten Testaments. Aber alle Schubladen waren randvoll mit ungeöffneten Briefumschlägen, die unbezahlte Rechnungen enthielten. Wir bezahlten die Rechnungen dann irgendwie. – Wie zu meinem Trost fand ich ganz unten in der dritten Schublade das Foto einer Frau, ihre gespreizten Beine, von ganz nahe; gerade der Bauchnabel war noch zu sehen. Mich irritierte, dass es ein Amateurfoto war (eine Vergrößerung, gerahmt und unter Glas) und kein aus irgendeiner Zeitschrift herausgerissenes. Wer mochte die Frau sein?
Mein Vater hatte sich gewünscht, mich einen Prediger werden zu sehen; einen, der den Dämonen der Lüge mit dem Schwert der Wahrheit zu Leibe rückte; meiner Mutter wäre ein Advokat lieber gewesen. Wie um mich [7]abzugrenzen von dieser Ehe, deren Kitt ich war, sprach ich schon als Kind, kaum war ich ohne meine Eltern, fast ausschließlich von Geld. Es war ein herrliches Gefühl, wie ein Großer die Münzen für ein Eis bar auf den Tisch legen zu können. Später genoss ich es, in einem stillen Geschäft (Kunden wie Galeriebesucher) ein Seidenhemd auszusuchen und an der Kasse dann eine horrende Summe beiläufig hinzulegen. Ich schwamm nicht im Geld, oder bald doch, denn schließlich rissen mich die unberechenbaren Geldströme mit wie einen Kahn, der unversehens in die sieben Katarakte des Nil geraten war. Natürlich ging ich unter. Heute habe ich nicht einmal mehr ein Büro. Das, das ich bis gerade eben noch hatte, war in einer stillen Westendstraße, der Kleinen Wiesenau, einem nach Sigmund Freud benannten Haus voller Psychologen gegenüber, dessen Außenwände wie ein Badezimmer gekachelt waren. Drei Zimmer, ein winziger Balkon. Nachts war das Büro meine Wohnung. Dreimal in der Woche kam eine junge träge Frau, die meine Schreibarbeiten erledigen sollte, sich aber oft nach dem Betreten der Wohnung auf dem Bett hinlagerte und dort blieb bis zum Feierabend. Mit ihr, die keinerlei Initiative zu haben schien, war alles auf ihre Initiative hin passiert. An einem klebrig heißen Nachmittag waren wir auf einmal ineinander verschlungen gewesen; ich weiß nicht mehr, wie es dazu gekommen ist. Sie entwickelte jedenfalls dies eine Mal ein Temperament, das Kleider und Leintücher zerfetzte. Später war alles ruhiger. Heute glaube ich, dass sie einfach lieber auf dem Rücken ruhte als tippte; und dass ich mit ihr lag, nahm sie in Kauf als eine Konzession ans Berufsleben. Wenn ich mich dann anzog, gleichzeitig entnervt und erhoben, blieb sie einfach liegen, breit [8]und mit Brüsten, wie sie die Amerikanerinnen zur Zeit des Koreakriegs hatten, paffte Zigaretten und schaute zur Decke hinauf. Ich las Börsenberichte oder telefonierte. Erst kurz vor sechs kam Leben in sie (so etwas wie Leben), sie stand plötzlich auf, zog sich an und verschwand, ohne ein Adieu gemurmelt zu haben. Ich setzte mich dann an die Maschine und tippte, was zu tippen war; der Preis der Leidenschaft.
