Das Erbe von Brookhurst - Kate Brinkhouse - E-Book

Das Erbe von Brookhurst E-Book

Kate Brinkhouse

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Beschreibung

Frühling 1945. Die britischen Truppen belagern das Emsland. Was sich für Hannas Familie auf den ersten Blick wie ein Albtraum darstellt, entwickelt sich bald zu einer ungewöhnlichen Freundschaft und Liebe. Über 50 Jahre später steht die junge Louisa vor einer ungewissen Zukunft. Keinen Job in Aussicht, weiß sie nicht, wie es in ihrem Leben weitergehen soll, bis eines Tages ein Anwalt aus London das Leben der jungen Frau für immer verändert. Plötzlich ist nichts mehr, wie es war, und Louisa wird mit der wahren Geschichte ihrer Familie konfrontiert. Was vor vielen Jahren im Norden von Deutschland begann, findet seinen Weg nach Sussex, in den Süden von England. Eine Geschichte über zwei willensstarke junge Frauen verschiedener Generationen, über Liebe über den Tod hinaus, und eine lebensverändernde Erbschaft. "Pilcher meets Barnaby!" (die Autorin)

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Für meine beiden Mausebären, für meine Seelenschwester und „partner in crime“ Saaaandra; und besonders für meine Mama und meinen Papa.

Inhaltsverzeichnis

Prolog: 1748

Teil I: Frühling 1945, Emsland

Teil II: 1946-2000

Teil III: Später August 2000

Epilog

Prolog

1748

Ihr könnt doch nicht den Sprössling von dieser Dorfhure zu Eurem Erben ernennen, Mylord! Was sollen die Leute sagen?“

„Mein Leben ist fast zu Ende und wir haben in unserer Ehe keinen Sohn hervorgebracht. Ich will nicht, dass mein Bruder William mein Nachfolger auf Brookhurst wird, er ist ein Taugenichts.“ James leerte sein Glas Rotwein in einem Zug und stellte es resolut auf den Tisch zurück.

„Der königliche Erlass befindet sich bereits in meinem Besitz, Ihr könnt mich nicht daran hindern, ihn einzusetzen, verehrte Gattin.“

„Wann habt Ihr ihn erbeten?“, Lady Harriet war fassungslos.

James hatte seine Frau einst mal sowas wie geliebt, doch mit den Jahren, nach den Geburten ihrer drei Töchter wurde er ihrer Gesellschaft müde. Sie mochte zwar die Tochter eines Baronets sein, doch fand er sie zunehmend einfältig und langweilig.

„Meine Liebe, soll ich Euch wahrhaftig quälen?“

Lady Harriet schluchzte und zupfte ihr Spitzentuch aus dem Ärmel. „Bitte sagt es mir, Mylord.“

„Wie Ihr wünscht, Gnädigste. Vor zwölf Jahren schon. Unsere ehelichen Pflichten waren bereits… erloschen.“

Lord James erhob sich von seinem Stuhl und erklärte damit dieses quälende Gespräch für beendet. Seine Frau blieb sitzen.

Er ging zur ihr hinüber und tätschelte ihr die Schulter.

„Grämt Euch nicht. Für Euch ändert sich nichts. Und sollte eines Tages James nach Brookhurst ziehen, so habt Ihr die schöne neue elegante Lodge im Park, die ich für Euch habe errichten lassen. Unsere Töchter sind aus dem Haus, meine Liebe. Und Euch wird es an nichts fehlen! Ebensolches gilt im Übrigen auch für den Fall, dass mein Bruder Brookhurst erben sollte, was selbstverständlich nicht geschehen wird.“

James fand, dass er sie mehr als beruhigt haben sollte, sie war schließlich nur die Lady des Hauses. Lady Harriet hatte ihre eheliche Pflicht einen Erben zu zeugen nicht erfüllt, damit verlor sie in seinen Augen an Ansehen. Sie war ihm längst mehr Last als Freude, jedoch hatte er sich vor dem Allmächtigen verpflichtet, sie bis ans Ende ihrer Tage zu versorgen.

„Ich ziehe mich zurück, Harriet. Gehabt Euch wohl.“

Anstatt in sein neues Schlafgemach zu gehen, verließ James das elegante neue Speisezimmer, wo er mit seiner Frau Lady Harriet zu Abend gegessen hatte.

Vor einer Woche erst waren die letzten Handwerker abgezogen und hatten das alte Familienanwesen endlich in die Neuzeit geführt. Überall im Land wurden inzwischen alte Landsitze modernisiert oder gar ganz neu errichtet. Für letzteres reichte das Vermögen nicht, auch wenn James den alten Kasten seiner Kindheit verschmäht hatte. Seine Eltern waren sehr sparsam mit dem Geld umgegangen und sahen keine Notwendigkeit, den neuen vorherrschenden, kantigen und schmucklosen Stil auf Brookhurst umzusetzen. Alles was recht ist, doch er sah sich als Botschafter für eine neue Ära auf Brookhurst.

Er war in seinen besten Jahren, seine drei liebreizenden Töchter waren alle aus dem Haus, zwei davon gut situiert in Kent und Hampshire, und die mittlere Tochter hörte den christlichen Ruf und folgte ihm in eine abgelegene Abtei nach Yorkshire.

Seine Frau hatte ihre Aufgaben und Verpflichtungen im Haus und stand ihm treu zur Seite. Es tat ihm leid für sie, aber warum sollte es ihr anders gehen, als vielen anderen Damen der Gesellschaft, die ihre Ehemänner mit einer Mätresse teilten?

Mathilda Hewitt war weit mehr für ihn als eine Bettgefährtin, sie war seine Vertraute und Freundin. Er liebte sie mehr als sein Leben. Leider war es ihm nie vergönnt, eine nicht standesgemäße Dame zu ehelichen, auch wenn sie selbst aus respektablen Hause kam. Sie war früh verwitwet gewesen und hatte nur eine Tochter, als er ihr in London während der Saison in einem Park begegnet war. Seither trafen sie sich regelmäßig.

Als sich die Saison dem Ende zuneigte, bat er Mathilda, ihm nach Sussex zu folgen. Er hatte seine Mätresse aus London schließlich hier im Dorf von Brookhurst etabliert. Es dauerte nicht lange, und sie gebar ihm einen Sohn. Seinen einzigen Sohn. Er war stolz und jeder in der Welt sollte wissen, dass er endlich einen Sohn hatte. Doch man redete, und Lady Harriet wurde zum Gespött der Gesellschaft. James ließ sich davon nicht beirren und ging weiterhin bei Mathilda ein und aus, und verbrachte viel Zeit mit ihrem gemeinsamen Sohn James.

