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Der Wechselbalg schlug unbarmherzig zu und tötete einen der Lichtkämpfer. Das Castillo wird hermetisch abgeriegelt, die Jagd beginnt. Doch wer ist der Verräter – und was ist sein Plan? Als Johanna endlich begreift, was die Schattenfrau vorhat, scheint es bereits zu spät. Kann die gnadenlose Feindin noch aufgehalten werden? Unterdessen finden sich Alex und Jen an einem unbekannten Ort wieder. Weit entfernt von ihren Freunden machen sie eine unglaubliche Entdeckung. Das Erbe der Macht erscheint monatlich als E-Book und alle drei Monate als Hardcover-Sammelband.
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Seitenzahl: 159
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Table of Contents
»Wechselbalg«
Was bisher geschah
Prolog
1. Die Jagd beginnt
2. Wo sind wir?
3. Kriegsrat
4. Der lautlose Schrei
5. Der vergessene Ort
6. Die Spur zum Verräter
7. Idiotie
8. Das verlorene Castillo
9. Zeig ihn mir!
10. Hast du noch immer nicht begriffen?
11. Eine Prise Minze
12. Wechselbalg
13. Die geheime Fähigkeit
14. Die Tragödie
15. Lebt wohl
16. Die Maske fällt
17. Ein Plan in einem Plan
18. Unkraut vergeht nicht
19. Der entartete Zauber
20. Ein Abschied auf Zeit
21. Zu spät
22. Erlösung
23. Was bringt die Zukunft?
24. Was hat das zu bedeuten?
25. Die ganze Wahrheit
Vorschau
Seriennews
Glossar
Impressum
Das Erbe der Macht
Band 3
von Andreas Suchanek
Vor einhundertsechsundsechzig Jahren erschufen mächtige Magier den Wall, eine mystische Sphäre, die die Welt der Magie vor Menschenaugen verbirgt. Nichtmagier – sogenannte Nimags – sollten so dem Einfluss dunkler Kräfte entrissen werden. Gleichzeitig galt es, mächtige Artefakte den Händen gieriger Fürsten, Könige, Kaiser und Diktatoren zu entziehen.
Die Gesellschaft der Magier wurde vergessen.
Seit diesem Tag tobt ein Kampf im Verborgenen, der bis zum heutigen Tag andauert. Da sich der Wall aus der Essenz jedes lebenden Lichtkämpfers und Schattenkriegers speist, wollen die machtgierigen Kämpfer um den dunklen Rat die Sphäre wieder auflösen, um die alte Stärke zurückzuerlangen. Die Magier auf der Seite des Lichts stehen dem entgegen, sie tun alles, um die Nimags zu beschützen, die der Magie hilflos ausgeliefert sind.
Bei einem Einsatz in London stirbt der Lichtkämpfer Mark Fenton. Sein Sigil und die damit verbundene magische Macht gehen auf Alexander Kent über, der neu in die Welt der Magie eingeführt wird. Ihm zur Seite stehen Jennifer »Jen« Danvers und weitere Kämpfer des Guten, die vom Castillo Maravilla aus überall in der Welt operieren.
Kurz nach seiner Erweckung wird Alex vom Bund des Sehenden Auges entführt. Die Kuttenträger konnten zuvor einen magischen Folianten an sich bringen, in dem wichtige Informationen niedergeschrieben zu sein scheinen. Enthält er Prophezeiungen, die der letzte Seher verfasst hat? Geheimes Wissen um den Wall, wodurch dieser zerstört werden könnte?
Bei der Befreiungsaktion werden die Lichtkämpfer von der geheimnisvollen Schattenfrau beobachtet. Sie lebt seit Jahrhunderten und ist in zahlreiche Katastrophen der Menschheitsgeschichte verwickelt. Niemand kennt ihr wahres Antlitz, das stets hinter einem Nebelfeld verborgen bleibt.
Alex kann befreit werden. Es stellt sich heraus, dass Jen die Erbin des letzten Sehers ist. Der Lichtkämpfer lebte vor einhundertsechsundsechzig Jahren und starb bei der Errichtung des Walls. In ihr erwacht uraltes Wissen, mit dem sie den Folianten hoffentlich bald entschlüsseln kann.
Im Castillo stellen die unsterblichen Ratsmitglieder Johanna von Orléans und Leonardo da Vinci fest, dass es einen Verräter unter ihnen geben muss. Bereits bei der Erschaffung des Walls vermochten Schattenkrieger in das Hauptquartier einzudringen, weil ein Mitglied des Rates sich auf ihre Seite gestellt hatte. So etwas darf nie wieder geschehen. Doch wer ist der heutige Feind?
