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Der Schleier fällt! Jahrhunderte lang bereitete sie ihren Plan vor, angetrieben vom unbändigen Hass auf die Lichtkämpfer und Unsterblichen. Jen, Alex und Clara stoßen überraschend auf eine Spur zur Identität der Schattenfrau. Sie ahnen nicht, dass dies alles verändern wird. Denn der Schleier soll fallen ... ... und Chaos die Lichtkämpfer hinweg fegen. Dies ist der 6. Roman der Reihe "Das Erbe der Macht" und die Halbzeit zum ersten Zyklus. Das Erbe der Macht erscheint monatlich als E-Book und alle drei Monate als Hardcover-Sammelband.
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Seitenzahl: 149
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Table of Contents
»Schattenfrau«
Was bisher geschah
Prolog
1. Begreifst du, was das ist?
2. Seife und Suppe
3. Nur ein Tropfen
4. Familie
5. Ein Unwetter zieht auf
6. Fehlschlag
7. Das ändert alles
8. Die Stadt der Rosinen
9. Wie ungezogen
10. Taxi gefällig?
11. Die Macht des Geistes
12. Das Familiengeheimnis
13. Vertauschte Rollen
14. Staub und Spinnweben
15. Was ist hier passiert?
16. Ein letzter Versuch
17. Was nie hätte geschehen dürfen
18. Das Schicksal entscheidet
19. Leid hat mich zerbrochen
20. Über dunkle Ebenen
21. Ein Pakt mit dem Teufel
22. Ein Siegel bricht
23. Wer du jetzt bist, das war ich einst …
24. … Wer ich jetzt bin, das wirst du sein!
Vorschau
Seriennews
Glossar
Impressum
Das Erbe der Macht
Band 6
von Andreas Suchanek
Vor einhundertsechsundsechzig Jahren erschufen mächtige Magier den Wall, eine mystische Sphäre, die die Welt der Magie vor Menschenaugen verbirgt. Nichtmagier – sogenannte Nimags – sollten so dem Einfluss dunkler Kräfte entrissen werden. Gleichzeitig galt es, machtvolle Artefakte den Händen gieriger Fürsten, Könige, Kaiser und Diktatoren zu entziehen.
Die Gesellschaft der Magier wurde von den Nimags vergessen.
Seither tobt ein Kampf im Verborgenen, der bis zum heutigen Tag andauert. Da sich der Wall aus der Essenz jedes lebenden Lichtkämpfers und Schattenkriegers speist, wollen die machthungrigen Streiter des dunklen Rates die Sphäre wieder auflösen, um die alte Stärke zurückzuerlangen. Die Magier auf der Seite des Lichts stehen dem entgegen, sie tun alles, um die Nimags zu beschützen, die der Magie hilflos ausgeliefert wären.
Bei einem Einsatz in London stirbt der Lichtkämpfer Mark Fenton. Sein Sigil und die damit verbundene magische Macht gehen auf Alexander Kent über, der neu in die Welt der Magie eingeführt wird. Ihm zur Seite stehen Jennifer »Jen« Danvers und weitere Kämpfer des Guten, die vom Castillo Maravilla aus überall in der Welt operieren.
Für Alex brechen gefährliche Tage an. Er lernt die Welt der Magie kennen und wird in zahlreiche Abenteuer verwickelt. Durch einen magischen Folianten – ein Erbe des letzten Sehers – erfahren Jen, Alex, Johanna von Orleans und Leonardo da Vinci von drei Sigilsplittern, die bei der Errichtung des Walls entstanden sind. Vereint sind sie dazu in der Lage, Allmacht zu erschaffen. Die Schattenfrau sucht nach diesen Artefakten. Jen und Alex gelingt es, in einer uralten Tempelanlage in Indien, den Feuerblut-Splitter zu erbeuten. Das zweite Artefakt fällt nach einem aufreibenden Kampf in einer Dimensionsfalte – in der ein alternatives London existiert – in die Hände der Schattenfrau.
Die geheimnisvolle Feindin scheint kurz vor der Vollendung eines lange gehegten Plans zu stehen. Sie holt zum großen Schlag aus.