Ein paar Jahre später reifte der Entschluss in ihm heran, dass er James zu seinem rechtmäßigen Erben ernennen wollte. Schließlich würde seine Linie sonst aussterben, und das kam für ihn nicht in Frage. Es war eine Frage des Stolzes und der Ehre, er wollte nicht für seine Nachfolger der Versager sein, der es nicht geschafft hatte einen Erben zu produzieren. Auf seine Weise würde er den natürlichen Lauf ein wenig abändern. Er unterhielt gute Beziehungen zum Königshaus, und dort würde man sicher seinem Wunsch nachkommen, schließlich sind königliche Bastarde ebenso gesellschaftlich anerkannt worden. Wenn er erst einmal die Zustimmung des Königs hätte, dann würde das Gerede schon verstummen, schließlich bekannte er sich öffentlich zu seinem Sohn. Und auch die Zukunft des kleinen James stünde auf festen Fundamenten. Er könnte es nicht ertragen, dass eines seiner Kinder am Hungertuch nagen musste.

Lord James verließ sein Haus, ließ sich seine treue Stute satteln und ritt in der Dunkelheit Richtung Dorf. Er wusste, dass sein Sohn James am Wochenende vom Studium in Oxford zu Hause war und wollte ihn wiedersehen.

Als er den kleinen Salon des Hauses im Dorf betrat, in dem Mathilda lebte, fand er seinen Sohn James sehr verändert vor, er wirkte auf ihn aggressiv und rastlos. Die Wiedersehensfreude währte nur kurz. James hatte in Oxford Spielschulden gemacht, daher war er missgelaunt und auch seinem Vater gegenüber ausfallend. James wies seinen Sohn ob seiner Zügellosigkeit streng zurecht.

„Wenn du Brookhurst einmal erben willst, kannst du dir solche Eskapaden nicht mehr erlauben, mein Sohn. Es gibt Menschen, die auf dich angewiesen sind.“

Doch der Jüngere schnaubte abfällig. Er war sich seines leichten Lebenswandels durchaus bewusst, doch es gefiel ihm! Und irgendwie würde er aus der Schuldenfalle schon herauskommen. Das hatte dank seiner Mutter bisher immer geklappt.

Dieses Mal handelte es sich allerdings um keine unbeträchtliche Summe, die musste er unbedingt bis nächste Woche aufgetrieben haben, sonst würde er nicht nur seinen guten Ruf verlieren, sondern vermutlich auch sein Leben, und das höchst ehrlos.

Während sein Vater, der ach-so ehrbare Lord Burton, weiter über die zukünftige Verantwortung als Earl schwadronierte, versank James der Jüngere immer weiter in seinen Gedanken. Er goss sich ein weiteres Glas Portwein ein und kippte es in einem Schluck hinunter.

„Verzeihen Sie, Mylord, ich habe noch eine anderweitige Verpflichtung“, fuhr er seinem Vater ins Wort. Ohne seine Eltern eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ er den Salon. Er musste unbedingt raus aus diesem trübsinnigen Haus, es schien ihm immer kleiner zu werden, je länger sein Vater dort war. James hielt es nicht mehr aus. Er stürmte hinaus in die Dunkelheit des Dorfes.

Er sah, dass im Inn noch die Kerzen brannten und änderte seine Richtung.

Der Wirt erkannte ihn und stellte ihm ein Bier auf den Tresen, noch bevor James diesen erreicht hatte.

„Guter Mann“, murmelte James und nahm einen wohltuenden großen Schluck von dem dunklen Gebräu.

„Sagt an, Master Hewitt, wann bekomme ich mein Geld?“

Ach, herrje, dachte sich James, das hatte er vollkommen vergessen. Er hatte vor einigen Monaten ein Glückssträhne gehabt und in seiner Euphorie das ganze Inn eingeladen. Zahlen konnte er an dem Abend nicht, er hatte anschreiben lassen. Weil er der Sohn des Earls war, gewährte der Wirt ihm diesen Kredit. Doch so langsam verlor dieser die Geduld mit dem feinen Herrn.

„Ihr bekommt Euer Geld, schon bald.“

„Das will ich auch hoffen, Master Hewitt, ich muss schließlich auch meine Rechnungen bezahlen.“

James war es leid, dass man ihn überall auf seine Schulden ansprach. Er musste etwas unternehmen. Wenn er doch schon auf sein Vermögen als Earl zugreifen könnte…

Wortlos sprang er plötzlich auf. Er hatte eine Eingebung.

„Habt Dank, Master“ und warf dem Wirt ein paar Münzen hin.

„Vergesst Eure Schulden nicht, Master Hewitt, ich würde nur ungerne zu Eurem Vater dem Earl gehen wollen.“

Großen Schrittes machte sich James wieder auf den Weg nach Hause.

Wenn er sich beeilte, würde sein Vater noch da sein.

Er traf seine Eltern im Salon.

„Verzeihen Sie mir meine Laune, Mylord.“ Er setzte sich auf den Stuhl gegenüber von seinem Vater und schenkte sich noch ein Glas Portwein ein. „Wie laufen denn die Umbauarbeiten auf Brookhurst?“

„Sie sind abgeschlossen. Seit letzter Woche. Es ist prachtvoll geworden. Beinahe eines Königs würdig!“

„Das klingt vielversprechend. Wann darf ich es mir ansehen?“

James der Ältere freute sich über das plötzliche Interesse seines Sohnes am Familiensitz.

„Jederzeit, mein Sohn, jederzeit.“

„Wie wäre es am Tage nach dem morgigen?“

„Es wäre mir eine Freude.“

Lord Burton nahm seinen Abschied von seiner Familie und ritt wieder nach Brookhurst Manor zurück.

„Lord Burton sah schlecht aus, fandet Ihr nicht auch, Mutter?“

„Nun, er sorgt sich um dich.“

„Ich finde, er sah unwohl aus.“

„Ich weiß nicht, vielleicht ein bisschen erschöpft.“

„Hoffentlich ist er nicht ernstlich krank“, James erhob sich und sagte seiner Mutter Gute Nacht. Im Flur grinste er in sich hinein. Wenn es ihm gelänge, falsche Früchte zu säen, dann würde sein Plan aufgehen.

„Ihr habt ein Meisterwerk erschaffen, Vater.“ James lobte die neue Architektur von Brookhurst in den Himmel.

„Höchst modern und äußerst geschmackvoll. Wahrhaftig würdig einen König zu empfangen.“ Er wusste, wie er seinen Vater umschmeicheln musste. Und dieser hörte die Lobeshymnen nur allzu gerne.

„Mein Sohn, es ehrt mich, dass es dir gefällt. Schließlich soll es alles ja einmal dir gehören.“

„Ach Vater, je länger dieser Moment auf sich warten lässt, desto lieber ist es mir“, lächelte er kalt.

„Mein Sohn, du bist mein ganzer Stolz. Deswegen möchte ich deinen heutigen Besuch auf Brookhurst dazu nutzen, um dir das Familienschwert zu überreichen, welches seit Generationen am 18. Geburtstag des Erben weitergereicht wird. Und da dein 18. Geburtstag schon eine Weile zurückliegt, ist der Zeitpunkt jetzt so gut wie jeder andere. Ich sehe es als schicksalhafte Fügung an, dass du nun hier auf Brookhurst bist. Und dein Interesse am Haus beweist mir, dass ich recht habe.“

„Vater, Mylord. Ich danke Ihnen. Es ist mir eine Ehre, Euer Nachfolger sein zu dürfen.“

„Jetzt genug davon.“ Leicht errötet von den charmanten Worten seines Sohnes wand James das Gespräch einem anderen Thema zu.

