Das Erbe von Grays Orchard - Joanna Hines - E-Book
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Das Erbe von Grays Orchard E-Book

Joanna Hines

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Beschreibung

In den Schatten der Vergangenheit: Der Spannungsroman »Das Erbe von Grays Orchard« von Joanna Hines als eBook bei dotbooks. An einem schwül-heißen Sommertag erschüttert ein tragischer Todesfall die Idylle auf dem Landsitz Grays Orchard – und nichts ist mehr wie zuvor … Jetzt, 25 Jahre später, drohen die dunklen Geister der Vergangenheit erneut zu erwachen: Die junge Carol glaubte bislang, in ihrer Ehe mit dem gefeierten Maler Gus Ridley keine Geheimnisse zu haben. Als jedoch seine Nichte plötzlich auftaucht und unangenehme Fragen stellt, muss Carol sich plötzlich fragen, ob sie den Mann an ihrer Seite jemals wirklich gekannt hat. Und wer ist die rätselhafte schöne Frau auf seinem berühmtesten Gemälde? Ihre Nachforschungen führen Carol bald zurück zu Grays Orchard – und bringen sie in tödliche Gefahr … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der atmosphärische Familiengeheimnis-Roman »Das Erbe von Grays Orchard« von Joanna Hines wird Fans von Charlotte Link begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 544

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Über dieses Buch:

An einem schwül-heißen Sommertag erschüttert ein tragischer Todesfall die Idylle auf dem Landsitz Grays Orchard – und nichts ist mehr wie zuvor … Jetzt, 25 Jahre später, drohen die dunklen Geister der Vergangenheit erneut zu erwachen: Die junge Carol glaubte bislang, in ihrer Ehe mit dem gefeierten Maler Gus Ridley keine Geheimnisse zu haben. Als jedoch seine Nichte plötzlich auftaucht und unangenehme Fragen stellt, muss Carol sich plötzlich fragen, ob sie den Mann an ihrer Seite jemals wirklich gekannt hat. Und wer ist die rätselhafte schöne Frau auf seinem berühmtesten Gemälde? Ihre Nachforschungen führen Carol bald zurück zu Grays Orchard – und bringen sie in tödliche Gefahr …

Über die Autorin:

Schon in ihrer frühen Jugend begann Joanna Hines, mit Leidenschaft zu schreiben. Neben ihren Romanen veröffentlichte sie auch Kurzgeschichten und Artikel in »The Guardian« und »The Literary Review«; unter dem Namen Joanna Hodgkin schreibt sie außerdem Biografien. Die Autorin verbrachte viele Jahre mit ihrer Familie in Cornwall; heute lebt und arbeitet sie wieder in ihrer Heimatstadt London.

Bei dotbooks veröffentlichte Joanna Hines außerdem ihre Spannungsromane »Das Geheimnis von Chatton Heights«, »Die Frauen von Briarswood Manor« und »Die Schatten von Glory Cottage«.

Ebenfalls erschien bei dotbooks ihre historische Familiensaga mit den Romanen »Die Rosen von Cornwall – Sturmjahre«, »Die Rosen von Cornwall – Sehnsuchtsleuchten« und »Die Rosen von Cornwall – Schicksalslied«.

Die Website der Autorin: joannahines.co.uk

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eBook-Neuausgabe Dezember 2020

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2002 unter dem Originaltitel »Surface Tension« bei Simon & Schuster, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2005 unter dem Titel »Das Haus der Sünden« bei Knaur

Copyright © der englischen Originalausgabe 2002 by Joanna Hines

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2005 bei Knaur Taschenbuch

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/brickrena, Schanks, Aleksandr Stezhkin

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (kb)

ISBN 978-3-96655-335-3

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Joanna Hines

Das Erbe von Grays Orchard

Roman

Aus dem Englischen von Traudl Weiser und Ingeborg Ebel

dotbooks.

Für Hilary,Luke und Sam

DamalsAugust 1976

In jenem Sommer verblich das satte Grün der englischen Landschaft zu pergamentfarbener Blässe. Bäche schrumpften zu Rinnsalen und versickerten dann ganz. Wasserreservoirs waren ausgetrocknet und rissig wie Elefantenhaut. Blauer Himmel und Sonnenschein – Tag für Tag. Aus Wochen wurden Monate.

Das war im Jahr 1976, im Sommer der großen Dürre.

Sechs Freunde bewohnten die hohen, ehemals prächtigen Räume in Grays Orchard und gaben sich an diesen heißen Sommertagen dem Müßiggang hin. Auf dem verdorrten Rasen vor dem Haus lagen Decken und Kissen unordentlich herum. Die Hängematte zwischen den beiden Apfelbäumen im Obstgarten war selten leer. Die Nächte verbrachten die jungen Leute im Freien. Sie lagen auf dem Rücken und versuchten, am Himmel Sternschnuppen zu entdecken.

Eines Vormittags Ende August – noch voll goldenen Dunsts wie an allen Morgen in diesem endlosen Sommer – wachte Gus Ridley erst spät auf. Durch das offene Fenster wehte ein süßer Duft nach Blumen und Heu ins Zimmer. Von draußen konnte er Stimmengemurmel hören und aus der Ferne das Dröhnen eines Mähdreschers. Wieder ein herrlicher, vollkommener Tag.

Er stellte beide Füße fest auf den Holzfußboden, hockte sich auf die Kante der Doppelmatratze, die er meistens mit Katie teilte, und fuhr sich mit der Hand durch sein zerzaustes dunkles Haar. Dann hustete er, griff nach dem Päckchen neben der schiefen Lampe und klopfte die erste Zigarette des Tages heraus. Nachdem er seine abgetragenen Shorts angezogen hatte, tappte er barfuß nach unten in die Küche, schaltete den Wasserkocher ein und löffelte Nescafé aus einem großen Glas in einen Becher. Auf dem Tisch lagen aufgehäuft Tomaten und neue Kartoffeln. Pauline hatte die morgendliche Kühle genutzt und im Garten gearbeitet.

Gus war schon auf dem Weg zur Tür und wollte zu den anderen nach draußen gehen. Doch dann überlegte er es sich anders und blieb im kühlen und dämmrigen Haus. Denn heute wollte er nur Beobachter sein und nicht gesehen werden.

Leise schlich er von Raum zu Raum, blieb kurz an jedem Fenster stehen und betrachtete die Gruppe auf dem Rasen. Er ging ins Wohnzimmer, ins Frühstückszimmer, in die Bibliothek, ins Raucherzimmer, ins Speisezimmer – hochtrabende Bezeichnungen für Räume, die nun nach Bedarf unterschiedlich genutzt wurden, denn sie alle waren nur karg möbliert mit ein paar Kissen, einem ramponierten Lehnstuhl, einem wackeligen Tisch, auf dem ein Stapel Zeitschriften neben einem Teller mit eingetrockneten Essensresten lag. Am meisten wurde das Frühstückszimmer genutzt, denn dort stand in einer Ecke auf dem Fußboden inmitten fächerförmig ausgebreiteter Schallplatten ein Plattenspieler.

Gus liebte diese Räume, den Widerhall der Geräusche und das Wirbeln des Staubs in den Sonnenstrahlen. Jetzt, da er wusste, dass sie nicht mehr lange in Grays Orchard leben würden, quälte ihn seine Liebe zu diesem alten Herrenhaus wie ein stechender Schmerz in der Brust.

Er warf die Kippe in den Kamin, wo sie in einem Spinnennetz über der Asche neben anderen Zigarettenstummeln hängen blieb, und ging nach oben. Durch das Bogenfenster am Treppenabsatz blickte er wieder auf seine Freunde hinunter.

Raymond saß wie immer etwas abseits von den anderen. Die Füße auf den Oberschenkeln ruhend, im Lotossitz glich er mit seinen dunklen, fein geschnittenen Gesichtszügen einem zierlichen indischen Gott ... Doch Gus wusste nie, wo bei Raymond die Pose endete und sein wahres Ich begann. Und er hatte das Gefühl, dass selbst Raymond das nicht genau wusste.

Katie und Harriet bildeten den Mittelpunkt der Gruppe. Natürlich. Zwei so schöne Frauen erregen zwangsläufig überall ungeteilte Aufmerksamkeit. Harriets braunes Haar war von der Sonne gebleicht. Sie war eine majestätische Erscheinung, hochgewachsen und stark. Gus hatte sie immer als Kriegerin oder als Bogenschützin malen wollen. Boadicea muss wie Harriet ausgesehen haben, dachte er. Boadicea in einem geblümten Kleid.

Im Gegensatz zu ihr war die blonde Katie mit ihren blauen Augen und dem Strohhut die Verkörperung rosiger Weiblichkeit. Während Gus die beiden beobachtete, lachte Katie, beugte sich vor und presste ihr Ohr auf Harriets Bauch. Harriet schob sie lächelnd von sich. Zu früh, sagte sie wohl; es ist viel zu früh, um eine Bewegung des Babys zu fühlen.

Trauer überkam Gus wie ein durchdringender Schmerz. Schon jetzt war Harriets ungeborenes Kind das wichtigste Mitglied ihrer Gruppe. Raymond rezitierte zweifelsohne irgendein Mantra, um die überragende spirituelle Bedeutung dieses Kindes zu beschwören. Das erste Grays-Orchard-Baby.