Niemand ahnt, dass die Schattenfrau ihre Hände im Spiel hat. Sie konnte einen Wechselbalg in das Castillo einschleusen. Der Gestaltwandler hat einen Lichtkämpfer ersetzt, der in einer Zelle dahinvegetiert. Die Kreatur hat sogar das Bewusstsein des echten Kämpfers kopiert und glaubt phasenweise nun selbst, jener Mensch zu sein. Eine perfekte Infiltration.
Doch damit ist die Perfidität der Schattenfrau noch nicht am Ende. Sie nimmt den Essenzstabmacher – Nostradamus – gefangen, um Jen und Alex in eine Falle zu locken. Der Plan geht auf. Sie gelangt in den Besitz des mächtigen Contego-Maxima-Zaubers, der einen absoluten Schutz darstellt. Der Stabmacher kann gerettet werden. Doch als die beiden Lichtkämpfer das Portal benutzen, um ins Castillo zurückzukehren, landen sie an einem anderen Ort.
Unterdessen schleichen sich Chloe und Clara in Leonardo da Vincis Büro und greifen über die Mentigloben – magische Erinnerungsspeicher – auf die Erlebnisse des Unsterblichen zu. Nun wird auch ihnen klar, dass es einen Verräter im Castillo geben muss. Bevor sie reagieren können, tötet der Unbekannte Gryff Hunter, den obersten Ordnungsmagier.
Johanna von Orléans riegelt das Castillo ab.
Die Jagd beginnt.
Der Wechselbalg konnte den Schock spüren, der durch das Castillo Maravilla wogte, wie eine alles verzehrende Welle aus purem Schmerz. Gryff Hunter weilte nicht mehr unter ihnen. Er hatte den obersten Ordnungsmagier mit der Sigilklinge getötet, die er den verbotenen Katakomben entrissen hatte. Ein wohliger Schauer rann seinen Rücken hinab, als er an den verblüfften Gesichtsausdruck des Mannes zurückdachte. Niemals hatte jener damit rechnen können, von jemandem verraten zu werden, der ihm so nahestand.
Die Klinge hatte das Sigil zerstört. Kein Aurafeuer erschien daraufhin, kein Erbe entstand. Dass dafür auch ein Schattenkrieger sterben musste – das ewige Gleichgewicht wurde stets erhalten –, war bedeutungslos.
»Das ist erst der Anfang.«
Der Wechselbalg stand alleine an der Balustrade der umlaufenden Galerie im höchsten Stockwerk des Castillos. Von hier oben betrachtete er seine Feinde. Johanna von Orléans, Leonardo da Vinci, all die anderen Unsterblichen und Lichtkämpfer. Wochenlang hatte er in ihrer Mitte zugebracht, sie beobachtet, studiert, diesen Tag vorbereitet.
Die Schattenfrau stand bereit.
Sobald er das Ziel erreicht hatte, würde sie handeln.
Eine Gruppe Ordnungsmagier kam herbeigeeilt. Sie erkannten ihn, nickten professionell-freundlich und stapften weiter. Sie durchkämmten das Castillo, suchten nach Spuren, die auf den Mörder von Gryff Hunter hindeuteten. Noch immer hatten sie nicht begriffen, dass er ein Wechselbalg war, gingen von einem Verrat der Ihren aus. Der Grundstein für eine Hexenjagd der schlimmsten Sorte war gelegt. Misstrauen, Hass, sinnlose Verdächtigungen würden die Streiter für den Wall entzweien.
»Das wird ein Spaß.«
Er fühlte noch immer den Nachhall des eingeleiteten Zaubers, den Johanna ausgelöst hatte. Das Castillo war hermetisch abgeriegelt, lag unter einem Siegel. Niemand kam hinein, keiner heraus. Die Portale waren verschlossen worden, alle Lichtkämpfer, die außerhalb eine Mission bestritten, mussten sofort sichere Häuser aufsuchen. Einsätze wurden abgebrochen. Damit war niemand mehr da, der dem dunklen Rat entgegen trat, ihn von Manipulation, Lug und Trug abhielt. Die Schattenkrieger würden, sobald sie es bemerkten, gnadenlos zuschlagen. Durchaus möglich, dass sie es ihnen bereits mitgeteilt hatte.