„James, ich zeige dir nun ein wichtiges Dokument und den Ort, an dem ich es verwahre. Ich habe ihn eigens dafür einbauen lassen. Niemand weiß davon. Nur du sollst davon wissen. Für den Fall, dass es mal Zeiten geben sollte, in denen dir jemand dein rechtmäßiges Erbe streitig macht. Folge mir.“

Er führte seinen Sohn zu dem geheimen Versteck, mitten im Haus. Es war finster dort, und nur eine Kerze erhellte die kleine Kammer.

„Hier, James. Dies ist ein königlicher Erlass, der dich zum Erben macht. Es kann dir niemand nehmen was deins ist. Ich werde es hier…“

Weiter kam er nicht. Er brach lautlos zusammen, bevor er seinen Satz beenden konnte, das königliche Dokument noch immer in der Hand haltend. Sein Kopf schlug mit einem knirschenden Krach auf dem steinigen Boden auf und alles war still.

James senkte seinen rechten Arm, in dessen Hand er das Schwert der Burtons hielt. Von dessen edelsteinbesetztem Knauf tropfte Blut.

„Danke, Vater.“ James atmete schwer, dann lachte er. Er lachte laut und eiskalt. Er sah, wie sein Vater am Boden lag, mit aufgerissenen Augen. Er rührte sich nicht mehr. Das war ganz leicht, dachte James. Sein Adrenalinspiegel kochte.

Ohne eine weitere Minute zu verlieren, eilte James den Weg zurück, schloss die Geheimtür hinter sich und versuchte seine Atmung zu beruhigen. Diese Tür würde er nie wieder öffnen, und er würde nie in seinem Leben einer Seele davon erzählen. Niemand würde jemals erfahren, dass der 6. Earl of Brookhurst dort unten sein ewiges Grab gefunden hatte.

Dann blickte James sich um. Da, am Kaminsims im Salon war ein guter Platz. Dort deponierte er gut sichtbar einen Brief an Lady Harriet gerichtet und verließ ungesehen das Haus durch die Terrassentür.

Sein Herz klopfte wild. Er musste das jetzt durchziehen, er durfte nicht nervös werden.

Sein Pferd stand im Stall zwischen den anderen. Er sattelte die Stute des Earls flink und manövrierte erst sein Pferd und dann die Stute aus dem Stall, die ihm hörig hinterher trottete. Die Stallburschen waren gerade beim Essen, niemand hatte ihn entdeckt.

Er ritt in der aufkommenden Dämmerung kilometerweit querfeldein in die Richtung eines abgelegenen Sees und führte die Stute neben sich her. Am Ufer ließ er das Tier stehen, wo es sofort zu grasen begann.

Schleunigst kehrte er sein Pferd um und gab ihm die Sporen. Er ritt in die entgegengesetzte Richtung, weit weg vom furchtbaren Unglücksort, wo der gute Earl of Brookhurst ins Wasser ging, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Man erzählte sich stets von gefährlichen Untiefen in diesem Gewässer, von Personen, die nie wieder aufgetaucht waren. Diesen tragischen Ort hatte sich der Lord ganz offenbar als sein Grab ausgesucht.

So sollte es jedenfalls aussehen.

James machte sich über einen großen Umweg auf den Heimweg.

Auf den letzten Metern vorm Dorf fiel er in einen leichten Trab. Nur die Ruhe bewahren, bloß nicht auffallen. Das Knirschen des hinteren Schädels unter dem Schwertknauf würde er so schnell nicht vergessen. Und das viele Blut.

Du kommst von einem ganz gewöhnlichen Ausritt zurück, und bei deinem Abschied von Lord Burton auf Brookhurst war er noch quicklebendig. Ruhig atmen, mahnte er sich selbst.

Es dauerte nicht lange, und im Dorf wurde es unruhig. Überall raunten und tuschelten die Einwohner. Emsiges Treiben kam vom Inn und vom Dorfanger. Kerzen wurden angezündet.

Man hörte Satzbrocken wie „das Pferd des Earls“, „herrenlos“ und „der See“.

Man munkelte von einem Abschiedsbrief im Herrenhaus, an Lady Harriet. Ein Abschiedsbrief vom Earl. Er sei schwer krank und wolle seine wenigen verbleibenden Tage nicht würdelos dahinsiechen. Er vermache sein gesamtes Hab und Gut seinem geliebten Sohn, Master James Hewitt.

Geschlossene Fackelzüge machten sich auf den Weg über den Anger.

Dann klopfte es an die Tür von Hewitt House.

Der Plan hatte funktioniert, dachte James. Er ignorierte das grauenvolle Knirschen, welches sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatte. Er fühlte noch das Gewicht des Schwertes in seiner erhobenen Hand, den erstaunlich leichten Widerstand des Schädels, und wie sein Vater geräuschlos zusammenbrach.

Sein eigenes Leben würde sich nun ändern. Er war nun ein wohlhabender Mann. Dieser Gedanke gewann über die schrecklichen Erinnerungen in der Kammer.

Der Earl ist tot. Lang lebe der Earl.

Teil I

Frühling 1945, Emsland

Es war kurz vor dem Ende des Krieges, als sich das Leben von Hanna grundlegend verändern sollte. An diesem einen Tag, der für das Dorf, in dem sie lebte, einen Einschnitt in den inzwischen verhärmten Alltag des Krieges bedeutete. An diesem Tag, als die Briten kamen.

Das kleine Dorf mit seinem großen Kloster hatte auch seine Jungen und Männer in diesen unsinnigen und grausamen Krieg geschickt, etliche kamen schwer verwundet zurück, andere waren auf ewig verloren auf den anonymen Schlachtfeldern der Welt.

Auch zwei von Hannas ältesten Brüdern waren nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. Vom Krieg selbst hatte das kleine Dorf nur wenig mitbekommen, denn die Gegend im Emsland war sehr einsam, obwohl die große Straße Richtung Osnabrück nicht weit entfernt lag.

Hin und wieder hörten und sahen sie die Flieger am Himmel und einige wenige Male zogen ausländischen Truppen vorüber und nahmen ein paar Lebensmittel mit, was nach dem ersten Widerstand seitens der Dörfler mit drohender Gewalt endete, und bei den anderen Malen mehr oder minder zähneknirschend in Kauf genommen wurde.

Sie hatten Glück, dass sie selbst für ihre Nahrungsmittel sorgen konnten, somit halfen sich die Bewohner untereinander aus, wenn es zu einem Engpass kam.

Das Dorf in dem sie lebten, war aber zu unbedeutend und klein, als dass jemals eine ernsthafte Gefahr bestanden hatte. Das Jahr hatte schon die ersten drei Monate hinter sich und nun wartete man darauf, dass endlich das Ende dieses furchtbaren Kriegs verkündet würde, der so vielen unschuldigen Menschen das Leben gekostet hatte.