Wer du jetzt bist, das war ich einst.
Wer ich jetzt bin, das wirst du sein!
1988, Ost-Berlin
Kurz waberte das Portal hinter ihr auf, bevor es mit einem Schwappgeräusch verschwand. Ava atmete noch einmal tief durch und sprach sich innerlich Mut zu. Sie eilte die knarzenden Treppenstufen hinauf in das Erdgeschoss. Niemand war anwesend. Natürlich nicht, sie hatte sich extra vorher informiert. Sie überprüfte ihr Äußeres in dem kantigen, mannshohen Spiegel, der an der Wand lehnte. Hier und da zeichneten sich Wasserflecken ab, durchzogen Risse die Tapete.
Ava trug einen schlichten grauen Mantel über Hose und Bluse, braune Lederschuhe und einen Schal. Die Devise war simpel: nicht auffallen.
Hinter den Kulissen arbeiteten die Lichtkämpfer daran, den Einfluss der Schattenkrieger einzudämmen und so die Mauer zu Fall zu bringen, die Deutschland teilte. Möglicherweise stand hier ein Durchbruch bevor, doch so lange konnte sie nicht warten. Schlimmer noch, es gab Gerüchte, dass derMarkt umzog.
Sie verließ das Haus und schritt zielstrebig aus.
Vereinzelt kamen ihr deutsche Nimags entgegen, vornehmlich junge Menschen. Sie warfen hektische Blicke in Richtung Mauer, tuschelten aufgeregt. Die Anspannung in der unterdrückten Gesellschaft war deutlich zu spüren. Sie hofften auf ein Ende des Eisernen Vorhangs, eine Vereinigung des Landes und damit das Wiedererlangen ihrer Freiheit.
Die Menschen taten Ava leid. Alle. Niemand sollte sein Leben in Gefangenschaft verbringen müssen. Doch das höchste Gut, die Unantastbarkeit der Würde, wurde von den Mächtigen dieser Welt allzu leicht mit Füßen getreten.
Sie verbannte den Gedanken mit einem Seufzen.
Es dämmerte bereits. Regen nieselte herab, der Wind nahm zu. Sie zog ihre Schultern ein und hastete weiter. Magie zu wirken war keine gute Idee, immerhin wollte sie heute keinem Lichtkämpfer auffallen.
Ava bog um eine Kurve und tauchte in eine dunkle Gasse ein. An der Seite erhob sich eine Litfaßsäule, die mit allerlei Flugblättern beklebt und mit Farbe ›verschönert‹ worden war. Neben der Werbung für einen Trabant 601 machte ein übergroßes Einmachglas auf Spreewaldgurken aufmerksam.
Mit zittrigen Fingern erschuf sie ein Symbol der Macht. »Aditorum.« Ihre Stimme war heiser, doch der Zauber tat seine Wirkung. Im grasgrünen Schein ihrer Essenz verschwand ein Teil der Säule.
Sie stakste die Wendeltreppe hinab. Hinter ihr schloss sich der verborgene Zugang. Leuchtkugeln flammten über ihr auf und enthüllten Spinnweben in den Ecken. Ava zog ihren Essenzstab hervor.
Nicht aufgeben, du hast es fast geschafft.
Die Wendeltreppe endete.
Vor ihr breitete sich ein gewaltiges unterirdisches Gewölbe aus.
Der Markt.
Nimags würden wohl Schwarzmarkt dazu sagen. Hier unten boten Händler gefährliche Zauber feil, gab es verwunschene Dokumente zu erwerben, wurden tödliche Artefakte präsentiert. Dieser Ort war legendär, und obgleich die Ordnungsmagier alles taten, um ihn zu schließen, tauchte er doch immer wieder irgendwo auf. Jedoch stets an unterschiedlichen Orten, wo er für eine gewisse Zeit verweilte, dann aber weiterzog.