Mein eigentlicher Arbeitsplatz war die Börse. Ich ging gern hin, wenn ich davon absehe, dass sie mich, von außen, an meine Schule erinnerte. Imponierrenaissance. Innen war alles zwanzigstes Jahrhundert. Ich stand zwischen den vielen, die Millionen mit einem einzigen Gebell in ihre Telefone verschoben, und kaufte oder verkaufte Papiere. Verwaltete und vermehrte Vermögen, möglichst viele natürlich; aber ich hatte nie mehr als das Geld von drei alten Damen (alle drei zwischen siebzig und achtzig), die mir vertrauten und mich keusch umwarben. Tee-Einladungen, zuweilen eine Flasche Cognac, einmal eine mykenische Tonfigur. Die erste Dame (sie führte mir dann ihre Freundinnen zu) war mit einem Mann verheiratet gewesen, der von seinem Bruder ziemlich viel Geld unter der Bedingung bekam, dass er den gemeinsamen Betrieb, ein Textilunternehmen, nie betrat. Ihm war das recht, er saß zu Hause und erfand Aschenbecher, die danke sagten, wenn man Asche hineinwarf, oder eine Anlage, die sein Garagentor öffnete, wenn er im Auto Stormy weather pfiff; oft saß er die halbe Nacht im Regen und versuchte, sich an die Melodie zu erinnern. Er war ein leidenschaftlicher Amateurfunker mit einem Schlafzimmer voller Drähte und Röhren, einer von der Art, die jedes [9]Interesse am Funken verlieren, wenn die Verbindung einmal hergestellt ist; dann wollte er nur noch ein paar Daten über die Empfangsqualität wissen, und aus. Ich war ursprünglich sein Berater; er mein erster Kunde. Jeden Abend ging er ins Café Kranzler, aß einen Milchreis und las die Welt, und ich musste mich zu ihm setzen, auch mit einem Milchreis, stumm, bis er die Zeitung mit einem entschlossenen Ruck zusammenfaltete und mir die Aufträge des Tages gab. Dann starb er. Seine Frau interessierte sich nicht für Börsenkurse. Ihr Hobby war die Archäologie; jeden Frühling zog sie mit Pickel und Schaufel nach Griechenland. Sie rauchte wie ein Schlot und hustete sogar während sie sprach. Holte ununterbrochen und ungeniert laut irgendwelche Ablagerungen aus den tiefsten Tiefen ihrer Bronchien nach oben. Sie war heiter und vertrauensvoll und die entsetzlichste Autofahrerin, der ich jemals begegnet bin.
Das war auch die zweite alte Dame, eine ehemalige Blockflötenvirtuosin, die Telemann und die Brandenburgischen Konzerte öffentlich gespielt und ihr Vermögen aus dem Verkauf eines Grundstücks an der Zeil hatte, das von einem Urahn für fünfzig Pfennige pro Quadratmeter erworben worden war. Viehweide. Während die erste in ihrem Auto immer wieder von einer magischen Riesenhand auf die linke Straßenseite gezogen wurde, hatte die zweite ein gestörtes Verhältnis zu ihren Gängen, fuhr im vierten ab und schaltete, wenn der Motor sich endlich hochgearbeitet hatte, in den ersten hinunter. Ich erlebte sie ein einziges Mal zornglühend, nämlich als ich ihr vorschlug, ein automatisches Getriebe zu kaufen; und ich begriff, sie schaltete gern. Sie wusch sich oft die Hände, sprach ein gespreiztes Deutsch [10](die Erinnerung an irgendein Patriziertum) und konnte in wilde Lachanfälle ausbrechen, wenn jemand Wörter wie Popo aussprach. Einmal hatte ich während einer Ferienreise die erste Dame in der Nähe von Mykene aufgesucht (in jenem Ort, von dem aus die Straße nach den Ruinen abbiegt, in einem weißgekalkten kubischen Haus), und die zweite war auch da, und wir verbrachten einen wunderschönen Abend auf einer Terrasse unter Weintrauben, in einer nach Harz riechenden Luft, von den Atriden sprechend. Zikaden zirpten. Bevor ich dann zu Bett ging, duschte ich mich und hatte plötzlich ein seltsames Gefühl an der Kopfhaut, und als ich nach oben sah, sah ich zwei glühende Punkte am Oberlicht. Ihre Augen. Später hörte ich, sie habe in jungen Jahren einen Cellisten gerngehabt; was sie heute von sich preisgebe sei nur ein Teil von ihr.