Familie Rosenstein aus dem Dorf war eines Nachts verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Hanna hatte es damals nicht verstanden, dass ihre Klassenkameradin Judith ohne ein Wort des Abschieds weggegangen war. Peter, der Sohn des Dorfladens Moormann, hatte gesehen, wie in der Nacht zwei Lastwagen vor Rosensteins Haus auftauchten und ein Dutzend braun gekleideter Männer hineinstürmten und die ganze Familie samt Großeltern auf die Laster verfrachtete.

Inzwischen wusste Hanna, was passiert war. Unmöglich wollte sie diese Grausamkeiten wahrhaben oder gar verstehen.

Leider müsste man aber auch in ihrem kleinen Dorf stets vorsichtig sein mit dem, was man sagte, denn die Nazis hätten ihre Ohren überall, so sagte zumindest ihr Vater. Am Besten gar nicht mit anderen Leuten reden, außer über das Wetter und die Ernte. Man wüsste schließlich nie, hinter welchem Freund sich nicht doch ein Verräter verbarg.

Alle waren diesen entsetzlichen Krieg schrecklich leid. Er hatte soviel zerstört, und nicht nur Gebäude und Straßenzüge.

Menschen wurden zugrunde gerichtet, lebten von Almosen, weil ihnen rein gar nichts geblieben war. Menschliche Seelen waren erloschen, die körperlichen Hüllen waren leer. Oder aber Menschen, vor allem die Männer, kehrten nach langer Zeit heim, die aber durch die Schrecken des Krieges nie wieder die alten waren. Aus ihren kalten Augen blitzte die Furcht und Grausamkeit und die seelische Kälte eines Soldaten, der auf dem Schlachtfeld gelernt hatte, dass ein Menschenleben nichts mehr wert war.

An einem der ersten sonnigen und milden Tage Anfang April 1945 war Hanna auf dem Weg zurück nach Hause.

Sie hatte bei Moormann endlich wieder Mehl und Zucker bekommen können, und sie konnte es kaum erwarten, bis ihre Mutter ihren wunderbaren Streuselkuchen auf den Tisch stellte.

Hanna war mit 20 Jahren die Zweitjüngste von acht Kindern und lebte auf dem Hof ihrer Eltern, zusammen mit ihren Geschwistern und den Familien ihrer ältesten Brüder.

Sie ging den Korb schwenkend die Dorfstraße entlang und freute sich über die Vögel, die in den noch kahlen Bäumen saßen und ihre Lieder in die Welt hinaus zwitscherten, als hätte es nie etwas Böses auf der Welt gegeben.

Hanna überkamen die Frühlingsgefühle und sie lächelte in sich hinein. Der Winter war lang und hart genug. Schnee hatte es reichlich gegeben, und bis Mitte März lagen noch überall die großen Schneehaufen, die vom Freischaufeln der Wege an deren Rändern lagen und nur langsam wegtauten.

Umso mehr freute sich Hanna, dass inzwischen überall die Osterglocken blühten und die Kriegswirren, wenngleich auch nur für einen Augenblick, vergessen ließen. In diesem einen kleinen Moment, als die Osterglocken ihre prachtvollen Köpfe im leichten Wind neigten und mit der Sonne um die Wette leuchteten; in diesem einen kleinen Moment, als die Meisen ihr Lied sangen, in diesem kleinen Moment war die Welt in Ordnung. Doch dieser kleine Moment des Friedens wurde plötzlich unterbrochen, von einem gleichmäßigen und lauter werdenden Knattern.

Automatisch wanderte Hannas Blick Richtung Himmel, das hatte sie sich in den vergangenen Jahren so angewöhnt. Doch dann drehte Hanna ihren Kopf zur Seite und sah zur langen Dorfstraße zurück. Bei der Kirche sah sie eine Kolonne von Militärfahrzeugen genau in ihre Richtung fahren. Panik überkam sie, ihr Instinkt sagte „Wegrennen!“, blieb aber dann wie angewurzelt stehen, weil sie sich sofort an die Worte ihres Vaters erinnerte: „Bleibe wo du bist, und bleibe ruhig und unauffällig. Wenn man wegrennt, macht man sich verdächtig und sie kommen hinter dir her.“

Hanna blieb also am Fahrbahnrand stehen, umklammerte ihren Korb mit beiden Händen und beobachtete, wie die Fahrzeuge näher kamen. Hier und da waren Fahrzeuge rechts herangefahren und Soldaten stiegen aus. Sie machten jedoch nicht den Eindruck, als hätten sie einen dringenden Auftrag. Vielmehr gingen sie zu den Häusern an der Dorfstraße, klingelten und gingen hinein.

Hanna war so gebannt von diesem Anblick den sie nicht verstand, dass sie erst in diesem Augenblick das Motorrad und den ihm folgenden Geländewagen bemerkte, die an ihr vorüber knatterten. An den Flaggen, die am Heck der Fahrzeuge flatterten, erkannte sie, dass es Briten waren. Noch bevor sie sich einen Reim auf all das machen konnte, fuhr ein weiterer Geländewagen an Hanna vorbei.

Der Soldat, offenbar ein Offizier, der auf dem Sitz saß, wo in der Regel der Fahrer Platz nahm, lächelte sie charmant an und grüßte sie, in dem er seine rechte Hand an den Schirm seiner Offiziersmütze tippte. Hanna lächelte unwillkürlich zurück.

Das waren doch eigentlich die Feinde! Aber ihr Vater hatte ihr auch erklärt, dass es die Alliierten sein würden, die ihr Land von Hitlers Macht und den Nazis befreiten.

Und abermals, bevor sie wusste wie ihr geschah, bogen diese drei Fahrzeuge in die Straße ein, die zu ihrem Hof führte. Sie rannte los und konnte an der Ecke gerade noch sehen, wie der zweite Geländewagen hinter der nächsten Kurve verschwand.

Der Straßenstaub legte sich gerade, als Hanna diese Kurve erreichte. Das Knattern war nur noch einen Augenblick leicht zu vernehmen, dann verstummte es gänzlich. Die Briten waren auf ihrem elterlichen Hof.

Hanna war das letzte Stück zum Hof gerannt. Was, um Himmels Willen, konnten sie von ihnen wollen? Sofort fielen ihr die schrecklichen Geschichten ein, die all die Jahre im Dorf erzählt wurden - von Deportationen, Verrat, Folter und Raub.

Was konnten ihre Eltern bloß angestellt haben, ihre hart arbeitenden und christlichen Eltern, ihrer moralischen Vorbilder, was die Briten auf den Plan gerufen hatte?

Hanna fürchtete mit jedem Schritt, den sie dem Haus näher kam, dass ihr geliebter Vater von den Soldaten aus dem Haus geschafft und weggefahren würde. Was konnte er denn bloß den Briten getan haben?

Hanna erreichte die Haustür, aber hörte keinen Lärm. Sie betrat die lange dunkle Diele und folgte den fremden Stimmen bis in die gute Stube. Die Tür stand offen.

