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Ein Zwerg aus Gummi ist der Held – ja sogar der Autor – dieses Buches. Sein Geheimnis ist, daß er, wenn kein Mensch ihn anschaut, lebt. Sich bewegen kann, denken, fühlen. Er begleitet Uti – jenen Jungen, der ihn mit seinem liebenden Blick erst lebendig gemacht hat – durchs Leben (Utis Leben), lebt sein Zwergenleben, während der Junge erwachsen wird und ein Mann, ein fast schon alter Mann.
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Seitenzahl: 170
Urs Widmer
Ein Leben als Zwerg
Die Erstausgabe erschien
2006 im Diogenes Verlag
Umschlagfoto von Markus Weber
Copyright © Markus Weber
Für Juliana,
für Lilly
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2014
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 23654 5 (2.Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60584 6
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] I
[7] ICH heiße Vigolette alt. Ich bin ein Zwerg. Ich bin acht Zentimeter groß und aus Gummi. Hinten, so etwa im Kreuz, hatte ich einmal ein rundes Etwas aus Metall, und wenn mir jemand, ein Mensch mit seinen Riesenkräften, auf den Gummibauch drückte, pfiff es. Pfiff ich. Das Metallding ist aber längst von mir gefallen, und ich pfeife nicht mehr. Die Menschen – die Kinder der Menschen vor allem – denken, ich sei ein Spielzeug. Ein Spielzwerg. Sie haben recht, aber sie kennen nur die halbe Wahrheit. Wenn ein Menschenblick auf einen von uns fällt, auf einen Zwerg, wird er steif und starr und ist gezwungen, in der immer selben Haltung zu verharren. Eine Lebensstarre, die jeden von uns so lange beherrscht, als Menschenaugen auf uns ruhen. Sie überfällt uns eine Hundertstelsekunde bevor der Blick uns erreicht und verläßt uns ebenso sofort, wenn der Mensch wieder woandershin blickt. Ich habe dann die Arme am Körper wie in einer etwas nachlässigen Habtachtstellung und mache ein dummes Gesicht. Mein Mund steht offen, und meine Augenlider sind bis über die Mitte der Iris gesenkt. Wenn aber niemand schaut, sind wir [8] Zwerge äußerst fix. Wir können wie Irrwische durch Wohnungen sausen, Tischbeine hinauf, Tischbeine hinunter, wir gehen die glatten Wände hoch, wenn es sein muß. Es kommt vor – es ist vorgekommen –, daß uns ein Menschenblick trifft, wenn wir an einem Ort sind, an den wir ganz und gar nicht gehören. Dann erstarren wir eben dort, wir können ja nicht anders, und die Menschen betrachten uns nachdenklich und kratzen sich am Kopf und tun uns in die Spielzeugkiste zurück. Aber dann vergessen sie den Vorfall wieder, Zwerge sind nicht so wichtig für Menschen. – Zwerge sind unsterblich. Es soll welche geben, die tausend und zehntausend Jahre alt sind. Ja. Wir essen nicht, wir trinken nichts. Nichts rein, nichts raus, das ist unser Überlebensgeheimnis. Wir sind unsterblich: aber wir zerbröseln. Wenn einer von uns einmal zu lange in der Sommersonne liegt oder auf der voll aufgedrehten Heizung, beginnt der Gummi brüchig zu werden. Ich zum Beispiel bin übel dran. War mehrmals in den vergangenen Dezennien zu großer Hitze ausgesetzt, einmal zwei Stunden einem Heizstrahler, und nie wandten die im Zimmer herumtobenden Kinder so lange die Blicke ab, daß ich in eine kühle Ecke hätte weghechten können. Ein halber Schuh ist mir schon weggebrochen, und wenn ich mich jäh [9] bewege, bröseln Gummibrocken an mir herunter. Es ist unter uns Zwergen – den klügeren unter uns – eine oft diskutierte Frage, wie lange man ein Zwerg ist, unsterblich, und wann man ein Haufen Gummistaub geworden ist. Ob man dann noch denken kann, fühlen, jubeln in ewiger Lebensfreude. Plötzlich einmal in tausend Stücke zu zerfallen, das könnte mir durchaus passieren. Dann lebe ich immer noch, bin aber meine Einzelteile geworden – hier die Nase, dort der Mund, fernab die Füße mit den anderthalb Schuhen. Die Putzfrau käme und wischte mich in ihren Müllsack.
