Die Frauen von Briarswood Manor - Joanna Hines - E-Book
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Die Frauen von Briarswood Manor E-Book

Joanna Hines

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Beschreibung

Ein englisches Erbe: Der düster-fesselnde Familiengeheimnisroman »Die Frauen von Briarswood Manor« von Joanna Hines jetzt als eBook bei dotbooks. Zwischen Glanz und dunklem Verfall … Unberührt und prachtvoll thront der Landsitz der Familie Cartwright über den grünen Hügeln im Herzen Englands. Auch im Haus selbst scheint alles wie aus der Zeit gefallen: man gibt elegante Dinnerpartys mit erlauchter Gesellschaft, nichts stört das Familienidyll. Doch dann bezieht eine Gruppe von Reisenden im nahen Dorf Quartier und bringt so brisante Geheimnisse ans Licht, die besser verborgen geblieben wären. Als sich die junge Suzie Cartwright mehr und mehr zu einem der Fremden hingezogen fühlt, weiß sie selbst, dass dies zum Scheitern verurteilt ist. Doch Suzie ist nicht die erste Frau in ihrer Familie, die sich in einen unstandesgemäßen Mann verliebt hat – und es ist auch nicht das erste Mal, dass alles in Blut und Scherben enden könnte ... Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der atmosphärische Englandroman »Die Frauen von Briarswood Manor« von Joanna Hines wird Fans von Felicity Whitmore begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 659

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Über dieses Buch:

Zwischen Glanz und dunklem Verfall … Unberührt und prachtvoll thront der Landsitz der Familie Cartwright über den grünen Hügeln im Herzen Englands. Auch im Haus selbst scheint alles wie aus der Zeit gefallen: man gibt elegante Dinnerpartys mit erlauchter Gesellschaft, nichts stört das Familienidyll. Doch dann bezieht eine Gruppe von Reisenden im nahen Dorf Quartier und bringt so brisante Geheimnisse ans Licht, die besser verborgen geblieben wären. Als sich die junge Suzie Cartwright mehr und mehr zu einem der Fremden hingezogen fühlt, weiß sie selbst, dass dies zum Scheitern verurteilt ist. Doch Suzie ist nicht die erste Frau in ihrer Familie, die sich in einen unstandesgemäßen Mann verliebt hat – und es ist auch nicht das erste Mal, dass alles in Blut und Scherben enden könnte ...

Über die Autorin:

Schon in ihrer frühen Jugend begann Joanna Hines, mit Leidenschaft zu schreiben. Neben ihren Romanen veröffentlichte sie auch Kurzgeschichten und Artikel in »The Guardian« und »The Literary Review«; unter dem Namen Joanna Hodgkin schreibt sie außerdem Biografien. Die Autorin verbrachte viele Jahre mit ihrer Familie in Cornwall; heute lebt und arbeitet sie wieder in ihrer Heimatstadt London.

Bei dotbooks veröffentlichte Joanna Hines auch ihre Spannungsromane »Das Geheimnis von Chatton Heights«, »Die Schatten von Glory Cottage«, »Das Cottage über den Klippen«, »Das einsame Haus am Fluss«, »Das Schweigen der alten Villa« und »Das Erbe von Grays Orchard«.

Ebenfalls erschien bei dotbooks ihre historische Familiensaga »Die Rosen von Cornwall« mit den Romanen:

»Sturmjahre – Band 1«

»Schicksalslied – Band 2«

»Sehnsuchtsleuchten – Band 3«

***

eBook-Neuausgabe November 2021

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1997 unter dem Originaltitel »Autumn of Strangers« bei Hodder and Stoughton, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 1999 unter dem Titel »Das Vermächtnis der Fremden« bei Droemer Knaur.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1997 by Joanna Hines

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1999 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Desiign unter Verwendung von shutterstock/Kiev.Victor, schankz

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-340-7

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Joanna Hines

Die Frauen von Briarswood Manor

Roman

Aus dem Englischen von Ruth Schrammeck

dotbooks.

FÜR MEINE TOCHTER JESSICA

Kapitel 1

Es war ein typischer Nachmittag im Altweibersommer: Die blauen Schatten verschwammen ins Unendliche, und selbst die Insekten wirkten schläfrig. Blickte man von einem höhergelegenen Punkt auf das Dorf hinunter, so konnte man den Eindruck gewinnen, als treibe es wie eine Insel aus Dächern und gepflegten Gärten in einem blassen Meer abgeernteter Stoppelfelder und Wiesen. Die dumpfe Spätsommerhitze schien schwer auf den Tieren und Pflanzen zu lasten.

