Das Schweigen der alten Villa - Joanna Hines - E-Book
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Das Schweigen der alten Villa E-Book

Joanna Hines

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Beschreibung

Die Abgründe eines Sommers: Der düstere Toskana-Roman »Das Schweigen der alten Villa« von Joanna Hines jetzt als eBook bei dotbooks. Ein Geheimnis, das in ihrer Vergangenheit schwelt und nun ihre Zukunft vergiftet … In London hat sich die gefeierte Kunsthistorikerin Kate ein neues Leben aufgebaut – doch die glänzende Fassade beginnt zu bröckeln, als ihr ein kostbares Gemälde zugestellt wird: der Absender anonym, das Bild in Stücke gerissen. Die Tat ist umso erschreckender, weil Kate darin verstörende Hinweise auf jenen Sommer in Florenz entdeckt, als sie zusammen mit ihrer besten Freundin Francesca die schwarze Jahrhundertflut miterleben musste. Ein Sommer, der auch Dunkles über Francescas Familie an die Oberfläche spülte, und der ein jähes, blutiges Ende fand. Wenn Kate Antworten finden will, was damals wirklich geschah, muss sie zurück in die Toskana reisen. Aber ist sie auch bereit, den Preis für die Wahrheit zu zahlen? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Fesselnder Psychothriller und Familiengeheimnisroman zugleich, »Das Schweigen der alten Villa« von Joanna Hines enthüllt die Abgründe hinter der Urlaubsidylle der Toskana. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 560

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Über dieses Buch:

Ein Geheimnis, das in ihrer Vergangenheit schwelt und nun ihre Zukunft vergiftet … In London hat sich die gefeierte Kunsthistorikerin Kate ein neues Leben aufgebaut – doch die glänzende Fassade beginnt zu bröckeln, als ihr ein kostbares Gemälde zugestellt wird: der Absender anonym, das Bild in Stücke gerissen. Die Tat ist umso erschreckender, weil Kate darin verstörende Hinweise auf jenen Sommer in Florenz entdeckt, als sie zusammen mit ihrer besten Freundin Francesca die schwarze Jahrhundertflut miterleben musste. Ein Sommer, der auch Dunkles über Francescas Familie an die Oberfläche spülte, und der ein jähes, blutiges Ende fand. Wenn Kate Antworten finden will, was damals wirklich geschah, muss sie zurück in die Toskana reisen. Aber ist sie auch bereit, den Preis für die Wahrheit zu zahlen?

Über die Autorin:

Schon in ihrer frühen Jugend begann Joanna Hines, mit Leidenschaft zu schreiben. Neben ihren Romanen veröffentlichte sie auch Kurzgeschichten und Artikel in »The Guardian« und »The Literary Review«; unter dem Namen Joanna Hodgkin schreibt sie außerdem Biografien. Die Autorin verbrachte viele Jahre mit ihrer Familie in Cornwall; heute lebt und arbeitet sie wieder in ihrer Heimatstadt London.

Bei dotbooks veröffentlichte Joanna Hines auch ihre Spannungsromane »Das Geheimnis von Chatton Heights«, »Die Frauen von Briarswood Manor«, »Die Schatten von Glory Cottage«, »Das Erbe von Grays Orchard«, »Das Cottage über den Klippen« und »Das einsame Haus am Fluss«.

Ebenfalls erschien bei dotbooks ihre historische Familiensaga »Die Rosen von Cornwall« mit den Romanen:

»Sturmjahre – Band 1«

»Schicksalslied – Band 2«

»Sehnsuchtsleuchten – Band 3«

***

eBook-Neuausgabe Februar 2022

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2004 unter dem Originaltitel »Angels of the Flood« bei Simon & Schuster, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Rosenblut« bei Lübbe.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2004 by Joanna Hines

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2006 Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Max Topchii

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-277-3

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Joanna Hines

Das Schweigen der alten Villa

Roman

Aus dem Englischen von Veronika Dünninger

dotbooks.

Für Caroline V und Caroline M

verbunden mit Italien und die besten Mitbewohner

voller Liebe und Dankbarkeit

und für all die Angeli del Fango, die diese seltsamen

Monate in Florenz 1967 miterlebten

Teil 1

Kapitel 1:Marsyas

David Clay fragte sich, wie es wohl war, bei lebendigem Leib gehäutet zu werden. Ein höllischer Schmerz, das bestimmt. Unvorstellbares Grauen. Seltsam also, dass die Gestalt, die er betrachtete, Gleichmut ausstrahlte, als hätten die Leute ringsum die Klingen nur geschärft, um ihm die Bartstoppeln zu stutzen oder ein Geschwür aufzustechen. Nicht um ihm qualvoll Zoll um Zoll die Haut vollständig zu entfernen.

Das Opfer war kopfüber an einem Ast aufgehängt, mit einem dicken Strick um die Knöchel – hübsche, behaarte Knöchel, mit Pferdefüßen obenauf. Ein zweiter Strick war ihm um die Handgelenke gebunden, die über seinen Kopf herunterhingen. In Anbetracht dieser qualvollen Lage und der Folter, die ihm bevorstand, wirkte er auf eine groteske Weise entspannt.

»Marsyas ist im Begriff, geschunden zu werden«, sagte Kate. »Geschunden in dem Sinn, dass ihm bei lebendigem Leib die Haut abgezogen werden soll. Das ist seine Strafe dafür, dass er sich angemaßt hat, mit den Göttern zu wetteifern – eine Lektion für uns alle, könnte man meinen.«

David hatte sich nur schwer aufraffen können, überhaupt zu kommen, aber jetzt wurde es doch interessanter, als er erwartet hatte. Die unverbindliche Einladung einer alten Freundin, die er seit Jahren nicht gesehen hatte, reichte im Allgemeinen nicht aus, ihn nachmittags in einen Hörsaal zu locken, aber im letzten Augenblick hatte doch die Neugier gesiegt. Schließlich war es Kate Holland, die den Vortrag hielt – nicht irgendeine alte Bekannte. Und so war er durch den Mittsommerregen geeilt, um sich unter die Zuhörer in der Nationalgalerie zu mischen. Im dicht besetzten Hörsaal fand er sich schließlich wieder zwischen einer Frau mit strenger Miene und weißem Haar und ein paar ausländischen Studenten, die mit gespitztem Bleistift über ihren Notizblöcken saßen, um jedes Wort festzuhalten.

Kate hatte ihre Zuhörer seit über vierzig Minuten in ihren Bann geschlagen. Sie sprach gut, und ihr Stoff war faszinierend. David konnte kaum glauben, dass sie je unter Redeangst gelitten haben sollte, wie sie behauptet hatte, als sie sich ein paar Tage zuvor zufällig über den Weg gelaufen waren. »Ich weiß gar nicht, wieso ich dich überhaupt einlade«, hatte sie lachend gesagt. »Ich werde auch so schon nervös genug sein.«

Von Nervosität war jetzt allerdings nichts zu spüren. Sie sah gut aus, wirkte selbstbewusst und souverän. Die Jahre hatten es gut mit ihr gemeint. Kate besaß die Art Attraktivität, die nicht vergeht, ein kräftiges, intelligentes Gesicht und ausdrucksvolle braune Augen. Sie hatte ihre Figur nicht verloren und wusste sie vorteilhaft zur Geltung zu bringen. Ein tiefschwarzes seidig schimmerndes Jackett spannte sich straff über ihren vollen Brüsten, und der Rock fiel ihr ungleichmäßig wallend von den Hüften. Ein Outfit, das Autorität und Stil zugleich zum Ausdruck brachte, während die hochhackigen Sandalen in einem knalligen Blutrot davor warnten, sie allzu schnell in eine Schublade zu stecken. Kleidung, die zu ihrem Auftritt passte: hoch professionell, aber nicht eine Sekunde schablonenhaft oder ausdruckslos.

Sie sah ein ganzes Stück besser aus als vor fünfundzwanzig Jahren, als er sie das letzte Mal gesehen hatte, – wenn man ihr zufälliges Zusammentreffen an der South Bank Anfang der Woche beiseite ließ. Damals lag sie voll gepumpt mit Schmerzmitteln in einem Eisenbett auf der Station eines italienischen Krankenhauses, dicke Verbände wie einen Helm um den Kopf gewickelt. Francescas Tod hatte jede Möglichkeit einer Beziehung zerstört. »Ich will vergessen«, hatte sie zu ihm gesagt. »Ich will dich nicht wieder sehen, nie wieder.« Und hatte damals sein jugendliches Herz gebrochen. Die ersten Zurückweisungen sind immer die schlimmsten, wenn man noch nicht gelernt hat, dass die Zeit selbst die tiefsten Wunden heilt.