»Der Graf von Saint Germain wird glücklich über meine Tat sein.« Er lächelte. Der Plan der Schattenfrau würde sie beide zur Legende machen.
Kurz überprüfte er, ob seine äußere Fassade auch makellos weiterbestand. Gerade im Moment großer Emotion konnte es vorkommen, dass hier und da eine Kleinigkeit transformierte. Ungewollt. Andere Wechselbälger hatten in der Vergangenheit bereits aufgrund kleinerer Fehler sterben müssen. Doch nein, die Hülle saß fehlerlos, kopierte perfekt das Original, das blutend und wimmernd seit Wochen in einem dunklen Kerker lag.
Es ist soweit.
Er musste seine eigenen Gedanken zu einem winzigen Punkt des Geistes werden lassen. Diesen Zauber konnten nur die besten Wechselbälger ausführen. Er unterdrückte das Ich, die Persönlichkeit, und erschuf an dessen Stelle eine Kopie des Originals. In diesem Zustand war sich der jeweilige Gestaltwandler nicht länger seiner eigenen Identität bewusst. Er fühlte, dachte und handelte, wie es die echte Version tun würde.
Dafür reichte Können allein kaum aus. Es wurde Blut von der Blaupause benötigt, dem Menschen, der kopiert wurde. Da dieser noch am Leben war, konnte der Wechselbalg sich jederzeit bedienen.
Tief unter ihm brach ein Tumult aus, die erste falsche Verdächtigung war ausgesprochen worden. Das Chaos begann. Er lachte. Seine Gedanken zerfaserten, sein Ich verschwand.
Ein Lichtkämpfer stand auf der Balustrade, schaute bedrückt nach unten und hoffte darauf, dass der Verräter bald gefunden wurde.
Sie stieß eine der Wachen beiseite, die zu beiden Flanken des Eingangs aufgestellt worden waren. Einer wollte auffahren, ließ es jedoch bleiben, als er sie erkannte.
Guter Junge.
Chloe rannte zu dem Krankenbett, auf dem Clara lag. »Was ist passiert?«
Schwester Theresa bedeutete ihr zu schweigen. Sie legte soeben einen Stein auf Claras Stirn. Sofort erschlaffte der verkrampfte Leib der Freundin. »Ein Schock. Der Tod von Gryff Hunter hat sie aus der Bahn geworfen. Ordnungsmagier fanden sie in der Eingangshalle. Sie sprach immer wieder von einem Verräter, der gefunden werden muss.«
»Aber sonst geht es ihr gut?«
»Nun, es ist ein schwerer Schock.« Theresa warf ihr einen jener Muss-ich-das-extra-betonen-Blicke zu, die gehörig an Chloes Selbstbewusstsein kratzten. »Darüber hinaus ist sie jedoch unverletzt.«
Chloe atmete auf. Dankbar lächelte sie der Heilmagierin zu, die es kurz erwiderte. Die Schwester war in ihrem normalen Leben Teil eines Ordens gewesen, bevor ein Sigil sie erwählt hatte. Daraufhin verrichtete sie hier im Castillo ihre Arbeit als Heilerin. Sie wurde respektiert, aufgrund ihrer resoluten Art aber auch gefürchtet. Sie trug ein einfarbiges gestärktes Kleid, darüber eine Bluse. Chloe schätzte sie auf etwa fünfzig, wagte jedoch nicht, danach zu fragen.
»Sie wird nun schlafen«, erklärte Theresa.
In der Ferne erklang erneut ein Tumult. Die Ordnungsmagier waren normalerweise gut darin, Spannungen zwischen Lichtkämpfern zu unterbinden. Nach dem Tod ihres Anführers lagen die Nerven jedoch blank. Sie streiften mit gezücktem Essenzstab durch die Gänge, warfen jedem misstrauische Blicke zu und hielten sogar einzelne Magier an, um sie zu durchsuchen.
Chloe verließ den Krankenflügel, während die Heilmagier sich auf Verwundete vorbereiteten. Hier konnte sie nichts mehr tun. Clara war in Theresas Obhut sicher. Der Rest des Castillos weniger. Sie schlug den Weg zum Krisenraum ein, wo die Unsterblichen zusammenkamen. In den Gängen begegneten ihr eifrig miteinander tuschelnde Lichtkämpfer, aber auch grimmig dreinblickende Gruppen. Obgleich es mitten in der Nacht war, hatte Gryffs Tod sowie Johannas anschließende Abriegelung des Castillos jeden hellwach werden lassen.