In solch einer flirrenden Ruhe kann einem das Zeitempfinden so manchen Streich spielen.

Lydia blickte von Ravens Beacon auf das Dorf hinunter und wünschte sich, dieser Nachmittag möge nie enden. Für den Abend drohte ihr eine Einladung zum Dinner im Herrenhaus: Unterhaltungen so steif und gestärkt wie die Servietten und eine Begrüßung, die ihr nur um so deutlicher vor Augen führen würde, daß sie nicht dazugehörte.

Die alte Dame, die Lydias Gastgeberin sein würde, beschäftigte sich zur selben Zeit überflüssigerweise mit ihrem erst eine Stunde zuvor fertiggestellten Arrangement aus Gartenwicken und Schleierkraut. Sie war jetzt in ihren letzten Lebensjahren, theoretisch wurde ihre Zeit also knapper, doch an Nachmittagen wie diesem hatte sie das Gefühl, als ertränke sie in einem Überfluß an Zeit.

Gar nicht weit von ihr entfernt flitzte ihre Tochter Caro erhitzt und gereizt von hier nach da; sie schien wie üblich alle Stunden des Tages schon längst verbraucht zu haben.

Nur der kleine Junge in dem Lastwagen, der gerade aus einem unruhigen Schlaf erwachte und etwas brüllte, damit man ihn über das Dröhnen des Motors hinweg hörte, befand sich noch in diesem beneidenswerten Alter, in dem man sich der Zeit nicht bewußt ist, weil sie sich im endlosen Jetzt der Kindheit verliert.

»Ist das der Ort, wo wir hinfahren?«

»Ja.«

»Wie heißt er?«

»Briarswood.«

Der Name sagte ihm gar nichts. Noch nicht.

Die apathisch in der Sommerhitze herumliegenden Hunde von Briarswood bemerkten die Invasion zuerst. Zu dem zarten, durchscheinenden Summen und Brummen gesellte sich plötzlich aus der Ferne ein tiefes Dröhnen, das sich, wie ein leise drohendes Sommergewitter, unaufhaltsam näherte.

Suzie bekam sie als erste zu Gesicht. Sie spazierte mit ihrem ältlichen Labrador Bumpkin die Straße entlang und hatte gerade erst festgestellt, daß der Tag einfach quälend langsam verstrich. Weil sie erst fünfzehn war, erzählten ihr die Leute ständig, daß sie noch ihr ganzes Leben vor sich hätte, und das war zwar sicherlich nett gemeint, nichtsdestotrotz eine grausige Vorstellung, fand sie es doch schwierig genug, auch nur einen einzigen Nachmittag herumzukriegen.

Noch während sie dies dachte, tauchten die Fahrzeuge auf dem Hügel auf.

Das Auto, das die Parade anführte, war einmal, vor sehr langer Zeit, rot gewesen; es zog mühsam einen altmodischen Wohnanhänger hinter sich her. Ihnen folgte, wie Suzie durch ihren blonden Haarschleier sah, ein Lastauto mit Fenstern an der Seite und einem seltsamen kleinen Kamin auf dem Dach.

Dahinter kamen ein Wohnwagen und ein kleiner Laster, der wiederum einen Wohnwagen im Schlepptau hatte. Immer mehr dieser alten Gefährte rollten über den Hügel.

Angst fuhr ihr den Rücken hinunter.

Als das rote Auto näher kam, hörte man Bremsen quietschen. Dann entdeckten die beiden Insassen Suzie, doch zeitgleich bekam auch ihr Hund – ein riesengroßes, wildes weißes Tier – Suzies Bumpkin zu Gesicht, was dazu führte, daß er sich wie von einem bösen Geist besessen laut bellend gegen das Armaturenbrett warf und der Fahrerin die Sicht nahm. Selbst über das Dröhnen des Motors und das Kläffen des Hundes hinweg konnte Suzie hören, wie die plötzlich sichtlose Fahrerin lautstark fluchte, wobei sie nur noch von ihrem Beifahrer übertönt wurde, der den Hund wieder unter Kontrolle zu bringen versuchte. Das Fahrzeug schlingerte auf Suzie zu, so daß Bumpkin seine Nackenhaare aufstellte und warnend knurrte; Suzie blieb wie angewurzelt stehen. Kurz bevor das Auto von der Straße abkam, gelang es den Insassen, den Hund zu überwältigen, und erneut tauchte das Gesicht einer Frau hinter dem Lenkrad auf. Das Fahrzeug kam knirschend zum Stehen. Sie hatten nur um Haaresbreite eine Katastrophe vermieden.