Die dritte Dame fuhr nicht Auto. Sie trank. Sie begann damit in der Früh und hörte spät auf, aber ich habe sie nie betrunken gesehen. Sie hatte irgendein kräftiges Etwas in sich, das ihr alles hinter dem Mund wegtrank und an ihrer statt trunken wurde. Dann erlaubte sich die alte Dame, sich selber gernzuhaben. Sie wurde nett und war nicht mehr panisch und tat nicht mehr nur das, was ihre Freundinnen auch taten. Bis gegen Mittag kam sie mir wie ein leerer Sack vor, der orientierungslos in einer bösen Welt stand. Die Ohren nach innen, den Befehlen des strafenden Dings lauschend. Am Nachmittag wurde sie eine völlig andere Person, die mit weiten Tangoschritten ging und sich im Pfropfen von Obstbäumen auskannte. Nachts wurde sie müde und saß gähnend da, während die andern beiden in Schwung gerieten und sich abwechselnd Geschichten von zerscherbelten [11]Vasen und geplatzten Konzerten zubrüllten. In der Regel, weil wir darüber an Vormittagen sprachen, kaufte und verkaufte sie dieselben Papiere wie ihre Freundinnen, keins mehr und keins weniger. Sie hatte keine Kinder; die zweite Dame auch nicht; aber die Archäologin hatte einen Sohn, Horst, einen furchtbaren Menschen mit millimeterkurzen Haaren, der bei meinen Besuchen zuweilen hinter seiner Mutter saß und ihr Ratschläge ins Ohr flüsterte. Er hatte einmal Advokat werden wollen oder sollen, war aber an der ersten Prüfung gescheitert; dann entschied er sich für die Offizierslaufbahn und walzte im ersten Ausbildungsjahr mit einem Panzer einen Kleinstadtbahnhof nieder, oder nahezu; natürlich entließ ihn die Bundeswehr. Nun machte er auch Geldgeschäfte, ich weiß nicht, mit wessen Geld. Seine Mutter gab ihm jedenfalls ihres nicht. Vielleicht hatte er ebenfalls drei alte Damen. Ich sah ihn zuweilen an der Börse, am andern Ende des Halbrunds. Da stand er in einem peinlich korrekten Anzug, mit seinen dummen Haarstummeln und hektisch geröteten Wangen und rief seine Angebote wie ein Hase, der um Futter bettelt; er war immer sehr vorsichtig, geizig, wie ein Spielbankbesucher, der für den ganzen Abend nur hundert Mark hat und zehn davon fürs Taxi retten will.
Nie gelang es mir, weitere Gelder zu akquirieren als die der Damen. Aber mit ihrem Geld ließ sich auch schon etwas anfangen. Ich kaufte (ich hatte ja ziemlich freie Hand) Zucker, den ich abstieß, bevor er geerntet war; Kakao; einmal Tabak. All diese Warenterminsachen. Handelte natürlich auch mit Papieren und setzte auf das Steigen und Fallen des Dollars. Lange Zeit glichen sich große Gewinne und [12]
[13]2
An einem eisklirrenden Abend ging ich zu meiner Schwester (sie war, wie ich, erwachsen geworden und wohnte in einem Haus im Nordend, das im Sommer von so vielen Glyzinien umrankt war, dass es nun wie ausgeraubt aussah), weil ich mit ihr ins Kino gehen wollte (ich glaube, in Casablanca). Wir taten das seit vielen Jahren, seit immer eigentlich, und viele hielten uns für ein etwas strenges Paar; ich genoss diese unschuldigen Kinobesuche Hand in Hand; besonders wenn ich am Nachmittag mit der trägen Frau gelegen hatte.
Aber diesmal war meine Schwester nicht allein, sondern saß mit einer Frau am Küchentisch, vor den Trümmern eines Käsepicknicks. Beide tranken Chianti aus einer bauchigen Flasche (meine Schwester liebte die Toscana wie nichts sonst) und waren bester Laune. Ein Lachen wie ein Bergbach, das der Frau dunkler und ernster. Sie sah mich an.
»Das ist Johanna«, sagte meine Schwester und lachte weiterhin über etwas, was ich nicht mitgekriegt hatte. »Sie wohnt jetzt hier, seit heute. Wir teilen die Miete.«
Ich gab dieser Johanna die Hand und küsste meine Schwester. Sie trug eine rostrote Bluse, die sie seit immer hatte und die beim Waschen so sehr eingegangen war, dass der Stoff über ihren Brüsten fast zerriss. Jeans, deren oberster Knopf offen stand, wie stets, wenn sie sich zu Hause fühlte. Ich [14]schenkte mir auch ein Glas voll und hörte den Frauen zu. Sie sprachen, wenn ich das recht verstand, von Gehirnen, von der menschlichen Intelligenz, und meine Schwester sagte, noch heute sei das Beherrschen der Rechtschreibung für die meisten der Maßstab des Gescheitseins; ihr könne das nur recht sein, obwohl sie just beim Wort Orthographie nie wisse, ob es nun ein th oder nur ein t habe. Johanna lachte. Sie war schlank und schmal und hatte schwarze Haare. Ein sackartiges dunkelblaues Kleid mit kleinen weißen Tupfen. Ich prostete ihr zu (»auf eine gute Nachbarschaft«) und schüttete dabei meiner Schwester den ganzen Wein in den Schoß, und wir lachten noch mehr, weil wir alle drei die geheime Bedeutung meines Ungeschicks erkannten.