Sie dachte kurz an Jen und Alex, die nun bei Nostradamus festsaßen. Da auf den Portalen Siegel lagen, konnten die beiden nicht zurückkehren. Glücklicherweise sagte man dem unsterblichen Essenzstabmacher nach, ein umgänglicher Zeitgenosse zu sein. Etwas ruppig, aber nett. Wenigstens waren sie damit außer Gefahr und über jeden Verdacht erhaben. Falls es nicht mehrere Verräter gab, waren Jen und Alex also nachweislich unschuldig.
Aus dem Krisenraum drangen aufgeregte Stimmen an ihr Ohr.
Johanna stand vor einer breiten vergilbten Weltkarte. Auf dieser bewegten sich kleine Lichter zielstrebig auf Sammelpunkte zu.
»Das Team von Markus sitzt noch auf Zypern fest«, sagte Tomoe. Sie gab die unnahbare Geschäftsfrau, trug wie immer ein Businesskostüm. »Sie wollten gerade das Sprungtor benutzen, um zum nächsten Einsatzort zu wechseln.« Sie legte die Hände an die Hüften und schaute sinnierend auf die Punkte. »In wenigen Minuten erreichen sie die sichere Finca.«
»Was ist mit der Einflussnahme auf das Parlament in Brüssel?«, fragte Einstein. Der unsterbliche Physiker machte zwar einen zerstreuten Eindruck, bewies jedoch bei jeder Frage aufs Neue seinen messerscharfen Verstand. »Wenn die Abgeordneten den Schattenkriegern nun hilflos ausgesetzt sind, könnte das die Gesetzgebung für Europa beeinflussen.«
»Das dortige Team hat von mir die Erlaubnis erhalten, den Einsatz erst nach Abschluss der Untersuchung zu beenden und Sicherungen für die Betroffenen zurückzulassen«, unterbrach ihn Leonardo. »Wer da auch seine Hände im Spiel hat und Unruhe stiftet, sie finden ihn. Danach ziehen sie sich sofort zurück. Die Sache ist zu wichtig, als dass wir sie vorher abziehen könnten.«
Johanna nickte bestätigend. Sie stand wie ein Fels in der Brandung neben dem runden Konferenztisch und hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr Pferdeschwanz wippte bei jeder Kopfbewegung auf und ab. »Gute Entscheidung. Andernfalls stehen wir nach diesem Problem vor einem gewaltigen Scherbenhaufen. Albert, überwachst du bitte den Rückzug unserer Teams?«
»Natürlich.« Der ältere Unsterbliche mit dem weißen zerzausten Haar nickte.
»Tomoe, behalte die Geldanlagen im Auge.« Johanna deutete auf einen Computermonitor, auf dem die Börsendaten übertragen wurden. »Wenn der dunkle Rat die Abschottung mitbekommt, könnte er handeln und uns auf dem finanziellen Parkett angreifen.«
»Selbstverständlich.«
»Leonardo …«
»Ich kümmere mich um die Teams, die ihre Aufträge nicht sofort abbrechen können«, fuhr er ihr dazwischen. »Für den Fall der Fälle halten wir einen Sprungmagier bereit, der sie evakuieren kann, sollten Schattenkrieger sich sammeln.«
»Ausgezeichnet.« Johanna hob ihre Tasse an, auf der »Best Mum ever« stand, und trank einen Schluck des geliebten Grüntees. Vermutlich rann er längst anstelle von Blut durch ihre Adern. »Ich behalte unsere Ordnungsmagier im Blick und helfe bei der Suche nach dem Mörder und der Sigilklinge.«
Chloe räusperte sich.