Der Beifahrer, ein umwerfend gutaussehender junger Mann, lehnte sich aus dem Fenster und rief Suzie zu: »Ist das der richtige Weg zu Ted Seddens Farm?«

Zum ersten Mal in ihrem Leben war Suzie zu erschreckt, um verlegen zu werden, und so brüllte sie zurück: »Geradeaus durchs Dorf und dann nach dem Feuerwehrhaus die erste links.«

»Danke!«

Das Grinsen, das sich auf dem Gesicht des jungen Mannes ausbreitete, hatte eine außergewöhnliche Wirkung auf Suzies Magen. Der Mann war sehr attraktiv, und sein dunkles Haar war oben auf dem Kopf sehr kurz und an den Seiten lang. Im Vergleich zu ihm war seine Begleiterin recht unauffällig – wobei Suzie der Meinung war, daß im Vergleich zu ihm jede Person farblos erschienen wäre –, aber sie bedachte Suzie mit einem warmen Lächeln und hob den Daumen, bevor sie den Gang einwarf und wieder anfuhr. Der bleiche Hund bellte immer noch aufgeregt, doch galt dies jetzt dem Wohnwagen, der hinter ihnen herhüpfte und schwankte.

Mit laut aufheulendem Motor und eine beängstigend dunkle Abgaswolke hinterlassend, machten sie sich wieder auf den Weg, gefolgt von dem Wagen mit den komischen Fenstern und dem kleinen Kamin und dem übrigen Troß von altersschwachen, ächzenden Fahrzeugen.

»Du lieber Himmel«, dachte Suzie, als sie wieder allein am Straßenrand stand. »Und da habe ich gerade noch gedacht, in Briarswood würde sich nie etwas Interessantes ereignen.«

Als der ungewöhnliche Zug an den schmiedeeisernen Toren von Briarswood Manor vorbeikam, war Suzies Großmutter, die auf den Namen Veronica Jane getauft war, doch seit mehr als sieben Jahrzehnten bloß Twinks genannt wurde, wie sie selbst es formuliert hätte, »völlig aufgelöst«. Niemand wäre auf die Idee gekommen, daß dies so sein könnte, weil sie stets bewundernswert Haltung bewahrte, was es unmöglich machte, sich vorzustellen, die alte Dame, deren Gesicht einst sehr schön gewesen war und auch heute immer noch heitere Gelassenheit ausstrahlte, könne sich in einer Krise befinden. Twinks’ Ehemann blieb diese Tatsache jedenfalls verborgen; er hatte während ihrer beinahe fünfzigjährigen Ehe ohnehin nie bemerkt, was Twinks tatsächlich fühlte.

Sie griff nach ihrer doppelreihigen Perlenkette, als handle es sich um Gebetsperlen, die sie beruhigen könnten. »Du hast Wyndham Sale eingeladen? Zu uns? Heute abend?«

»Ja.« George sah in seiner üblichen rauh-herzlichen Art zu ihr hinunter, und er hätte bestimmt in Hundemanier mit dem Schwanz gewedelt, wenn er einen gehabt hätte. Er war ein großer Mann, dem seine Jahre kaum anzusehen waren, wenn ihm auch die Jacketts ein wenig lockerer von den Schultern hingen als früher und er von allen möglichen lästigen Schmerzen geplagt wurde, die er vor anderen Menschen, einschließlich seiner Frau, jedoch nie gezeigt hätte. »Ich wußte doch, daß du dich freuen würdest«, fügte er hinzu.

»Freuen?« Twinks’ Stimme war nicht mehr als ein mattes Echo. »Und warum bitte sollte ich mich freuen?«

»Ich wußte doch, daß du diesen Mann schon immer mal zum Abendessen einladen wolltest. Ich habe ihn zufällig auf der Straße getroffen. Es war die perfekte Gelegenheit.«

Ein seltsamer Glanz lag mit einem Mal in Twinks blaßgrünen Augen, doch ihrem Mann fiel diese Veränderung nicht auf. Einen Moment lang wußte sie nicht weiter. In letzter Zeit hatte sie den Eindruck gehabt, ihr Sichtfeld verenge sich, fast so, als würde sich eine Art geistiger Nebel über alles legen. Doch auch durch diesen Schleier hindurch konnte sie noch sehr deutlich erkennen, daß George wieder einmal ihre Pläne durchkreuzt hatte.