»Kommen Sie mit uns?«, sagte ich, während meine Schwester nach neuen Hosen suchte. »Ins Kino?«
Wir landeten (Johannas Idee) in einem Film, in dem ein Mann, arm und jung zu Beginn, dank seiner Liebeskraft die Direktionsetage eines Automobilkonzerns eroberte. Er war eigentlich immer nackt (schon während des Vorspanns zog er Hemd und Jeans aus; ganz zum Schluss thronte er in einem grauen Nadelstreifenanzug hinter einem riesigen Schreibtisch) und hatte, als er mit seiner ersten Freundin schlafen wollte (einer Kindergärtnerin mit Pfirsichbrüsten), ein ganz kleines Schwänzchen, das losspritzte, bevor es sein Ziel erreicht hatte. Dann weinte der Mann, und die Frau streichelte ihn, und sie sprachen von ihren Müttern und Vätern, granitenen Ungeheuern. Später (er hatte andere Haare, kürzere) lag er mit der Sekretärin eines Abteilungsleiters, und nun war sein Schwanz schon ein Pflock. Keuchen und Stöhnen. Der Mann erzählte von seiner Kindheit, wie sein Vater streng [15]gewesen sei, aber heute verstehe er, weshalb. Gegen Schluss des Films hatte er graue Haare und ein Genital wie Pinocchios Nase, ein Ungetüm, das die Frau des Inhabers des Automobilkonzerns bis zum Hals füllte. Jubelndes Singen. Nachher saßen beide auf Flauschteppichen (die Frau mit Fassbrüsten, zwischen denen Diamanten glitzerten), tranken Whisky (Sonne vor offenen Fenstern, Schmetterlinge, rauschendes Grün), und der Mann erzählte von seiner wunderbaren Jugend; wie es warm gewesen sei damals, als die Mama ihn in ihren Armen wiegte. Wir saßen in der ersten Reihe (das Kino war ausverkauft), ich zwischen den Frauen, und starrten auf die Riesenglieder direkt über uns.
Von da an gingen wir zu dritt ins Kino. Wir brachen zu Filmen auf, die an der Hauptwache liefen, landeten aber stets in der Nähe des Bahnhofs. Einmal saßen wir sogar in einer Bar an der Moselstraße und starrten ungläubig (dass das möglich war!) auf eine kleine Leinwand hoch über der Klotür, auf der ganz ohne jede Handlung Schwänze in Schlitzen hin und her fegten. Kurz danach (wir hatten uns für Apocalypse now verabredet) behauptete meine Schwester plötzlich, sie habe keine Zeit heute Abend; ein Blick, in dem sich Trauer und Heiterkeit die Waage hielten. Sie hatte eine Staffelei aufgestellt und wollte malen. (Tagsüber war sie Anästhesiegehilfin im St.Markus-Krankenhaus.) Ich ging also mit Johanna allein (tatsächlich, als wäre uns ein anderer Film zu gefährlich geworden, in jenes asiatische Farbinferno), und als wir spät in der Nacht nach Hause kamen, war die Leinwand so weiß wie zuvor; meine Schwester lag in ihrer Malschürze auf dem Boden und schlief. Wir trugen sie ins Bett (sie wachte auf, als wir sie hochhoben, und wankte halb [16]stöhnend, halb lachend allein in ihr Zimmer). Trotzdem kam sie nie mehr mit, nicht einmal, als im Kommunalen Kino van Gogh lief; obwohl wir ihr versprachen, ganz sicher auch dort zu landen und ihr den Eintritt zu bezahlen.