Als Hanna sich ihr näherte, wurde sie gleich bemerkt. Zwei Offiziere drehten sich zu ihr um, einer von ihnen war der junge Offizier, der sie kurz zuvor so freundlich gegrüßt hatte. Ihre Eltern saßen verunsichert auf dem alten Sofa gegenüber der Tür und blickten nervös zwischen den Offizieren und Hanna hin und her.

Ihre Mutter Anna hatte ihr weißes Spitzentaschentuch in den Händen und tupfte sich immer wieder eine Träne weg.

Ihre Schwester Luzie und ihre Schwägerin Elisabeth standen wie erstarrt links neben den Eltern, ihre Arbeitsschürzen unruhig in den Händen knetend.

„Gut, dass Du da bist, Kind“, schluchzte Anna und fuchtelte mit ihrem Tuch in der Luft herum, so als würde sie damit der Situation mehr Ausdruck verleihen.

„Plötzlich standen diese Männer in der Diele. Ich habe kein Wort verstanden, und Dein Vater auch nicht. Sie wollen uns sicher abführen! Wir haben nichts Unrechtes getan!“

Ihre Panik war kaum zu überhören, die letzten Worte kreischte sie fast. Alois legte ihr beruhigend die Hand aufs Bein, während gleichzeitig einer der Offiziere beschwichtigend die Hand hob.

Offenbar hatte Annas hysterischer Anfall die richtige Botschaft übermittelt.

„Hanna, Du hast doch Englisch in der Schule gelernt. Kannst Du sie fragen, was sie wollen?“

Hanna starrte ihren Vater an.

„Aber Vati, das ist doch schon so lange her!“

„Und ich bin mir nicht sicher, ob ich die richtigen Worte finde. Nicht, dass ich alles noch schlimmer mache!“

„Schlimmer? Was könnte schlimmer sein, als ausgeraubt und oder verjagt zu werden?“ Anna war immer noch außer sich.

Hanna zögerte einige Sekunden, um sich im Kopf die richtigen Vokabeln zurechtzulegen. Die Herren Offiziere bemerkten Hannas Ansatz, etwas sagen zu wollen und wandten sich ihr zu. Ihnen war daran gelegen, diesen guten Leuten klarzumachen, weshalb sie gekommen waren.

Hanna blickte zu dem Mann, der aussah, als hätte er das Kommando.

„Äh, what can we do for you?“ stotterte sie.

Der Kommandant wirkte überrascht, als diese junge Frau, die eben erst dazu gestoßen war, ihn in seiner Muttersprache ansprach.

Er entgegnete ihr in einem sehr bestimmenden Tonfall, ebenfalls auf Englisch.

Hilflos und ein wenig überfordert schaute sich Hanna zu den beiden Offizieren um. Jener Offizier, der sie gegrüßt hatte, räusperte sich und sprach zu seinem Vorgesetzten.

„May I?“

Hanna glaubte verstanden zu haben, dass er um eine Erlaubnis bat. Der Kommandant nickte.

Der Offizier trat einen Schritt vor und blickte Hanna kurz direkt in die Augen, bevor sein Blick auf ihre nervösen Eltern wanderte. Hanna spürte, wie sie errötete. Sein Blick hatte sie voll erfasst.

„Excuse me, wir sind hier,“ begann er holperig in einem gebrochenem Deutsch, „zu bleiben auf Ihren Hof for a while.“

Sein Ton war höflich, aber dennoch bestimmt.

Er schaute Hanna wieder direkt an. Sie merkte, wie ihr ganz heiß wurde.

Auch wenn dieses Deutsch-Englische Kauderwelsch schwer zu entziffern war, so hatte sie diesen Mann sehr gut verstanden.

„Sie werden hier bei uns auf dem Hof bleiben, Vater.“

„Wie bitte?“

Alois blickte zum Kommandanten, der in den letzten Minuten kaum eine Miene verzogen hatte. Streng aber stumm erwiderte er Alois' entsetzten Blick.

Dieser erhob sich von seinem Platz.

„Aber was...was wollen Sie denn hier? Mir beim Ausmisten helfen? Beim Schweine füttern? Melken? Was?!“ Seine Stimme wurde immer lauter. Nun war es an seiner Frau ihn zu beruhigen und legte ihre Hand auf seinen Arm.

Der Offizier holte Luft und hob abermals seine rechte Hand zur Beschwichtigung.

Hanna konnte sehen, dass er schwere Narben auf der rechten Hand hatte, seine Haut war wohl schlimm verbrannt worden und nun stark vernarbt.

Der Kommandant sagte etwas zu ihm und der Offizier übersetzte.

„Bitte bleiben Sie ruhig. When Sie macken keine problems, wir sind bald wieder weg. Otherwise mussen wir Sie verhaften. Nix wird Ihnen und Ihre family geschehen. Bitte bleiben Sie ruhig.“

Hanna fasste all ihren Mut zusammen.

„Aber wo – where?- wollen Sie schlafen – sleep?“ Der Offizier lächelte gutmütig.

„No problem, we have tents!“ und formte mit seinen Händen ein Dreieck. Ah, Zelte.

Alois hatte sich halbwegs beruhigt, als er merkte, dass diese Soldaten friedlich blieben, und eilte Hanna zu fragen, wie viele von ihnen kommen würden.

„Wie viele? How many people?“

Der Kommandant ergriff das Wort. „Ten or fifteen soldiers and officers. Don't you worry, young lady, we will be gone in no time.“

Dann wandte er sich an Alois.

„We will help with the chores on the farm and expect to be fed off your goods and supplies.“

Hanna verstand kein Wort, der Offizier sprang erneut als Übersetzer ein.

„We help – helfen- auf farm -Hof und you geben uns food“, bei dem letzten Wort mimte er die Bewegung des Essens. Dabei funkelten seine Augen amüsiert, was Hanna ein Lächeln entlockte. Gleichzeitig hatte ihr Vater die Bedeutung ebenfalls erfasst.

„Wie sollen unsere Erträge für so viele Menschen reichen? Wir sind nur ein kleiner Bauernhof!“

Hanna versuchte zu übersetzen.

„No worries, we sind modest – bescheiden. Und wir bringen auch was.“

Der Kommandant räusperte sich, deutete seinen beiden Offizieren an zu gehen. Er verließ mit einem hoheitsvollen autoritären Nicken die Stube.

Als letzter drehte sich der Offizier um und wandte sich an Hanna und ihre Eltern. „Don't worry Sir, it will be all right.“

Er nickte tief, warf einen letzten Blick auf Hanna und lächelte. Dann ging er aus dem Haus.

Keine zwei Stunden später rollte eine Kolonne Britischer Militärfahrzeuge auf den Hof. Hanna stand mit ihren Eltern an der Tür und beobachtete das rege Treiben. Große Kisten wurden entladen, Zelte am Rand der Wiese aufgestellt und in der alten Remise die freien Flächen für die Unterbringung der Fahrzeuge genutzt. Diese Situation verhieß eine spannungsvolle Zeit. Unhöflichkeiten und Provokationen konnten ganz schnell in einer Katastrophe enden, die natürlich jeder bemüht war zu umgehen. Auch wenn diese Belagerung das baldige

Ende des Krieges bedeutete, so war die bisherige Gefahr in den Jahren zuvor erheblich geringer als jetzt.

