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Der Auftakt zur dritten Staffel. Die Zuflucht erreicht ihr letztes Ziel. Doch zwischen eisigen Temperaturen erwartet die überlebenden Magier der Schlacht eine weitere Herausforderungen. Tief unter dem Eis liegt ein uraltes Mysterium verborgen. Unterdessen setzt Alex mit Kyras Hilfe alles daran, herauszufinden, was mit Jen geschehen ist. Muss er ihren Verlust betrauern oder gibt es noch eine Chance? Das Erbe der Macht ... ... Gewinner des Deutschen Phantastik Preis 2019 in "Beste Serie"! ... Gewinner des Lovelybooks Lesepreis 2018! ... Gewinner des Skoutz-Award 2018! Das Erbe der Macht erscheint als E-Book und alle drei Monate als Hardcover-Sammelband.
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Seitenzahl: 141
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Schattenglas
Einordnung
Was bisher geschah
Prolog
1. Endstation
2. Ein Blick ins Innere
3. Die Wacht beginnt
4. Kriegsrat
5. Unter dem ewigen Eis
6. Siebenmal Hoffnung
7. Wispern aus der Tiefe
8. Der Geist von Glamis Castle
9. Von Angesicht zu Angesicht
10. Zerbrechende Mauern
11. Knochen am Horizont
12. Schmetterling und Drache
13. Drachentanz
14. Ein Blick zurück
15. Seele im Eis
16. Spiel mit dem Feuer
17. Die letzten Minuten
18. Eine Ewigkeit im Nichts
19. Im Licht der alten Macht
20. Unberechenbar
21. Die eine Frage
22. Im Licht der Ritter
23. Quo vadis?
Epilog
Vorschau
Seriennews
Glossar
Impressum
Das Erbe der Macht
Band 25
»Schattenglas«
von Andreas Suchanek
Die Ereignisse in diesem Roman spielen nach dem Finale der zweiten Staffel (Schattenkrieg) und dem darauffolgenden Spin-off:
»Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells.«
Alle Infos und die Reihenfolge findest du auf: www.erbedermacht.de
Der Kampf bei Glamis Castle ist vorüber.
In einer letzten großen Schlacht haben sowohl die Widerständler als auch Merlin ihre Karten ausgespielt. Dabei ist es dem gnadenlosen Anführer der neuen Ordnung gelungen, die Essenzstäbe der Magier zu zerstören. Er hat Risse zum Anbeginn geöffnet und die Varye zurückgebracht. Einzig das Opfer der Herrin vom See konnte das Verhängnis aufhalten.
Mit der Macht aller Sigile aus dem Stab von Maginus konnte das Seelenmosaik vernichtet werden. Die Bruchstellen der Realität wurden wieder geschlossen.
Allein Antarktika fiel dem Anbeginn zum Opfer. Merlin öffnete hier ein Noxanith-Tor und ermöglichte einem hohen Wesen die Rückkehr. Der uralte Krieg ist erneut entflammt.
Doch damit nicht genug: Um eine Waffe gegen die Unsterblichen und die Zitadelle zu besitzen, vernichtete Merlin den Geist von Jen. In ihrem Körper existiert nun der Drache allein.
Mit dem größten aller Opfer gibt Max sein Leben, um Unschuldige zu retten. Das hat Folgen. Die Mächtigen der Zitadelle erwählen ihn als letzten Unsterblichen, bevor sie ihre Tore schließen. Fortan können die Magier nicht länger mit Unterstützung von dort rechnen.
Die Zuflucht des Widerstandes befindet sich in ihrem finalen Sprung, das gefährliche Noxanith darf nie wieder eingesetzt werden.
Alex wird klar, dass Merlin nur besiegt werden kann, wenn der Wall zerstört wird. Gleichzeitig glaubt er nicht daran, dass Jen wirklich tot ist.
Die Zuflucht erreicht ihr letztes Ziel.