Seit feststand, dass Harriet schwanger war, erging sich die Gruppe in ihrer Freizeit – und die war in diesem Sommer schier unbegrenzt – in endlosen Diskussionen über die Erziehung dieses Kindes. »Es soll anders aufwachsen als wir«, war die einhellige Meinung. Andrew hatte schon geeignetes Holz für eine Wiege ausgewählt; Katie und Harriet diskutierten unaufhörlich über passende Namen, und Pauline – Gott steh ihr bei! – hatte Stricknadeln und ein Knäuel zitronengelbe Wolle gekauft.

Gus war zum Weinen zumute. Seine Freunde hielten dieses harmonische und zufriedene Leben wirklich für die Basis ihres zukünftigen Glücks. Doch er hätte ihnen sagen können, dass ihre Zeit zu Ende ging und ihre schönsten Tage bereits der Vergangenheit angehörten.

Etwas später war er in seinem Atelier, dem hohen, gewölbten ehemaligen Apfelspeicher, in dem noch immer der säuerliche Geruch faulender Äpfel hing. An den Wänden, auf Stühlen und an Staffeleien lehnten die Bilder für seine nächste Ausstellung. Alle zeigten Mitglieder der Gruppe bei den idyllisch ländlichen Tätigkeiten, die sie so liebten: Andrew hackte Holz; Pauline streute Getreide für ihre braunen Hühner; Harriet jätete Unkraut in ihren Gemüsebeeten.

Seine erste Ausstellung im letzten Jahr war ein durchschlagender Erfolg gewesen. Händler, Galeristen und private Käufer hatten sich gegenseitig überboten und seine ersten zwanzig Gemälde mit dem Thema »die Freunde in Grays« gekauft. Die Bilder – im Grays-Orchard-Stil gemalt – waren von Kritikern als »traumhaft«, »faszinierend« und »brillant« bezeichnet worden.

Doch wenn Gus könnte, würde er alle Bilder zurückkaufen, um sie zu zerstören. Das Licht, das die Betrachter so entzückte, war nur Schein, das begriff er jetzt.

Er trat einen Schritt zurück und musterte mit halb zusammengekniffenen Augen die Leinwand auf der Staffelei. Er hatte das Bild im Frühling gemalt: Eine Gestalt lag in der Hängematte, im leuchtenden Schimmer der blühenden Apfelbäume. In einer Kaskade aus Licht.

Eine hinterhältige Lüge.

Er griff nach einem weichen Pinsel und drückte Farbe darauf, so dass die Borsten wie die mit Pollen beladenen Beine einer dicken Hummel aussahen. Dann konzentrierte er sich und malte die Schatten.

Eine Katastrophe stand bevor. Er wusste nicht, wie oder wann sie eintreten würde, aber er wusste, dass sie kommen würde.

Sie war unabwendbar.

Kapitel 1

Plötzlich nahmen ihre Gesichter im Nebel Konturen an wie die eines Fotos von einer Sofortbildkamera. Die junge Frau hatte ich mir ganz anders vorgestellt, aber ich erkannte sie sofort.

Sie sah jünger aus, eher wie siebzehn oder achtzehn, obwohl sie Mitte zwanzig war. Sie hatte strähniges blondes Haar, und ihr spindeldürrer Körper war in mehrere Schichten Kleidung gehüllt. Ihr kantiges Gesicht sah verkniffen aus. Sie hätte attraktiv aussehen können, hätte sie gelächelt. Aber das tat sie nicht. Ihr Gesicht strahlte eisige Kälte aus.

Und sie ging gerade mit meinem Mann in den Turk's Head. Da der Verkehr in der Sturford High Street fast zum Erliegen gekommen war, hatte ich Zeit genug, die beiden zu beobachten.

Es ist seltsam, dass man jemanden, den man gut kennt und plötzlich unerwartet sieht, mit ganz anderen Augen – den einer Fremden – betrachtet, so als würde man unerwartet einen Blick in sein eigenes Unterbewusstsein werfen.

Dieser flüchtige Blick zeigte mir einen Mann von fast fünfzig, groß und distinguiert, mit graumeliertem Haar, das hagere Gesicht von Sorgen gezeichnet und nachlässig gekleidet. Da ich jedoch wusste, dass der Mann Gus war, korrigierte ich meine Wahrnehmung sofort, damit sie zu dem geliebten Ehemann passte: seine charaktervollen Gesichtszüge – er war weitaus attraktiver als die meisten jüngeren Männer; sein abgetragenes Tweed-Jackett und die zerknitterten Cordhosen waren Ausdruck seines unkonventionellen Lebensstils. Schließlich trägt kein Künstler Anzug und Krawatte und malt Bilder. Und es war kaum verwunderlich, dass Gus besorgt aussah, denn er musste sich zur Zeit um viel kümmern.

Präzise ausgedrückt: Er musste sich um Jenny Sayer kümmern.

Wäre Jenny etwas diplomatischer vorgegangen, wäre ihm diese erste Begegnung mit seiner ihm unbekannten Nichte nicht so schwer gefallen. Erst ein halbes Jahr nach ihrer Ankunft aus Australien hatte sie Kontakt mit Gus aufgenommen und sich dann geweigert, bei uns in Grays Orchard zu wohnen, sondern darauf bestanden, sich in der vier Meilen entfernten Travelodge einzuquartieren. Gestern war sie dort angekommen, hatte uns jedoch zwei Tage zuvor mitgeteilt, sie wolle sich unbedingt zuerst mit ihrem Onkel allein treffen und dann vielleicht auch mich kennen lernen.

»Für wen hält sie sich eigentlich?«, hatte sich Gus über ihren Brief empört, in dem sie diese Bedingungen gestellt hatte. »Mir kommt es vor, als würden wir einem Test unterzogen. Ich sage ihr ab. Entweder wir sehen uns alle drei oder überhaupt nicht.«

Aber ich hatte ihn überredet, dieses Treffen von ihrem Standpunkt aus zu sehen. Bestimmt hatte sie Angst vor der ersten Begegnung mit dem ihr fremden Onkel, der obendrein noch ein berühmter Maler war. Wenn sie glaubte, auf diese Weise leichter ihre Hemmungen überwinden zu können, so hatte ich damit kein Problem.

»Okay«, hatte Gus schließlich nachgegeben. »Sie soll ihren Willen haben. Ach, Carol, was würde ich nur ohne dich tun?«

Er glaubte, ich wollte dieser fremden jungen Frau aus Freundlichkeit den Weg ebnen, dabei tat ich es aus reiner Neugier, denn Jenny stellte ein Bindeglied zu jenem Leben dar, das er vor unserer Ehe geführt hatte. Vor vielen Jahren. Damals war ich noch ein Kind gewesen und Jenny noch nicht einmal geboren.

Ich steckte noch immer im Stau, als die beiden vor dem Turk's Head ankamen. Gus trat beiseite, um seiner Nichte den Vortritt zu lassen. Sie schien mit dieser höflichen Geste nichts anfangen zu können, denn ihr Gesicht wirkte noch angespannter. Entweder war sie es nicht gewöhnt, dass Männer ihr den Vortritt ließen, oder sie deutete Gus' Höflichkeit als sexistische Demütigung. Als er ihren Ellbogen umfasste, schüttelte sie seine Hand ab, wäre jedoch beinahe über die unebene Türschwelle gestolpert, so dass Gus doch nach ihrem Arm greifen musste, damit sie nicht hinfiel.

Armer alter Gus, dachte ich mitleidig. Es sieht nicht danach aus, als würde ihm seine Nichte viel Freude machen. Da der Stau sich auflöste, warf ich einen letzten Blick zurück. Gus stand noch in der Pub-Tür aus dem achtzehnten Jahrhundert, verschwand jedoch gleich darauf im Innern. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, mir einen Parkplatz zu suchen und mich den beiden anzuschließen. Mit ein bisschen Glück könnte ich Jenny dazu bringen, in mir eine Verbündete zu sehen, und Gus würde sich über meinen Beistand bestimmt freuen. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Verdammt! Ich hatte Brian versprochen, auf der Baustelle sein, wenn die Kaufinteressenten um ein Uhr kamen.

Am Stadtrand von Sturford, hinter dem Kreisverkehr, wo die Umgehungsstraße in der Nähe der Travelodge und des neuen Superstores in die Hauptstraße mündet, kam ich trotz des dichten Nebels zügiger voran. Ich schaltete die Scheinwerfer ein.

Vor der schäbigen Elim-Kapelle stand auf einem orangefarbenen Pappschild mit Hand geschrieben: Überlasst eure Sorgen Christus, dem Herrn. Er wacht Tag und Nacht.

Ich musste lächeln und nahm mir vor, Gus heute Abend davon zu erzählen. Armer Jesus Christus, dachte ich. Die ganze Nacht muss er aufbleiben und sich die Klagen der Leute anhören. Er tat mir richtig Leid. Aber wenigstens musste Er sich nicht um meine Sorgen kümmern.

»Wie schade, dass es bei deinem ersten Besuch in Grays Orchard so nebelig ist. Du kannst gar nicht sehen, wie schön das Haus ist.«

»Na und? Das ist mir doch egal. Schließlich ist es nur ein Haus. Was soll daran so besonders sein?«, antwortete Jenny kalt.

»Naaa jaa ...«, wandte ich ein, schaute Gus an, aber er wich meinem Blick aus. »Deiner Mutter muss es sehr viel bedeutet haben.«

»Aber das hat doch mit mir nichts zu tun«, sagte Jenny schulterzuckend.