Kate erklärte eben, dass das Gemälde auf der Leinwand eine Kopie des berühmten Tizians sei, der in Prag hinge. »Auf Tizians weitaus bedeutenderem Original«, erklärte sie, »ist bereits ein erster Einschnitt in Marsyas’ Fleisch zu sehen, und ein kleiner Hund leckt das Blut auf, das aus der Wunde tropft. Hier hingegen ist alles von erwartungsvoller Spannung erfüllt.« Sie hielt einen Augenblick inne und steckte sich eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr, bevor sie leise hinzufügte: »All das Grauen liegt noch vor uns.«

Eine vage Erinnerung stieg in David auf. All das Grauen liegt noch vor uns. Wo hatte er diese Worte schon einmal gehört? Eine Gedichtzeile vielleicht, oder ein Satz aus einem Film? Nein, es war etwas Persönlicheres. Woher auch immer, der Satz hatte etwas Schweres, Bedrohliches an sich. Plötzlich befand er sich in einem seltsamen Haus, einem Haus, wie man es in Träumen aufsucht, abgeschieden und fern von der Alltagswelt. Es war von atemberaubender Schönheit, aber düster auf eine Art, die ihn veranlasste, immer wieder einen furchtsamen Blick über die Schulter zu werfen. Und jetzt begriff er, dass es die Stimme einer Frau war, die in seinem Kopf widerhallte – all das Grauen liegt noch vor uns –, eine Stimme, mit kühlem Morgenlicht verbunden, ein wenig unheimlich, wie durch Nebel gefiltert. Und da war der Geruch von verbranntem Holz in leeren Zimmern. Die Wucht der Erinnerung ließ ihn für einen Augenblick fast vergessen, wo er war.

Stirnrunzelnd versuchte er sich wieder auf Kate zu konzentrieren. Sie hatte in ihrem Vortrag innegehalten, sah zu ihm hinüber und fing seinen Blick auf. War es möglich, dass die Worte in ihr eine ähnliche Erinnerung ausgelöst hatten?

Sie räusperte sich und blickte wieder auf ihr Manuskript. »Nun«, nahm sie den Faden zügig wieder auf, »da mein Thema ›der Konservator als Detektiv‹ ist, stellt sich die Frage: Wo liegt das Geheimnis in diesem Gemälde? Wir haben bereits darüber gesprochen, wie uns Röntgenuntersuchungen helfen, den Weg des Künstlers zurückzuverfolgen. Dieses Gemälde des unglückseligen Marsyas illustriert nun ein anderes Rätsel, das des Amateur-Vandalen. Ich will Ihnen zeigen, was ich damit meine.«

Es war Kates Stimme, die diese Wirkung auf ihn hatte. Stimmen sind so beschwörerisch; kein Wunder, dass es nicht die Schönheit, sondern vielmehr der Gesang der Sirenen war, der die Seeleute in den Untergang trieb. Kates Stimme war kühl und musikalisch, eine Flöte im Orchester der Stimmen, mit einem letzten Hauch altmodischer Armeevokale aus ihrer Kindheit. Dieser Klang, so viele Jahre vergessen, lockte ihn fort von der Gegenwart. Bruchstücke einer längst vergrabenen Jugend brachen hervor und drifteten zurück in sein Bewusstsein, zusammenhanglose Fragmente, von denen er nie vermutet hätte, dass er ihnen je wieder begegnen würde: jene seltsamen Wochen in seinem neunzehnten Lebensjahr, eine Zeit außerhalb der Zeit, als er kaum mehr gewesen war als ein Kessel voller jugendlicher Hormone im Körper eines jungen Mannes. Als er und Kate im Schlamm und Staub von Florenz nach der Flutkatastrophe von 1966 zusammengearbeitet hatten – wie hätte er diese extremsten Wochen seines Lebens je vergessen können?

Jetzt sah er mit gebannter Aufmerksamkeit zu, wie sie ihren Zuhörern Details des Marsyas-Gemäldes zeigte: eine Schlange, die aus ihrer abgeworfenen Haut schlüpfte, eine schimmernde Hülle, dargestellt mit wenigen geschickten Pinselstrichen in einem perlmuttfarbenen Ton. »Der Symbolismus mag uns etwas plump erscheinen«, sagte sie mit einem Lächeln, das die Zuhörer ihr Urteil teilen ließ. »Die Schlange wirft die Haut ab, um sich selbst zu erneuern, wohingegen ihr Verlust für Marsyas Qualen und Tod bedeutet. So weit, so gut – natürlich, es sei denn, man ist Marsyas. Aber was sollen wir von diesen beiden Figuren hier halten?«

Sie klickte weiter auf das nächste Bild, und ein kleines, rattenähnliches Geschöpf mit einem Insekt zwischen den Zähnen füllte die Leinwand aus. »Was wir hier vor uns haben, sieht aus wie eine Ratte, die genüsslich eine Biene verspeist.« Ihr Tonfall war entspannt, fast plaudernd, und deutete an, dass sie nun auf einen auflockernden Nachtrag zum Hauptteil ihrer These zusteuerte. »Ein Kunsthistoriker, der versuchen wollte, den Symbolismus dahinter zu ergründen, würde seine Zeit verschwenden: Dieses Detail ist erst in den letzten zwölf Monaten hinzugefügt worden.«

Kate hielt einen Augenblick inne, um gebannt auf die Leinwand zu blicken. Als sie wieder das Wort ergriff, hatte David den Eindruck, dass sie von ihrem vorbereiteten Manuskript abwich und einfach die Gedanken aussprach, die ihr in dem Augenblick in den Sinn kamen. »Wir haben keine Ahnung, warum oder von wem dieses merkwürdige Detail hinzugefügt wurde, da das Gemälde mir von jemandem geschickt wurde, der unbedingt anonym bleiben will. Warum? Eine Ratte frisst eine Biene ... vielleicht besteht der Sinn darin, einen kleinen Akt der Gewalt im Kontrast zu dem monströsen Verbrechen darzustellen, das dem armen Marsyas zugefügt wird, aber andererseits ...«

Sie zögerte ein zweites Mal. David fragte sich, warum sie sich so lange bei diesem einen Bild aufhielt, da das Beispiel, das es enthielt, schließlich kaum der Stützung ihrer These diente. Stirnrunzelnd betrachtete sie das Bild auf der Leinwand, fast als sähe sie es zum ersten Mal. Die beiden Studenten neben ihm hielten mit ihrer fein säuberlichen Mitschrift inne und blickten auf, warteten darauf, dass sie fortfuhr.

»Das ist also das Geheimnis, ich wusste, ich hatte es schon einmal gesehen.« Und jetzt ließ Kate die Worte so leise fallen, dass David trotz des Mikrofons an Kates Kragenaufschlag die Ohren spitzen musste, um mitzubekommen, was sie sagte: »Aber warum wurde es mir geschickt? Und wer –?«

Als sie erneut innehielt, war offensichtlich, dass die Pause nicht einstudiert war, kein dramatischer Effekt, sondern ein Schweigen, das eine unerträgliche Spannung nach sich zog.

Nun mach schon, Kate, nun mach schon weiter mit dem verdammten Vortrag, wollte David ihr zuflüstern. Hinter ihm wurden die Zuhörer allmählich unruhig. Angesehene Vortragsredner sollten nicht den Faden verlieren. Davids Achselhöhlen wurden feucht vor Besorgnis. War es das, was sie gemeint hatte, als sie von Redeangst gesprochen hatte? Vermassel es jetzt nicht, Kate, Herrgott noch mal. Vor einer Minute haben sie dir doch noch aus der Hand gefressen. Was immer dich ablenkt, vergiss es, bis das hier vorbei ist. Mach einfach weiter und bring den verdammten Vortrag zu Ende.

Aber Kate schien vergessen zu haben, wo sie sich befand. Sie starrte auf die Leinwand. Ohne das Unbehagen wahrzunehmen, das sich unter den Zuhörern ausbreitete, fuhr sie sich mit der linken Hand an den Mund und kaute nachdenklich am Rand ihres Daumennagels. David zuckte zusammen, als er diese Geste bemerkte. Es war wie damals, als er Kate das erste Mal gesehen hatte oder das erste Mal wahrgenommen hatte, vielleicht auch, als er sie als das Mädchen auswählte, das er wollte, in das er sich verlieben würde. Es war in einer Art Bar oder Café gewesen – es musste Florenz gewesen sein, aber der Hintergrund war verschwommen, ebenso die Gesichter um sie herum. Eine junge Kate, frisch von der Schule, mit dunklem Haar, das ihr über die Schultern fiel, und Augen, in denen diese typische Kate-Begeisterung lag, von der die Leute angezogen wurden. Sie hatte über einen Witz gelacht, zweifellos einen obszönen – die meisten Witze der Gruppe waren damals obszön –, und dann war irgendetwas gesagt worden, vielleicht war der Witz auf sie umgemünzt worden. Das Lachen in ihren Augen erstarb, sie zog sich zurück, hielt sich abseits der Gruppe und fuhr sich mit der Hand an den Mund und kaute nachdenklich am Rand ihres Daumennagels. David hatte ihre Hand in seine nehmen und sie küssen wollen, gleich dort, vor allen Leuten. Und jetzt ...

Jetzt wollte er nur noch, dass sie endlich weiterredete. Dass sie etwas sagte, irgendetwas, um zu zeigen, dass sie sich wieder im Griff hatte. Er saß vorgebeugt auf seinem Platz: Bring es zu Ende, Kate. Du hast es doch schon fast geschafft. Bring den verdammten Vortrag nur noch zu Ende.

Kate schien zu frösteln, wie jemand, der aus einem Trancezustand erwacht. Blinzelnd wandte sie sich wieder ihren Zuhörern zu: Sie schien fast verdutzt darüber, noch immer Leute im Saal zu sehen.