Die Gedanken und Erinnerungen bildeten ein wirbelndes Kaleidoskop in Alex’ Geist, genau wie die Umgebung. Die Zuflucht schoss durch den Nebel des Zwischenraums an ihr letztes Ziel.
Er stand hinter den Zinnen und blickte hinaus in die Unendlichkeit. Sah man lange genug hinein, glaubte man irgendwann, dass gewaltige Augen zurückstarrten. War es vielleicht auch so? Lauerte der Anbeginn auf sein nächstes Opfer, wie Jen eines gewesen war?
Er weigerte sich, dem Gefühl nachzugehen. Nicht jetzt, nicht hier.
»Was glaubst du, wo werden wir landen?« Kyra schaute neugierig in den Strudel. »Immerhin ist es der letzte Sprung.«
Womit sie erneut auf dem Präsentierteller lagen, falls Merlin sie fand. Nicht einmal der magische Wald mit seiner Schutzkraft konnte sie vor ihm verteidigen.
Trotzdem zuckte Alex lediglich mit den Schultern. »Was auch immer kommt, wir stellen uns ihm. Und finden eine Lösung.«
»Das gefällt mir.« Kyra lächelte zaghaft. »Und wir finden auch einen Weg, Merlin zu entmachten.«
»Brauchen wir nicht«, sagte Alex tonlos.
»Wie meinst du das?«
»Den Weg gibt es längst. Wir müssen ihn nur gehen.«
Verwirrt schaute Kyra zu ihm herüber.
Alex spürte grimmige Entschlossenheit, Wut und den Wunsch, die Dinge endgültig anzupacken. Alles hatte sich verändert. Seine Stimme war kalt wie Stahl und klar wie schwarzes Eis, als er sagte: »Der Wall muss fallen.«
Die Zuflucht erreichte ihr Ziel.
In einer Sekunde blickte er noch in den Nebel, in der nächsten flog er durch die Luft.
Schläge trafen seinen Körper, ein dumpfer Aufprall riss ihm die Luft aus der Lunge. Irgendwo polterte etwas, ein Schrei erklang.
Kyra.
Es war sein letzter Gedanke. Der Druck wurde übermächtig, sein Brustkorb zerquetscht. Um ihn herum herrschte Kälte. Eisige Kälte.
Beinahe hätte Alex laut gelacht.
Hatte der letzte Sprung sie etwa nach Antarktika getragen? Direkt in die Höhle des Monsters? Stand Merlin lächelnd irgendwo auf dem Eis und sah dabei zu, wie eine gewaltige Spalte sie alle verschlang?
Kälte kroch in Alex’ Mund, überzog seine Haut, ließ ihn zittern. Sein Bewusstsein erlosch, taumelte davon wie die Zuflucht durch das Zwischenreich.
Sekunden vergingen. Oder eine Ewigkeit? Abrupt wurde er herausgerissen aus der Dunkelheit, zurückgezerrt ins Licht.
»Krwa.« Er hustete, spuckte Schnee.
Die dicken Armmuskeln passten nicht zu der blonden Frau, die ihn aus großen Augen anblickte. Als Wechselbalg konnte Kyra ihren Körper beliebig verändern. »Ich habe dich aus dem Schnee gezogen, geht es dir gut?«
Alex hustete, sog gierig die Luft in seine Lunge. Sie brannte in seinem Hals. »Wo …?«
Um sie herum tobte ein scharfer Wind, Schneeflocken tanzten unschuldig umher. Unter seinen blau angelaufenen Fingern fühlte er hartes Eis.
»Antarktika«, hauchte Alex.