ICH heiße Vigolette alt, weil ich ein violettes Jöppchen trage und der älteste der Vigoletten bin. Schon lange lebe ich mutterseelenallein (Zwerge haben keine Mütter) auf einem Regal, einem Menschenregal, hoch über dem Fußboden. Das Regal ist mehr oder minder leer, verstaubt, mit mir sind nur noch ein Zahnarzt aus angemalter Tonerde und sein ebenfalls toniger Patient, dem er mit einem Metalldraht einen Zahn ausreißt. Die beiden sind etwa gleich groß wie ich. Aber anders als wir Zwerge sind sie tatsächlich leblos, tönerne Volkskunst, auch wenn sie niemand anschaut. Ich sehe auch kaum mehr hin, sage nur hie und da, wenn ich [10] sehr einsam bin, ein paar aufmunternde Worte zu ihnen. »Maul auf, dann geht’s schneller«, zum Patienten, und zum Zahnarzt: »Nie gehört, daß es Dentalzangen und Anästhesiespritzen gibt?« Die beiden antworten mir nie, logisch nicht, sie sind aus Salvador de Bahía und dort in Massenhandarbeit hergestellt worden. – Sonst liegen auf dem Regal nur noch ein paar uralte Nadeln für 78-Touren-Grammophone herum, bei denen ich aufpassen muß, daß ich mir nicht ein weiteres Stück Gummi ausreiße, wenn ich auf eine trete.
AUCH die Namen der andern Zwerge gehorchten dem Muster, nach dem ich benannt bin. Rotsepp hieß Sepp und war rot, die Himmelblöe hatten alle drei himmelblaue Jacken an, und Lochnas alt hatte – sozusagen von Geburt weg, obwohl die Frage unserer Geburt ein weites Feld ist – ein Loch in der Nase. Allerdings steckte Grünsepp nur zu Beginn in einem grünen Anzug, später in einem gelben, und die Böse waren nicht im geringsten bös, sondern herzensgut und hilfsbereit; allenfalls ein bißchen knurrig zuweilen. Und Dunkelblöe, der Älteste und so etwas wie der geheime Chef dieser Zwergendemokratie, trug eine runde Hornbrille und hatte eine so tiefe Stimme, daß alle ihn für [11] klug und weise hielten. Überhaupt die Stimmen. Wir Vigolette – neben mir waren da noch Vigolette neu und noch später auch Neu Vigolette – sprachen durch die Nase, ich tue das immer noch, obwohl mir die Nase längst weggebröselt ist. Wir klangen tatsächlich wie die Deppen – ich klinge auch heute noch so, nur, allein spreche ich kaum mehr –, und darum hielten uns die anderen für einigermaßen beschränkt. Ich bin beschränkt, o.k., aber da solltet ihr einmal die Himmelblöe oder die Lochnase sehen. Ich war immerhin der einzige, der wußte, daß er nichts wußte. Ich war der Klügste von uns und stritt mich immer mit Dunkelblöe herum, der darauf bestand, mehr als nichts zu wissen, nämlich etwas, und sein Etwas war zufälligerweise stets das, wovon gerade die Rede war. Das erklärte er uns dann, etwa, daß Katzen für Zwerge keine Gefahr darstellten, Hunde jedoch sehr wohl, weil sie die Neigung verspürten, auf uns herumzukauen. Trotzdem kam er dann einmal zwischen den Zähnen der Hauskatze ins Zimmer und schaute entschieden erbärmlich; das Menschenmädchen von damals befreite ihn und schimpfte, statt mit ihm, mit der Katze. – Wir Zwerge, alle siebzehn, waren einst zusammen, für ewig und so selbstverständlich, daß keiner je an eine Trennung dachte. Der Gedanke, dereinst allein zu sein, war [12] undenkbar; hätte uns, hätte er uns auch nur gestreift, in eine Schreckensstarre verfallen lassen, gegen die die Spielzeugunbeweglichkeit ein weiches Ausruhen gewesen wäre. Und doch, irgendwie versprengte uns ein Schicksal, das ich bis heute nicht erfaßt habe, ich landete auf diesem Regal, in diesem Menschenzimmer. Hier lebe ich seither schier bewegungslos, obwohl mich nie, fast nie ein Menschenblick streift und ich stundenlang herumtosen könnte. Ich wage es einfach nicht, die gut zwanzig Zwergenlängen lotrecht zum Erdboden hinabzusteigen, die glatten Regalwände hinunter. Was, wenn ich beim ersten Schritt unten auf dem Parkett meinen andern halben Fuß auch noch verlöre? Einfüßig schaffte ich es nicht mehr in meinen Horst. Von hier aus habe ich sowieso einen guten Überblick.