Johanna blickte in ihre Richtung. »Ah, du bist es. Gibt es Neuigkeiten?«
»Clara liegt auf der Krankenstation. Der Tod von Gryff hat sie ziemlich mitgenommen, aber sie wird wieder. Theresa hat einen Heilschlaf eingeleitet.«
»Gut.« In den Blicken der Unsterblichen las Chloe Mitleid und Verständnis. »Wir alle haben heute einen Freund verloren. Für Clara allerdings war er offensichtlich mehr.«
»Stimmt.« Gedankenverloren zog sie ihren Essenzstab aus der Schlaufe am Hosenbund und ließ ihn wirbeln. »Wie können wir helfen?«
»Finde heraus, ob jemandem aus eurem Team in den letzten Tagen etwas aufgefallen ist«, sagte Johanna. »Kevin hat mir kurz vor dem Mord mitgeteilt, dass Clara die Zeitsteine, die ich ihr und Max zum Betreten der verbotenen Katakomben gegeben hatte, behalten hat. Zumindest die Reste. Sie wurden ihr gestohlen, womit der Verräter noch einmal kurz in die verbotenen Katakomben eindringen konnte. Damit kann er jeder sein. Gryff konnte in diese Richtung nicht mehr ermitteln. Sucht nach einer Spur zu dem Dieb, irgendeinen Hinweis muss es geben.«
Chloe nickte. Vermutlich würde Clara es sich nie verzeihen, dass sie die Steine verwahrt hatte. Nur deshalb war es dem Mörder gelungen, in die verbotenen Katakomben einzudringen und die tödliche Sigilklinge zu stehlen. »Wir geben unser Bestes.«
Johanna stellte ihre Tasse ab. »Wer auch immer hierfür verantwortlich ist – er oder sie kann sich nicht ewig verstecken. Die Ordnungsmagier werden Befragungen durchführen. Das betrifft uns alle. Bereitet euch darauf vor.«
»Natürlich.«
Johanna richtete ihren Blick auf die Weltkarte. Nur noch wenige Lichter waren außerhalb sicherer Häuser unterwegs. Jeder dieser winzigen Punkte stand für einen Kontaktstein. Chloe wünschte den Lichtkämpfern viel Glück. Den Essenzstab in der Hand verließ sie den Krisenraum und begab sich zum Turmzimmer. Die anderen warteten auf Antworten.
»Toll«, murrte Alex. »Mein erster Portaldurchgang ohne Kotzen und prompt sind wir irgendwo im Nirwana gelandet. Ich mag diese Tore nicht.«
Jen schmunzelte. Sie vergaß immer wieder, dass er ein Neuerweckter war. Ein Welpe, der unbedarft umhertapste, genau wie sie einst. Schlimmer noch. Zauber, Essenz, Sigile – das alles hatte ihr damals furchtbare Angst gemacht, da sie die zerstörerische Kraft dieser neuen Welt am eigenen Leib erfahren hatte. Das Erbe war in einem Moment höchster Not erwacht und sie hatte mit einem tödlichen Rundumschlag ihre Familie getötet. Die Erinnerung löste nur noch einen leichten Schmerz aus, ganz am Rand ihres Empfindens. Allerdings durfte sie nicht zu lange darüber nachdenken, sonst zwangen Schuldgefühle sie in den Würgegriff. »Du wirst dich daran gewöhnen.«
Alex hielt seinen Essenzstab fest umklammert, den er erst vor wenigen Stunden erhalten hatte. »Wolltest du mich gerade wirklich mit einem Schuss erledigen?«
»Da wusste ich ja auch nicht, dass du verspätet durch das Portal kommst. Es hätte auch ein Feind sein können, von der Schattenfrau hierhergeschickt. Bist halt immer etwas langsamer, stimmt’s?«
»Lieber zu spät kommen als zu früh«, gab er zurück.
Sie verdrehte die Augen. »Wieso rede ich überhaupt mit dir?«
»Weil du deine Stimme so gerne hörst?«
Ein kleiner Kraftschlag zwischen die Beine, das merkt niemand. Jen grinste bei dem Gedanken. »Meine Stimme klingt wie die eines Engels, wenn sie Angriffszauber formuliert. Willst du mal hören?«
»Okay, du hast gewonnen«, streckte Alex die Waffen. »Schließlich bin ich nur ein unschuldiger Neuerweckter. Gegen eine große böse Magierin wie dich …«
Ein Stein kullerte von der Decke und beendete die Neckerei. Während die kleinen Sticheleien sie bisher zur Weißglut gebracht hatten, verstand sie ihn nun besser. Das Unum, ein Verbindungszauber, der einen Gedankenaustausch zwischen zwei Magiern einleiten konnte, hatte dafür gesorgt, dass sie einander besser verstanden. »Wahrscheinlich werde ich ihn trotzdem irgendwann erwürgen«, murmelte sie leise.
»Was hast du gesagt?«
»Nichts.«
Steinbrocken, die von den Wänden und der Decke herabgefallen waren, bedeckten den Boden. In der Luft lag der Geruch von Moder und Fäulnis, durchsetzt von aufgewirbeltem Sandstaub. Am Punkt der Portalmanifestation befand sich eine runde Steinplatte, in die jemand die notwendigen Machtsymbole eingeschlagen hatte.