»Es wäre doch schön gewesen«, teilte sie ihm mit ernster Stimme mit, »es wäre sogar wünschenswert gewesen, ein bißchen vorgewarnt zu sein, George. Vielleicht hätte man dann auch eine richtige Dinnerparty organisieren und die Gäste und das Menü mit der notwendigen Sorgfalt auswählen können.«

»Genau.« George, der seine Kappe aufgehängt hatte, beugte sich vor, um seinen Hund Hamish zu streicheln, eine jüngere, rabenschwarze Ausgabe von Bumpkin. »Ich wußte ja, daß wir für heute abend schon Gäste eingeladen haben.«

»Caro und Suzie. Jim. Lydia Fairchild.« Twinks sprach diese Namen aus, als ließe sie schmutzige Wäsche in den Wäschekorb fallen.

Davon unbeeindruckt begann George, Hamish kräftig trokkenzureiben. »Sehr passend, nicht wahr? Charmante Damen, familiäre Atmosphäre, also genau das, was der Mann nach dem Tod seiner Frau braucht.«

»Wyndham Sale«, Twinks betonte den Namen mit besonderem Nachdruck, »ist der neue Besitzer von Haddeley Hall.« »Ein monströser alter Steinhaufen. Der arme Kerl. Ich frage mich, was er damit anfangen wird.«

Twinks spürte ein unangenehmes Gefühl in der Brust und entschloß sich deshalb zu einem taktischen Rückzug. Sie ließ George bei seinem Hund zurück und entfernte sich mit dem für sie typischen schwebenden Gang, den sie sich vor vielen Jahren angeeignet und seitdem nie wieder aufgegeben hatte. Auf dem Weg in den vorderen Teil des Hauses entschied sie sich für einen kleinen Umweg und schritt über die dicken Teppiche in den Salon, wo sich die trostreiche Bar befand. Nicht einen Augenblick kam ihr der Gedanke, sie könne vielleicht böse auf ihren Mann sein, denn wie George glaubte auch sie, daß sie wie füreinander geschaffen waren. Außerdem waren Zwistigkeiten vulgär. Ihr kam auch gar nicht in den Sinn, daß sie vielleicht unglücklich war; wie auch, wo es doch so vieles gab, für das sie dankbar sein mußte?

Ihr Glück war schließlich überall sichtbar: elegante Familienporträts an den Wänden, feine, von ihr geliebte Silber- und Porzellangegenstände in den Vitrinen, ganz zu schweigen von dem wunderbaren Flügel, der nun zwar kaum noch genutzt, aber immer noch regelmäßig poliert und gestimmt wurde. In ihrer Jugend war Twinks von ihren Musiklehrern aufs höchste gelobt worden, und als Erwachsene hatte sie im Klavierspiel einen Trost gefunden, der weit über die reine Freude am Spielen hinausging, doch vor etwa fünf Jahren waren ihre Finger so steif geworden, daß es keinen Sinn mehr hatte, diese Beschäftigung fortzuführen. Aber Twinks gestattete sich kein Selbstmitleid, denn sie hatte ja so viel anderes, das sie zu Dankbarkeit verpflichtete. Zu jener Zeit waren die ersten Nebelschwaden aufgetaucht.

Jetzt war sie sich nicht einmal mehr bewußt, daß Georges übereilte Einladung sie aufregte. Sie würde einfach Sandra anrufen und sie für eine Stunde früher als geplant bestellen. Mr. G. konnte ohnehin kurzfristig geholt werden. Dann mußte sie auch noch Caro anrufen, um sie auf die neue Situation vorzubereiten. Doch zuerst wollte sie sich einen kleinen Muntermacher genehmigen. Ein Schlückchen Sherry oder Gin ließ einen die Dinge einfach wieder klarer sehen, und wenn ihr Hausarzt davon gewußt hätte, hätte er sicherlich auch das ein oder andere Gläschen als medizinisch sinnvoll erklärt.

Kurz nach ihrem unerwarteten Nachmittagserlebnis schlenderte Suzie durch die Hintertür der Lodge, wo ihre Mutter gerade Unmengen von Pflaumen unter laufendem Wasser säuberte. Da ihr sehr daran gelegen war, nicht zu irgendwelchen Einmacharbeiten herangezogen zu werden, machte sie auf dem Absatz kehrt und setzte sich auf die Schaukel am Ende des Gartens, wo sie, ohne unliebsame Störungen befürchten zu müssen, in Ruhe an den Jungen mit den bemerkenswert dunklen Augen denken konnte.