Heruntergekommene Holzverschläge ragten neben Stoffzelten empor, an die kleine Läden anschlossen. Zwischen den Reihen tummelten sich alle Arten von Magiern. Gut gekleidete Herren neben stolz ausschreitenden Damen. Jugendliche, die mit neugierigen Augen die Auslagen bestaunten. Sie erkannte sogar einen Agenten – einen Lichtmagier auf Solomission –, der vermutlich einer Spur folgte. Möglich, dass er den Ordnungsmagiern danach einen Tipp gab, vielleicht hielt er aber auch den Mund. Agenten besaßen einen eigenen Ehrenkodex.
Ava zog ein Papier aus ihrer Manteltasche und betrachtete die Tuscheskizze, auf der ihr Ziel abgebildet war. Sie schob sich durch das Gewühl, auf der Suche nach dem richtigen Zelt. Vor einem Stand entdeckte sie ein lebensgroßes Plakat von Leonardo da Vinci. Der Unsterbliche stand im Vordergrund, dahinter war Florenz abgebildet. Er hielt seinen Essenzstab umklammert und wirkte gerade einen Zauber. Neben dem Plakat waren Liebestränke aufgereiht, die davon kündeten, sogar Unsterbliche verzaubern zu können.
Ava verdrehte die Augen. Was für ein Unsinn! Davon abgesehen war Leonardo ein Schwerenöter. Es brauchte keinen Liebestrank, um ihn herumzukriegen.
Vor ihr tauchte ein Zelt auf, gewoben aus rötlichem Stoff. Zwei mannshohe Fackeln umrahmten den Eingang, ein Teppich lag aus.
Ava überlegte, wie sie vorgehen sollte.
»Komm nur herein«, erklang eine rauchige Stimme.
Sie schlug den Stoff beiseite und betrat das Zelt. Hinter einem Holztischchen saß eine Frau. Während Ava selbst gerade dreißig geworden war, ging ihr Gegenüber auf die vierzig zu. Ihre Kleidung war an das typische Äußere einer Wahrsagerin angelehnt, wenngleich Ava nicht beurteilen konnte, ob es Show war oder Authentizität.
»Ich brauche deine Hilfe.«
Die Frau nickte. »Das ist mir bekannt.«
Ava deutete auf die Kristallkugel am Rand des Tisches. »Du hast mich gesehen?«
Ihr Gegenüber kicherte. »Nicht doch. Bin ich vielleicht Nostradamus? Frank hat dich angekündigt.«
Sie lachte herzlich und ließ sich auf dem freien Stuhl am Tisch nieder. »Natürlich.«
Der Lichtkämpfer aus Deutschland litt unter der Spaltung seines Landes. Es galt die Regel, dass kein Magier in die Politik der Nimags eingreifen durfte. Nur wenn ein Schattenkrieger aktiv wurde, musste er aufgehalten und mögliche Manipulationen rückgängig gemacht werden. Aber Frank reichte das nicht.
»Was wollte er denn?«, fragte Ava. »Ein Erdbebenartefakt, um die Mauer zu zerstören?«
»Ich spreche nicht über die Wünsche meiner Käufer«, erwiderte die Frau. »Doch es war etwas weniger Drastisches.« Sie faltete die Hände ineinander. »Ich bin Kaja. Wie kann ich dir helfen?«
Ava schluckte. »Es geht um … also, ich kann nicht … mein Mann und ich. Wir versuchen es, aber …«
»Ah, die Saat will nicht aufgehen. Du möchtest ein Kind.«
»So ist es.« Da sie und Benjamin Magier waren, würde ein Nachwuchs automatisch ein Sigil besitzen. Es durften keine Zauber eingesetzt werden, um eine Schwangerschaft herbeizuführen. Die Nebenwirkungen konnten katastrophal sein.