ICH sehe: einen Tisch, eine Schreibmaschine darauf, viel Papier. Einen Stuhl. Ein Telefon. Das Fax, das so jäh loskeucht, daß ich immer erneut erschrecke, ruckelnd seine Meldung ausspuckt und, wenn diese endlich in dem Auffanggitter zur Ruhe kommt, kläglich pfeift, als rufe es um Hilfe. Links ist ein Regal voller Bücher, geradeaus ein Fenster, durch das ich so etwas wie einen Bambushain [13] erahne – hie und da, selten, eine Amsel oder einen Spatz –, und rechts ein weiteres Regal mit roten, blauen oder gelben Ordnern. »Einnahmen«, »Ausgaben«, »Texte«, »Briefe«, »Verträge«. Ein Bild, das eine Siphonflasche zeigt, und ein anderes, auf dem ein Mann mit einer wie holzgeschnitzten Nase zu sehen ist. Gerümpel am Boden, das Grammophon zum Beispiel, das die Nadeln bräuchte, wäre es jemals in Betrieb, und ein Ständer mit zwei drei Dutzend 78-Touren-Platten. Ja, manchmal sitzt an dem Tisch der Mann, dem ich gehöre. Der mir gehört. Er ist mein Schicksal, ich bin seins. Ich weiß es, er nicht.
WENN ich es nicht zweifelsfrei wüßte, ich würde es nicht glauben: daß dieser alte Mann mit seiner Glatze, seinem bizarren Haargewusel auf den Schädelseiten (Putzwolle oder so was, grau), seinem Schnauz, seinen Tränensäcken unter den stier glotzenden Augen jener verwandelte Bub mit den schwarzen Wuschelhaaren und der hellen Stimme ist! Hätte ich nicht jeden Tag seiner Verwandlung miterlebt, ich schwörte bei Gott – Zwerge haben keinen Gott –, daß der da ein ganz anderer ist. Keinerlei Ähnlichkeit mit jenem Jungen, nicht so viel. Der da ist gewiß sterblich, das sieht ein [14] Blinder. Seine Tage sind gezählt, die Wetten gehen nur noch, ob 300 oder 3000. Der kleine Junge wirkte durchaus so, als könnte er ewig bleiben. Ein Zwerg auch er, ein Riesenzwerg von allem Anfang an allerdings. Aber das blieb er nicht. Er wurde wahrhaftig ein Riese, ein durch die weite Welt pflügender Gigant, und tat Dinge, die mit mir gar nichts mehr zu tun hatten, obwohl er mich oft – später erst seltener – in seiner Hosentasche mitnahm. Mich zuweilen, mitten in seinem Erwachsenengetöse, heimlich mit den Fingern betastete. Er lärmte in Gaststätten herum und saß stundenlang in Flugzeugen. Trotzdem: ich war sein Liebling und bin es vielleicht immer noch. Warum sonst behielte er mich immer bei sich, in meinem Zustand!, während die andern Zwerge irgendwo in einer Schachtel auf einem Dachboden verrotten oder längst in der Abfalltonne gelandet sind, niemand mehr weiß wann, wo, mein großer Bub nicht, und ich schon gar nicht. Wer einen Zwerg der Müllabfuhr mitgibt, kann seinen Körper nicht töten; sein Herz sehr wohl. – Arme Kollegen. Sie haben es nicht verdient, daß der Bub, der einstige Bub, sie weniger liebte als mich, außer vielleicht Neu Lochnas, der ein Stinkstiefel war, ein mißgünstiger Neider, und immer das größte Stück vom Kuchen wollte, obwohl auch er wußte, daß wir Zwerge [15] keinen Kuchen essen. Und natürlich Dunkelblöe, der meinte, das Pulver erfunden zu haben.