Bis heute morgen war das Dorf zu unbedeutend, um überhaupt Aufmerksamkeit jeglicher feindlicher Armeen erregt zu haben. Doch nun stand der Feind in den eigenen vier Wänden. Alois hatte die Familie vor der Ankunft der Briten eindringlich gebeten, dass sie sich ausnahmslos alle mit feindlichen Kommentaren zurückhalten sollten, sonst würden sie ihr Zuhause verlieren. Die wesentlich schlimmere Strafe hing unausgesprochen in der Luft, dennoch war sie jedem ganz und gar bewusst.

Dieser Anblick, der sich ihnen auf ihrem eigenen Hof darbot, war skurril. Die bedrohliche Farbe des Militärs wurde durch fröhliches Pfeifen und Lachen verblasst, es wirkte wie ein großes Freizeitlager.

Hanna konnte in dem Getümmel den freundlichen Offizier nicht ausmachen und erschrak sich gleichzeitig, dass sie nach ihm Ausschau hielt.

Der Kommandant trat auf die Familie zu und informierte sie darüber, dass sie ihre Vorbereitungen nahezu abgeschlossen hätten. Die Familie könnte sich wieder ihren täglichen Aufgaben zuwenden.

Hanna war erleichtert, dass sie den englischen Worten dieses Mannes halbwegs folgen konnte.

Alois wollte gerade etwas erwidern, doch Hanna hielt ihn sofort davon ab und erinnerte ihn an seine eigenen Worte von kurz zuvor. Der Kommandant schaute Vater streng an, drehte sich um und ging davon.

Die Frauen gingen wieder an ihre Hausarbeit, der junge Alois stiefelte mürrisch zurück in den Stall und die Kinder liefen zurück auf den Hof, um den Soldaten beim Auspacken zuzusehen.

Für sie war es ein großer Spaß! Die Soldaten spielten mit ihnen und zeigten ihnen kleine Zaubertricks. Kinderlachen mischte sich unter diesen Trubel und für den Hauch eines Augenblicks schien die Spannung vergessen.

Vater Alois zog sich in sein Zimmer zurück und schloss die Tür hinter sich. Er griff nach dem nächstbesten Buch, klappte es auf, nur um es wenige Sekunden später wutschnaubend wieder auf das Tischchen zu werfen. Er war nicht mehr Herr auf seinem eigenen Hof. Anna trat in sein Zimmer und brachte ihm einen Tee.

„Hier Alois, trink' das. Und beruhige dich bitte. Es bringt gar nichts, wenn du dich aufregst. Und du willst diese Leute doch nicht provozieren, nur um dann abgeführt zu werden! Wir müssen da jetzt durch, ob wir wollen oder nicht. Und wenn wir uns unauffällig verhalten, wer weiß, vielleicht sind sie dann schnell wieder weg!“ Eigentlich glaubte sie selbst nicht daran, gab aber die Hoffnung nicht auf.

„Du musst dich diesem Hauptmann unentbehrlich machen. Ohne dich läuft es hier ja auch nicht, du kennst dich hier am Besten aus. Und unsere Hanna kann das bestimmt übersetzen. Ich habe ihr vorhin gesagt, sie soll mal wieder in ihre alten Englischbücher schauen und die Wörter lernen.“

Alois grummelte in sich hinein, wusste aber, dass seine Frau es gut meinte, und vor allem Recht hatte, mit dem was sie sagte. Er musste sich zusammenreißen, wenn er sein Hab und Gut nicht verlieren wollte. Zwar durfte er nicht über alle auf dem Hof lebenden Personen bestimmen. Aber er war derjenige, der wusste, wie hier alles funktionierte, und wann welche Arbeiten erledigt werden mussten. Das konnte ihm selbst so ein Kommandant nicht abnehmen.

Mit diesem Gedanken richtete er sich in seinem Sessel auf und blickte seine Frau an. Anna war ihm stets treu ergeben gewesen in den letzten fünfunddreißig Jahren Ehe. Sie war die Seele dieses Hauses und stand stärkend hinter ihm.

Ein Segen, dass Hanna etwas Englisch in der Schule gelernt hatte. Er hatte großes Vertrauen in seine jüngste Tochter, sie war vernünftig, aber wusste auch was sie wollte. Sie hatte ihren eigenen Kopf, anders als seine anderen Töchter, die sich in erster Linie eigene Familien gewünscht hatten.

Nur Luzie hatte frei gewählt und war daheim geblieben. Sie führte ein nonnengleiches Leben, sie wollte sich um ihre Eltern und ihr Zuhause kümmern; jetzt mehr denn je. Nie hatte ein Mann eine Rolle für sie gespielt.

Für Hanna erwartete Alois jedoch eine andere Schicksalsreise. Sie würde sicherlich auch heiraten und eine Familie gründen wollen, aber sie würde trotzdem einen anderen Weg einschlagen, dessen war er sich sicher. Hanna war, nachdem ihre Mutter sie darum gebeten hatte, in ihr Zimmer gegangen, um ihre alten Englischbücher aus dem Schrank zu kramen.

Ihre Nichte Maria war zu Beginn des Krieges zu ihr ins Zimmer gezogen, alle mussten sie ein wenig zusammenrücken.

Für Hanna und Maria war es eine glückliche Fügung, denn sie waren schon als Kinder beste Freundinnen gewesen und beide etwa im gleichen Alter. Seit sie unter einem Dach lebten, war ihre Vertrautheit noch gewachsen. Wenn es im Haus längst still geworden war, saßen sie in ihrer Dachkammer auf einem der Betten unter der Decke und erzählten sich ihre Gedanken und Geheimnisse.

Sie waren füreinander da gewesen, als Maria ihren Vater und Hanna ihren ältesten Bruder verloren hatte. Maria stand ihrem Vater sehr nahe, wie Hanna dem ihren. Aber auch ihrem großen Bruder war sie sehr zugetan. Und er war es, der die beiden Mädchen immer zusammenbracht hatte, so dass eine tiefe Freundschaft daraus entwachsen konnte. Sie betrachteten sich vielmehr als gleichaltrige Cousinen, als als Tante und Nichte.

Als Hanna ins Zimmer trat, lag Maria auf ihrem Bett und las. Die Sonne war gerade hinter der dicken Eiche vor dem Giebelfenster verschwunden und tauchte das Dachzimmer in ein trübes Licht, in dem die Schatten der Blätter an der Wand tanzten.

„Und, was hältst du von dem ganzen Spektakel da draußen?“

Maria klappte ihr Buch zusammen und schwang ihre Beine aus dem Bett. Sie seufzte.

„Weißt Du, es macht mir schon ein wenig Angst, einfach so von Fremden belagert zu werden. Aber andererseits finde ich es auch richtig aufregend! Endlich ist hier mal was los. Davon können wir noch unseren Enkeln erzählen!“

Hanna schmunzelte.