Ich war erst seit zwanzig Minuten zu Hause und schon an einem Punkt angelangt, wo ich aufgeben wollte. Normalerweise gelingt es mir, auch die eisigsten Gäste aufzutauen, aber Jenny weigerte sich beharrlich, mitzuspielen. Für oberflächliche Konversation hatte sie offensichtlich nichts übrig, aber wie sollte ich sonst mit ihr ins Gespräch kommen? Da mir Jenny jedoch Leid tat, bemühte ich mich, Verständnis für ihr schroffes Verhalten aufzubringen. Auf der Suche nach ihren Wurzeln hatte sie die weite Reise von Australien nach England gemacht, und da ihre Geburt von einer Tragödie überschattet worden war, wunderte es mich nicht, dass es für sie schwierig war, mit dieser Situation umzugehen. Als ich jedoch daran dachte, wie viel Mühe ich mir gegeben hatte, sie herzlich in Grays Orchard aufzunehmen, wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Ich hätte an der Einfahrt zum Grundstück ein Schild »Zutritt verboten« aufstellen und alle Türen verbarrikadieren sollen – was ich aber natürlich nicht tat.

Während ich die Poularde in den Ofen schob, machte ich noch einen Versuch, mit ihr ins Gespräch zu kommen, und sagte: »Wie auch immer, Hauptsache, du bist endlich hier. Gus und ich hatten schon befürchtet, du würdest überhaupt nicht nach Sturford kommen.«

Jenny reagierte weder auf meine Worte noch auf mein Lächeln auch nur mit einem Anflug von Herzlichkeit, als sie antwortete: »Ich wäre auch nicht gekommen, hätten mir die Karten nicht dazu geraten.«

»Die Karten?«

»Du kennst doch Tarotkarten?« Ihre australische Ausdrucksweise ließ die Frage wie eine Feststellung klingen. »Vor ein paar Wochen habe ich mir die Karten legen lassen, und dabei ist eine völlig verrückte Kombination herausgekommen. Die Kartenlegerin wusste sie nicht zu deuten, bis ich ihr von diesem Haus, meinem Dad und ... tja, eben alles erzählt habe. Sie sagte, es sei mir vorherbestimmt, hierher zu kommen.«

»Du glaubst doch nicht etwa wirklich an diesen Wahrsagequatsch, oder?«, entgegnete ich lachend. Natürlich hätte ich das nicht sagen dürfen, aber da ich Gus' Skepsis diesen Dingen gegenüber kannte, wollte ich ihr seine negative Antwort ersparen.

Zu meiner Überraschung enthielt er sich jedoch eines Kommentars und schaute Jenny nur nachdenklich an. Beschwichtigend fügte ich hinzu: »Ich kann mir vorstellen, dass es Spaß macht, sich die Karten legen zu lassen, aber dahinter steckt doch keine tiefere Bedeutung.«

»Wie willst du das wissen?«, herrschte Jenny mich an. »Nur weil das Kartenlesen nicht wissenschaftlich begründet ist?« Sie suchte bei Gus Unterstützung und sagte: »Du hältst es nicht für Unsinn, oder, Gus? Dein Freund Raymond hätte gewusst, wovon ich rede. Bestimmt habt ihr früher alle diese Dinge ausprobiert: Tarot und I-Ging und Alphabettafeln für spiritistische Sitzungen, nicht wahr?« »Schon möglich. Aber leider kann ich mich daran nicht mehr erinnern. Das alles ist schon so lange her.«

Jennys offensichtliche Enttäuschung wunderte mich nicht. Normalerweise begegnet Gus seinen Gästen mit herzlicher Wärme, doch seiner Nichte gegenüber verhielt er sich äußerst formell und höflich. Jedes Mal, wenn er mit ihr sprach – was er nur tat, wenn es unbedingt nötig war –, hatte ich das Gefühl, er hielt sie auf Distanz. Er überließ es mir, ihr die Befangenheit zu nehmen.

Deshalb sagte ich leichthin: »Ach, Raymond Tucker hat immer in einer Märchenwelt gelebt. Das sieht man schon an den Bildern, die Gus von ihm gemalt hat, nicht wahr, Gus?«

Ohne mir einen Blick zu gönnen, sagte Gus kühl: »Das weiß ich nicht, Carol. Darüber habe ich nie nachgedacht.« Diese Antwort war nicht nur lächerlich, sondern sie machte mich auch noch zur Idiotin.

Ich fing an, mich zu ärgern. Ich gab mir nicht nur größte Mühe, damit sich Jenny bei uns wohl fühlte, sondern ich musste auch noch das Abendessen kochen. Freitags lud mich Gus normalerweise zum Essen ein. Wir gingen dann aus, oder er kochte Pasta zu Hause, und wir sahen uns einen Videofilm an. Ich arbeite sehr hart und lasse mich am Wochenende gern ein bisschen verwöhnen. Entweder hatte Gus vergessen, welcher Wochentag heute war, oder die Ankunft seiner Nichte hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Und von Jenny konnte ich keine Hilfe erwarten. Also unterdrückte ich meinen Ärger und wusch und schnitt das Gemüse.

Da sagte Jenny zu Gus: »Bei der Deutung der Tarotkarten ging es nur um dich. Na ja, um dich und mich, natürlich.« Sie sah mich herausfordernd an und fügte hinzu: »Niemanden sonst.«

»Ach, tatsächlich?«, sagte Gus.

»Was hält denn deine Mutter von dem Ganzen?«, fragte ich.

»Wir haben nie darüber geredet«, entgegnete Jenny kategorisch, wandte mir den Rücken zu, beugte sich über den Tisch und fragte Gus: »Hast du noch ein paar von den Porträts, die du früher gemalt hast?«

»Nein. Leider wurden alle bei den Ausstellungen verkauft.«

»Und warum bedauerst du das?«

»Weil ich sie gern alle zerstört hätte.«

Als Jenny schockiert ihren Stuhl nach hinten kippte, warf ich schnell ein: »Die beiden Ausstellungen waren ein Riesenerfolg. Oliver, Gus' Galerist, hat gesagt, er hätte alle Bilder fünfmal verkaufen können.«

Das wusste ich von Oliver, mit dem er auch nach fünfundzwanzig Jahren noch zusammenarbeitete und der ständig wiederholte, obwohl es sinnlos war: »Wie schade, dass du keine Porträts mehr malst, Gus. Die Bilder deiner ersten beiden Ausstellungen hätte ich fünfmal verkaufen können.« Oder bis zu zehnmal, je nachdem, in welcher Stimmung er war. Woraufhin Oliver jedes Mal einlenkte und hinzufügte: »Natürlich darf ein Künstler mit deiner Begabung nur seinen Intuitionen folgen und kann nicht Bilder auf Bestellung malen.«

Dies sagte er immer mit einem wehmütigen Unterton, als wünschte er sich nichts mehr, als dass Gus Auftragsbilder herstellen würde. Die Stillleben und abstrakten Bilder, die Gus jetzt malte, verkauften sich zwar gut, reichten jedoch längst nicht an den Erfolg der ersten beiden Ausstellungen heran.

»Aber die Reproduktionen hast du bestimmt gesehen, oder?«, sagte ich zu Jenny.

»Ja, ein paar in Zeitschriften und so. Aber das ist eine Ewigkeit her, und ehrlich gesagt, habe ich mich damals nicht besonders dafür interessiert.«

»Harriet hat dir doch sicher die Ausstellungskataloge gezeigt?«, hakte ich nach.

»Kann schon sein. Das weiß ich nicht mehr. Sie wird nicht gern an das alles erinnert, was nur zu verständlich ist.« »Trotzdem ...«, wandte ich ein und trocknete mir die Hände ab. »Oliver hat Gus' Bilder in den Katalogen phantastisch präsentiert, und es heißt, die Auflage sei mittlerweile bei Sammlern sehr begehrt. Wir haben je ein Exemplar von den Katalogen da. Ich hole dir beide.«

Als Gus aufstand, dachte ich, er wollte mir anbieten, sie selbst zu holen, doch stattdessen sagte er: »Bemüh dich nicht, Carol. Ich glaube nicht, dass Jenny sie jetzt sehen will.«

Den leicht warnenden Unterton in seiner Stimme ignorierte ich, weil ich sah, dass Jenny – obwohl sie das nie zugeben würde – vor Neugier fast platzte. Also sagte ich fröhlich: »Natürlich ist sie daran interessiert. Nicht wahr, Jenny?«

»Wie ihr meint«, entgegnete Jenny scheinbar gleichgültig, doch ihre grauen Augen drückten verzweifeltes Interesse aus.

»Vielleicht morgen«, beharrte Gus.

»Nein, nein. Ich hole die Kataloge jetzt. Ich weiß, wo du sie aufbewahrst.«

Ich verstand nicht, warum Gus die Kataloge Jenny nicht zeigen wollte, und ich war über sein wütendes Gesicht verwundert, als ich an ihm vorbei zur Tür ging. Aber ich ließ mich davon nicht beirren. Jenny mochte zwar unhöflich und schwierig sein, aber sie hatte ein Recht darauf, die Bilder zu sehen, die Gus und ihre Eltern berühmt gemacht hatten, wenn auch nur für kurze Zeit. Wahrscheinlich war Gus' eigenartiges Verhalten nur auf seine Bescheidenheit zurückzuführen.