»Konservierung als Detektivarbeit. Ja.« Stirnrunzelnd sah sie auf ihr Manuskript. »Ich nehme an, damit habe ich mich selbst überrascht«, sagte sie ein wenig kläglich. »Es ist doch ein größeres Rätsel, als ich erwartet hatte.« Dann blickte sie auf und lächelte ihre Zuhörer an. Es war nur der Anflug eines Lächelns, aber genug für David, um sich erleichtert zurücksinken zu lassen. Es war okay, sie war wieder im Gleis. Ihr Starredner war letztendlich doch nicht abgedriftet. Kate hatte ihre entschlossene, unpersönliche Haltung am Rednerpult wiedergewonnen, und alle entspannten sich. »Mein nächstes Beispiel ist, was Sie alle freuen dürfte, etwas einfacher.«

David jubelte innerlich. Und war verblüfft von dem Ausmaß seiner Reaktion. Es war lange her, seit er sich irgendetwas so sehr gewünscht hatte: nämlich dass Kate ihren Vortrag so erfolgreich zu Ende bringen würde, wie sie ihn begonnen hatte. Zu seinem Erstaunen hatte er sogar sich selbst fast eine Stunde lang vergessen. Kates Magie war so mächtig wie eh und je.

Sie drückte auf die Fernbedienung, und die ärgerliche kleine Ratte, die mit grausam gebleckten Zähnen das Insekt im Mund hielt, verschwand von der Leinwand. David glaubte fast, dass die Ratte, bevor das Bild gelöscht wurde, verschwörerisch mit einem Auge zwinkerte, nur für ihn.

Kapitel 2:Sommerregen

Der Trafalgar Square glitzerte nach dem Regen im Sonnenschein; selbst die Tauben waren wie verwandelt, die Spitzen ihrer Flügel golden vor einem zinnfarbenen Himmel, während die Gewitterwolken sich allmählich verzogen. Touristen schälten sich aus ihren Plastik-Regenmänteln und schlenderten mit entnervender Gemächlichkeit umher, standen im Weg. Kate kochte vor Ungeduld. Nach einem Vortrag verspürte sie jedes Mal einen Überschuss an Energie, aber heute glich diese Energie fast einer angehenden Panik; einem Drang, davonzulaufen, nach Hause zu flüchten – das einzige Problem war, sie wusste nicht, wovor in aller Welt sie eigentlich davonlaufen sollte.

David, diese ach so solide Existenz, hielt sich an ihrer Seite. Nachdem er sie mit seinem Auftauchen im Hörsaal überrascht hatte, schien er zu glauben, dass er auf den Rest ihres Tages Besitzansprüche hatte.

Er versicherte ihr, dass ihr Vortrag sehr interessant gewesen sei, wiederholte einige schmeichelnde Kommentare, die er aus dem Publikum gehört hatte, und fragte dann beiläufig: »Wieso hast du denn da vorhin fast den Faden verloren?«

»War das so offensichtlich?«

»Nur für mich.«

Kate wusste, dass er log, um ihre Gefühle zu schonen. Sie sagte: »Ich weiß nicht. Es war seltsam ... Ich kam mir vor ... als ob ... es war, als sei ich ...« Sie gab auf. Es war unmöglich, ihm den Schock zu erklären, als dieses Detail aus dem Marsyas-Bild auf einmal auf der Leinwand aufragte, eine Monsterratte, die in eine riesige Biene biss. Es war nicht so, dass sie es in diesem Augenblick zum ersten Mal sah, aber trotzdem ... in einer Sekunde war sie noch glatt durch ihren Vortrag gesegelt, in dem Bewusstsein, dass sich ihr Auftritt seinem Ende näherte, in dem Bewusstsein, dass alles gut gelaufen war – und in der nächsten war es ihr vorgekommen, als würde sie durch die Oberfläche der Gegenwart in eine tintenschwarze Gletscherspalte rutschen. Ihr Publikum schwand zur Bedeutungslosigkeit, und das Einzige, was noch zählte, war dieses grob skizzierte Bild, dieses bösartige kleine Nagetier mit dem hilflosen Insekt zwischen den Zähnen.

Ein Akt von Vandalismus, so hatte sie die Änderung an diesem Gemälde während ihres Vortrags genannt, ein zufälliger Akt von Vandalismus, aber es war kein Zufall gewesen. Mit einem Zufall hätte sie umgehen können.

»Du siehst aus, als könntest du einen Drink gebrauchen.«

Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag kämpfte sich Kate zurück in die Wirklichkeit, wo David Clay nah bei ihr war, besorgt und interessiert.

»Ja«, sagte sie, und dann: »Nein. Hör zu, David, ich muss zurück ins Studio. Ich will da etwas überprüfen.«

»Hängt es mit diesem Bild zusammen?«

»In gewisser Weise.«

»Hättest du etwas dagegen, wenn ich mitkomme? Ich habe noch nie eine Konservatorenwerkstatt gesehen.«

»Meinetwegen.« Sie wollte ihn nicht unbedingt dabeihaben, aber es erschien ihr einfacher, nicht darüber zu diskutieren. Er vermittelte den Eindruck eines Mannes, der sich nicht leicht von irgendetwas abbringen ließ.

Es war seltsam, in dem Taxi neben ihm zu sitzen, das sie in eine Seitenstraße am Primrose Hill brachte, wo sie ihr Studio und ihr Zuhause hatte. Wenn man sie vor einem Monat gefragt hätte, wie David Clay aussah, hätte sie kaum gewusst, wie sie ihn beschreiben sollte, und doch hatte sie ihn sofort erkannt, als ihr Blick im Gedränge auf der South Bank auf ihn fiel. Trotz des ergrauten Haars und des etwas fülligeren Gesichts war er unverkennbar der Mensch, mit dem sie damals am Arno spazieren gegangen war, in diesen seltsamen Wochen, als die Luft stickig vom Staub war und die Straßen glitschig vom Schlamm. Sie hatten Keller von den Schlammmassen gereinigt und Talkumpuder auf die Wände des Baptisteriums geworfen und sich, soweit sie sich erinnern konnte, fast, aber nicht wirklich, verliebt. Er hatte noch immer die breiten Schultern und diesen leichten Gang; sein Gesicht, nicht mehr bildschön, war von scharfer Intelligenz geprägt, und seine Augenbrauen, seit jeher sein markantestes Merkmal, waren noch immer dunkel, während sein Haar inzwischen grau meliert war. Und in seinem Inneren spürte sie die Ruhe, die Sicherheit, die schon immer ein wesentlicher Teil von ihm gewesen war und die sie völlig vergessen hatte. Diese Ruhe hätte eigentlich besänftigend auf sie wirken müssen, vor allem jetzt, wo sie von dem Rätsel dieses seltsam veränderten Bildes verfolgt wurde. Es war nur so, dass sie sich unwillkürlich fragte, ob David vielleicht selbst etwas zu dem Problem beisteuerte. Wenn sie ihn nicht in der dritten Reihe des Hörsaals entdeckt hätte, ihn, der ein solch wesentlicher Bestandteil dieser unvergesslichen Wochen gewesen war, hätte das Marsyas-Detail dann die Macht besessen, sie derart aus dem Tritt zu bringen?

Sie dachte noch immer darüber nach, als sie die Tür zu ihrem Studio aufschloss, einem riesigen, luftigen Raum, der nach Norden ging und sich über den gesamten ersten Stock des Hauses und einen großzügigen Anbau in den Garten erstreckte.

Während sie die Dias und ihr Manuskript aufräumte, streifte er umher, begutachtete alles, von dem High-Tech-Vergrößerungsglas bis zu dem Malerstock, einem Holzstück, um dessen eines Ende ein Stück Stoff gewickelt war. Seit Jahrhunderten benutzten Künstler einen solchen Stock, um die malende Hand auf ihm ruhen zu lassen. Er schien fasziniert von all den Dingen.

»Gibt es nicht ein Selbstbildnis von Rembrandt, auf dem er so etwas in der Hand hält?«, fragte er. »Wenigstens befindest du dich in guter Gesellschaft, Kate.« Als sie keine Antwort gab, schnüffelte er und sagte dann: »Jetzt weiß ich, was mir seltsam vorkommt. Ich hatte erwartet, dass es an diesem Ort nach Terpentin und Farben riechen würde, aber das ist nicht der Fall. Warum nicht?«

»Wir verwenden Acryl, wenn wir Gemälde retuschieren müssen«, erklärte sie. »Das ist für spätere Konservatoren leichter zu entfernen, und es ist die einzige Möglichkeit, die Farben dauerhaft anzugleichen, da Ölfarben im Laufe der Zeit nachdunkeln.«

Er dachte darüber nach. »Vermutlich willst du das Bild möglichst originalgetreu restaurieren.«

»Darüber wird viel debattiert«, erwiderte sie. »Manche Konservatoren sind der Ansicht, die Retusche sollte vom Original leicht zu unterscheiden sein. Das berühmteste Beispiel für diesen Denkansatz ist die Cimabue-Kreuzigung in Florenz, die durch die Flut so schwer beschädigt wurde. Erinnerst du dich? Das Bild war fast zerstört, und man entschied, gar nicht erst zu versuchen, es zu retuschieren. Stattdessen hat man die beschädigten Stellen lediglich mit einer Art neutralen Kreuzschraffierung eingefärbt, als Mahnmal der Zerstörung. Inzwischen sind viele Leute der Ansicht, dass das zu extrem war. Es gibt keine richtige Methode bei dieser Arbeit.«

»Oh, sieh mal«, sagte David. »Hier ist ja Marsyas.« Er hatte das Gemälde auf einer Staffelei an einer Seite des Studios entdeckt. Kate sah gar nicht auf. Sie ging einen Kasten mit Dias durch. »Wirst du die Ratte entfernen?«, fragte er.