Es war typisch für Maria, sie konnte jeder noch so verzwickten Situation immer etwas Gutes abgewinnen.

„Du hast ja Recht. Aber ich mache mir Gedanken um Vati, ich hoffe, er kann sich zusammenreißen.“

„Er hat Angst um sein Eigentum und das bringt ihn sicher ganz schnell dazu, aus der Haut zu fahren.“ Hanna seufzte und ließ sich neben Maria auf das Bett fallen.

„Hoffentlich geht das gut.“

„Ach, bestimmt!“, versuchte Maria sie aufzumuntern.

„Komm, lass uns mal auf den Hof gehen und schauen, was dort alles los ist!“ Maria stand auf, griff nach Hannas Hand und zog sie nach unten.

,Luzie kam ihnen in der Diele entgegen.

„Was habt ihr vor?“

„Wir wollen uns mal ein bisschen draußen umsehen“ antwortete Hanna.

„Macht bloß keinen Unfug, verstanden?“ Luzies Worte klangen längst nicht so scharf, wie sie es beabsichtigte, trotzdem verdrehte Maria die Augen.

„Natürlich nicht, wir sind schließlich wohlerzogene junge Damen, nicht wahr?“

„Was denkst Du nur von uns, Luzie?“ Hanna lachte auf und folgte Maria vor die Tür.

Inzwischen war auf dem Hof ein wenig mehr Ordnung eingekehrt. Die Fahrzeuge standen in der Remise und das Zeltlager war auf der Wiese hinter dem Haus aufgeschlagen. Drei Soldaten waren geschäftig beim Holzstapeln für ein Lagerfeuer, andere wiederum verteilten die Kisten und Säcke in die vier Zelte. Der Kommandant und zwei Offiziere beugten sich über einen Tisch. Vor ihnen ausgebreitet lag eine Landkarte.

Ein Stück links dahinter machte sich ein Soldat an einem Wasserkessel zu schaffen und füllte eine Emaillekanne mit kochendem Wasser auf. Kurz darauf stellte er acht Emailletassen auf einen kleinen Klapptisch.

Die beiden Mädchen schlenderten gerade über den Hof als dieser wasserkochende Soldat auf sie beide zueilte.

„Oh, excuse me! Excuse me, Ladies!“

Hanna und Maria blieben wie angewurzelt stehen. Was konnte er bloß von ihnen wollen?

„So sorry to bother you but we ran out of milk. Would you terribly mind if I asked you for some milk? You see, it's time for the afternoon cuppa and we couldn't possibly have it without a dash of milk, now could we?“

Hanna und Maria blicken sich hilflos an und stotterten ein

„Sorry, not understand!“

Der Soldat lächelte verständnisvoll, aber da eilte schon der freundliche Offizier zur Hilfe. Er hatte vom Tisch aus den Überfall auf die beiden jungen Damen mitbekommen.

„Entschuldigung, Ted nicht sprechen Deutsch.“

„Er mochte Sie bitten um milk – Milsch. Wir haben keine milk left for den tea.“

„Ach so!“, rief Maria erleichtert, „Ich bin gleich zurück.“

Und schon war sie in Richtung Milchküche verschwunden.

Hanna trat nervös von einem Fuß auf den anderen und wusste nicht, was sie sagen sollte, wollte aber diesen höflichen Mann unbedingt in ein Gespräch verwickeln.

„I hope“, stammelte sie, „I hope all is good here?“

Er musste sie für eine Schwachsinnige halten. Der Offizier lächelte wieder.

„Oh ja, Thank you. Es ist ein schones Hof. Wie lange wohnt your family here?“

Er hatte tatsächlich das Gespräch angenommen! Hannas Herz machte einen kleinen Hüpfer, was sie selbst sehr überraschte. Aber sie wollte alles versuchen, um ihren Teil dazu beizutragen, dass das Zusammenleben mit den Briten auf dem Hof gut lief.

„Yes, beautiful! My great-grandparents, äh, made the farm.“ Der Offizier schien sie abermals verstanden zu haben.

„Wie wunderbar, diese history.“ Er ließ seinen Blick umherwandern.

„Darf ich mich vorstellen: my name is William. William Burton.“

„Äh, my name is Johanna, Hanna.“

„Es ist eine Freude to meet you, Johanna“, und machte eine kleine Verbeugung.

In diesem Moment kam Maria mit einer kleinen Milchkanne über den Hof zu ihnen geeilt.

„This is my niece Maria. Maria, das ist William.“

Auch der Soldat namens Ted machte sich wieder bemerkbar, als Maria ihm die Kanne reichte. William stellte auch ihn noch einmal vor. „Dies ist Ted und er muss kummern sich um die tea. Chop chop!“

Ted wurde rot, salutierte und lief wieder zu seinem Wasserkessel.

Die anderen drei schauten ihm hinterher und sahen zu, wie Ted seinen Vorgesetzten Tee einschenkte.

„Darf ich Sie einladen zu eine Tasse tea? Es gibt nichts Besseres als eine gute Tasse tea. Wir haben nicht unser feinstes china, aber

ich wurde mich freuen, wenn ich kann anbieten eine Tasse fur Sie.“

Hanna und Maria tauschten einen kurzen Blick, ihr Anstand gebot es die Einladung anzunehmen, des lieben Friedens willen.

„Yes, thank you!“

William machte eine einladende Geste und die beiden Mädchen folgten ihm. Ted reichte ihnen sogleich jeder eine der Emailletassen mit Tee und Milch.

Wo hatte man so etwas denn schon mal gesehen, Tee mit Milch!

Hanna und Maria nippten vorsichtig an dem Tee und waren beide überrascht von diesem Geschmack. Der Tee war kräftig, aber nicht zu bitter, ganz anders als der Ostfriesentee, den es zu Hause gab.

„Wie mag Sie the tea?“

„Very good“, lobte Hanna.

„Das freuen uns sehr. It is not the best tea wir haben in England, aber es ist besser zu haben diese als nix.“

William hatte sich nun ganz Hanna zugewandt, während Maria sich versuchte, mit Ted zu verständigen, denn auch sie hatte etwas Englisch in der Schule gelernt.

Leider war Ted der deutschen Sprache weniger mächtig als William, so dass die Kommunikation einer Scharade glich, was die beiden selber sehr amüsierte.

Hanna und William beobachteten Ted und Maria einige Sekunden, und Hanna beneidete Maria um ihre Unbeschwertheit mit diesem Fremden, ja, eigentlich Feind. In diesem Moment wurde Hanna klar, dass so ein Weltkrieg zwischen ganzen Ländern stattfand, aber nicht zwischen zwei Menschen, die sich vom ersten Moment an gut verstanden, so verschieden ihre Herkunft auch sein mochte.

Diese plötzliche Erkenntnis machte es Hanna leichter, mit diesen neuerlichen Umständen umzugehen. Auch William mochte zur feindlichen Armee gehören, aber das bedeutete nicht, dass er deswegen ein schlechterer Mensch war. Er war sehr höflich, hatte eine vornehme Art an sich, war distanziert, aber zuvorkommend und umgänglich.