Caro hatte Suzie kurz mit Bumpkin an der Hintertür auftauchen und ebenso schnell wieder verschwinden sehen, doch sie war so beschäftigt, daß sie kaum Zeit gehabt hatte, hallo zu sagen. Sie war am Nachmittag zufällig am Farmladen vorbeigekommen, vor dem sie diese wunderschönen lilaroten Victorias angelacht hatten, und sie hatte der Versuchung nicht widerstehen können, obwohl sie vor dem Abendessen im Herrenhaus noch unendlich viele Dinge zu erledigen hatte und wußte, daß man Victorias umgehend verarbeiten mußte, weil sie sonst verdarben. Jetzt kochte sie die Früchte im Einmachtopf weich und hatte gerade den Zucker hinzugefügt, als das Telefon klingelte. Wie üblich hörte mal wieder niemand im Haus dieses verdammte Ding, und so blieb Caro keine andere Wahl, als sich ein Handtuch zu schnappen und sich auf dem Weg in den Flur hastig die Hände abzutrocknen. Als sie den Hörer abnahm, rief sie in die Stille des Hauses: »Schon gut, bin schon dran!« Als interessierte das überhaupt jemanden.

»Caro.«

Caros Stimme wurde leiser. »Oh, hallo, Mama.«

»Es gibt etwas Neues«, verkündete Twinks. »Dein Vater hat heute mittag zufällig Wyndham Sale getroffen und ihn zum Dinner eingeladen.«

Caro erfaßte den Ernst der Lage sofort. »Kannst du ihm nicht irgendwie absagen?«

»Wir werden es schon hinbekommen. Sandra meint, sie wird das Lamm strecken können. Sieh du bitte zu, daß Jim und Suzie präsentabel sind. Ich hoffe nur, die arme Lydia ist der Situation gewachsen.«

»Lydia ... oje.«

»Bemüh dich bitte, pünktlich zu sein. Wenigstens diesmal.« Die Leitung war tot, noch bevor Caro einwenden konnte, daß ihre Familie immer pünktlich war.

Caro, die immer noch von dieser unberechtigten Spitze ihrer Mutter gekränkt war, klopfte an die Tür von Jims Arbeitszimmer, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen, als in der Küche ein zischendes Geräusch ertönte. Mit einem Aufschrei rannte sie zurück und betrat die Küche gerade rechtzeitig, um miterleben zu können, wie die heiße Fruchtsoße im Topf explodierte, sich wie ein Lavastrom über den Topfrand und den Herd ergoß und sich schließlich fröhlich auf dem Fußboden ausbreitete.

Jim Lewis saß gerade vor dem aufgeschlagenen Buch auf seinem Schreibtisch, das er zwar ansah, jedoch nicht las. Er hatte das Klingeln des Telefons und die anschließende, erfreulich kurze Unterhaltung seiner Frau mitbekommen und aus ihrem ängstlichen Brave-Tochter-Tonfall geschlossen, daß sie mit Twinks sprach, es jedoch nicht für nötig befunden, sich einzumischen, bis schließlich ihr Verzweiflungsschrei ertönt war. Jim hatte sich über die Jahre so daran gewöhnt, daß Caro immerzu mit irgend etwas beschäftigt war, daß er es schon gar nicht mehr wahrnahm, es sei denn, in ihrer alltäglichen Hyperaktivität gab es, wie jetzt, Anzeichen für eine ernste Krise. Da er bereits vor langer Zeit zu der Auffassung gelangt war, daß ihr Leben unerträglich wäre, wenn sie beide mit der gleichen Ruhelosigkeit agierten, hatte er beschlossen, das Auge des Wirbelsturms zu sein. Diese Rolle hatte er mittlerweile so weit perfektioniert, daß manchmal die Gefahr bestand, er könnte völlig zum Stillstand kommen.