»Wir warten noch auf Anweisungen.«

»Ich dachte, der Besitzer wollte anonym bleiben.«

»Ja, aber wir können über den Händler, der als Vermittler fungiert, mit ihm kommunizieren.«

»Du hast das Gemälde wiedererkannt, stimmt’s?«

Kate erstarrte. Irgendetwas drückte ihr gegen die Rippen, sodass ihr das Atmen schwer fiel. »Ich – weiß nicht.«

»Wir haben es beide wiedererkannt«, sagte David entschieden. Er war herübergekommen und stand nun vor ihr. Seine massige Gestalt schien die Luft aus dem Raum zu saugen. »Es war in der –«

»Ich kann mich wirklich nicht erinnern, wo ich es schon einmal gesehen habe«, unterbrach sie ihn rasch.

»Villa Beatrice.« Er sprach die Worte italienisch aus – Bea-tri-tsche. Kate zuckte zusammen. Die Villa Beatrice. Erstaunlich, wie allein schon die Erwähnung dieses Namens ihr nach all den Jahren den Atem raubte.

»Vielleicht«, sagte sie. Irgendetwas in ihrer Kehle schnürte sich zusammen.

»Du weißt es doch.«

»Vielleicht«, sagte sie noch einmal. Sie war mit ihren Fingern die Dias durchgegangen. Jetzt hielten sie inne. Sie griff nach den Dias, nach denen sie gesucht hatte, doch dann spürte sie, dass es ihr widerstrebte, sie zu berühren, als seien genau diese Dias mit Gift überzogen. Und in gewisser Weise waren sie das auch.

»Was ist das?«, fragte David.

»Noch ein Bild.«

»Und?«

Sie zögerte. »Das hier wurde ebenfalls verändert.«

»Und dann an dich geschickt?«

Kate nickte.

»Von derselben Person?«

»Das weiß ich nicht.«

»Aber du vermutest es?«

»Ja, ich denke schon.«

»Kann ich es sehen?«

»Es ist nicht –«

»Ich würde es wirklich gern sehen.«

Behutsam nahm Kate ein Dia aus seiner Hülle und legte es in den Betrachter. Er sah es ein paar Sekunden lang an und sagte dann: »Erklär es mir bitte.«

Sie trat ein paar Schritte zur Seite und begann, die vertrockneten Blätter von einer Geranie zu zupfen. Sie verströmten ihren kühlen, aromatischen Duft an ihren Handflächen, würzig und besänftigend, aber ihr Herz hämmerte noch immer. »Es ist ein Ölgemälde, das Ende letzten Jahres meinem Studio geschickt wurde. Es ist anonym, vermutlich italienisch. Eine Allegorie mit dem Titel ›Die Wahrheit ist die Tochter der Zeit‹ – Veritas Filia Temporis. Unten rechts kannst du die Beschriftung erkennen. Das war zu jener Zeit ein beliebtes Thema. Das ausschweifende Paar, das es im Vordergrund miteinander treibt, ist im Begriff, von Vater Zeit bloßgestellt zu werden – dem alten Herrn hinter ihnen. Hoch moralisch und gar nicht einmal subtil. Deine Verbrechen holen dich irgendwann ein, ist die offensichtliche Botschaft des Urhebers.«

»Und wer ist die junge Dame in den Pelzstiefeln?«

»Die Figur rechts, die ihnen zusieht? Das ist die ›Täuschung‹. Sie hat das Gesicht einer hübschen jungen Frau, aber den Körper und die Seele eines Monsters.«

»Ah ja, den Typ kenne ich gut«, sagte David lächelnd. »Und dieses Gemälde wurde ebenfalls verändert? Wie denn?«

Kate zögerte. »Vermutlich ist es nur ein Zufall.«

David sah sie an und zog seine dunklen Augenbrauen hoch. Offensichtlich glaubte er ihr diesen Satz nicht eine Minute. Kate seufzte und holte noch ein Dia hervor und tauschte es wortlos mit dem im Betrachter. David äugte auf den kleinen Bildschirm hinunter, und Kate sah, wie er sich versteifte. »Oh, mein Gott«, sagte er. Er änderte seine Haltung, um es besser betrachten zu können. »So sah es aus, als es dir geschickt wurde?«

»Ja.« Sie erinnerte sich an den Schock, als sie das Gemälde auspackte, nachdem es an jenem kühlen Oktobermorgen in seiner hölzernen Verpackung eingetroffen war. Das Bild selbst war schon schrecklich genug, aber als sie begriff, welches Detail in jüngster Zeit hinzugefügt worden war, war sie in Versuchung gewesen, es postwendend an Signor Barzini zurückzuschicken und den Auftrag abzulehnen. Aber gleichzeitig hatte sie Faszination verspürt, eine makabre Faszination vielleicht, aber sie hatte sie dazu gebracht, die Arbeit auszuführen.

»So viel Blut«, sagte David. »Das ist doch grotesk – wie eine Szene aus einem Horrorfilm.«

»Ja.« Kate hatte mehrere Wochen geduldiger Arbeit gebraucht, um das Gemälde von dem Blut zu reinigen. Kein Wunder, dass der Besitzer anonym bleiben wollte. Irgendein hirnloser Vandale hatte den Hals der »Täuschung« mit Blut übermalt, als hätte man ihr die Kehle durchschnitten. Blut strömte ihr über die Schultern, durchtränkte ihr Gewand und ergoss sich in scharlachroten Lachen auf dem Boden. Und noch immer lag auf dem wunderschönen Gesicht der »Täuschung« dieses süßliche, sorglose Lächeln, so losgelöst von ihrem verunstalteten Fleisch. Kate hatte wie besessen an dem Bild gearbeitet, hatte sich geweigert, Hilfe von einem ihrer Assistenten anzunehmen. Das Bild in seinen ursprünglichen Zustand zurückzubringen war eine Arbeit gewesen, die aus Liebe zur Sache geschah, fast ein Akt der Buße, als könnte sie durch die Restaurierung in gewisser Weise das Leben wiederherstellen, das zerstört worden war.

David richtete sich auf und sah sie sehr direkt an. »Erzähl mir noch einmal, wie Francesca gestorben ist«, sagte er leise.

Kate zuckte zusammen. Francesca. Es war Jahre her, dass sie den Namen laut ausgesprochen gehört hatte. So knapp sie konnte, sagte sie: »Es war ein Autounfall.«

»Ja, aber ... jetzt erinnere ich mich wieder. Saß sie nicht auf einem dieser Motorroller? Einer Vespa? Und ist sie nicht mit einem Fiat zusammengestoßen? Und als sie gestürzt ist –«

»Das stimmt«, unterbrach ihn Kate rasch. »Sie stürzte – und die Windschutzscheibe der Vespa –, sie bohrte sich durch ihren Hals, und – und ...« Sie brach ab. Und sie wurde fast enthauptet. Selbst jetzt noch spürte Kate, wie sie an den Worten fast erstickte.

»Entschuldige, Kate. Das war taktlos von mir. Ich hatte ganz vergessen, dass du dabei warst.«

Sie zuckte die Schultern. »Ich kann mich an nichts erinnern. Ich habe bei dem Aufprall das Bewusstsein verloren.«

»Und du hast nicht am Steuer gesessen.«

»Nein.«

»Kate, alles okay mit dir?«

»Ich könnte ein bisschen frische Luft gebrauchen.«

»Gut. Lass uns ein bisschen rausgehen und über etwas anderes reden.« Er lächelte grimmig. »Wir werden uns auf neutrale Themen beschränken, den Nahen Osten, Sterbehilfe oder die Fuchsjagd. Gute Idee?«

Sie nickte. Irgendetwas, um von diesen grässlichen Bildern wegzukommen.

Und es war eine gute Idee, jedenfalls am Anfang. Sie stiegen den Primrose Hill hoch und sahen auf London hinunter. Weite Gebiete der Stadt funkelten im Sonnenlicht, während andere Teile von grauen Regenschleiern verhüllt wurden. Während sie über die Wege schlenderten, beschränkten sie sich auf die üblichen Themen, über die zwei Leute reden, die sich jahrelang nicht gesehen haben. Kate erzählte ihm knapp von ihrer ersten Ehe mit Martin, einem Architekturstudenten. Sie hatten sich bald nach der Geburt ihres Sohns Luke getrennt. »Martin kam im Grunde nicht mit seiner Vaterrolle zurecht. Auch wenn er und Luke sich in letzter Zeit etwas näher gekommen sind.« Ihre zweite Ehe mit einem Beamten namens Ben Lumins hatte vor drei Jahren geendet. Tara, die Tochter aus dieser Ehe, ging zurzeit auf eine Kunstschule.