Hanna selbst hatte mit dem Krieg als solches nichts zu tun, im Gegenteil, sie verabscheute ihn und war froh, dass ihr Dorf von weiteren dramatischen Szenen bisher verschont geblieben war.

Diese Begegnung mit den Briten war zwar insgesamt unangenehm, denn wer teilte schon gerne sein Zuhause mit Wildfremden, die sich dazu auch noch selbst eingeladen hatten und alles in Beschlag nahmen, was ihnen nicht gehörte? Aber das waren eben diese Kriegszeiten, besonders, wenn man in dem besiegten Land zu Hause war.

William verwickelte Hanna in ein Gespräch über das Wetter, um ihr Schweigen zu brechen. Hanna war dankbar dafür, denn sie wusste nicht, worüber sie mit ihm reden durfte. In dieser Zeit war es schwer, ein neutrales Thema zu finden, denn jeder wusste ein Leid oder einen Verlust zu beklagen.

Schließlich traute sich William zu fragen, wie viele Geschwister Hanna habe.

„I have seven brothers and sisters but my two older brothers are dead in the war. Very early. Frankreich, ääh, France.“

William schaute bedauernd zu Boden.

„I am truly very sorry; Hanna. Es tut mir sehr leid.“

Er blickte von unten zu ihr hoch. Ihre Blicke trafen sich.

„Danke. Thank you. It was terrible for us, for Mia“, Hanna schaute zu ihrer Cousine, „her father.“

William folgte ihrem Blick und sah dieses fröhliche Mädchen, welches so viel Schmerz erfahren musste, aber dennoch das Lachen nicht verloren hatte.

„Ick hoffen Sie alle werden stark sein for diese Verluste. Es ist schwer. Ich habe auch verloren meine younger brother und my uncle.“ Er schaute wieder zu Boden.

Hanna fand, dass nun sie an der Reihe war, diesen Mann zu bedauern, denn auch er hatte geliebte Mitglieder seiner Familie verloren.

„I'm very sorry, too.“

„Dankeschon.“ Ein zaghaftes Lächeln entwich seinem Gesicht und Hanna erwiderte es. Sie waren alle Opfer dieses sinnlosen Krieges.

Ihre Blicke trafen sich wieder und blieben aneinander hängen. In diesen Sekunden, die nicht nur William wie die Ewigkeit vorkamen, konnten sie sich gegenseitig bis in die Seele schauen.

Hanna war gefesselt von diesen tiefblauen Augen des Engländers, die so viel Wärme und Liebe ausstrahlten, wie sie es bei einem Mann noch nie gesehen hatte, schon gar nicht bei denen aus dem Dorf.

Sie konnte sich kaum vorstellen, dass dieser Mann ein aktiver Soldat in einem andauernden Krieg war.

Und auch William verlor sich in Hannas grau-blauen Augen, die von innen heraus so kräftig leuchteten, dass sie aussahen, als wäre die Farbe frisch auf einer Farbpalette angerührt worden. Er sah sofort, dass sie sich nicht so leicht unterkriegen lassen würde, egal, was ihr widerfuhr. Sie war stark und strahlte eine Herzlichkeit aus, die bei ihm ein leichtes Kribbeln im Bauch verursachte.

Erst als der Kommandant bereits zweimal seinen Namen gerufen hatte und beim dritten Mal ein paar Schritte näher getreten war, zuckte William aus seiner Erstarrung hoch. Er räusperte sich, antwortete seinem Vorgesetzten und entschuldigte sich bei Hanna, dass er nun gehen müsste.

Hanna raffte sich auch zusammen und verabschiedete sich von dem Offizier. Sie wandte sich ab, aber drehte sich nach drei Schritten noch einmal um, nur um zu sehen, dass William dasselbe tat. Er lächelte sie noch einmal an, bevor er dann im Zelt des Kommandanten verschwand.

Hanna war bereits auf ihrem Zimmer, als Mia hereintobte. Sie strahlte über das ganze Gesicht.

„Was für ein Glück, dass die Briten nun bei uns wohnen! Wer hätte gedacht, dass es solche netten jungen Männer sind.“

„Mia“, ermahnte Hanna sie laut, „das sind immer noch Feinde und wir sollten uns vornehm zurückhalten mit dem Kontakt.“

Mia schaute ihre Cousine überrascht an, entdeckte dann aber ein Funkeln in ihren Augen und das Zucken der Mundwinkel.

Die Mädchen fingen an zu kichern und setzten sich auf den Fußboden zwischen ihren Betten. Sie tuschelten und kicherten und sprachen über diese beiden wirklich attraktiven Soldaten William und Ted, mit denen sie sich so gut unterhalten hatten.

„Wir müssen das wirklich für uns behalten, ich glaube Vati und Mutter würde der Schlag treffen, wenn sie davon wüssten.“

„Und Luzie erst“, warf Mia ein, und die beiden Mädchen schüttelten sich vor Lachen. Mia hatte einfach das Talent, in einer ernsten Lage das Komische zu sehen.

Beim Abendessen wurde nicht viel gesprochen, nur Vater erinnerte seine Familie noch einmal streng daran, dass sie sich fortan alle zusammenreißen müssten und stets höflich zu sein hätten, damit der Feind da draußen nicht ungemütlich würde. Mia und Hanna wechselten Blicke und versteckten ihr Grinsen im Brot.

Später im Bett tuschelten sie weiter und überlegten, was sie alles überhaupt von Großbritannien wussten. Es gab einen König und sie tranken viel Tee. Und fuhren sie nicht sogar auf der falschen Straßenseite?

Hanna holte eines ihrer Englischbücher vom Tisch.

„Großbritannien. Es ist eine Insel. Es gibt England, Schottland und Wales.“ Sie zeigte Mia die Karte.

„Die Hauptstadt ist London, in England. Hier unten.“

„London wurde doch so furchtbar zerstört von den Nazis, oder?“ Mia erinnerte sich an die Nachrichten im Radio und in der Zeitung.

Hanna blätterte indes weiter in ihrem Buch.

„Ja, es gibt einen König und eine Königin, sie wohnen natürlich in einem Schloss in London. Und das mit der ‚tea time‘ am Nachmittag stimmt, wie wir ja wissen!“

„Und sieh mal hier, die fahren tatsächlich auf der falschen Straßenseite. Das ist mir bei den Fahrzeugen auch aufgefallen, es sah irgendwie komisch aus!“

„Vielleicht sollten wir die Offiziere mal fragen, woher sie genau kommen. England ist ja scheinbar der größte Teil der Insel.“ Mia schaute auf die Karte in dem Lehrbuch.

„Schottland - da tragen die Männer doch Röcke, oder?!“

Die Mädchen lachten bei der Vorstellung, es war doch wirklich sehr lustig.

„Was man auf den Bildern gut erkennen kann, ist eine schöne grüne Landschaft. Und offenbar gibt es viele alte Gebäude.“