»Ich glaube nicht.« Kyra schien mehr zu sehen als er. »Hier ist nirgendwo Dunkelheit. Artus sprach doch von niederen Wesen des Anbeginns, die aus dem Schatten hervorgekommen sind. Aber hier ist nichts.«
»Aportate Essenzstab.« Alex streckte die Hand aus und atmete erleichtert auf, als das magische Artefakt darin landete. »Sanitatem Corpus.« Ein kurzer Schwung, das Symbol prangte auf seiner Haut. Bernsteinfarbene Essenz sickerte durch sie hindurch in seinen Körper. Es roch nach Weizen. Kaltem Stahl. Und Geborgenheit.
Die Gedanken waren einfach da.
»Was ist das?«
»Ich merke es auch.« Kyra betrachtete seine Essenz. »Sie verändert sich.«
»Wunderbar. Farbe, Geruch, Eindrücke. Was kommt als Nächstes?« Aber immerhin, der Schmerz verschwand. Seine Haut nahm wieder normale Beschaffenheit an.
Kyra half Alex auf die Beine. »Potesta Incendere.« Der Essenzstab begann zu glühen, verströmte eine angenehme Wärme.
»Das hier könnte der genaue Gegenpol sein«, flüsterte der Wechselbalg. »Es ist irgendwo in der Nordpolarregion, in der Arktis.«
Alex nahm die Information mit einem inneren Aufatmen zur Kenntnis. Damit waren sie jedenfalls weiter von Merlin entfernt als irgendwie möglich, ließ man die Splitterreiche außen vor. »Aber warum diese ruppige Ankunft. Die Zuflucht erschafft sich doch immer eine passende Umgebung.«
Eine Frage, die natürlich auch Kyra nicht beantworten konnte. Auf seinen suchenden Blick hin deutete sie in eine Richtung: »Wir sind von dort gekommen.«
Alex erschuf eine leichte Contego-Sphäre, die Wind und Schnee abhielt. Weit konnte die Zuflucht nicht sein. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, jederzeit darauf bedacht, den Sturz in eine Gletscherspalte abzufangen oder einen Angriff aus dem Hinterhalt zu parieren.
Der Marsch zog sich in die Länge, Sturm und Schnee erschwerten jedes Vorankommen.
Doch dann, endlich, sah Alex die Zuflucht.
»Nein«, hauchte er voller Entsetzen.
Vierundzwanzig Stunden nach dem letzten Sprung
Ein Zittern ging durch den Untergrund.
Die Beben kamen und gingen, unaufhörlich. Das Eis arbeitete. Es glich einem Wunder, dass der Westflügel der Zuflucht noch stand. Alex versuchte, den Gedanken an das Bild zu verdrängen. An das Castillo, das auf einem unebenen Berg zurückgekehrt war. Teile der Wand waren eingebrochen, der Boden stellenweise durch Eisspalten in die Tiefe gestürzt.
Einzig der schnellen Hilfe jedes Magiers, der noch einen Essenzstab besaß, war es zu verdanken, dass sie ihren Standort hatten stabilisieren können. Und das waren nicht mehr viele.
»Aber wir können hier nicht bleiben.« Es war eine Feststellung von rein wissenschaftlichem Standpunkt, die Albert Einstein tätigte, die Daumen in seiner Weste eingehakt.
Natürlich brachte er damit umgehend von Thunebeck in Rage, der als manifestierte Essenz vor ihnen in den Katakomben unter der Zuflucht stand. »Es ist mir durchaus bewusst, dass ihr an eurem Leben hängt. Das tat ich einst ebenfalls. Doch die Apparatur benötigt Noxanith.« Er deutete auf das Herzstück der Sprungmaschine.
»Genau das können wir aber nicht mehr benutzen«, stellte Alex erneut klar.
Sie wussten nun, dass das Material vom Anbeginn die Wirklichkeit perforierte, mit jedem Einsatz mehr destabilisierte.
»Gibt es denn keine andere Möglichkeit?«, hakte Kyra sofort nach.
Gemeinsam mit Einstein waren sie hierher gekommen, nachdem sie die letzten vierundzwanzig Stunden mit Stabilisierungsarbeiten, dem Verarzten von Verwundeten und beruhigenden Worten verbracht hatten.