»Und seitdem?«

»Seitdem habe ich das Singledasein durchaus genossen. Und du?«

David starrte auf die Stadt hinaus. »Drei Kinder, fünfundzwanzig Jahre verheiratet, achtzehn Monate geschieden. Aber ich möchte lieber nicht darüber reden.«

»Entschuldige.«

»Nein, Kate. Du verstehst mich falsch. In letzter Zeit ist das ganze Thema fast zu einer Art Obsession geworden. Ich habe gelebt und geatmet und vermutlich nonstop über mein chaotisches Privatleben geredet. Für die Wahl zum größten Langweiler von heute habe ich mich vermutlich zehnfach qualifiziert. Aber seit deinem Vortrag heute Nachmittag habe ich gar nicht mehr darüber nachgedacht. Und das ist eine Erleichterung, glaub mir.«

Kate sah ihn forschend an, um festzustellen, ob er sie aufzog. Sie hatte noch nie gehört, dass das Thema des Konservators als Detektiv eine solch tief greifende Wirkung auf einen ihrer Zuhörer hatte. Aber soweit sie erkennen konnte, meinte er es durchaus ernst. Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob er vielleicht mehr als eine Flasche Wein und eine Mahlzeit erwartete, wenn sie ihn wieder mit zu sich nach Hause nahm. Sie hoffte nicht. Jemanden auf andere Gedanken zu bringen, der noch wund und verletzt von einer kürzlichen Scheidung war, gehörte nicht unbedingt zu dem, was sie sich für den Abend vorgestellt hatte. Vor allem nicht, wenn dieser kürzlich Geschiedene sie noch immer an eine Zeit und einen Ort erinnerte, die zu vergessen sie sich schon vor langer Zeit zur Aufgabe gemacht hatte.

Gerade wollte sie sich eine Geschichte von einer bereits getroffenen Verabredung für diesen Abend zurechtbasteln, als der erste dicke Regentropfen auf ihrem Handgelenk landete. Und dann noch ein halbes Dutzend mehr. Um sie herum liefen die Leute in alle Richtungen auf die Ausgänge des Parks zu. Binnen Sekunden hatten sich die Regentropfen in eine wahre Sintflut verwandelt. Kates Jacke war durchnässt, bevor sie sie sich über den Kopf ziehen konnte, und Davids Hemd klebte ihm am Körper, als sie endlich das Tor erreichten.

Die Straßen lagen verlassen da. Fußgänger kauerten sich Schutz suchend in Hauseingänge und spähten in den Regen hinaus, während das Wasser kaskadenartig von Markisen auf den Gehsteig prasselte. Der Regen ging so heftig, dass er vom Boden wieder abprallte, jeder Tropfen ein kräftiges Klatschen von Wasser. Die Rinnsteine flossen über. Autos glitten vorbei, mit funkelnden Scheinwerfern in der plötzlichen Dunkelheit.

Kate und David blieben stehen und sahen sich an. »Sollen wir uns auch irgendwo unterstellen?«, fragte er. Sein Gesicht glänzte vor Nässe.

Sie schüttelte sich einen Kranz aus Wassertropfen aus dem Haar. »Wozu denn noch?«

Sie lachten beide, während sie zu Kates Haus zurückrannten, und dann standen sie in der Diele und ließen gewaltige Pfützen auf die Fußmatte tropfen.

»Bleib, wo du bist!«, sagte Kate. »Ich werfe dir ein Handtuch hinunter.«

Sie stürmte die Treppe hoch, suchte ein paar Handtücher für David raus, zog dann Jacke und Rock aus und trocknete sich rasch das Haar ab. Sie schlüpfte in eine weite Hose und ein Reißverschluss-Top, die in ihrem Schlafzimmer über einer Stuhllehne hingen. Als sie wieder nach unten kam, war offensichtlich, dass Davids Handtücher gegen die Folgen des Regens nicht viel ausrichten konnten. Er folgte ihr ins zweite Schlafzimmer, wo sie einen Jogginganzug ihres Sohns für ihn fand, der ihm zwar zu klein, aber wenigstens trocken war, und er zog sich ins Bad zurück, um sich umzuziehen.

Als er schließlich in der Küche auftauchte, hatte sie bereits zwei Gläser Wein eingeschenkt und durchforstete den Kühlschrank nach irgendwelchen Zutaten für eine Mahlzeit. »Du hast Glück«, sagte sie zu ihm. »Ich kann dir Nudeln mit Räucherlachs und Salat anbieten.«

»Klingt gut.«

Der Regen hatte etwas zwischen ihnen verschoben. Kate vergaß, dass sie vorgehabt hatte, sich eine andere Verabredung für den Abend einfallen zu lassen. Jetzt, wo David im Türrahmen ihrer Küche stand, in dem hellblauen Jogginganzug, der an der schlaksigen Gestalt ihres Sohns locker saß, sich bei ihm jedoch straff um Brust und Schultern spannte, war er eine völlig andere Erscheinung als der fast Fremde, der ein paar Stunden zuvor unter ihren Zuhörern gesessen hatte. Es war seltsam, Lukes Kleidung an einem Mann zu sehen, den sie schon gekannt hatte, bevor sie überhaupt Mutter geworden war, einem Mann, der nichts über die Person wusste, die sie geworden war, der, falls er sich überhaupt erinnerte, eine Seite von ihr kannte, von der niemand in ihrem jetzigen Leben etwas wusste.

Sie kerbte die Haut von vier Tomaten ein, legte sie in einen kleinen Topf mit kochendem Wasser, wartete eine halbe Minute, nahm sie mit einem Schaumlöffel heraus und legte sie auf das Hackbrett. David stellte sich hinter sie, legte eine Hand um ihre Hüfte und stützte das Kinn leicht auf ihre Schulter. »Kann ich irgendetwas helfen?«, fragte er.

Wieder spürte Kate die Anspannung in ihrer Rippengegend. Sie dehnte die Schultern weit genug, um ihn abschütteln zu können, und sagte, ohne sich umzuwenden: »Du könntest versuchen mir zu erklären, was zum Teufel eigentlich gespielt wird.«

»Hm.« David trat ans Fenster und sah in den Garten hinunter. »Der Regen hat aufgehört«, sagte er.

Sie begann, die Tomaten zu häuten, obwohl sie noch heiß waren und das Fleisch ihr die Fingerspitzen verbrühte. »Warum?«, fragte sie wütend. »Das ist es, was ich nicht begreife. Was soll das, an diesen Bildern herumzupfuschen und sie mir dann zu schicken? Wer tut das? Was wollen die von mir?«

Grimmig hackte sie die Tomaten. Eigentlich hatte sie die Gemälde nicht wieder zur Sprache bringen wollen. »Die Tochter der Zeit« war vor drei Monaten nach Florenz zurückgeschickt worden, »Marsyas« stand seit Wochen in ihrem Studio. Sie hatte fast nie mit Kollegen darüber gesprochen. Aber mit David war es anders: Er war dabei gewesen. Sie konnte nicht einfach so tun, als sei diese ganze Geschichte ein längst vergessener Albtraum, wenn einer der Akteure genau dieses Albtraums in einem zu kleinen hellblauen Jogginganzug ihres Sohns barfuß in ihrer Küche stand.

»Welche Frage zuerst?«, fragte David, schob einen Metallstuhl vom Tisch zurück und setzte sich.

»Es ist, als würde ich verfolgt werden«, sagte Kate, womit sie endlich das Gefühl identifizierte, das sie seit Monaten quälte. »Das ist es. Als würde da draußen irgendjemand herumlaufen, irgendein verkorkster, besessener Spinner, der es auf mich abgesehen hat. Irgendjemand sieht mich an, und ich kann ihn nicht sehen.« Sie schauderte. »Es ist ... es ist grauenhaft.«

David schwieg eine Weile und dachte darüber nach. »Und du bist sicher, dass die Bilder absichtlich an dich geschickt wurden? Nicht nur an deine Werkstatt?«

»Mein Name stand auf dem Lieferschein. Der Händler sagte, er hätte strikte Anweisungen, keinerlei Informationen herauszugeben.«

»Ist das nicht ungewöhnlich?«

»Schon, aber es kommt vor. Die Besitzer wertvoller Kunstwerke wollen oft nicht namentlich in der Öffentlichkeit genannt werden, aus Angst vor Einbrechern.«

»Wertvolle Gemälde? Ich dachte, du hättest gesagt, der Marsyas sei eine Kopie.«

»Ja, aber das heißt nicht, dass er nicht wertvoll ist. Tizian hat Kopien seiner eigenen Werke angefertigt – oder seine Assistenten. Wir wissen es nicht genau. Du musst bedenken, dass es zu der Zeit keine andere Möglichkeit gab, Bilder aufzuzeichnen. Viele Künstler haben Kopien von Werken angefertigt, die sie beeindruckt haben.« Sie legte die Stirn in Falten. »Ich weiß zwar nicht, wer diese beiden Bilder gemalt hat, aber ich bin mir sicher, dass sie verdammt viel mehr wert sind als die Versicherungssumme.«

»Man hat dir also zwei Gemälde von einem anonymen Besitzer geschickt, und beide sind unterbewertet?«

»Ja.«

»Und sie wurden beide auf eine Weise verändert, die etwas mit Francescas Tod zu tun haben könnte.«

»So ist es.«

»Und wo sitzt der Händler?«

»In Florenz.«

Die dunklen Augenbrauen schossen hoch. »Das heißt ...?«

»Na ja, offensichtlich war es jemand, der wusste ... wie sie gestorben ist.« Kate schmolz in einer flachen Pfanne ein Stück Butter. Sie drückte zwei Knoblauchzehen mit dem Messerrücken in ein Häufchen Salz und hackte sie dann rasch zu einer Paste. Sie arbeitete schnell und konzentriert, nicht gemächlich wie sonst; all ihre nervöse Energie strömte in diese Aufgabe.