MEIN Bub, jetzt, als älterer Herr, sitzt hie und da an dem Tisch, barfuß, in kurzen Hosen und einem T-Shirt, und schreibt auf seiner Schreibmaschine. Er trägt dann eine Brille, eine ähnliche wie einst Dunkelblöe, die er immer wieder putzt, nicht weil sie schmutzig wäre, denke ich, sondern weil er nicht weiterweiß und die Zeit der Leere überbrücken will. Dann wieder tippt er wie ein Besessener, wie der rasende Roland, so daß die vollgeschriebenen Papiere nur so aus der Rolle fegen, tölpeligen Vögeln gleich durchs Zimmer flattern und irgendwo auf dem Parkett landen. Einmal, vor nicht allzu vielen Tagen, flog eins bis zu mir ins Regal und legte sich auf mich. Da lag ich, begraben für eine oder zwei Minuten, bis der Bub, der alte Mann, das Blatt wieder von mir weghob. »Na, Vigolette«, sagte er. »Wie geht’s uns so?« Natürlich konnte ich ihm nicht sagen, wie es uns so ging – daß wir in einem beunruhigenden Tempo zerbröselten, wir zwei –, ich war ja spielzeugstarr, und Zwergenstimmen sind so leise, daß sie von Menschenohren, wenn überhaupt, nur gehört werden können, wenn diese direkt vor dem [16] Zwergenmund sind. In so eine Lage kommen wir nie, mir jedenfalls ist es nie passiert; und ich wüßte dann vielleicht gar nicht, was sagen. Small talk mit einem Menschen, mit diesem Menschen, das wäre mir nicht möglich. Zwerge reden auch mit Zwergen Wesentliches, im wesentlichen. Ob mir aber mit ihm, so aus dem Stand, der Satz gelänge, der alles umfaßte? – Der alte Bub saß jetzt wieder am Tisch und las die eingesammelten Blätter. Er summte gutgelaunt vor sich hin. Endlich zerknüllte er sie und warf sie in den Papierkorb. – Nachts schläft er zwar in dem Zimmer, in dem er tagsüber arbeitet, aber in einem Zimmerteil, der meinen Blicken entzogen ist. Der Raum ist durch einen Treppenschacht in zwei Teile geteilt, und unter den Treppenstufen ist eben mein Regal, mit einer Holzwand gegen die Bettseite. Ich höre den Mann-Bub überall, sehr gut sogar, aber ich sehe ihn nur, wenn er im Zimmerteil mit dem Schreibtisch und dem Fenster ist. Ich höre ihn über mich hinwegpoltern, wenn er in den ersten Stock geht oder von dort nach unten kommt, spätnachts, und sich ins Bett legt. Es ist, als liege er direkt neben mir. Er wälzt sich, ich höre das Matratzenquietschen, er schläft ganz offenkundig nicht, obwohl er das Licht längst ausgemacht hat. Er flucht stundenlang vor sich hin. Wie soll ich da schlafen. Ich schimpfe dann zu [17] ihm hinüber, so laut ich nur kann, viel zu leise immer noch für einen wie ihn. Manchmal spielt er Mundharmonika, Melodien wie »A sentimental journey« oder »Waltzing Mathilda«. Oder er stampft im Pyjama und mit einem finsteren Gesicht an mir vorbei, zur andern Tür hinaus, aufs Klo, das ich ebenfalls noch nie erforscht habe. Ich höre das Rauschen der Spülung, und dann kommt er zurück, kaum heiterer.