»Ich wüsste keine«, patzte von Thunebeck. »Aber ich bin ja lediglich ein toter Hochmagier. Womöglich weiß dieser berühmte Wissenschaftler ja mehr.« Dabei deutete er kampfeslustig auf Einstein.
Innerlich verdrehte Alex die Augen. Wie konnte eine Essenzmanifestation nur solch ein überbordendes Ego besitzen?
»Wir suchen alle nach einer Lösung«, beschwichtigte Kyra, die in vielen Monaten der gemeinsamen Arbeit eine gute Beziehung zu von Thunebeck aufgebaut hatte.
»Wir haben bereits gesehen, dass Merlin und seine Jünger eine Art Schattensprung einsetzen«, erklärte Einstein. »Diese Apparatur hier basiert auf etwas Ähnlichem, nutzt den gleichen Raum. Wir benötigen daher ein völlig neues Konzept.«
Was nicht nur für die Zuflucht galt. Alex rieb sich müde die Augen. An allen Ecken und Enden fehlte es an Wichtigem, war etwas auszubessern, mussten sie sich vorbereiten.
»Ich werde mich zurückziehen und über alles nachdenken«, sagte von Thunebeck.
Im nächsten Augenblick war er wieder Teil seiner Knochen, die in einem gesicherten Glaskasten an der Seite standen.
»Hast du irgendeine Idee, Albert?«, fragte Alex.
»Einen Tee.«
»Bitte was?«
»Ich gehe zu Tilda und werde mir eine Tasse Tee gönnen«, erklärte der Unsterbliche. »Dabei kommen mir die besten Ideen.«
Damit zog auch er davon.
Alex setzte dazu an, ihm zu folgen, blieb jedoch stehen und sank auf den Rand einer der Arbeitsplatten. Sein Blick wanderte über Bernsteinsplitter, Drähte, Himmelsglasscheiben, Hexenholzbruchstücke.
Doch während er sich eigentlich mit der Lösung des unmittelbaren Problems befassen musste – immerhin steckten sie in einem Krieg gegen Merlin –, konnte er immer nur ihr Gesicht sehen. Jen. Die sanften Augen, in denen stets der Schatten ihrer Vergangenheit zu erkennen war. Ihr Lachen, das die Essenz seines Sigils aufwirbelte. Die Berührungen …
»Es tut mir leid«, sagte Kyra leise.
Alex begegnete ihrem Blick. »Sie ist nicht tot.«
Stille. Die Eiseskälte der Arktis lag hier unten wie unsichtbarer Nebel über allem.
Glaubte er tatsächlich, was er sagte? War Jen noch am Leben? Irgendwie? Er hatte gesehen, wie Merlin sie aus ihrem Körper gerissen und ihren Geist, die Seele, wie auch immer man es nennen wollte, zerfetzt hatte.
»Sie konnte dich retten«, sagte Kyra leichthin. »Und letztlich hat mich das zu euch geführt. Du wirst es umgekehrt ebenfalls schaffen.«
Unweigerlich musste er über den ewigen Optimismus des Wechselbalgs lachen. Gerade sie, die gejagt worden war, ihre Familie verloren hatte und Jahrzehnte allein in der Vergangenheit gestrandet war, hätte keinen Grund dazu gehabt.
»Aber wie?«
»Wie war das bei dir damals?«, fragte Kyra. »Dein Geist war auch getrennt von deinem Körper. Oder nicht?«
»Ich … Ja.« Langsam stand er auf. »Damals hat mich ein Freund gerettet.«
Er eilte auf die Treppen zu.
Kyra strahlte über das ganze Gesicht. »Konnte ich dir helfen?«
»Das tust du doch immer.«
Sie erreichten das obere Ende und traten hinaus in den wimmelnden Bienenstock. Zumindest kam es Alex hier so vor, seit ständig Huskys von Antarktika vorbeischauten, zwei kleine Frechdachse ihre Streiche spielten und die Magier dabei waren, den Boden oder die Wände auszubessern.