Jen schaute stirnrunzelnd auf die Arbeit. »Das sind sehr alte Worte. Hier, das ist die Verbindung mit dem gesamten Netzwerk, aber der Schlüssel ist schon ewig nicht mehr in Gebrauch.«
Alex war ein Stück in den Gang gelaufen. »Alles versperrt.«
»Ich weiß, immerhin versuche ich seit Stunden, aus diesem Loch herauszukommen.« Jen erhob sich. »Die Kontaktsteine funktionieren ebenfalls nicht.«
Im Reflex griff er nach dem bernsteinfarbenen Artefakt, das an einem Lederband vor seiner Brust hing. »Seltsames Gefühl. Dumpf.«
Sie nickte. »Normalerweise kannst du die anderen im Team ziemlich leicht erreichen, sogar Bilder oder Emotionen übertragen. Aber hier ist alles abgeriegelt. Da Entfernungen sonst keine Rolle spielen, muss es mit diesem Ort zu tun haben. Bevor du es versuchst, das Smartphone bekommt auch keine Verbindung.«
»Hast du denn eine Ahnung, wo wir sein könnten?« Unruhig fuhr sich Alex durch das dunkle Haar. Den Essenzstab hielt er noch immer erhoben, doch in seinen Augen erkannte sie Müdigkeit.
Seine Jeans und das Shirt waren verschlissen, der Kampf gegen die Schattenfrau hatte Spuren hinterlassen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass seine Hand ein wenig zitterte. Ihr erging es ähnlich. Die Suche nach Nostradamus und der anschließende Kampf auf Leben und Tod gegen die Schattenfrau hatten sie ausgelaugt. »Wir müssen uns beeilen. Das Weib hat das Contego Maxima und will vermutlich den Folianten.«
»Meinst du, Nostradamus hatte tatsächlich recht?«, fragte Alex. »Gibt es einen Verräter unter den Lichtkämpfern?«
»Das ergäbe schon Sinn, nach allem, was uns in den letzten Wochen passiert ist. Auf jeden Fall müssen wir die anderen warnen«, erwiderte sie. »Zuerst aber sollten wir mal hier raus, dann kümmern wir uns um die nächste Hürde. Wie sagt Chloe immer so schön: Neues Problem? Hinten anstellen.«
»Ich freue mich darauf, diese Chloe kennenzulernen.«
Sei dir da nicht so sicher. »Ja, das wird toll.«
Sie schob ihren Essenzstab in die Gürtelschlaufe. Hier war keine Verstärkung oder Materialeinwirkung notwendig. Mit dem rechten Zeigefinger malte sie Symbole in die Luft. Die Essenz blieb als leuchtende Magentaspur zurück, bis der Zauber vollendet war. Ein Flimmern legte sich über den Boden.
»Was machst du?«, fragte Alex. »Das sah aus wie eine Rekonstruktion.«
Jen wusste, dass er bisher nur wenige Vorlesungen besucht hatte, das Wissen, das er von Mark geerbt hatte, ließ schnell nach. Wenn er nicht mit einer Vertiefung begann, würde er bald nicht einmal mehr einfachste Zauber interpretieren können. Erinnerungserbe zu sein, war eine tückische Sache. »Das war auch eine. Normalerweise kann ich damit prüfen, wer das Portal als Letzter durchschritten hat. Vor unserem Eintreffen, meine ich.« Auf der Steinplatte erschien eine diffuse Kontur. Jen ging näher heran, betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen von oben bis unten. »Das sollte eigentlich viel klarer sein.«
»Noch ein Mysterium.«
»Nicht wirklich. Die letzte Passage liegt wohl sehr lange zurück«, erklärte sie. »Das Echo ist nicht mehr greifbar. Was das hier auch für ein Ort ist, er ist verdammt alt.«
»Aber warum können wir dann keinen Kontakt mit dem Castillo herstellen?«
»Frag mich was Leichteres. Vermutlich ein Artefakt oder ein sich selbst erhaltender Zauber.«
»So etwas gibt es?«
»Ja und Nein.« Jen ging auf den verschütteten Ausgang zu. »Meist handelt es sich um eine Symbiose zwischen Artefakt und Zauber. Beides erhält sich gegenseitig. Aber das gibt es heute kaum noch. Seit …«
»… lass mich raten«, unterbrach Alex: »Seit der Wall errichtet wurde.«
Jen nickte. Sie betastete konzentriert die Steine, die den Ausgang verbargen.