Stille wirkt im Nebel intensiver. Der alte Apfelspeicher – noch immer Gus' Atelier – liegt gegenüber der Küche, in der wir saßen. Doch an diesem Aprilabend kam es mir vor, als wäre er eine Meile entfernt. Das Erdgeschoss des hohen Gebäudes wird als Garage und Lagerraum genutzt. Eine diagonal verlaufende Treppe führt zur Speichertür hinauf. Die Stufen waren glitschig, und von der Dachrinne tröpfelte es. Das Wetter ähnelte eher einem Tag im November als im April.

Als ich die Ateliertür aufstieß und Gus' Refugium betrat, wurde mir bewusst, wie selten ich allein hierher ging. Ich ließ mir Zeit, denn Jenny würde mich kaum vermissen, und ich brauchte ein paar Minuten des Alleinseins, um mich auf den vor uns liegenden, sicher schwierig werdenden Abend vorzubereiten.

Ein Rascheln – wahrscheinlich eine Maus im Dachgebälk – ließ mich zusammenschrecken, und ich hatte das Gefühl, als würde ich gleich ein Mitglied der Grays-Orchard-Gruppe am Fenster stehen sehen. Ein solches Gefühl überfällt mich oft wie ein plötzliches Echo. Vielleicht sind Geister nichts als zurückgebliebene Echos.

Manchmal frage ich mich, ob es möglich ist, etwas zu vermissen, was man nie gekannt hat. Wenn ja, dann vermisse ich die Jahre, in denen Grays Orchard voller Lachen, Gespräche und Lieder gewesen ist. Das Haus ist für Gus und mich zu groß, aber wir haben nie im Traum daran gedacht, es zu verkaufen. Manchmal stelle ich mir vor, die Gruppe nach Grays Orchard einzuladen, damit alle sehen können, wie glücklich Gus jetzt wieder ist – mit mir. Alle wären mir herzlich willkommen: Harriet und Raymond und Pauline, sogar Katie. Aber nicht Jennys Vater. Andrew nicht.

Ich drehte mich wieder um und nahm die beiden Kataloge vom Regal. Der erste trägt den schlichten Titel: Gus Ridley in Grays Orchard und zeigt auf dem Einband ein Porträt von Jennys Mutter, Harriet, im Arm eine weiße Gans mit langem Hals. Sogar ich – ohne ausgeprägten Kunstverstand – begreife, warum diese erste Ausstellung ein so durchschlagender Erfolg gewesen ist. Gus hatte seine Freunde bei ihren pseudoidyllischen Lieblingsbeschäftigungen dargestellt: Andrew putzt sein Gewehr oder Pauline füttert ihre Hühner, aber auf eine so vergeistigte, überirdische Weise, die den Gemälden jeden Hauch von Pralinenschachtel-Kitsch nahm. Manchmal, wenn ich mein weniger glamouröses Leben lebe, stelle ich mir vor, dass Gus eine ganze Reihe von Porträts malt: Carol schaufelt Schlamm aus dem Abflussrohr oder Carol schläft vor dem Fernseher ein. Aber das würde er nie malen. Niemals. Obwohl ich auf einem Bild gut aussehen würde. Gus hat kein einziges Porträt mehr gemalt, nachdem die Gruppe auseinander ging.

Den Einband dieses zweiten Katalogs zierte Gus' berühmtestes Porträt: Katie, so wie sie ist. Das Bild war als eine der größten Verherrlichungen erotischer Liebe des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnet worden. Katie war offensichtlich eine atemberaubend schöne Frau gewesen, und sie und Gus hatten sich wohl sehr geliebt. So sehr, dass Gus nie wieder eine feste Beziehung eingegangen war, bis er mich kennen lernte.

Diese zweite Ausstellung hieß Schatten im Garten Eden, was sofort zu erkennen war. Auf diesen Bildern war das Licht anders, irgendwie bedrohlich, und Schatten verdunkelten das strahlende Sonnenlicht. Wenn Gus zu sehr unter Druck stand, übermalte er seine Bilder mit dunkler Farbe. Einmal, ein paar Jahre nachdem die Grays-Orchard-Gruppe auseinander gebrochen war, hatte er in New York kurz vor einer Ausstellung alle seine Bilder geschwärzt. Deshalb hatten Galeristen noch immer Bedenken, eine Ausstellung für ihn zu arrangieren. Ich fragte mich, ob er das jetzt wieder tun würde. Seit Jenny mit uns Kontakt aufgenommen hatte, hatte er sich verändert, wenn ich auch nicht definieren konnte, in welcher Hinsicht.

Als ich gerade wieder gehen wollte, entdeckte ich auf einer Staffelei eine mit einem alten Tuch bedeckte Leinwand. Da Gus mich immer dazu ermutigte, auch seine noch nicht vollendeten Bilder zu begutachten, hob ich, ohne zu zögern, das Tuch hoch und schlug es oben über die Staffelei zurück.

Mir stockte der Atem, und ich trat einen Schritt zurück.

Er hatte ein Porträt gemalt, das Porträt seiner Nichte – sein erstes Porträt seit fünfundzwanzig Jahren, aber in einem ganz anderen Stil, mit der Kraft und Intensität des ersten Eindrucks skizziert.

Arme Jenny. Wenn sie wüsste, wie ihr Onkel sie sah. Kein Wunder, dass sie am Eingang zum Turk's Head vor ihm zurückgewichen war.

Fast die ganze Leinwand bedeckte eine riesige, trichterförmige Blume – ein Hibiskus oder eine Amaryllis oder eine geheimnisvolle Dschungelblüte. Das dunkelbraune Rot sah wie rohe Leber oder getrocknetes Blut aus oder wie die geschwollenen Schamlippen einer Frau. Aus den fleischigen Blütenblättern ragten der Kopf und der Torso einer jungen Frau – offensichtlich Jennys. Hätte ich sie nicht gekannt, hätte ich das Gemälde für die Abbildung eines Dämons aus einem von Gus' Albträumen gehalten. Die Haut war blass, fast bläulich wie die Haut einer Toten, und spannte sich so straff über den Schädel und das Skelett, dass ihr Körper wie eine grauenhafte Karikatur aussah. Wangen und Brüste waren graue Schatten. Ihr schmerzverzerrtes Gesicht wirkte Mitleid erregend und gleichzeitig abstoßend und drückte ein Leid aus, vor dem man nur fliehen kann, weil es durch nichts zu lindern ist. Am obszönsten war jedoch, dass der aus der Blüte ragende Torso der jungen Frau in den halb geformten, gekrümmten Beinen eines Fetus' endete. Der Anblick war grotesk, als würde der Betrachter gezwungen, die Entblößung eines widerlichen Geheimnisses mit anzusehen, das besser verhüllt geblieben wäre.

»Wo steckst du so lange?«

Ich fuhr herum. Ich war derart in den Anblick des Porträts versunken gewesen, dass ich Gus nicht hatte kommen hören. Mit ein paar Schritten durchquerte er sein Atelier und deckte das Tuch wieder über die Leinwand.

»Spionierst du hinter mir her, Carol?«

Diese Anschuldigung war so empörend, dass seine Worte mir kurz die Sprache verschlugen. Gus hatte mich immer ermutigt, seine Bilder zu betrachten und meine Meinung dazu abzugeben. Warum reagierte er bei diesem Porträt so anders?

»Hast du das gemalt?«

»Natürlich, oder glaubst du etwa, ich stelle mein Atelier anderen Künstlern zu Verfügung? Mach dich doch nicht lächerlich, Carol.«

»Ich dachte, du malst keine Porträts mehr.«

»Das ist doch nur eine Skizze und hat nichts zu bedeuten.

Hast du die Kataloge gefunden?«, sagte er lächelnd, aber sein Lächeln war falsch, denn es passte ihm nicht, dass ich Zeugin seiner wütenden Reaktion geworden war. »Komm jetzt mit. Jenny brennt darauf, die Kataloge zu sehen.« Als ich noch immer nicht reagierte, fügte er mit vorgetäuschter Beiläufigkeit hinzu: »Hör mal, Carol. Das ist keine große Sache, sondern nur so eine Idee, mit der ich rumgespielt habe. Morgen nehme ich mir das Bild wahrscheinlich noch einmal vor.«

Gus versuchte auf plumpe Weise, mir einzureden, das Porträt habe nichts zu bedeuten, obwohl er wissen musste, dass ich ihm nicht glauben würde. Sein erstes Porträt nach fünfundzwanzig Jahren – keine große Sache? Nur eine Skizze, deren Ausstrahlung so kraftvoll und überwältigend war, dass ich sie sogar durch das Tuch hindurch fühlen konnte.

»Bleib hier, wenn du willst«, sagte er. »Ich gehe ins Haus zurück.«

»Warum macht diese junge Frau einen derart starken Eindruck auf dich?«, fragte ich.

»Das hat nichts mit ihr zu tun.«

Noch eine Lüge. Doch ehe ich protestieren konnte, hörten wir ein Auto auf den Hof fahren. Gus warf einen Blick zum Fenster und fragte: »Wer kann denn das sein?«

»Ich nehme an, Brian. Er hat versprochen, mir ein paar Kostenvoranschläge zu bringen, damit ich sie am Wochenende überarbeiten kann.«

»Brian? Ich frage mich, ob er auf einen Drink bleiben will«, sagte Gus. Er wartete meine Antwort jedoch nicht ab, sondern lief schnell die Außentreppe hinunter in den Hof.

Dieser ungewohnte Eifer, mit dem Gus Brian zu einem Drink einladen wollte, bestätigte meinen Argwohn. Normalerweise betrachtet Gus meinen Geschäftspartner als notwendiges Übel. Er behandelt ihn zwar freundlich, aber nur, um nicht unhöflich zu wirken. Noch nie hatte er Brian ermutigt, uns zu besuchen. Und diese Einladung bewies, wie verzweifelt Gus mich von diesem Bild ablenken wollte.