Über ihnen hatte jemand das Himmelsglas repariert, nachdem die brennende East End herabgestürzt war. Der Schnee außerhalb der Zuflucht war so dicht, dass sie Fackeln entzündet hatten. Die verbrauchten keine Essenz.
Gerade erschienen auf dem Boden magische Symbole aus Flammen, eins nach dem anderen, bis ein Kreis gebildet war. Im Inneren loderte es auf, Silhouetten manifestierten. Er sah bereits an den Gesichtern der Magier, dass es nicht geklappt hatte. Was nicht im Garten von Alana Franke angebaut werden konnte, musste herbeigeholt werden. Doch aus irgendeinem Grund brachten die Sprungkreise sie nicht mehr fort. Wer es versuchte, verschwand für einige Sekunden, tauchte dann aber einfach wieder auf.
Tilda kam herbeigeeilt, seufzte auf und machte sich auf den Weg in den Garten von Alana.
»Wenigstens streiten sie nicht länger«, sagte Kyra.
Tatsächlich hatte der Kampf dafür gesorgt, dass die Linien zwischen ehemaligen Lichtkämpfern und Schattenkriegern sich endgültig aufgelöst hatten. Ein gemeinsamer Feind schweißte eben alle zusammen. Und mit Moriarty im Krankenflügel konnte niemand mehr Unruhe stiften.
»Wo gehen wir eigentlich hin?«, fragte Kyra.
»Lass dich überraschen.«
Alex hastete weiter. Wohin er auch kam, überall begegneten ihm bewundernde Blicke. Ja, Ehrfurcht, Respekt. Sein Kampf hoch über der Schlacht, die Vernichtung des Seelenmosaiks, all das war längst als Erinnerung in einem Mentiglobus gelandet, der von Hand zu Hand ging.
Ein seltsames Gefühl.
Er erinnerte sich noch gut an jene Nacht, als er durch den Regen gejoggt war, am Ende seiner Kräfte. Ohne Geld, Respekt oder irgendeine Art von Perspektive.
Heute hatte er all das längst erreicht.
Doch es bedeutete ihm nichts mehr.
Er wollte keine Ehrfurcht im Blick der anderen Magier. Stattdessen würde er alles dafür geben, mit Kevin, Max, Chris, Chloe, Clara und Jen am Lagerfeuer zu sitzen und zu plaudern.
Dieser Krieg hatte sie längst viel zu viel gekostet, allem voran die Unbeschwertheit. Die Leichtigkeit des Lachens, die Nähe von Freunden. So kalt wie die Luft der Arktis lag der Verlust über ihnen, fraß sich in die Seelen und erstickte jede Art von Fröhlichkeit.
Vermutlich hätte er noch weiter trüben Gedanken nachgehangen, hätten sie nicht den Raum mit den leeren Betten erreicht. Hier stand der Silberschädel von Jules Verne, lange Reihen von Schlafstätten waren aufgestellt. Obgleich es hier lediglich ums Träumen ging.
»Du willst mit ihm sprechen?«, fragte Kyra.
»Möglicherweise weiß er etwas.« Alex klammerte sich an diese Hoffnung.
Jeder sank auf ein Bett.
Ein schneller Zauber und der Schlaf nahm sie auf.
Ich dachte mir bereits, dass wir uns in Kürze wiedersehen.« Jules Verne hatte sich kein bisschen verändert.
Was vermutlich daran lag, dass er schon lange tot und lediglich der Schädel von seinen Silberknochen übrig war. Er trug einen Frack, der Vollbart war gepflegt. Wie immer hielt der Hüter der Traumebene eine Tasse in der Hand, die mit Tee gefüllt war. Zweifellos hatte er zuvor eine gehörige Portion britische Steifheit verschluckt.