ÜBER unsere Ursprünge wissen wir Zwerge wenig. Nichts. Rotsepp behauptet steif und fest, es habe Ur-Zwerge gegeben, sieben Zwerge (aber wie sähe ein siebenter dann aus?), aus denen wir sechs alle hervorgegangen seien, unter schrillen Pfiffen, was jene Metalltrillerpfeifen erklären soll, die wir alle, ohne ihre Funktion zu erkennen – nur die Kinder drücken beim Spielen zuweilen auf unsere Bäuche, wir tun das nie –, in unsern jungen Jahren im Rücken getragen haben und die uns allen irgendwann einmal ausgefallen sind. (Meine Pfeife ist mir gleich im ersten heißen Sommer abhanden gekommen; ein Sprung vom Schrank, und weg war sie.) Eine Frau – sagt Rotsepp – sei stets bei der Schöpfung dabeigewesen und begrüße jeden Zwerg, indem sie ihm die Mütze abnehme und ihn [18] auf die Glatze küsse. Er spüre heute noch, wie die Hitze in ihm hochstieg, bis sein Schädel rotglühend war. Tatsächlich lief er jedesmal rot an, wenn er seine Theorie zum besten gab. – Grünsepp denkt, wir seien nicht nur unsterblich, also ewig im Vorwärtsgang, sondern es habe uns immer schon gegeben. Jeden von uns. Wir seien mit dem Urknall entstanden, ja, wir seien die Ursache des Urknalls gewesen. Eine so große Zwergendichte, daß die eben noch ausdehnungslose, unendlich konzentrierte schwarze Masse jäh auseinanderbarst und bis heute den Rändern des Unendlichen entgegenstürmt, immer noch zwergengesättigt, so daß dereinst, wenn das All zur Ruhe gekommen ist, auch am erdfernsten Punkt Zwergenartiges sein wird. – Neu Lochnas glaubt, daß wir vom Menschen abstammen. Weil, da ist eine gewisse Ähnlichkeit; der Mensch wäre ein zu groß geratener Zwerg mit, im Verhältnis zu seiner Größe, zu geringer Hirnmasse. Aber Neu Lochnas meint auch, daß die Welt am Horizont aufhört. – Ich bin überzeugt, daß wir in Fabriken hergestellt werden, in beträchtlicher Stückzahl, und dann über den ganzen Erdball verstreut. Beweisen kann ich es nicht; aber Grünsepp kann nicht recht haben. Er ist seinem Größenwahn auf den Leim gegangen und denkt, weil er ein Zwerg ist, sei überall Zwerg, und [19] immer schon sei alles Zwerg gewesen. Und der Sieben-Zwerge-Mythos ist zu schön, um wahr zu sein. Daß die Ahnen in paradiesischer Unschuld im Walde lebten, aus tiefen Stollen Kohle oder Diamanten schürften und sich Zwergenschnurren erzählten. Nein. Das dann doch nicht. – Eins ist sicher: Zwerge werden mit einem Gedächtnis geboren, das nicht sofort zum Leben erwacht, sondern – manchmal Jahre vielleicht – auf seine Erweckung wartet. Ja, der ganze Zwerg beginnt sein Leben oft erst lange nach seiner Schöpfung, und manche Zwerge, da bin ich mir sicher, bleiben für immer unbelebt. Tote Ware, auch im Trödelladen unverkäuflich und endlich zerschreddert. So hat keiner von uns je seinen Schöpfer gesehen (den sich Dunkelblöe als einen riesenhaften Dunkelblöe vorstellt, mit einer unendlich tiefen Stimme, die durchs All orgelt), beziehungsweise das Fließband, auf dem Zwerg hinter Zwerg, rohgummifarben noch, an Frauen mit farbtropfenden Pinseln in den Händen vorbeigleitet, die ihnen braune Schuhe, rote Zipfelmützen oder ein violettes Jöppchen verpassen. Hinter ihnen der Vorarbeiter, der sie mit einer Stoppuhr überwacht. Zehn Sekunden für ein Paar Schuhe, fünfzehn für das Wams. Wer mehr Zeit braucht, fliegt. Das Weiß meines Bartes dürfte nicht mehr als drei Sekunden in [20] Anspruch genommen haben, wieso sonst wäre auch noch ein Teil meiner Hose weiß? – Meine Erinnerung setzt – wie die all meiner Freunde – jäh und deutlich ein, als habe jemand einen Schalter in mir gedrückt. Plötzlich sah ich. Ich hörte. Ich fühlte. Eine ungewöhnliche Wärme durchströmte mich, eine Hitze, ein überwältigendes Glück. Ich lebte. Ich war allerdings in meiner Spielzeugstarre – ahnte in diesem ungeheuerlichen ersten Lebensmoment noch nicht, was das Herumflitzen für mich bedeuten würde –, weil ein Kind mich in der Hand hielt und verzückt auf mich herabsah. Ich sah zu ihm hoch. Große Augen über mir, Nasenlöcher, ein Mund, der lächelte. Ich spürte den Puls des Kindes in den Fingern, die mich umklammerten. Sein Atem ging schnell, und es stieß kleine Glücksschreie aus. »Mami, schau! Den will ich, den da, den!