»Es gab doch eine Untersuchung, oder?«, fragte David. »Das heißt, die Details müssten allgemein bekannt geworden sein.«

»Aber warum das alles jetzt wieder ans Tageslicht zerren?« Kate gab den Knoblauch und die Tomaten in die Pfanne und rührte sie unter die geschmolzene Butter. Sie mahlte etwas schwarzen Pfeffer darüber und krümelte dann etwas Fetakäse hinein. »Warum macht sich jemand die Mühe, diese Bilder zu verändern und sie dann an mich zu schicken, nur damit ich sie wieder in ihren ursprünglichen Zustand bringe?«

»Vielleicht sind es zwei verschiedene Leute?« David atmete tief ein. »Mmm, das riecht ja fantastisch. Also, nimm doch einfach einmal an, da ist jemand, der die Bilder verändert, und jemand anders, der nicht will, dass sie verändert werden. Und das ist derjenige, der sie dir schickt, damit du sie wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt.«

»Vielleicht.« Die Tomaten verschmolzen mit der Butter und dem Knoblauch, und ihr köstliches Korallenrot verband sich marmorierend mit dem Weiß des Fetakäses. Kate sah wieder die Kehle der »Täuschung« vor sich, übermalt mit all dem Acrylblut. Aber es waren die beiden kleinen Geschöpfe des anderen Bildes, auf den ersten Blick so unschuldig wie Comicfiguren, die sie am meisten verfolgten. Was hatten sie für eine Bedeutung? Denn es gab eine Bedeutung, das wusste sie. Die Antwort lag unter ihrer Schädeldecke, tief in ihren Erinnerungen verborgen, aber sie wusste nicht, wie sie den Zugang dazu bekommen sollte. Oder genauer gesagt, sie war nicht überzeugt, dass sie den Zugang dazu bekommen wollte.

»Wenn du erst einmal weißt, wer dir die Bilder geschickt hat, dann wirst du, denke ich, auch die Antwort auf die Frage haben, warum.«

»Vielleicht ist es besser, es nicht zu wissen.« Kate schüttete eine halbe Packung Penne in einen Topf mit kochendem Wasser und rührte kräftig um.

»Lebt Francescas Familie noch immer in der Villa Beatrice?«

»Sie ist offenbar in eine Art Stiftung für die Künste umgewandelt worden. Die Familie Bertoni ist mit ihr verbunden, glaube ich.«

»Klingt, als ob das der Ort ist, an dem man anfangen müsste, Fragen zu stellen.«

Kate wandte sich erschrocken zu ihm um. »Du meinst, in die Villa Beatrice zurückkehren?«

»Warum nicht?«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf, dann wandte sie sich wieder dem Kochen zu, riss den Räucherlachs in Streifen und rührte ihn unter die Tomaten und den Feta. Aus Davids Mund klang es, als sei doch nichts dabei: Warum fährst du nicht einfach zurück zur Villa Beatrice und findest heraus, was los ist? War ihm denn überhaupt bewusst, was er da vorschlug? »Ich werde nicht hinfahren, ich lasse mich nicht gern manipulieren«, sagte sie. »Nur weil irgendeine Irre nichts Besseres zu tun hat, als völlig einwandfreie Gemälde zu verunstalten und sie dann an mich zu schicken, muss ich noch lange nicht losstürmen und durch halb Europa reisen. Was kümmert mich das überhaupt? Ich muss die Bilder doch nur reinigen und meine Rechnung schicken.«

»Du hast gesagt, eine Irre.«

»Tatsächlich? Es könnte auch ein Mann sein.«

»Aber du glaubst, dass es eine Frau ist. Hast du denn eine Ahnung, wer es sein könnte?«

Kate gab keine Antwort. Sie goss etwas Sahne in die Sauce, dann nahm sie den Salat aus dem Kühlschrank und gab ihn in eine Schüssel. »Wir können essen«, sagte sie.

»Lass mich das machen.« David fing sie ab, stemmte den Kochtopf vom Herd und begann, die Nudeln in das Sieb in der Spüle zu gießen. Dichter Dampf stieg auf und füllte die Luft zwischen ihnen. »Also, was meinst du, wer dir diese Bilder schickt?«, fragte er.

Kate sagte nichts. David hatte die Arme steif ausgestreckt und den Kopf nach hinten gereckt, um sich vor dem Dampf zu schützen, während das kochende Wasser aus dem Topf schwappte. Einen Augenblick lang verschwand sein Oberkörper fast hinter der dicken Dampfwolke. Mit einem Mal wurde Kate von abgrundtiefer Angst erfasst. Eine Erinnerung durchzuckte sie, an Gestalten hinter Glas, verdeckt durch einen Schleier aus – aus was? Nebel? Gischt? Staub? Sie spürte Bewegung, und die halb wahrgenommenen Gestalten wuselten panisch umher, wie Ameisen, deren Nest aufgestöbert wurde. Und die ganze Zeit über wuchs das Entsetzen. All das Grauen liegt noch vor uns. Aber was für ein Grauen? Was war das, was vor ihnen lag?

Sie zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren. Es musste eine Möglichkeit geben, ihren Verstand von diesen halb erinnerten Fragmenten zu befreien.

»Lass uns essen, okay?«, sagte sie. »Ich will nicht mehr darüber reden.«

Kapitel 3:Mausefalle

Kate konnte nicht behaupten, dass sie nicht gewarnt worden war.

Nachdem ihm die Chance verweigert worden war, über die veränderten Gemälde zu sprechen, kam David auf das Thema zurück, das, wie er bereits zugegeben hatte, seine aktuelle Obsession war. Kate versuchte, ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken, während er ihr seine Geschichte erzählte, die Geschichte eines aufgeweckten jungen Mannes, der sich nach seiner Rückkehr aus Florenz im Alter von neunzehn Jahren für den leichten Weg entschied und in einen Job im Familienunternehmen rutschte. Das war zufälligerweise eine Kette chemischer Reinigungsbetriebe, aber es hätten ebenso gut Autohändler oder Lebensmittelgeschäfte oder sonst irgendetwas sein können: Das Geld stimmte, und die Arbeit war anspruchslos. Der junge Mann hatte geglaubt, er könnte das Spiel mitspielen, das Geld einstreichen und bequem leben und in der Zwischenzeit darüber nachdenken, was er wirklich mit seinem Leben anfangen wollte – bis er allmählich begriff, dass es kein Spiel mehr war, und das schon seit Jahren nicht mehr. Er leitete die Firma, Leute hingen von ihm ab, er hatte eine Frau und drei Kinder, und es war zu spät, viel zu spät, um jetzt noch die Richtung zu ändern.

Und so vertrieb sich der inzwischen nicht mehr junge Mann die Langeweile mit Alkohol und belanglosen Affären und wartete auf den Augenblick, da er den Ausbruch in die Freiheit wagen und sein eigentliches Leben mit neuem Schwung beginnen würde. Und dann plötzlich, vor ein paar Jahren, war ihm die Entscheidung abgenommen worden. Das Familienunternehmen wurde von einem staatlichen Konzern geschluckt, seine Frau wurde zu einem wandelnden Klischee und brannte mit dem Fitnesstrainer durch, und er saß da, gealtert und gestrandet, und starrte über die leere Hälfte ihres Betts auf das Foto eines lachenden jungen Paares, das er nicht einmal mehr wiedererkannte.

Kate versuchte seiner Geschichte zu lauschen, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Sie ärgerte sich darüber, wie das Marsyas-Bild sie an diesem Nachmittag fast aus dem Gleis ihres Vortrags geworfen hatte, und ihr Ärger schwappte zu einem Teil auf David über. Sie zupfte eine Beere von den Weintrauben, mit denen die blassgrüne Schale in der Tischmitte gefüllt war, und betrachtete den zarten grauen Schimmer auf ihrer rubinroten Haut, sah, wie sie das Licht schluckte. In Gedanken kehrte sie immer wieder zu den Fragen zurück, die an ihr nagten: Wer hatte ihr diese Bilder geschickt und warum?

»Kate? Langweile ich dich?«

»Was? Aber nein ... Ich ... na ja, es war ein langer Tag.« Mit etwas Glück würde er den Wink verstehen und gehen. Wenn sie allein war, vielleicht konnte sie dann diese ganze Geschichte vergessen.

»So lang nun auch wieder nicht«, sagte David schroff. Und dann: »Du denkst noch immer darüber nach, stimmt’s?«

»Natürlich nicht.« Kate stand unvermittelt auf und begann die Teller abzuräumen. Sie gähnte demonstrativ. »Kaffee, bevor du gehst?«

»Für mich nicht.« Seine schwarzen Augenbrauen zogen sich zu einem Stirnrunzeln zusammen. »Es muss doch eine Möglichkeit geben herauszufinden, was diese Bilder zu bedeuten haben.« Er wollte das Problem einfach nicht auf sich beruhen lassen. »Es kann schließlich nicht so viele Leute geben, die wissen, welche Beziehung zwischen dir und Francesca bestand. Denk doch einmal nach, Kate. Wenn du der Sache nicht auf den Grund gehst, wirst du einfach hier sitzen bleiben und warten, bis das nächste Bild kommt, und dann –«

»Oh, zum Himmel, nun hör schon auf damit!« Auf einmal bebte Kate vor Wut. »Ich habe es satt, über diese verdammten Bilder nachzudenken. Warum gehst du nicht einfach! Sie sind egal, verstehst du nicht? Egal!«

»Kate, es tut mir Leid, aber –«

»Und es hat nichts mit dir zu tun! Du machst es nur noch schlimmer. Nur weil du dort warst, glaubst du, du hättest eine Art Insiderwissen, aber da liegst du völlig falsch. Du weißt nichts darüber, absolut nichts!«

»Okay, okay.« David stand auf und nahm die Schale mit Trauben in die Hand.