Johanna war Mikrobiologin, zerschnitt Fliegen unter einem Mikroskop und wollte ihr genetisches Material beherrschen lernen; später dann das der Menschen. Sie pumpte mich ständig an, ohne sich jemals daran zu erinnern. Gab mir zuweilen nahezu professionelle Tipps. Einmal (sie riet mir, irgendwelche Berlin-Subventionen auszunützen) war meine Schwester dabei und bekam heftige Atemnöte (das Tabu ihrer Eltern); ballte die Fäuste um Pinsel und Tuben. Den ganzen Winter über stand sie vor einem Stillleben, das sie auf einem Holzhocker aufgebaut hatte (einer Flasche und zwei Äpfeln); immer wieder aß sie die Äpfel und legte zwei neue hin; sie wusste nicht, welche Farbe die Flasche haben sollte. Als die Glyzinie vor dem Fenster die ersten Blätter trieb, setzte sie ein helles Grün auf die Leinwand und riss sie sofort entsetzt vom Rahmen. Als es längst heiß geworden war, malte sie plötzlich das ganze Bild an einem Tag fertig. Die Flasche rostrot. Johanna und ich waren am Baggersee gewesen und standen am Abend sprachlos vor dem Wunder. Es war ein gutes Bild geworden.
Wir (Johanna und ich, ein Paar) verbrachten den Sommer (einen glühenden Tag nach dem andern) in Gartenlokalen; schliefen an den Wochenenden in Gasthöfen, auf deren Dächern Wagenräder für Störche bereitstanden. Saßen auch immer wieder ineinandergeknotet im Kino. Kauften in teuren Boutiquen Kleider und einmal in einem Shop Unterwäsche mit Glitzer und Schlitzen und Flitter überall, [17]die sie ein einziges Mal trug und dann nie mehr. Obwohl wir dazu lachten, war uns die Heftigkeit, mit der uns das simulierte Bordellgefühl gepackt hatte, unheimlich geworden. Endlich, als die Sommerabende länger und kühler wurden, ließen wir die Gärten und Gasthöfe sein und gingen abends in eine Kneipe gleich bei meiner Wohnung, die Wiesenaueck hieß und deren Wirt, wenn er ein bisschen getrunken hatte, Platten aus seinen Jugendtagen auflegte (Come prima), zuerst pro forma seine Frau zum Tanz aufforderte (umwerfend galant) und dann mit allen weiblichen Gästen des Lokals eine Runde drehte. Gleich bei unserm ersten Mal kam auch Johanna dran und sagte danach, er habe tatsächlich ein gewisses Etwas. Mir war es allerdings verborgen geblieben, als er mit seiner langen weißen Schürze durchs Lokal gewalzert war, Johanna an seinen runden Bauch gepresst, den Blick zum Himmel erhoben als wisse er sich mit den Göttern im Einklang.
Bei unserm zweiten Besuch (Johanna tanzte erneut, ich stand am Geldspielautomaten und stopfte eine Mark nach der andern hinein) stand plötzlich ein Gast neben mir, wortlos, ein schmächtiger Jüngling um die dreißig, der (ein Gesicht wie Käse) wirkte als habe er einen zu niederen Blutdruck. Er sah den ratternden Symbolen (Orange, Kleeblatt, Sonne, Joker) ein paar kurze Sekunden lang zu, drückte dann die Stopptaste (sein Finger wie eine Klapperschlange), und unzählige Markstücke rasselten heraus. Ich hatte gerade wütend werden wollen (es war mein Spiel), lachte nun, und auch er verzog die Lippen zu einem Strich. »Zwei Pils«, rief ich. »Sie setzen sich doch zu uns?«
Er schien, mir gegenüber, über der Vorderkante des Stuhls [18]zu schweben, bleich und mit Schweißperlen auf der Stirn. Die Hände wie zum Gebet gefaltet. Ich fragte ihn, wie er das mache, die Stopptaste so präzise zu drücken; aber er lächelte nur. Etwa zwanzig Markstücke lagen zwischen uns auf dem Tischtuch. Ich fragte ihn auch, ob er hier in der Nähe wohne, und er schüttelte den Kopf, und dann sahen wir schweigend dem Wirt und Johanna zu, die sich in das Bauchgebirge hineinwühlte als sehne sie sich nach dem Schlaraffenland. Der träumende Kopf des Wirts (die Augen geschlossen) über ihren Haaren. Dann war die Musik aus, und der Wirt gab mir Johanna mit einer altväterischen Verbeugung zurück; stellte gleich auch noch die zwei Pils vor uns hin, die er im Vorbeigehen von der Theke genommen hatte. Seine Frau lächelte uns zu. Sie wusch Gläser und wusste, dass die akkumulierte Begeisterung ihres Manns für alle Frauen dieser Welt ihr allein zugutekommen würde, in einen einzigen Augenblick gebündelt, wenn die Lichter gelöscht und die Rollos heruntergelassen waren.