« – Jeder von uns erzählt eine ähnliche Geschichte seiner Erweckung. Wir beginnen zu leben, wenn ein Kind uns anschaut. Wenn es dich meint, keinen andern. »Du bist es. Du.« Wenn du das Glück eines andern geworden bist – in dem Augenblick weißt du noch nicht einmal, daß das Etwas, das da auf dich herabstrahlt, ein Kind ist –, und das Kind dein Glück. – »Du hast doch schon drei Zwerge zu Hause«, sagte eine Stimme hoch über mir, und ich sah das Gesicht einer Frau, weiß, [21] mit roten Lippen, schwarzen Haaren. Blitzenden Zähnen. »Stell ihn sofort wieder hin.« Sie wand mich dem Kind aus der Hand und schob mich ins Regal zurück. Das Kind fing an zu weinen, und ich heulte nur nicht los, weil das Kind mich immer noch aus flehenden Augen ansah und spielzeugstarre Zwerge nicht weinen können. Wir weinen nur, wenn wir bewegungsfähig sind. »Ich will diesen Zwerg, den da! Bitte, bitte, Mama, bitte!« – »Nein!« – »Doch!« – »Nein!!!« – Das Kind lag jetzt auf dem Boden und kreischte. – Heute, rückschauend, weiß ich, daß es ein Glück für mich war, daß ich nochmals, sehend und fühlend nun, in dem Regal stehen durfte. Ich konnte mich ausgiebig umsehen. Ich steckte in einem ganzen Pulk Zwerge, zwischen einem Dutzend Vigolettes, alle mir ähnlich, aber keiner gleich, weil jeder seinen eigenen Bemalungsmakel hatte. Schuhbraun bis übers Knie, Zipfelmützenfarbe im Gesicht. Weiter vorn Seppen in allen Farben (die Seppen sind die einzigen, die sowohl rote als auch gelbe oder grüne Anzüge tragen), ein paar Himmelblöe und jede Menge Lochnase – einer, der übernächste, hatte eine Art Pockennarbe auf der Nasenspitze. Ein Fabrikationsfehler, wenn man meine Theorie akzeptiert, Ausschußware eigentlich. Er wurde wenig später unser Lochnas. In meinem Rücken eine [22] Truppe grimmig blickender Böse, alle mit vor der Brust verschränkten Armen. (Einen Dunkelblöe, das fiel mir später auf, hatte ich nicht erblickt. Ich habe in meinem ganzen Leben nie einen andern Dunkelblöe als unsern gesehen. Sollte er recht gehabt haben, wenn er bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit wiederholte, er sei einzig?) – Daß ich bereits lebte, als ich nochmals im Regal landete, führte dazu, daß ich mehr als jeder andere von uns über unsere Anfänge weiß. Ich habe uns unmittelbar nach der Schöpfung gesehen, da, wo wir unsere Bestimmung noch nicht erfüllen und im Vorhof des Lebens warten, zum Leben bereit, aber noch nicht dafür erwählt. Die andern Zwerge erinnern sich nicht ans Regal. Keiner. Logisch, sie wurden von ihrem Kind erwählt, und während sie zum Leben erwachten, waren sie bereits unterwegs zur Kasse. Ich aber sah sie oder ihre Genossen vor ihrer Erweckung. Diese Zwerge waren alle leblos, keine Frage. Gummi, sonst nichts. Kein Herz, tote Augen. – Der Bub hatte inzwischen den Kampf mit der Mutter gewonnen – »na schön, wenn dein Seelenheil davon abhängt« –, er heulte nicht mehr, und ich flog, von den Bubenfingern umklammert, zwischen Teddybären, Schaukelpferden und Brummkreiseln dem Ausgang zu.
[23] ZWERGE kommen ohne jedes Wissen zur Welt. Aber wir haben ein Riesenhirn – Millionen Zellen auf zwei drei Kubikzentimetern – und ein absolutes Gedächtnis. Wir vergessen nichts. Nie. So lernen wir rasend schnell. Auf dem Weg zur Kasse wußte ich bereits für alle Zeiten, was eine Mami ist und daß es ein Seelenheil gibt. Bis in alle Ewigkeit werde ich wissen, wieviel ich gekostet habe: 3.40. Trial and error, selbstverständlich lernen auch wir so. Aber einen Irrtum begehen wir nur einmal. Wir fassen einmal den heißen Ofen an, dann nie mehr. Wir laufen einmal vor der Schnauze eines dösenden Hunds durch. Wir hören einmal, daß zwei und zwei vier gibt, dann wissen wir es. Himmelblöe neu und ich hatten uns einmal