Jetzt erhob er sich gemächlich vom Stuhl, klappte das Buch zu und schlenderte in Richtung Küche. Dort blieb er einen Moment im Türrahmen stehen und begutachtete die Bescherung mit einem geübt nachsichtigen Lächeln. Caro kniete auf dem Fußboden und wischte hektisch die klebrige Masse auf, während es weiterhin rotbraun vom Herd heruntertropfte. »Oje«, meinte er, »was für eine Schweinerei.«

Caro sah mit vor Anstrengung gerötetem Gesicht zu ihm auf. »Bei Mama herrscht Alarmstufe eins«, teilte sie ihm mit. »Papa hat völlig eigenmächtig Wyndham Sale für heute abend zum Essen eingeladen.«

»Wenn es weiter nichts ist. Ich hatte schon die Befürchtung, es hätte eine richtige Katastrophe gegeben – Mr. G. hätte seine Kündigung eingereicht oder so etwas. Ihr beide wolltet diesen Sale doch immer schon mal kennenlernen, seit er Haddeley Hall gekauft hat.«

Caro hatte keine Lust, Jim zu erklären, daß ein zusammengewürfeltes Familienabendessen wohl kaum der ideale Rahmen für die Einführung des neuen Besitzers von Haddeley Hall darstellte, deshalb sagte sie bloß: »Wir müssen unbedingt pünktlich sein. Mama möchte, daß wir um sieben dort sind.«

»Ich kann in fünf Minuten fertig sein.«

»Ich aber nicht. Und wir müssen schick aussehen.«

»Das tust du doch immer«, meinte ihr Mann.

Caro erwartete nie Komplimente, daher hielt sie in ihrem Wischen inne und sah ihn mit einem überraschten Lächeln an, das sie mit einem Mal wie verwandelt wirken ließ. Sie hatte ein nüchternes und offenes Gesicht und so gar nichts von der Weiblichkeit oder Eleganz, die stets die größten Qualitäten ihrer Mutter gewesen waren. Sie schob sich die Haare, die sie immer noch in dem langen Bobschnitt ihrer Jugend trug, hinter die Ohren und sagte: »O Jim.« Und nach einer kurzen Pause: »Sieh dir das nur an. Bin ich nicht ungeschickt?«

Aber wenigstens lächelte sie wieder. Jim hatte ihr schüchternes, entschuldigendes Lächeln immer sehr liebenswert gefunden, besonders wenn es ihm wie jetzt signalisierte, daß er wieder guten Gewissens in sein Arbeitszimmer zurückkehren konnte.

Bevor er ging, merkte er noch an: »Wenn du zuerst den Herd sauber machst, läuft nicht alles weiter auf den Boden.« Er bot ihr selten praktische Hilfe an; sie war in der Vergangenheit zu oft abgelehnt worden.

In dem vertäfelten Zimmer im Erdgeschoß von Haddeley Hall, das als Büro diente, telefonierte Wyndham Sale gerade gleichzeitig mit Minneapolis und Hongkong, und war sich der Aufregung, die seine Zusage ausgelöst hatte, gar nicht bewußt. Genaugenommen hatte er die Einladung sogar schon völlig vergessen.

»Idioten«, kommentierte er gelassen, als er auf eine Taste drückte und so die zeternde Stimme aus Minneapolis aus der Leitung warf. »Das ist ihr Problem. Das müssen sie selbst regeln.«

Dann wies er Hongkong an: »Ich will spätestens bis morgen die Zahlen haben, sonst kommen wir nicht ins Geschäft.« Die schrille Stimme am anderen Ende wechselte in die nächsthöhere Oktave, doch Wyndham sagte nur freundlich: »Das ist mein letztes Wort. Ich freue mich, morgen wieder von Ihnen zu hören«, dann wurde Hongkong auf die gleiche Weise zum Schweigen gebracht.

»Gut.« Wyndham wandte sich an seinen Sekretär, einen Mann unbestimmten Alters mit einer grellen lachsroten Krawatte: »Was steht als nächstes an?«

»Das war’s«, erwiderte Mark. Was ihm an diesem Job am besten gefiel, war der ökonomische Arbeitsstil seines derzeitigen Chefs. Sale führte seine Geschäfte äußerst effizient und mit einem Minimum an Streß, weshalb man bei ihm von den Wutanfällen und Dramen verschont blieb, mit denen so viele Geschäftsleute ihre unersättlichen Egos fütterten. Wenn es notwendig war, konnte Sale absolut skrupellos sein, doch weil er immer so distanziert, ja beinahe entspannt war, bemerkten seine Geschäftspartner meist erst viel zu spät, in welcher Gefahr sie sich befanden.

»Sind Sie sicher?« Wyndham Sale sah gereizt auf seinen leeren Ablagekorb. Er selbst hielt es für den größten Nachteil seiner vielgerühmten Effizienz, daß er häufig nicht mehr genug zu tun hatte. Er warf dem Faxgerät einen hoffnungsvollen Blick zu, als wollte er es dazu bewegen, ein neues Problem auszuspucken.