Sofort fühlte er sich heimisch.Alex trat mit einem Lächeln auf Verne zu. Beide umarmten sich kurz und kräftig.
Einzig seinem väterlichen Freund verdankte es Alex, noch am Leben zu sein. Er hatte seinen Verstand, sein Wissen, gerettet, als Johanna den Vergessenszauber wob. Ein schneller Blick zeigte ihm, dass all die Schriften, in denen er monatelang geblättert hatte, noch immer im Regal von Vernes Büro standen.
»Tee?«
»Eine Wagenladung Scones wäre mir lieber«, erwiderte Alex.
Aus dem Nichts entstand ein Tablett mit dem Gewünschten, daneben eine kleine Schüssel mit Cloted Cream. Hier konnte er so viel davon essen, wie er wollte. Kein Gramm wanderte auf seine Hüften.
»Deine Träume sind überaus interessant.« Der Hüter deutete auf Kyra. »Ein so langes Leben bringt das wohl mit sich. Keine Sorge, ich nehme nur die intensivsten wahr, die in unmittelbarer Nähe geträumt werden.« Verne stellte seine Tasse auf den Untersetzer. »Ich bin euch überaus dankbar, dass ihr meine verbliebenen Knochen von Antarktika gerettet habt. Vor allem, wenn man bedenkt, dass der Kontinent jetzt gefallen ist.«
»Jen«, presste Alex hervor. »Kannst du uns etwas über sie sagen?«
Verne seufzte. »Es tut mir leid, mein Freund. Aber ihr Geist ist nicht hier. Die Kraft von Merlin, seine Magie, ist eine ganz und gar dunkle Form. Vergiftet vom Anbeginn. Als er Jens Geist aus ihrem Körper gerissen hat, konnte ich nichts tun.«
Alex’ Blick blieb an den Scones hängen. Geschaffen aus einem Gedanken und doch völlig wertlos. »Sie kann nicht fort sein. Es ist verdammt noch mal Jen.«
Kyra stand neben seinem Sessel. Sie legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter, spendete ihm allein durch ihre Gegenwart Kraft. Erst als er ihr dankbar zunickte, trat sie beiseite an das Fenster. »Hier überblickst du die Träume?«
Verne nickte bedächtig. »Ich sehe jene der Verwundeten, die sich daran festklammern, um dem Schmerz der Wirklichkeit zu entgehen. Ich erblicke das unschuldige Herumtollen von Piero, der sich in einer fremden Welt zurechtfinden muss, und Nils, der in seiner Seele einzigartig ist. Da ist Tilda, die unermüdlich für alle da ist und in Einstein eine Stütze gefunden hat. Ich spüre den verzehrenden Schmerz des einen, der seine Familie und seinen Bruder verloren, doch seinen Freund zurückbekommen hat. Ich sehe den Zurückgekehrten, der Magier ist und Unsterblicher und Phönix. So viele Schicksale, so viele Reisen.« Er schüttelte betrübt den Kopf. »Sie hat das alles ermöglicht. Ihr Tod.«
»Die Herrin vom See«, flüsterte Kyra.
Verne erhob sich, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Die Wandlampen spendeten einen warmen Schein, vor dem Fenster zog langsam Dunkelheit herauf.
Draußen waberten die Träume tief unter ihnen durch die Finsternis, als hinge das Büro von Verne direkt über dem Erdenrund bestehend aus den gesammelten Nachtfantasien der Menschheit.
»Selbst ihre Träume konnte ich sehen«, flüsterte er. »Manchmal träumte sie von jener Zeit vor dem neuen Morgen. Als sie Excalibur aus der Schmiede des Anbeginns stahl. Es hätte mich um ein Haar den Verstand gekostet.« Seine Finger zitterten. »Du machst dir Gedanken um Jen, hoffst, dass sie überlebt hat. Das verstehe ich.«