»Darf ich vorstellen«, sagte ich, nachdem ich einen durstigen Schluck getrunken hatte. »Johanna.«
Beide plauderten sofort miteinander. Der Mann sagte (sein Bier unberührt), er heiße Hans Joachim, aber alle sagten Jimmy zu ihm; von seiner Schulzeit her sei ihm dieser aufschneiderische Name geblieben. Ja, er sei einmal Computerspezialist gewesen, bei Siemens, aber irgendwie habe ihn dann die Ungleichheit der Menschen mehr interessiert; dass man ihnen Geld wegnehmen dürfe. Nun sei er an der Börse.
»Ich auch«, sagte ich. »Ich habe Sie nie gesehen.«
»Ich Sie schon.« Er lächelte. »Heute haben Sie Dunlop gekauft.«
[19]Ich nickte und versuchte mich an ihn zu erinnern (wie immer hatten Hunderte schwitzender hemdsärmliger Männer herumgebrüllt, alle eigentlich sehr gleich aussehend), und er sprach wieder mit Johanna. Ich beugte mich zu ihr hin (mein Bein an ihrem) und hörte zu. Vor der Tür, sagte Jimmy gerade (flüsterte beinah; sein Kopf weit über den Tisch gebeugt), stehe ein Achtzigtausend-Mark-Mercedes, der heute Morgen noch dem Chef der AEG gehört habe; der sei noch dankbar dafür gewesen, dass er ihn habe verschenken dürfen; gehe nun wohl zu Fuß. Pleitefirmen seien seine Spezialität. Deren Papiere, aber auch die Sachwerte; in der Panik des drohenden Konkurses habe kaum einer den Überblick; er schon. Er lächelte Johanna zu, und sie lachte, sich zurücklehnend und einen Schluck trinkend. Da trank auch Jimmy, ohne zu bemerken, dass der sorgsam aufgebaute Schaumkragen schon in sich zusammengesunken war. Trotzdem ein kleiner weißer Schnurrbart über seiner Oberlippe.
»Wollen wir ein Spielchen machen?« Er sah nun plötzlich sehr lebendig aus und wetzte auf seinem Stuhl hin und her. Johanna und ich nickten beide gleichzeitig. Es ging darum, das Prägedatum der Markstücke zu erraten, die aus dem Automaten gerasselt waren. Jimmy schob das erste, den Adler nach oben, in die Tischmitte und sah mich an.
»1966«, sagte ich.
»Neunundsiebzig«: Johanna.
Jimmy zögerte, sah auf die Münze (jetzt sah ich, dass sie ziemlich abgegriffen war) und murmelte »Vierundfünfzig«; und hatte recht. Steckte sie weg. Die nächste, übernächste, und fast immer traf er das Datum. Auch Johanna landete hie und da einen Treffer; und einmal auch ich. Ich bestellte [20]sofort eine neue Runde Bier. Jetzt sprachen wir auch wieder von anderem, nicht nur von Prägedaten, von der Börse (dass, wenn einmal alle die gleichen Informationen zur gleichen Zeit hätten, ihr Ende kommen müsse; dank Kabeln und Computern sei das bald so weit; was dann?); und später (ich trank nun still) entwarfen Johanna und Jimmy Strategien, mit einem Handstreich die Mehrheit der Hoffmann-La-Roche-Aktien zu erwerben oder die Gunst eines Ölscheichs am Persischen Golf, in dessen Harem beide ein geruhsames Leben führen wollten, sich an glitzerblauen Schwimmbädern räkelnd.