Mark schob einige Papiere zusammen. »Ich dachte, wir könnten vielleicht auf ein Bier und einen Happen zu essen zum Pub runtergehen. Es ist ein sehr schöner Abend.«

»Ja?« Von dieser unerwarteten Information aufgeschreckt, erhob sich Wyndham Sale und schlenderte zum Fenster hinüber, wo er kurz die langen Schatten betrachtete, die die riesigen vereinzelten Eichen im Park warfen. Seine ehrwürdigen alten Eichen, seine sanft hügelige Parkanlage. »Tatsächlich.« Das plötzliche Eindringen der Natur schien ihn zu verwundern, doch während er den Blick über sein neu erworbenes Grundstück schweifen ließ, wurde ihm bewußt, daß die Aussicht etwas Kulissenhaftes hatte, fast so, als wäre sie gemalt. Die Leute behaupteten immer, die Natur habe etwas Beruhigendes, aber seit Annabels Tod empfand er Landschaften immer als eigenartig unwirklich und konnte in ihnen keinen Trost finden.

»Verdammt ruhig hier«, murmelte er. Die Arbeiter, die in der einstigen Orangerie ein zwölf Meter langes Schwimmbecken installierten, hatten bereits zusammengepackt und waren vor einer halben Stunde gefahren.

Mark beobachtete seinen Chef. Wyndham Sale war ein mittelgroßer, kräftiger Mann Anfang Vierzig, den man allerdings auch für jünger halten konnte. Er hatte angenehme, markante Gesichtszüge, die mehr verbargen, als sie preisgaben, und da es stets so schien, als müsse er seine Energie zügeln, weil es ihn ständig nach neuen Aktivitäten drängte, wirkte er nie farblos.

Mark bewunderte seinen Arbeitgeber und genoß dessen Gesellschaft, beinahe so, als hoffte er, ihm mit der Zeit immer ähnlicher und genauso reich und erfolgreich zu werden. Jetzt meinte er zu Wyndham: »In Briarswood soll ein indonesischer Abend stattfinden.«

»So?« Wyndham war alles andere als begeistert. Er fand die Aussicht auf einen Abend in Gesellschaft seines Sekretärs nicht gerade verlockend, wollte jedoch auch nicht allein sein. Zu seiner Erleichterung fiel ihm ein, daß er andere Verpflichtungen hatte. »Ein andermal, Mark. Ich soll heute abend in die High Society von Briarswood eingeführt werden.«

»Nein! So etwas Nobles gibt es hier?« fragte Mark, der seine Enttäuschung hinter einem Lächeln verbarg.

»Ja, anscheinend schon. Ich habe heute nachmittag bei der Kirche einen munteren alten Knaben getroffen. Er meinte, es wäre an der Zeit, mich mit den Einwohnern bekannt zu machen, und so hat er mich zum Abendessen eingeladen. George Cartwright, er wohnt im Manor.«

»In dem schönen Haus mit den Eisentoren? Ich habe es von der Straße aus gesehen.«

»Genau das. Ich befürchte, Sie werden also wieder allein trinken müssen, Mark. Vor morgen ist mit einer Antwort aus Mailand nicht zu rechnen, also war’s das für heute. Ich werde mich jetzt fertig machen. Mein Gastgeber machte den Eindruck, als lege er großen Wert auf Pünktlichkeit, und deshalb will ich nicht zu spät kommen.«

»Genau, das wäre ungehörig«, stimmte Mark ihm zu.

Lydia Fairchild war schließlich diejenige, die sich verspätete. Pünktlichkeit gehörte zu den Tugenden, die ihr seit ihrer Ankunft in Briarswood anscheinend abhanden gekommen waren. Der Grund dafür war ihr völlig schleierhaft, denn sie konnte sich zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Tage ganz nach Belieben einteilen; sie hatte keine Termine, keine Verpflichtungen und keinerlei Druck. Obwohl sie nur zehn Minuten von Rose Cottage zum Herrenhaus brauchte, kam sie doch unweigerlich zu spät.

Leider konnte sie ihrer Gastgeberin, die sicherlich beleidigt sein würde, schlecht erklären, daß sie ganz in die Beobachtung der Finken vertieft gewesen war, die sich auf den Disteln am Ende ihres Gartens niedergelassen hatten, und sie deshalb alles um sich herum vergessen hatte. Ebensowenig konnte sie sich vorstellen, daß Twinks für ihre neueste Theorie Verständnis haben würde, der zufolge die Zeit auf dem Land anderen Gesetzen gehorchte, so daß sich Stunden völlig unberechenbar ausdehnten oder aber zusammenschrumpften.