»Es ist gut, dass du zu mir gekommen bist«, verkündete Kaja. Die Glut ihrer Augen nahm Ava gefangen. »Ich stand einst selbst vor einem solchen Problem. Mein Sohn ist heute neun. Doch es kostete mich Jahre, einen Zaubertrank aus Machtsymbolen und Essenz zu erschaffen.«
»Was es auch kostet …«
»Es geht nicht um Geld«, unterbrach ihn die dem Namen nach slawische Frau sofort. »Meine Bedingung ist lediglich, dass das Kind in Liebe aufgezogen wird.«
»Natürlich.«
Kaja schenkte ihr einen langen durchdringenden Blick. Sie erhob sich, ging zu einer Truhe und kramte eine Holzschatulle hervor. »Hierin befindet sich ein Trank, den du zu dir nehmen wirst, bevor du dich mit deinem Mann vergnügst. Doch sei gewarnt, jeder Zauber hat seinen Preis. Du weißt das, wir alle wissen es.«
Ava schluckte. »Natürlich.«
Kaja reichte ihr die Schatulle. »Dann geh mit meinen besten Wünschen.«
»Du willst wirklich keine Bezahlung?«
Ein Kopfschütteln war die Antwort. »Für jeden anderen Zauber ja, nicht jedoch dafür. Ein solcher Wunsch sollte niemandem verwehrt werden.«
»Ich danke dir.«
Ava öffnete die Schatulle. Darin lag eine Phiole in der Form eines Regentropfens. Auf dem schmalen Ende saß ein mit Wachs versiegelter Korken.
»Sei dir sicher«, sagte Kaja.
»Ich bin es.«
Ava erhob sich und verließ das Zelt. Ihre Schritte trugen sie wie in Trance zurück an die Oberfläche. Sie eilte durch die nächtlichen Gassen von Ost-Berlin, betrat das Haus der Lichtkämpfer und nahm das Portal nach Chicago. Irgendwann saß sie in ihrem Zimmer, die Schatulle lag unter einer Illusionierung im Schreibtisch. Nachdenklich blickte sie aus dem Fenster.
Ihre Gedanken wanderten in die Zukunft. Ja, sie wollte ein Kind. Ob Sohn oder Tochter, war ihr egal. Sie hatte sogar über Namen nachgedacht. Falls es ein Stammhalter wurde, sollte er Christian oder Kevin heißen. Ja, der Name Grant würde in die nächste Generation getragen werden, dafür wollte sie sorgen.
Sonnenschein fiel durch das Blätterdach, tauchte Büsche, Sträucher, Holz und Stein in dämmriges Zwielicht. Die Luft war kalt und klar. So liebte er es. In der Ferne zwitscherten Vögel, ein Bach plätscherte. So und nicht anders sollte die unberührte Natur sein.
Leonardo lächelte.
Er trug eine Trekking-Hose, eine Lederweste, darunter ein Hemd. Er fror fast nie, weshalb er es nicht bis oben zugeknöpft hatte. An seinem rechten Handgelenk hing das Lederarmband mit dem Permit, der Essenzstab steckte in einem Etui am Gürtel.
»Warum kann es nicht immer so friedlich sein?«
Leonardo stapfte den Trampelpfad entlang, der für Nimags unsichtbar blieb. Die Enklave lag im Norden Kanadas und kaum jemand verirrte sich hierher, doch man konnte nie sicher genug sein.
Minuten später kamen die ersten Häuser in Sicht. Er hielt inne. Mitte der 1980er-Jahre war er fluchtartig von hier verschwunden. Zwar war er in den 90ern zurückgekehrt, um Abbitte zu leisten, doch der Anblick löste noch immer Schuldgefühle in ihm aus. Es war seine wilde Zeit gewesen, er hatte zahlreiche Herzen gebrochen zurückgelassen.
Die Häuser wirkten nach außen unscheinbar. Er wusste jedoch, dass im Inneren mit Dimensionsfalten hantiert wurde und in diesen wahre Villen existierten.
»Willkommen in der Schweiz der Magier«, murmelte er.
Die Einwohner nannten ihre Stadt Hope und sahen sich selbst als in der Mitte zwischen Licht und Schatten stehend. Wer hierherkam, sagte sich von seiner jeweiligen Seite los und lebte fortan neutral.
Hope wurde von einem uralten Inuit-Zauber beschützt, der Offensivzauber vollständig unterband. Es gab Gerüchte darüber, wie die Gründerin der Stadt vor vielen Generationen Kontakt zu den Natsilik-Inuit aufgenommen und von deren Magiern Hilfe erbeten hatte.
Hope war friedlich, sicher – und absolut langweilig.