Nachdenklich schloss ich die Ateliertür hinter mir, ging die Treppe hinunter, durch den nieselnden Nebel über den Hof und folgte den beiden Männern in die Küche.

Da Brian und Gus absolut nichts gemeinsam haben, bin ich das einzige Bindeglied zwischen den beiden, wenn wir zu dritt zusammensitzen. Dabei komme ich mir jedes Mal wie eine wackelige Hängebrücke aus Seilen vor und versuche angestrengt, den tiefen Abgrund zu überspannen.

Gus ist fünfzehn Jahre älter als ich; Brian fünf Jahre jünger. Gus ist groß und dunkel und auf eine herbe Art gut aussehend. Brian ist untersetzt und stark, er hat kupferrotes Haar und Sommersprossen. Gus ist Maler und Brian Bauunternehmer. Gus hat die ganze Welt bereist und ein interessantes und exotisches Leben geführt; Brian hat die dreißig Jahre seines Lebens ausschließlich im Umkreis von Sturford verbracht. Ich könnte die Liste der Unterschiede endlos weiterführen, doch das ist nicht nötig.

Gus erhoffte sich wohl von der Anwesenheit eines neutralen Außenseiters einen etwas entspannteren Verlauf unseres ersten Abends mit Jenny. Ich war mir da nicht so sicher. Aber natürlich konnte ich weder Gus' Einladung auf einen Drink und zum Abendessen widersprechen. Schließlich hatte Brian die Neugier auf Jenny hierher geführt, denn ihn interessierte alles, was mit mir zu tun hatte.

Anfangs schien es, als behielte Gus Recht, denn Brian war offenherzig und fröhlich und gab sich große Mühe, freundlich zu Jenny zu sein. Sie tat ihm wahrscheinlich Leid, genau wie mir. Jenny reagierte mit ihrer gewohnt unwirschen, frostigen Art, doch wir drei konnten über unsere Arbeit und örtliche Angelegenheiten reden, was Gus wohl beabsichtigt hatte. Ich zerbrach mir noch den Kopf über dieses grauenhafte Bild und konnte es kaum erwarten, endlich mit Gus allein zu sein, um mit ihm darüber zu reden. Doch im Augenblick sah es so aus, als würden wir dank Brian und einer Menge Alkohol den Abend ganz gut überstehen.

Gus, der selten mehr als ein paar Gläser Wein trinkt, hatte sich einen großen Whisky eingeschenkt, und Jenny schloss sich ihm an. Ich weiß nicht, ob das ihr Lieblingsgetränk war oder ob es am Stress ihres ersten Besuchs bei uns lag – jedenfalls kippte sie ein paar Drinks, ehe ich das Essen auftrug. Und dann floss der Wein. Auch ich trank mehr als gewöhnlich, aber bedeutend weniger als Gus und Jenny. Nur Brian hielt sich an einem Bier fest und blieb stocknüchtern, weil er noch Auto fahren musste.

Zu spät fiel mir ein, dass auch Jenny mit dem Auto von der Travelodge hierher gefahren war und in diesem Zustand auf keinen Fall später am Abend zurückfahren könnte. Da ich sie jedoch nicht einmal ansehen konnte, ohne an das Porträt zu denken, hatte ich keine Lust, sie bei uns übernachten zu lassen.

Wir saßen beim Hauptgericht, einer Poularde, als Gus anfing, sich allmählich zu entspannen. Er und Brian hatten über die geplante Schließung des Viehmarkts in Sturford und über die Pläne des Stadtrats diskutiert, auf dem Gelände einen Supermarkt bauen zu lassen.

»Herrgott«, sagte Gus wütend, »das Letzte, was Sturford braucht, ist ein neuer Supermarkt. Warum wird auf dem Grundstück nicht ein Park angelegt oder sonst was wirklich Nützliches gebaut?«

»Und wo soll das Volksfest am Bankfeiertag stattfinden?«, stimmte Brian zu, der sich nie auf eine hitzige Debatte einließ. »Seit ich mich erinnern kann, wurde dieses Gelände dafür genutzt.«

»Ein Volksfest?«, mischte sich Jenny plötzlich interessiert in die Unterhaltung ein. Bisher hatte sie nur mürrisch in ihrem Essen auf dem Teller herumgestochert. »Ist das dasselbe Volksfest, wo ...« Sie beendete den Satz nicht. Gus musterte sie mit gerunzelter Stirn, während sie nach einem Schluck Wein hinzufügte: »Ich meine, ist das das Volksfest, wo der Mann gearbeitet hat ... du weißt schon, als mein Vater ...«

Wir alle hatten zwar gewusst, dass irgendwann das Gespräch darauf kommen würde, aber Gus hatte wohl gehofft, davon verschont zu bleiben.

»Andrew Forester war Ihr Vater, nicht wahr?«, warf Brian hilfsbereit ein. »Ich nehme an, Gus hat Ihnen alles von ihm erzählt.«

Gus warf ihm einen bösen Blick zu, ehe er aalglatt sagte: »Dieses Thema stand nie zur Debatte. Jennys Mutter hat ihr bestimmt alles darüber erzählt, was sie wissen wollte.«

»Sie erzählt mir nie irgendwas!«, platzte da Jenny heraus – zu laut und zu vehement. Sie schwächte ihre heftige Reaktion jedoch sofort ab und murmelte: »Außerdem höre ich ihr sowieso nie zu.«

»Carol«, sagte Gus, »diese Poularde ist einfach köstlich.« Jenny blieb jedoch hartnäckig und sagte mit vom Alkohol geröteten Wangen und glänzenden Augen: »Ich will alles über meinen Vater wissen.«

»Natürlich willst du das«, sagte Gus mit einem so falschen, verständnisvollen Unterton in der Stimme, dass ich mich innerlich wand. »Ich erzähle dir gern alles, was du wissen willst. Andrew war sehr geschickt mit den Händen und konnte fast alles reparieren. Ich frage mich, ob du ihm ähnelst.«

»Nein, das meine ich nicht«, entgegnete Jenny zunehmend frustriert. »Ich will nicht wissen, wie er war. Ich meine, das interessiert mich natürlich auch, aber ...«

»Gibt es irgendetwas Besonderes, das Sie über Ihren Vater in Erfahrung bringen möchten, Jenny?«, kam Brian ihr zu Hilfe.

»Ja, mich beschäftigt vor allem die Frage, wie er gestorben ist. Als ich klein war, hat mir Mum erzählt, er sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«

»Vielleicht hielt sie es für besser, dir diese Version zu erzählen«, warf ich sanft ein, erntete dafür jedoch nur einen giftigen Blick.

»Sie ist erst kurz vor meiner Abreise nach England mit der Wahrheit rausgerückt. Sie hat gesagt, sie wolle mir den Schock ersparen, sollte ich die Wahrheit herausfinden. Aber die hätte sie mir schon vor Jahren sagen müssen. Und sie wolle mir keine Einzelheiten erzählen, weil es sie zu sehr aufrege, darüber zu sprechen.«

»Das ist doch nur zu verständlich«, wagte ich wieder einzuwerfen, wappnete mich jedoch dieses Mal gegen einen weiteren giftigen Blick.

Da Gus schwieg, sagte Brian sanft: »Ich kann gut verstehen, dass Sie wissen wollen, wie Ihr Vater gestorben ist.« »Ja. Jetzt weiß ich zwar, dass er ermordet wurde, aber niemand hat mir gesagt, wie es passiert ist. Ich kann das einfach nicht begreifen. Und da habe ich gedacht ...« Sie wandte sich Gus zu, und für einen Augenblick verrutschte ihre feindselige Maske, als sie ihn anflehte: »Ich dachte, du würdest es mir erzählen, Gus. Ich meine, du warst dabei, als es passiert ist. Du kannst mir sagen, wie mein Vater ermordet wurde.«

Kapitel 2

Jeder Einwohner Sturfords – und dazu gehörten auch Brian und ich – kannte die Geschichte über den Mord in Grays Orchard. Mindestens sechs Monate lang hatten alle darüber geredet, und obwohl die Erwachsenen die negative Presse missbilligten, liebten wir Kinder den Medienrummel und die in Zeitungen veröffentlichten Namen und Fotos. Fasziniert verfolgten wir die gerichtliche Untersuchung und waren zutiefst enttäuscht, als der Haupttatverdächtige ein paar Monate später bei einem Streit getötet und der Fall abgeschlossen wurde. Die Gerüchte hielten sich jedoch noch lange. Jeder hatte eine Lieblingstheorie, obwohl die Fakten ziemlich eindeutig waren.

Gus Ridley, seine Halbschwester Harriet und vier Freunde hatten damals seit fast zwei Jahren in Grays Orchard in einer Art Hippie-Kommune gelebt – wie die Bewohner von Sturford behaupteten.

»Wir waren keine Hippies, und es war keine Kommune«, pflegte Gus stets empört zu sagen.

Aber der zweifelhafte Ruf war an der Gruppe hängen geblieben. Und wir hatten von den dort herrschenden lockeren Sitten gehört.