»Halt dich da raus!«, sagte Kate und griff nach der Schale, um sie ihm zu entreißen, aber sie rutschte ihr in dem Augenblick aus den Händen, als er sie losließ, und sie fiel klirrend zu Boden. Hellgrüne Porzellanscherben und rote Trauben lagen verstreut zwischen ihnen auf dem Boden. »Oh, nein!« Als Kate auf das Chaos hinunterstarrte, stieg ihr ein Schluchzer in der Kehle hoch, und die ganze Anspannung des Tages entlud sich in einem entsetzten Wimmern. »Verdammt, verdammt, verdammt!« Sie ließ sich auf die Knie fallen und sammelte hektisch die Scherben ein. Eine scharfe Kante schnitt ihr in den Finger, und ein Blutstropfen quoll unter der Fingerspitze hervor.

»Kate, hör auf.« David kauerte sich neben sie. »Das hat doch keinen Sinn, ich fege das für dich auf.«

»Nein! Ich klebe es wieder zusammen!« Wie von Sinnen wühlte sie in den Scherben.

»Das kannst du nicht, Kate. Nicht einmal du. Es ist in tausend Teile zersprungen.« Er wollte den Arm um sie legen, aber sie stieß ihn wütend von sich. Er zog sich zurück. »Entschuldige, Kate.«

»Das war meine Lieblingsschale.« Sie nahm ein paar Scherben in die Hand, und eine Träne tropfte auf ihren Handrücken.

Er stand auf. »Ich kaufe dir eine neue, genau dieselbe«, sagte er.

»Nein. Ben und ich haben sie in Palermo gekauft«, sagte sie seufzend und hockte sich auf die Fersen. »David, du weißt nicht, wie das ist.«

»Es war meine Schuld.«

»Nein, ich meine nicht die Schale.« Sie wischte sich die Augen und stand auf. »Ich meine die Bilder. Ich weiß nicht, warum sie mich so aus der Fassung bringen, aber ... es ist, als würde irgendjemand versuchen, in mein Gehirn einzudringen. Warum zerrt jemand nach so langer Zeit das alles wieder ans Tageslicht? Was wollen die von mir?«

»Wer denn, Kate?«

»Francesca.«

»Francesca ist tot.«

»Ich weiß. Es ergibt keinen Sinn. Aber es will mir einfach nicht aus dem Kopf gehen.« Sie schniefte, klopfte die Hosentaschen ab und lächelte gequält. »Und ich habe nicht mal ein verdammtes Taschentuch.« Sie streckte die Hand nach dem Küchentresen aus, riss ein Stück von der Rolle mit Küchenpapier ab und putzte sich die Nase. David wartete. Er stand sehr nah bei ihr.

»Kate?«

»Ja?«

Sie verharrte reglos, schwankte nur ein klein wenig vor, als er sich zu ihr hinunterbeugte und ihre Lippen sich berührten. Ein Schauder strömte durch ihren Körper, ein Loslassen. Vielleicht war das die Lösung; vielleicht war das die einzige Möglichkeit, der Anspannung zu entkommen, die sie zu zerreißen drohte.

»Hör nicht auf.« Sie rückte näher, legte ihm die Arme um den Hals und küsste ihn richtig, dann glitt sie mit den Händen an seiner Hüfte unter das Sweatshirt und berührte die glatte Haut darunter. Sie lächelte. »Ich habe noch nie mit einem Mann geschlafen, der ganz in Hellblau gekleidet ist.«

»Du weißt nicht, was dir entgangen ist«, sagte David mit rauchiger Stimme.

»Wir können nach oben gehen, wenn du willst.«

Aber David war glücklich dort, wo sie waren. Sie küssten sich noch etwas länger, und dann nahm er ihr Gesäß in seine Hände, stützte sie, als er sie gegen den Kühlschrank drückte. Einen Augenblick lang war Kate verwirrt, wie plötzlich diese Veränderung zwischen ihnen eingetreten war. War das die Ablenkung, die sie wollte? Sie fummelten einen Augenblick lang herum, und Kate streifte mit ihren Fingern gegen seine, als sie mit Reißverschlüssen und Gummibändern kämpfte, und dann spürte sie seine Erektion heiß in ihrer Hand, und auf einmal merkte Kate, dass sie ebenso erregt war wie David. Draußen hatte der Regen von neuem begonnen, ein heftiger Sommerregen, und sein Trommeln verschmolz mit dem Pochen in ihren Ohren, Davids beschleunigtem Atem und ihrem freudigen Aufstöhnen, als sie alle Gedanken abschaltete und sich den Forderungen von Berührung und Empfinden hingab. Er begann, sich in ihr zu bewegen, und eine Welle der Lust strömte durch ihren Körper, wenngleich sie noch das Unbehagen in ihren Füßen spürte, da sie auf den Zehenspitzen stand, um seine Größe zu erreichen, und die harte Außenfläche des Kühlschranks ihr gegen Rücken und Waden drückte. Und dann, in genau dem Augenblick, in dem sie spürte, wie sie in jenes tiefe Meer aus Empfinden glitt, in dem Worte keine Bedeutung mehr haben, sprang in ihrem Gehirn ein Funke über, ein plötzliches Verstehen, und sie schrie triumphierend auf, während der Jubel in Wellen aus ihrem Innersten bis in die Fingerspitzen strömte.

Sie hielt ihn noch ein wenig länger fest, bis er kam, ließ die Wange auf seiner Schulter ruhen. Eine neue Art von Energie durchströmte sie.

Sie wusste die Antwort auf das Rätsel.

Sie verstand.

Kate riss das Schlafzimmerfenster weit auf. Der Regen hatte aufgehört, aber die Luft war noch immer schwer von Feuchtigkeit. Der Geruch von nasser Erde und Vegetation lag in der Luft, und ihr kleiner Garten verwandelte sich für eine kleine Weile in einen Tropendschungel, der die Nässe in sich aufsog. In der Ferne rauschte der Verkehr. Irgendwo heulte eine Sirene: jene fernen, unbekannten Tragödien, die die Londoner Nacht untermalten.

»Meine Hose ist noch nicht trocken.« David tauchte im Türrahmen auf.

»Du kannst über Nacht bleiben«, sagte Kate. »Ich würde dir ja gern das Gästezimmer anbieten, aber dafür ist es wohl ein bisschen zu spät. Du kommst schnell zur Sache, Mr. Clay.«

»Schnell?« Er grinste. »Ich habe nur etwas über fünfundzwanzig Jahre gewartet. Muss das langsamste Liebeswerben der Geschichte sein.«

»Na ja, wenn du es so siehst.«

»Es ist wie in einer dieser endlosen südamerikanischen Sagas.«

Sie lächelte. »Nein, knips das Licht nicht an.«

»Okay.« David kam durch das dunkle Zimmer und stellte sich neben sie. Kate konnte es kaum erwarten, ihm von der Erkenntnis zu erzählen, die ihr gekommen war, als sie sich liebten; sie hatte ihm seitdem ständig davon erzählen wollen, aber sie ahnte, dass sein männliches Ego nicht entzückt sein würde, diesen Hauptgrund für ihren Triumphschrei zu erfahren.

»Schon seltsam, nicht?«, sagte sie. »Nach so langer Zeit.«

»Irgendwie schon.«

»David.« Sie konnte sich nicht mehr zurückhalten. »Ich weiß jetzt, warum diese Details hinzugefügt wurden.«

»Tatsächlich? Die Ratte und die Biene?«

»Nicht eine Ratte und eine Biene.«

»Sondern?«

»Eine Maus und eine Wespe.«

»Woher weißt du das?«

»Weil Francesca eine Vespa fuhr, als sie starb. Und vespa ist das italienische Wort für ...«

»Natürlich!«

»Eben. Wespe!«

»Und die Maus?«

»Der Wagen, in dem ich saß, war einer dieser kleinen Fiats. Die nennt man Topolinos.«

»Oh mein Gott. Ein topolino ist eine kleine Maus.«

»Die kleine Maus frisst die Wespe. Der Topolino zerstört die Vespa.«

»Das ist doch krank. Genial, aber trotzdem krank.«

»Ja. Als würden sie glauben, Francescas Tod sei ein Witz.« Sie schauderte. »Das ist doch unheimlich.« Sie standen ein paar Augenblicke da, ohne zu sprechen. Draußen senkte sich endgültig die Nacht über den Garten, und die letzte Amsel brach ihr Lied unvermittelt ab.

Schließlich sagte David: »Du wirst es herausfinden müssen.«

»Wie denn?«

»Den Händler aufsuchen?«

»Er wird es mir nie sagen.«

»Dann fahr zur Villa Beatrice.«

»Das kann ich nicht.«

»Warum nicht?«

Kate wandte sich zu ihm um. Im Halbdunkel konnte man sich leicht vorstellen, dass sich David kaum von dem Jungen unterschied, der in jenen fernen Wochen in Florenz ihr Gefährte gewesen war. Es war Jahre her, seit sie mit jemandem zusammen gewesen war, der Francesca gekannt hatte. Jahre, seit sie sich zuletzt diesen Erinnerungen gestellt hatte.