[21]3
Wir hatten einen blauen Herbst. Farbige Blätter schaukelten von den Bäumen, und überall auf den Trottoirs glänzten Kastanien. Eine milde klare Luft, die endlich jenen Untergrund an Kälte hatte, die das Atmen angenehm machte. Ein Licht wie in der Toscana, ohne alle Wespen und Schnaken. Kinder schlurften durchs Laub, ihre Väter kickten im Park, in dessen Gras noch einmal die Frauen mit hochgerollten Röcken lagen. An den Morgen aber glitzerte schon der Rauhreif. Einmal ging ich recht früh durch die leeren Parkwege und sah ein Paar Tennisschuhe aus einem Gebüsch herausragen: ein Toter. Natürlich brauchten in so einer Stadt die Süchtigen ihre Mittel auch wenn der Himmel glänzte; zertrümmerte Telefonkabinen gab es immer noch. Schlägereien nachts; Überfälle in leeren U-Bahnen. Ich aber war glücklich und hatte mit einem Kredit der Bank für Gemeinwirtschaft schon verschiffte Lämmer auf dem Weg nach Europa gekauft, weil ein Überangebot in unsern Kühlhäusern die Preise zum Einstürzen gebracht hatte; Aktien von Mitsubishi, die gesunken waren, weil die Firma ihre auf Halde produzierten Wankelmotoren verschrottete; und sogar ein paar Siemens, deren Kurs rutschte, weil die japanischen Großrechner besser waren. Das meiste Geld aber, fast der ganze Kredit, steckte in einem Berg am Yukon, auf den mich ein Freund aufmerksam gemacht hatte, der mit einem [22]Wohnmobil durch die unwirtlichsten Teile Kanadas gereist war und dabei ununterbrochen durch Kupfer, Uran und Silber geschlurft war. Man musste es nur aufheben. Er selber hatte auf der Stelle seine bisherige Arbeit aufgegeben und sich am Yukon-Ufer eine Blockhütte gekauft. Seine Arbeit war ein Buch gewesen, das der Mathematik ihre verlorengegangene Menschlichkeit hätte zurückgeben sollen; ihr Ziel sollte es, seiner Meinung nach, nicht mehr sein, die Unbekannten von Gleichungen aufzulösen, sondern die prinzipielle Unauflösbarkeit von Unbekanntem zu lehren; eine Geisteshaltung eher, keine Technik. Jedenfalls, er war nun gerade dabei, die Blockhütte in ein Restaurant umzubauen, weil er sicher war, in wenigen Jahren Tausende von Energiefachleuten bewirten zu können. Fünf oder sechs seiner vielen Freundinnen waren mit ihm gereist; alle hatten von der westlichen Kultur beziehungsweise ihren Pädagogikstudien die Nase voll. Mit meinem Geld (er selber hatte keins) hatte er den Berg vom kanadischen Staat gekauft, direkt hinter dem Restaurant, reines Kupfer mit ein bisschen Sand drauf; im Winter Schnee. Die Analysen (vorläufig seine eigenen) waren phantastisch. Zurzeit, schrieb er im einzigen Brief seit seiner Abreise, überlege er sich, was ein Skilift uns einbringen könnte, bis es mit dem Abbau so weit sei. Und er richte im ersten Stock des Blockhauses fünf oder sechs Séparées für die Energiefachleute ein; für die Freundinnen. Sicher sei trotzdem, schrieb er in einem Postscriptum unter seiner schwungvollen Unterschrift, dass das Mathematikbuch fertig werde; nur später; zum Beispiel werde er den Logarithmen ihre in abertausend vollautomatisierten Rechengängen zerschlissene Würde zurückgeben.
[23]»Gib ihm das Geld«, hatte Johanna gesagt. »Geld machen in diesem System nur die Wahnsinnigen.«
»Und die Kriminellen«, hatte ich geantwortet. »Mein Problem ist, ich kann nicht lügen und bin nicht verrückt.«
Ich überwies ihm also den größten Teil meines Kredits, obwohl er ein paar Wochen später fällig war; ich sah keine Probleme, ihn zu verlängern (meine beiden Sachbearbeiter, mit denen ich telefonierte, auch nicht). Plötzlich aber weigerte sich die Bank und wollte ihr Geld wiederhaben. Jetzt, auf der Stelle. Ich saß eine Stunde lang in einem Büro hoch über der Stadt, zwei Sachbearbeitern gegenüber, die beide graue Nadelstreifenanzüge trugen. Zwei schräggestellte Schreibtische, an denen sie mir stumm zuhörten. Starre Gesichter. Hinter ihnen riesige Fenster; der strahlende Himmel hinter den gefärbten Gläsern in unwirkliche Fernen gerückt. Ich bot ihnen alle meine Papiere als Sicherheit an, beschwor die Zukunft (Lämmer! Kupfer!) und schrie schließlich, den Polen verlängerten sie doch auch dauernd die Kredite. Ich war aber nicht Polen. Wenn ich den Kredit nicht sofort zurückzahlte, nähmen sie in der Tat die Papiere: zur Tilgung nämlich, obwohl ihr derzeitiger Kurswert (beide rechneten auf kleinen Taschenrechnern) kaum die Schuldsumme bringe. Es sei eben unvorsichtig von mir gewesen, so viel Fremdkapital aufzunehmen.