»Alles nur wilde Übertreibungen«, behauptete Gus stets beharrlich. »Die Leute haben über uns geredet, als hätten wir die letzten Tage von Sodom und Gomorrha wieder aufleben lassen.«

Wie jedes Jahr im August hatte in Sturford am Bankfeiertag ein Volksfest stattgefunden, und die Grays-Orchard-Gruppe hatte beschlossen, es gemeinsam zu besuchen. Aber Harriet hatte sich im letzten Augenblick entschieden, doch lieber zu Hause zu bleiben, weil sie sich nicht wohl fühlte.

Sie schlief, als ein Einbrecher ins Haus eindrang, und der Mann vergaß wohl beim Anblick der schlafenden Frau seine ursprüngliche Absicht, etwas stehlen zu wollen. Da Andrew Forester unerwartet nach Hause kam, stellte er den Täter und wurde von diesem mit einem Messer niedergestochen. Als der Krankenwagen eintraf, war Andrew bereits tot, und zu diesem Zeitpunkt war auch Gus wieder zu Hause. Obwohl ein junger Mann vom Volksfest der Tat verdächtigt wurde, war Harriet nicht in der Lage, ihn eindeutig zu identifizieren. Und der Fall wurde nach ein paar Monaten, als der Verdächtige bei einem Streit getötet wurde, zu den Akten gelegt.

Das waren die Fakten, die jeder kannte. Am Anfang unserer Beziehung dachte ich, Gus würde mir eines Tages davon erzählen, aber das hat er nie getan. Tatsächlich hatte ich jedes Mal ein ungutes Gefühl, wenn ich dieses Thema auch nur ganz beiläufig anschnitt. Mir kam es dann so vor, als hätte ich ein krankhaftes Interesse an diesem Ereignis. Schließlich ließ ich das Thema ruhen, und so geriet für mich das Ganze in Vergessenheit.

Bis heute Abend. Aber niemand konnte Jenny ein krankhaftes Interesse am Tod ihres Vaters unterstellen, der noch vor ihrer Geburt gestorben war. Natürlich wollte sie Einzelheiten darüber erfahren, doch Gus und sie umkreisten dieses Thema, als scheuten sie davor zurück, das Gespräch darauf zu bringen.

Gus erzählte ihr, Andrew sei ein ungestümer Mann, aber als geschickter Handwerker ein geschätztes Mitglied der Gruppe gewesen. Auf allen Porträts hatte Gus ihn bei irgendeiner Arbeit – beim Holzhacken, beim Reparieren des Zauns oder beim Reinigen seiner Waffe – dargestellt.

Nicht nur Jenny hörte Gus aufmerksam zu, sondern auch Brian, der beiläufig sagte: »Mir hat jemand erzählt, dass Sie Andrew auf allen Porträts mit einer Waffe gemalt haben. Wie schade, dass er keine bei sich hatte, als er sie am dringendsten brauchte.«

»Das hätte ihm kaum geholfen, weil Andrew zwar hitzköpfig, aber nicht aggressiv war.«

»Aber er hatte sich doch eine Woche zuvor im Turk's Head geprügelt?«

»Und was hat das damit zu tun?«, fragte Gus ungehalten. Er schien es mittlerweile zu bedauern, dass er Brian zum Essen eingeladen hatte.

»Als mein Vater erstochen wurde, hat er doch versucht, meine Mum zu beschützen, nicht wahr?«, fragte Jenny. »Es gehört viel Mut dazu, einen Mann anzugreifen, der mit einem Messer auf einen losgeht.«

Niemand antwortete sofort. Es war offensichtlich, dass Jenny von uns die Bestätigung erwartete, dass ihr Vater ein Held gewesen sei. Mit glänzenden Augen saß sie da. In Augenblicken wie diesem, wenn sie ihre aggressive Maske fallen ließ, zeigte sie einen verletzlichen Charme, der mich rührte.

Schließlich sah Brian Gus direkt über den Tisch hinweg an und sagte: »Sie sind der einzige Mensch, der weiß, was wirklich geschehen ist. Immerhin waren Sie dabei.«

»Du warst dabei?«, wiederholte Jenny.

»Nicht, als Andrew niedergestochen wurde«, entgegnete Gus und warf Brian einen wütenden Blick zu. »Aber ich war als Erster am Tatort. Dein Vater lag schon im Sterben, als ich nach Hause kam. Unser Hausarzt, Tom Longman, war der Meinung, er wäre auch gestorben, hätte man ihn direkt vor der Notaufnahme des Krankenhauses niedergestochen, denn ein Messerstich hatte die Lunge durchbohrt und ein zweiter die Kehle. Niemand hätte eine derart schwere Verletzung überlebt. Ich glaube, damit hat er mich trösten wollen, aber ich habe mich immer wieder gefragt, ob nicht mehr hätte getan werden müssen. Wenn ich früher nach Hause gekommen wäre ... wenn ich ihm erste Hilfe hätte leisten können ... wenn, wenn ...«

»Fragen sich das die Leute nicht immer, wenn jemand stirbt?«, sagte Brian ruhig. »Dass sie nicht genug getan haben?«

Wenn Gus sehr gestresst oder betrunken ist, hängt sein linkes Lid schlaff herunter. Da er den ganzen Abend sichtlich nervös und angespannt gewesen war und mehr als sonst in einer Woche getrunken hatte, sah er jetzt wie ein Pirat aus. Er zuckte mit den Schultern, als wären ihm die Gefühle anderer Menschen egal, weil ihm die eigenen schon genug zu schaffen machten, und sagte: »Ich weiß nur, dass mich alle diese Fragen und Erinnerungen lange gequält haben.«

»Hast du den Mann gesehen, der ihn angegriffen hat?«, fragte Jenny.

»Nicht richtig. Nicht so genau, dass es für eine eindeutige Identifizierung gereicht hätte.«

»Ist der Verdächtige deshalb nicht verurteilt worden?«

»Ich nehme es an«, entgegnete Gus und schwieg dann. Wir warteten.

Schließlich schien er den Entschluss gefasst zu haben, dass es Jenny verdient habe, die Geschichte vom Tod ihres Vaters zu erfahren, denn er fragte: »Willst du wirklich, dass ich dir alles erzähle?«

Jennys Miene drückte widersprüchliche Gefühle aus. Ihre gewohnt abwehrende Haltung, keinerlei Verletzlichkeit zuzugeben, kollidierte offensichtlich mit ihrer Neugier. Da die Neugier siegte, sagte sie nach kurzem Zögern nur: »Ja.«

»Okay, dann will ich dir die ganze Geschichte erzählen«, entgegnete Gus, goss sich Wein nach und schob dann das Glas in die Mitte des Tisches, als wollte er andeuten, dass er einen möglichst klaren Kopf bewahren wollte. Bedächtig fing er zu reden an.

»Es passierte am Tag des Volksfestes in Sturford. Harriet hatte im letzten Augenblick beschlossen, nicht mitzukommen, weil sie sich unwohl fühlte. Sie war im Anfangsstadium ihrer Schwangerschaft, aber mir fiel damals nicht auf, dass sie unter Übelkeit litt. Da es an jenem Nachmittag sehr heiß war, wollte sie sich in die Hängematte legen und ein Buch lesen. Als wir anderen aufbrachen, scherzte sie noch und sagte, wir dürften nicht vergessen, ihr eine Plastikente für das Baby mitzubringen.«

Ich hatte genug Porträts und Fotos von Gus' Halbschwester gesehen, um mir die Szene deutlich vorstellen zu können. Harriet war damals eine große und kräftige Frau. Sie hatte lange, sonnengebräunte Beine und langes braunes Haar gehabt. Bestimmt hatte sie sich mit jener lässigen Anmut bewegt wie Frauen oft im frühen Stadium der Schwangerschaft, ehe sie sichtbar dicker werden. Ich stellte mir vor, wie sie über den Rasen zu der Hängematte zwischen den zwei Bäumen ging, sich hineinlegte, zu lesen begann, die Augen schloss, das Buch sinken ließ und inmitten der betörenden Düfte und dem Summen der Insekten an einem heißen Sommernachmittag in Grays Orchard einschlief.

»Meine Mutter war also die ganze Zeit dort«, sagte Jenny fasziniert und mit großen Augen. »Sie muss doch alles gesehen haben. Mir hat sie nie etwas davon erzählt.«

»Nein«, entgegnete Gus widerwillig. »Ich nehme an, sie hat diese ganze Geschichte lieber vergessen.«

»Also liegt es bei dir, mich aufzuklären, nicht wahr?«

Einen Augenblick lang dachte ich, Gus würde sich weigern, aber er sprach mit absichtlich emotionsloser Stimme weiter: »Wir sind alle davon ausgegangen, dass der Täter ursprünglich nur etwas stehlen wollte, obwohl wir damals kaum etwas Wertvolles besaßen – was er aber nicht wissen konnte. Er hat uns wohl über die Felder weggehen sehen und geglaubt, niemand sei zu Hause. Und als er in den Garten kam, hat er Harriet in der Hängematte gesehen. In jenem Sommer haben sich Katie und sie immer halb nackt im Garten aufgehalten. Pauline war da prüder. Aber Harriet und Katie trugen meistens nur Shorts und einen um den Oberkörper geschlungenen Schal, keine ausreichende Bekleidung für Harriet, da ihr Busen wegen der Schwangerschaft bereits viel üppiger war. Aber das war ihr egal. Später hat sie mir erzählt, dass der Schal wohl im Schlaf verrutscht sein müsse.«

Gus verstummte. Seine Augen waren dunkel vor Schmerz, als er sich erinnerte. Wie begehrenswert Harriet ausgesehen haben musste, dachte ich, wie sie da im sonnengesprenkelten Schatten der Bäume in der Hängematte gelegen hatte, ihren üppigen Busen nur dürftig mit einem leichten Baumwollschal bedeckt.