Spielende Kinder deuteten mit dem Finger auf ihn und rannten davon. Er ignorierte die Blicke der Männer und Frauen jedweden Alters und jedweder Nationalität. Zielstrebig schritt er auf das Haus zu.
Er hämmerte gegen die Tür. Nichts. Ein weiteres Hämmern. Als Leonardo schon überlegte, den Essenzstab einzusetzen, wurde ihm geöffnet. Ein neugieriges Gesicht lugte hervor, erkannte ihn und nahm sofort einen grimmigen Ausdruck an.
»Du.«
»Hallo, Ethan.«
»Ich würde dir ja die Tür vor der Nase zuschlagen, aber da wir hier keine Schlösser besitzen, kannst du ebenso gut hereinkommen.« Sein Gegenüber ging davon.
Leonardo trat ein. Der vertraute Geruch von Kardamom und Honig, Kaffee und Wildfrüchten stieg in seine Nase. Das Innere des Hauses hatte sich nicht verändert, es erinnerte noch immer an das Loft eines Künstlers irgendwo in einer amerikanischen Großstadt. »Wie geht es dir?«
Ethan war in einen Sessel mit verschlissenem Bezug gefallen. Als Leonardo ihm zuletzt begegnet war, war er ein zwanzigjähriger Mann gewesen. In den 80ern. Im Gegensatz zu den anderen hatte Ethan ihn bei seinem zweiten Besuch nicht angehört. Heute war er in den Fünfzigern. »Du hast dich gut gehalten.«
Ein abfälliges Lachen erklang. »Aus dem Mund eines Unsterblichen ist das fast eine Beleidigung.« Er betrachtete Leonardo eingehend. »Abgesehen von deinem Haarschnitt hat sich nichts an dir verändert. Keine Lust mehr auf Locken?«
»Eine Nahtoderfahrung.« Leo schritt langsam durch das Loft und sah sich um. »Es musste mal was Neues her.« Die Staffelei stand direkt am Fenster, das Ausblick auf ein Gebirgsmassiv bot. Vermutlich befand es sich irgendwo im Norden. In der Küche standen Müslischalen neben benutzten Tassen. Sein Blick glitt unweigerlich durch die offene Tür auf das Bett.
Ethan bemerkte seinen Blick. »Da kommen Erinnerungen hoch, was?«
Sie hatten sich tagelang in den Laken gewälzt und die Welt dort draußen vergessen. In den Jahrhunderten seines Lebens hatte Leonardo viele Liebschaften und Beziehungen gehabt. Mit Männern und Frauen der verschiedensten Nationalitäten. Geschlecht, Hautfarbe, Religion oder Herkunftsland waren ihm völlig egal.
Am schmerzhaftesten wurde es immer dann, wenn er seine Gefühle tatsächlich an jemanden band. Schlussendlich besiegte die Zeit jeden. Er musste dabei zusehen, wie er oder sie alterte und starb. Das hatte zu einer weiteren wilden Zeit geführt, in der er durch die Betten gesprungen war. Erst hier in Hope hatte es ein Ende gefunden. Er hatte die Vorstellung nicht ertragen, Ethan ergrauen zu sehen und war geflohen.
Fairerweise musste er gestehen, dass die Beziehungen mit Tomoe und Johanna ebenfalls zum Scheitern verurteilt gewesen waren; obgleich in Johannas Fall natürlich aus einem völlig anderen, schmerzhaften Grund.
Er schüttelte den Kopf, vertrieb die Gedanken.
»Ich brauche deine Hilfe.«
»Natürlich, andernfalls wäre der große Leonardo da Vinci niemals hierhergekommen.«
»Ethan, bitte.«
Die Antwort bestand aus einem Seufzen. Er trug das dunkle Haar noch immer lang, zu einem Pferdeschwanz gebunden. In den Augen lag die Glut eines leidenschaftlichen Künstlers, die er auf alle Lebenslagen übertrug. Das innere Feuer war mehr wert als jede Unsterblichkeit, dafür aber weitaus vergänglicher.