»Aber Sie haben mir doch selber dazu geraten!«
»Tut uns leid.«
Ich brüllte und ging zwischen den beiden Schreibtischen hin und her. Der eine zuckte die Achseln, und der andre hatte den Telefonhörer genommen und sprach fast heiter [24]über eine ganz andere Sache. Abschiedslos stürzte ich aus dem Zimmer und ließ die Tür offen.
Als ich in meine Wohnung kam, saß Johanna mit vertränten Augen auf dem Bett. Nassgeschluchzt bis auf die Haut; mit angespannten Muskeln. Sie ließ mir keine Zeit, mein eigenes Elend auch nur anzudeuten, und sagte mit einer Stimme, die ahnen ließ, dass hinter ihrem Porzellangesicht tausend Volt kochten, sie habe sich verliebt; verliebt; vielleicht sei es nichts, aber das wisse sie eben nicht, sie müsse es ausprobieren. Ich verstünde das sicher. Dass sie für ein paar Tage wegfahre; dann sei sie sich darüber im Klaren, ob der andere der Richtige sei oder ich. Sie liebe mich. Ich starrte sie an. Eine ganz andere Johanna als ich sie kannte: mit Lippen, die zitterten, und Augen, die zeigten, dass niemand und nichts sie aufhalten konnte. »Wohin?«, murmelte ich. »Wer?« – »Nach Straßburg«, sagte sie. »Wir wollen nach Straßburg, versteh doch, hier können wir nie zusammen sein. Wo sollen wir denn hin? Immer nur Espressos in Eisdielen!« Sie bebte nun am ganzen Körper, hatte zerraufte Haare und war, ohne sich dessen bewusst zu werden, mit mir so vertraut, dass sie ohne jede Scheu vor mir hässlich war. Vertränt und verschmiert. Für den andern hätte sie sich sofort die Schlieren von den Wangen gewischt. Ich war wie mit dem Hammer erschlagen und brüllte, wer dieses gottverdammte Arschloch sei. Er sei kein was ich eben gesagt hätte, murmelte Johanna; ein paar Tage nur, dann wisse sie alles. Ihre Augen sahen mich kaum mehr: ich war schon wegretouchiert. All die fürsorgliche Aufmerksamkeit bedeutete keinen Augenblick lang, sie könnte etwa doch noch bleiben. Tatsächlich stand sie plötzlich vom Bett auf, wieder [25]mit einem neuen Gesicht (entschlossen und voller Zukunft), gab mir einen Kuss wie einem Toten und war draußen. Ich blieb betäubt wo ich war und starrte auf den Abdruck ihres Körpers auf der Couchdecke, bis er nicht mehr zu sehen war; rannte dann in den Flur und brüllte (weit unten fegte ihre Hand übers Geländer wie ein Bobsleigh in seiner Bahn), ich liebte sie, und dann, als sie schon unten bei den Briefkästen war, sie solle doch abhauen. Verhurte Gans. Unten fiel die Haustür ins Schloss, und ich beugte mich so weit über die Treppenbrüstung, dass ich ihr nachzustürzen drohte, und brüllte: »Jimmy? Ist es dieser Jimmy??« Gleichzeitig gingen alle Wohnungstüren auf (die im Stockwerk unter mir), und zwei Frauen, beide mit Küchenschürzen, sahen zu mir hoch. Ein kleines Mädchen mit riesigen Augen. Ich ging in die Wohnung zurück, setzte mich an den Schreibtisch und starrte auf Bilanzen, die keinen Sinn mehr hatten.