»Er hat sie also ...«, flüsterte Jenny.

Gus ignorierte sie und redete weiter. »Harriet hat gesagt, sie sei wach geworden und habe einen Fremden über sich stehen sehen. Als er sie packen wollte, sei sie aus der Hängematte gefallen und schreiend zum Haus gelaufen. Sie war eine gute Läuferin und ist wohl nie in ihrem Leben so schnell gelaufen wie an diesem Nachmittag. Andrew muss sie schreien gehört haben, noch ehe er im Garten war. Zum Glück für Harriet hat er sich auf dem Volksfest gelangweilt und war schon auf dem Weg nach Hause. Sonst ... Tja, wer weiß, was sonst passiert wäre«, fügte Gus noch hinzu und schwieg abrupt.

Niemand sprach. Ich warf Brian einen Blick zu und sah, dass er wie ich gebannt an Gus' Lippen hing. Wir beide hatten die Geschichte schon oft gehört, aber nur in der nüchternen Sprache des Untersuchungsrichters oder die sensationell aufgemachten Presseberichte gelesen. Jetzt, da Gus uns bedächtig durch die Ereignisse an jenem schwülen Augustnachmittag führte, erlebten wir die Tragödie auf eindringliche Weise mit.

»Harriet ist nicht ins Haus gelaufen«, erzählte Gus weiter, »sondern an der Küchentür vorbei und die Treppe hinauf zum Apfelspeicher, den ich schon damals als Atelier benutzte, weil sie glaubte, sich dort besser verbarrikadieren zu können, da im Haus alle Türen und Fenster weit offen standen. Das hat sie nachher gesagt, aber ich schätze, sie ist einfach in Panik geraten. Der Mann ist ihr gefolgt. Da wir damals aber nicht viel von Schlössern und Riegeln hielten, konnte man die Tür nicht abschließen. Es muss ein heftiger Kampf stattgefunden haben, denn meine Staffelei war kaputt und die spärlichen Möbel und Leinwände waren umgeworfen worden. Als Andrew hinzukam, hatte der Mann Harriet niedergeschlagen und prügelte auf sie ein.« Gus schwieg wieder und sah jetzt zum ersten Mal Jenny direkt an. Dabei umspielte ein Lächeln seine Lippen, was mir im Zusammenhang mit dem eben Erzählten absolut unpassend erschien.

»Willst du noch mehr hören?«, fragte er.

Jenny konnte nicht sprechen; sie nickte nur.

»Andrew muss den Kampflärm im Speicher gehört haben. Er ist die Treppe hinaufgelaufen und hat gesehen, wie der Fremde auf die halb nackte und fast bewusstlose Harriet eingeschlagen hat. Andrew – er hat früher viel Rugby gespielt – hat sich auf den Mann gestürzt und ihn weggezerrt. In diesem Augenblick hat Jago wohl sein Messer gezogen und auf Andrew eingestochen. Sieben Mal, genau gesagt. Der tödliche Stich traf die Halsschlagader. Er hat nur noch ein paar Minuten gelebt, bevor er verblutete. Da ist der Mann geflohen.«

»Du hast ihn weglaufen sehen, nicht wahr?«, unterbrach ich das darauf folgende Schweigen.

Gus warf mir einen bösen Blick zu, weil ich es gewagt hatte, nach noch mehr Einzelheiten zu fragen, sagte aber ruhig: »Als ich durch den unteren Obstgarten zurückkam, sah ich jemanden den Weg hinunterlaufen. Ich merkte sofort, dass da etwas nicht stimmte. Er lief zu schnell. An so einem heißen Nachmittag rennt niemand wie ein Verrückter durch die Gegend. Aber ich habe ihn nicht gut genug gesehen, um ihn eindeutig identifizieren zu können.« »Du hast den Mann Jago genannt«, sagte Jenny. Sie sprach den Namen vorsichtig aus, als sei das eine gefährliche Beschwörung.

Ich fragte mich, wie es wohl für sie sein musste, den Namen des Mörders ihres Vaters zum ersten Mal auszusprechen.

»Ganz recht«, sagte Gus. »Jago war einer der Typen, die auf dem Volksfest arbeiteten, ein Schaustellergehilfe, und er war schon öfter wegen körperlicher Gewalt oder Diebstahls mit dem Gesetz in Konflikt gekommen – aber Mord, nein. Trotzdem war er von Anfang an der Hauptverdächtige.«

»Und doch hat Harriet ihn nicht identifizieren können«, meinte Brian nachdenklich.

»Nein.«

»Dieser Teil der Geschichte ist mir immer merkwürdig vorgekommen«, sagte Brian unbeirrt. Er redete trotz Gus' wutverzerrter Miene so gelassen weiter, als würde er über Ziegelsteine oder Tragebalken sprechen. »Der Mann hat versucht, Harriet zu vergewaltigen. Dabei war sie ihm doch so nahe, wie man einem Menschen nur kommen kann. Und es geschah am helllichten Tag. Da möchte man doch meinen, dass sich jede Einzelheit in ihr Gedächtnis eingebrannt hat.«

»Ach, wirklich, Brian? Sprechen Sie aus eigener Erfahrung?«, fragte Gus mit kalter Wut. »Harriet war hysterisch vor Angst und völlig außer sich. Dieser Jago hat versucht, sie zu vergewaltigen, sie halb totgeprügelt und dann den Vater ihres Kindes vor ihren Augen erstochen. Unter diesen Umständen kann wohl niemand eine Situation beurteilen, Einzelheiten wahrnehmen oder sich gar daran erinnern.«

»Trotzdem ...«, sagte Brian.

Ich verstand nicht, warum Brian dieses Thema weiter verfolgte. Da er in Ausnahmesituationen noch gelassener als üblicherweise zu reagieren pflegte, begriff er wohl nicht, unter welchem Stress eine so sensible Frau wie Harriet gestanden haben musste. Am wenigsten konnte ich mir jedoch vorstellen, dass die Harriet, die ich von den Porträts und Fotos kannte, bei irgendeinem Ereignis, und sei es noch so schrecklich, hysterisch reagierte.

»Bei der Gegenüberstellung war sich Harriet zu neunzig Prozent sicher, den Täter erkannt zu haben. Sie wollte jedoch kein Risiko eingehen«, erläuterte Gus.

»Und es hat keine anderen Beweise gegeben, die Jago hätten überführen können?«, fragte Brian.

»Nein. Schließlich gab es damals noch keine DNA-Tests.« »Trotzdem ist es seltsam, dass weder Fingerabdrücke noch sonst was gefunden wurden«, sagte Brian.

»Kann sein. Aber so war es nun mal«, erklärte Gus kategorisch.

»Nicht einmal auf der Mordwaffe«, sagte Brian.

Jenny schaute mit zunehmender Verwirrung von einem zum anderen und fragte schließlich: »Worauf wollt ihr hinaus?« Brian legte es zweifelsohne darauf an, Gus zu provozieren. Es war ein Fehler gewesen, ihn zum Abendessen einzuladen, und jetzt ärgerte ich mich über seine hartnäckige Fragerei.

Da sagte er zu mir: »Erinnerst du dich an die Gerüchte, Carol? Die meisten Menschen hier in der Gegend waren überzeugt, dass jemand aus der Gruppe in Grays Orchard den Mord begangen hat, und hielten die Geschichte von dem Schaustellergehilfen für erfunden. Ein Märchen, um die Polizei auf eine falsche Fährte zu locken.«

»Oh, mein Gott«, stöhnte Gus. »Geht das schon wieder los! Hören Sie, Harriet war im neunten Monat schwanger, als Jago endlich gefasst wurde und die Gegenüberstellung erfolgte. Auf keinen Fall wollte sie in diesem Zustand das Risiko eingehen, einen Unschuldigen vor Gericht zu bringen. Außerdem hatte sie versucht, dieses schreckliche Ereignis zu vergessen. Sie war der festen Überzeugung, dass der Gemütszustand einer Mutter während der Schwangerschaft das Kind beeinflusst, und wollte auf jeden Fall vermeiden, dass negative Gedanken über einen Gewalttäter ihr ungeborenes Kind schädigen. Sie hat sich ausschließlich mit Plänen für ein neues Leben in Australien beschäftigt und jeden Kontakt zur Gruppe abgebrochen. Außerdem stand für die Polizei fest, wer der Mörder war. Denn nach Jagos Tod wurde der Fall abgeschlossen.«

Als Gus Jennys erstaunten Gesichtsausdruck bemerkte, fügte er hinzu: »Ungefähr zu der Zeit, als du geboren wurdest, ist der Mann bei einer Messerstecherei getötet worden. Da ist er wohl mit jemandem aneinander geraten, der sich besser verteidigen konnte als Andrew.«

Ich dachte, dass Brian jetzt bestimmt das Thema fallen lassen würde, aber er sagte: »Für die Polizei war dieser Fall nie wirklich abgeschlossen.«

»Und warum hielten die Leute jemanden aus diesem Haus für den Täter?«, fragte Jenny mit großen Augen.