»Also gut, was ist es?«
Leonardo griff in seinen Rucksack und zog einen Essenzstab hervor. »Was kannst du mir dazu sagen?«
Ethan sprang auf. Mit offenem Mund strich er über das Holz des Stabs. »Wieso kommst du damit zu mir? Hat Nostradamus Besseres zu tun?«
»Er hat mich zu dir geschickt«, gestand Leonardo. »Er ist der Fachmann für die Erschaffung, aber du bist der Experte, wenn es um den ersten Stabmacher geht. Du hast im Archiv geforscht.«
»Ah, verstehe. Ja, ich habe davon gehört, dass ihr aktuell nicht mehr hineinkommt.«
»Warum bist du eben so erschrocken?«
Ethan verließ den Raum und kam kurz darauf mit einem Pergament zurück. Auf ihm war der Stab abgebildet.
»Woher hast du das?«, wollte Leonardo wissen.
»Vor einigen Stunden habe ich Besuch erhalten«, erklärte er. »Es war Crowley. Er hatte eine freche Schattenkriegerin dabei. Dunkle Locken, brutaler Hüftschwung.«
»Madison Harper«, knurrte Leo. »Natürlich. Sie muss den Stab in der Dimensionsfalte gesehen haben, als Clara ihn der Schattenfrau abnehmen konnte. Mit einem Mentiglobus hat sie die Erinnerung geteilt und die Skizze angefertigt. Du hast ihnen doch nichts gesagt?«
Nun wirkte Ethan wütend. »Du weißt, was das hier für ein Ort ist. Absolute Neutralität. Wir helfen jedem.«
»Verdammt.« Leonardo sank in den zweiten Sessel.
»Allerdings gab es kaum etwas zu sagen«, sprach Ethan weiter. »Es war ja nur eine Skizze. Ich konnte ihnen lediglich ihre Vermutung bestätigen, dass es sich dabei um ein Werk des ersten Stabmachers handelt. Keines übrigens, das er im Verzeichnis aufgelistet hat. Aber das konnte dir Nostradamus wohl bereits sagen.«
»So ist es«, bestätigte Leonardo.
Er erhob sich, ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Ethan war einer der wenigen Menschen, der seine Leidenschaft für Energydrinks teilte, die Ablageflächen waren gut gefüllt. Leonardo griff sich eine Dose, öffnete sie und trank.
»Falls du Durst hast, kannst du dich gerne bedienen«, kam es süffisant von Ethan. »Oh, halt, hast du ja schon.«
»Ich habe einen weiten Weg hinter mir«, erwiderte er. »Und ich fürchte, mein Plan für eine Übernachtung wurde gerade zerschlagen. Wenn Crowley und Madison nach dem Ursprung des Stabes suchen, suchen sie nach der Identität der Schattenfrau.«
»Arbeiten sie nicht mit ihr zusammen?«
Das hatte Leonardo auch lange Zeit geglaubt. »Es gibt bei diesem Thema wohl verschiedene Fraktionen im dunklen Rat. Saint Germain paktiert mit ihr, aber einige andere nicht. Wie ich Crowley kenne, geht er seine eigenen Wege.« Er trank aus und seufzte. »Es bleibt wohl bei einem kurzen Hallo.«
Er streckte die Hand aus, um den Stab wieder zu verstauen, doch Ethan hielt ihn mit einer Geste zurück.
»Du hast keine Ahnung, was das hier ist, oder?«
»Wie meinst du das?«
Sein früherer Geliebter nahm den Stab auf, legte ihn auf die Handfläche und sagte: »Agnosco.«
Der Essenzstab rotierte. Farbschlieren umwaberten das Artefakt. Dann wurde es durchscheinend. Er konnte die einzelnen Bestandteile erkennen.
»Hexenholz«, murmelte Leonardo. »Scherben aus Himmelsglas. Aber … was ist das?« Er deutete auf eine bestimmte Stelle.
»Das«, erwiderte Ethan, »ist etwas, das unmöglich ist. Ja, du solltest so schnell du kannst ins Castillo zurückkehren.«
Er reichte ihm den Stab.
Und sagte ihm, um was es sich handelte.