Sie sagte leise: »Ich habe es noch nie jemandem erzählt, aber ... ihre Mutter hat mir die Schuld an dem gegeben, was passiert ist.«

»Was? Aber das ist doch lächerlich. Es war doch ein Unfall, oder nicht? Und du hast nicht einmal am Steuer gesessen.«

»Natürlich ist es verrückt. Aber ihre Familie war ja auch verrückt, erinnerst du dich nicht?«

»Ich habe nicht so viel Zeit mit ihnen verbracht wie du.«

»Und Francesca war ... na ja, anders.«

»Tatsächlich?«

»Aber ... ich habe sie geliebt, David. Ich habe sie wirklich geliebt. Das habe ich noch nie jemandem erzählt, denn es kannte sie ja niemand, niemand hätte gewusst, wovon ich rede. Aber du hast sie gekannt. Ich nehme an, so geht es einem immer mit Leuten, die jung sterben, aber Francesca war ... na ja, etwas Besonderes. Und ich habe ihr so viel zu verdanken. Alles im Grunde. Ohne Francesca hätte ich nichts von alldem getan. Vermutlich hätte ich für den Rest meines Lebens ein kümmerliches Dasein als Sekretärin gefristet. Durch sie erschien mir alles möglich. Ich habe das Gefühl, ich stehe in ihrer Schuld.«

»Aber sie ist gestorben, Kate. Bei einem Autounfall. Und es war nicht deine Schuld.«

»Das weiß ich ja. Aber ... es ist so seltsam. Vor ein paar Nächten habe ich geträumt, jemand sei in einem dunklen Zimmer eingesperrt. Gefangen und verängstigt, und man rief mir zu, rief mich um Hilfe, aber ich habe die Stimme ignoriert. Und als ich aufwachte, war ich regelrecht erschüttert; es kam mir vor, als hätte ich jemandem, der in Not war, den Rücken zugewandt. Ich hatte ein solch ... schlechtes Gewissen, aber ich wusste, dass das alles mit den Bildern zusammenhing.«

»Was willst du damit sagen, Kate? Meinst du, diese Veränderungen sind eine Art Hilfeschrei?«

»Das könnte sein.«

»Oder eine Falle. Irgendein verrückter Spinner, der immer noch besessen von Francescas Tod ist.«

»Vielleicht auch das.«

David seufzte. »Kate, ich weiß, du willst nicht wieder dorthin zurück, aber was ist, wenn ich mitkomme? Warte, hör mich an. Meine jüngste Tochter studiert in Rom. Ich will sie schon seit Monaten besuchen. Wir könnten beides verbinden. Und meine Neugier ist inzwischen fast so groß wie deine. Was meinst du?«

Lange Zeit gab Kate keine Antwort. Schließlich sagte sie: »Ich habe seit Jahren nicht mehr darüber nachgedacht. Und jetzt will es mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Erinnerst du dich noch an den Abend, an dem wir Francesca kennen gelernt haben? Wir waren in diesem Lokal.«

»Nein, wir waren auf der Party des Konsuls.«

»Oh mein Gott, das hatte ich völlig vergessen.«

»Es war auf dem Rückweg.«

»Richtig. Sie stand auf der Brücke.«

»Glaubst du, sie wollte sich umbringen?«

»Bei Francesca konnte man nie wissen, oder?«

David legte ihr einen Arm um die Taille, und sie sahen schweigend in die Dunkelheit hinaus. Und begannen sich zu erinnern.

Kapitel 4:Lungarno Corsini Due

Florenz war damals erfüllt vom Geruch von feuchtem Verputz, Abwasser und Schlamm, jeder Art von Schlamm, Schlamm überall. Schlamm beherrschte ihr Leben; tagsüber arbeiteten sie darin, und abends mussten sie durch die Straßen schlittern und schlingern, Straßen, verschmiert von Schlamm, bedeckt von Schlamm, gefährlich von Schlamm. Nur wenige Autos wagten sich in die Gegenden vor, die die Flut am schlimmsten getroffen hatte, und selbst die Fußgänger mussten sich mit Vorsicht ihren Weg bahnen. Es gab Schlaglöcher, wo der Fluss die Pflastersteine herausgerissen hatte, größere Löcher, wo Rohre ausgebessert wurden, Schutt und Schlamm, aufgetürmt zu stinkenden Haufen an Straßenecken. An manchen Stellen hatte die Flut riesige Brocken des Flussufers fortgerissen, und die Behebung der Schäden ließ noch immer auf sich warten.

Florenz, diese Wiege der westlichen Zivilisation, war durch den massiven Angriff von Schlamm und Dreck in die Knie gezwungen worden, und im Januar 1967, zwei Monate nach der Verwüstung, stand noch immer nicht fest, ob sie sich je davon erholen würde. Die Stadt war in diesen ungewissen Wintermonaten ein Ort außerhalb der Zeit.

An den Abenden erschien sie noch befremdlicher als sonst. Der Dunstschleier, verursacht durch den verdampfenden Schlamm, schien nachts noch dicker, und die Straßenlaternen – die wenigen, die noch funktionierten – warfen verschwommene Strahlenkränze in die Dunkelheit. Fast alle Florentiner, die der Stadt nicht hatten entkommen können, litten auf Grund der Luftverschmutzung an Hustenreiz, während die Fluthelfer eher die Romantik der Situation beschworen. Anna, die Gedichte schrieb, schilderte die Straßenlaternen als »verschwommene Pusteblumen«.

Es war Freitagabend, der zweite Freitag seit Kate in die Stadt gekommen war. Sie tauchte aus dem Hostel auf, sie und ein halbes Dutzend ihrer Freunde, die sich untergehakt hatten; und zusammen schlitterten sie lachend durch die schlammigen Straßen zum Britischen Konsulat. Sie hatten die ganze Woche in Kellern voller Schlamm hart gearbeitet, und jetzt war es Zeit für eine Party. Kate hatte sich extra eine frische Jeans und eine gestickte Folklorebluse angezogen, mit ihren baumelnden Lieblings-Ohrringen, reichlich Mascara und einem gespenstisch blassen Lippenstift. Sie fühlte sich gut, richtig gut, vor allem wenn sie daran dachte, wie entsetzt ihre Eltern wären, wenn sie sie jetzt sehen könnten. Mr. und Mrs. Hollands Pläne für ihre siebzehnjährige Tochter beschränkten sich auf einen sicheren Sekretärinnenjob, mit dem sie beschäftigt war, bis sie heiratete. Universitäten, das war ihrer Ansicht nach etwas für aufgeweckte Jungen; zu viel Bildung bei einem Mädchen schreckte die Männer ab und brachte später nur Unglück.

Besonders entsetzt hätte es sie, wenn sie gewusst hätten, dass Aiden, der junge Mann mit dem langen, senfgelben Haar und dem schwarzen Umhang, der sich auf Kates rechter Seite untergehakt hatte, in seiner ersten Zeit in London nach eigenen Angaben als Zuhälter gearbeitet hatte oder dass die poetische Anna Gerüchten zufolge eine Nymphomanin war oder dass Dons Arme von seiner Heroinsucht pockennarbig waren oder dass der gut aussehende Gordon und der zwergenhafte Mike nur Augen füreinander hatten. Kate war sich nicht sicher, wie viel sie von dem glauben sollte, was ihr erzählt wurde, aber sie genoss es, dass die beschauliche Welt, in der sie aufgewachsen war, herrlich weit entfernt zu sein schien. Trotz des Drecks und der harten Arbeit und ihrer primitiven Lebensverhältnisse im Hostel glühte sie vor Glück. Seit sie zurückdenken konnte, war das Wort »erwachsen« gleichbedeutend mit Verantwortung und Ernsthaftigkeit gewesen, und doch war sie nun hier, frisch von der Schule und völlig sorglos in der Welt. Sie war frei. Das Leben war ein Abenteuer.

»Seht mal, da ist wieder dieses Mädchen.«

Kate war die Fremde schon auf dem Rückweg von der Arbeit ins Hostel aufgefallen. Die einsame Gestalt hatte etwas an sich, was die Aufmerksamkeit auf sich zog, selbst in dieser Stadt voller Außenseiter und Ausländer.

Hoch gewachsen und gepflegt, war sie bei weitem zu elegant, um zu den Fluthelfern zu gehören. Ihr wallendes hellbraunes Haar wurde von zwei Schildpattkämmen zusammengehalten, und der Samtkragen ihres Mantels war gegen die raue Nachtluft hochgeschlagen. Sie trug schwarze Lederhandschuhe und eine schwarze Lacklederhandtasche, passend zu ihren Schuhen. Aber einer der Kämme war verrutscht, ein dicker Haarschopf fiel ihr seitlich übers Gesicht, und ihre Schuhe steckten unter einer Schlammkruste, scheußlicher grauer Schlamm, der ihre bestrumpften Beine bespritzt hatte. Sie kam ihnen langsam entgegen. Den Blick zum Boden gesenkt, befand sich die unbekannte junge Frau in ihrer eigenen Welt – und es sah nicht nach einer glücklichen Welt aus.