»Das haben nicht nur die Leute, sondern das hat auch die Polizei geglaubt«, entgegnete Brian. »Denn Raymond Tucker wurde zum Verhör aufs Revier gebracht.«

»Das war eine rein routinemäßige Maßnahme«, sagte Gus ungehalten. »Damals wurde jeder vernommen, aber Tatsache ist, dass Harriet dabei war, als Andrew ermordet wurde, und dass sie den Täter gesehen hat. Und ich habe ihn weglaufen sehen und kann euch versichern, dass es nicht Raymond war.«

»Aber ...«

»Um Himmels willen, Brian«, platzte Gus heraus. »Die Polizei hat doch auch Ihren Vater verhört, nicht wahr? War er deswegen auch ein Verdächtiger?«

Da mir das ganz neu war, fragte ich: »Warum wurde Brians Vater verhört?«

»Weil er manchmal hierher kam und Arbeiten für uns erledigte«, sagte Gus. »Dann fing er an, hier rumzuhängen, wenn er nichts Besseres zu tun hatte. Grays Orchard wirkte damals auf alle möglichen Typen anziehend.«

Brian lachte zwar, aber nur ich merkte, dass in diesem scheinbar ungezwungenen Lachen eine unterdrückte Wut lag.

»Mein Dad hat das ganz anders geschildert. Er sagte, in diesem Haus hätte nichts richtig funktioniert. Er sagte, Sie und Ihre Freunde hätten zwar behauptet, völlig autark zu sein, seien aber nicht einmal in der Lage gewesen, einen Nagel in die Wand zu schlagen, ohne ihn um Rat zu fragen.«

»Das hat er womöglich Ihrer Mutter erzählt«, sagte Gus, »aber wahr ist, dass Jack gern hierher kam. Wie viele andere war er überzeugt, in Grays würden Sexorgien mit Drogen und Rock 'n' Roll gefeiert, und er ist ständig hier rumgelungert. Die anderen waren viel toleranter, aber mir ist er fürchterlich auf die Nerven gegangen.«

Bis zu diesem Augenblick war mir nicht aufgefallen, wie wenig sich Gus und Brian ausstehen konnten und dass sie sich nur meinetwegen Mühe gaben, miteinander auszukommen. Bisher hatten sie es geschafft, ihre intensive gegenseitige Abneigung zu kaschieren, doch jetzt trat die Feindseligkeit so unverhüllt zu Tage, dass sie wie zwei Bluthunde aufeinander losgingen. Gus war auf Brian wütend, weil er alte Gerüchte über Raymond wieder ans Licht zerrte, und Brian nahm Gus dessen geringschätzige Äußerungen über seinen Vater übel. Obwohl Brians Vater ein Säufer gewesen und mit siebenundvierzig an Leberzirrhose gestorben war und seiner Familie nichts als Ärger gemacht hatte, verteidigten Brian und seine Mutter das Andenken dieses Mannes immer vehement.

Als Brian den Mund aufmachte und sich revanchieren wollte, warf ich schnell ein: »Der Täter muss dieser Schaustellergehilfe gewesen sein, sonst hätte die Polizei den Fall nicht nach dessen Tod abgeschlossen. Das ist ja das Schlimme an Mordfällen: Es wird viel Dreck aufgewirbelt, und jeder verdächtigt jeden. Möchte jemand Kaffee?«

»Keinen für mich«, sagte Brian. Er verstand jedoch als der gute Freund, der er mir war, den Hinweis. »Ich muss mich sowieso auf den Heimweg machen.« Und zu Jenny sagte er: »Kann ich Sie mitnehmen?«

In ihrem Gesicht konnte ich lesen, dass sie eigentlich entrüstet ablehnen wollte, weil sie sich durchaus für fähig hielt, selbst zu fahren, doch dann merkte sie wohl, wie dumm das gewesen wäre, oder sie hatte in Brian eine Quelle für nützliche Informationen entdeckt, denn sie stimmte zu, sich von Brian zur Travelodge bringen zu lassen.

Nachdem die beiden gegangen waren, räumten Gus und ich den Tisch ab. Dabei sagte ich leichthin: »Du hast noch nie zuvor mit mir über den Mord gesprochen.«

»Nein«, entgegnete Gus ebenso leichthin. »Weil es keinen Grund gab, alte Geschichten wieder aufzuwärmen. Das alles ist ja, Gott sei Dank, tot und begraben. Fass das bitte nicht als Wortspiel auf.« Dann fügte er lächelnd hinzu: »Außerdem hat die ganze Geschichte weder mit dir noch mit mir etwas zu tun, nicht wahr?«

Und ich ließ mich von ihm täuschen und glaubte ihm.

Kapitel 3

Am nächsten Morgen – einem Samstag – stand Gus zuerst auf. Er brachte mir einen Becher Tee auf einem Tablett, und daneben lag ein Kirschblütenzweig. Für Gus bedeutete diese Geste ein Friedensangebot, und sie war gleichzeitig eine Entschuldigung. Ich hatte nichts dagegen einzuwenden.

Später frühstückten wir gemütlich. Die Küche ist einer der schönsten Räume in Grays Orchard, ein Triumph der Vernachlässigung über die Renovierung. Wegen der seltsamen Geschichte des Herrenhauses ist die Küche bisher jeglichen diesbezüglichen Versuchen entgangen.

Der Boden ist gefliest, in der gewölbten Originaldecke stecken tödlich aussehende Eisenhaken. Und in der Mitte steht ein schöner alter Tisch aus Kiefernholz. Geheizt und gekocht wird mit einem soliden Herd, der gelegentlich den Geist aufgibt und droht, das Haus in Brand zu setzen. Es gibt weder Einbauschränke noch laminierte Arbeitsflächen, aber wenn man gewöhnt ist, hier zu arbeiten, funktioniert alles recht gut. Vor allem ist diese Küche der schönste Ort auf der Welt, um an einem Samstagmorgen gemütlich Kaffee zu trinken.

Der Nebel vom Vortag hatte sich fast ganz gelichtet, und die Sonne brach durch die dunstigen Schleier. Auf dem Tisch stand ein Krug mit Narzissen, deren Blüten wie gelbe Sonnen leuchteten. Ich sah, wie Gus die Blumen nachdenklich betrachtete. Einer der Nachteile, mit einem Maler verheiratet zu sein, besteht darin, dass schöne Dinge unweigerlich im Dienst der Kunst in Richtung Atelier verschwinden.

»Hm, hm«, warnte ich ihn. »Kauf dir lieber Blumen. Diese bleiben hier.«

Er lächelte mich über den Tisch hinweg an und sagte: »Ich dachte, ich könnte sie mir ausleihen. Nur für eine halbe Stunde?«

»Höchstens für zwanzig Minuten«, antwortete ich. Mein Lächeln war wohl misslungen, denn wir hatten beide einen mächtigen Kater.

»Musst du heute oder morgen arbeiten?«, fragte er.

»Nur ein oder zwei Stunden.«

»Aber nicht morgen! Ich dachte, wir könnten einen Ausflug machen, nach Bath fahren, dort zu Mittag essen und ... oh!«

Jenny war durch die Hintertür in die Küche geschlüpft. Wir hatten kein Auto gehört, und geklopft hatte sie auch nicht. Gus versteifte sich vor Ärger, zwang sich dann jedoch zu einem Lächeln. Es passte uns beiden überhaupt nicht, dass Jenny ausgerechnet in diesem Augenblick aufgetaucht war, aber wir mussten uns wohl oder übel um sie kümmern.

»Bist du den ganzen Weg zu Fuß von Sturford hierher gegangen?«, fragte ich, während Gus Wasser für frischen Kaffee aufsetzte.

»Nein. Jemand hat mich bis zu eurer Zufahrt mitgenommen«, sagte Jenny.

Gus und ich sahen schon ziemlich angeschlagen aus, aber Jenny war in einem verheerenden Zustand. Mit ihren hochgezogenen knochigen Schultern und den dunklen Ringen unter den Augen machte sie einen erbärmlichen Eindruck. Wahrscheinlich hatte sie nicht nur einen Kater, sondern kaum geschlafen, weil sie die ganze Nacht über die Hintergründe, die zum Tode ihres Vaters geführt hatten, gegrübelt hatte. Dadurch sah sie noch mehr wie die Schreckensgestalt auf Gus' Porträt aus. Er starrte sie auf die ihm eigene, unpersönliche Art an, als würde er nur Oberflächen und Farben sehen. Was die Situation natürlich nicht entspannte.

Da es mir Leid tat, dass ich sie gestern Abend in die Travelodge hatte zurückkehren lassen, sagte ich so fröhlich wie möglich: »Warum kommst du nicht hierher und wohnst bei uns? Du bist herzlich willkommen und könntest dir die Miete für das Zimmer in der Travelodge sparen. Gus würde das auch gefallen, nicht wahr, Gus?«

»Ja«, sagte er, betrachtete Jenny aber noch immer wie ein seltenes Exemplar irgendeines Insekts. Ich hoffte nur, dass sie noch zu dumpf im Kopf war, um das zu merken.

Sie sah mich misstrauisch an, doch dann breitete sich ein zaghaftes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

»Das ist wirklich sehr nett von dir, Carol«, sagte sie, »aber ich möchte euch nicht zur Last fallen.«

»Das tust du überhaupt nicht«, sagte ich. »Wir hätten dich sehr gern bei uns.«

»Na ja, wenn das so ist ... Ich könnte meine Sachen holen und in einer halben Stunde wieder hier sein.«

»Komm lieber später«, sagte Gus entschieden, ehe ich zustimmen konnte, »weil Carol und ich heute nach Bath fahren müssen.«

Sofort erstarb das Lächeln auf Jennys Gesicht.