Eigentlich hatte Lydia nur ein paar Tage oder bestenfalls eine Woche im Rose Cottage bleiben wollen. Ihr Besuch war nur als kurzer Erholungsurlaub geplant gewesen, als Möglichkeit, wieder zu sich selbst zu finden, um ihre Zukunft neu planen zu können. Das war nun mehr als zwei Monate her. Nicht daß sie je wirklich beschlossen hätte, ihren Aufenthalt zu verlängern; Lydia konnte sich ohnehin nur mit Mühe daran erinnern, wann sie das letzte Mal eine bewußte Entscheidung getroffen hatte. Es war eher so, daß der morgige Tag immer besser geeignet zu sein schien, sich mit schwierigen Problemen zu beschäftigen, als der heutige.

Mit was genau sie ein so langandauerndes Heute eigentlich herumbekommen hatte, war ihr ein weiteres Rätsel, zumal sie sich selbst immer für einen Menschen gehalten hatte, der unruhig wurde, wenn er nicht ausgelastet war. Vielleicht hatte sie diesen Ausflug aufs Land gebraucht, um sich von dem Trauma im Frühling zu erholen. Vielleicht. Dennoch schienen diese acht Wochen keinerlei Bezug zu ihrem übrigen Leben zu haben und waren deshalb auch nicht relevant. Als Städterin lernte sie gerade, auf die vielen kleinen Details auf dem Lande zu achten: darauf, wie die Hecken durch die heranreifenden Beeren mit einem ersten Hauch Rostrot und Lila überzogen wurden; darauf, wie sich die Schwalben auf den Hochspannungsleitungen sammelten und in unendlichen Variationen tschilpten, und nicht zuletzt auf die liebenswerten Distelfinken.

Als Lydia an diesem Nachmittag von einem Spaziergang zurückgekehrt war, hatte sie inmitten der üblichen ländlichen Geräuschkulisse einen neuen Laut ausgemacht. Er schien aus der Gegend zu kommen, die die Ortsbewohner als »Senke« bezeichneten und die etwa vierhundert Meter von ihrem Häuschen entfernt lag. Sie hatte das Dröhnen von Motoren gehört und das Aufheulen durchdrehender Räder, war jedoch nicht übermäßig neugierig gewesen, weil sie mittlerweile lange genug auf dem Land lebte, um zu wissen, daß die Bauern allen möglichen seltsamen Aktivitäten nachgingen, nach denen man sich besser nicht erkundigte, weil das bloß ebenso langatmige wie komplizierte Antworten herausforderte, die letztlich nie besonders erhellend waren.

Danach hatte sie den Lärm in der Senke gar nicht mehr bemerkt. Die Distelfinken waren eingetroffen, und sie war mit ihrem Zeichenblock hinaus in den Garten gegangen. Wenn es ihr doch nur gelänge, diesen aufgeregten Angriff auf die Disteln festzuhalten. Lydia hatte immer sehr gut naturgetreu zeichnen können, und sie hatte von diesem Talent sehr profitiert, aber jetzt sehnte sie sich danach, über das reine Abbilden hinauszukommen und das Wesen der Dinge festzuhalten, denn das Herabstürzen und Gleiten der Vögel war einfach wunderbar. Und während sie sich dieser unmöglichen Herausforderung gestellt hatte, war ein weiterer Nachmittag verstrichen.

Lydia wußte, daß sie sehr viel Zeit dafür aufwendete, wichtigen Aufgaben aus dem Weg zu gehen, beispielsweise der, endlich ihr Leben zu ordnen oder Gordons Briefe zu beantworten.

Der letzte war am Morgen eingetroffen und lag auf dem Küchentisch; sie hatte ihren Kaffeebecher zum Beschweren darauf gestellt, so daß er bereits von braunen Halbmonden geziert wurde. Gordon hatte eine für einen Arzt bemerkenswert gut leserliche Schrift, aber Lydia hätte es vorgezogen, wenn sie undeutlicher gewesen wäre, denn seine Sätze steckten voller Vorwürfe: »... verstehe ja Dein Bedürfnis, allein sein zu wollen, aber diese lächerliche Geheimniskrämerei dauert mittlerweile schon viel zu lange ...« und »... sicherlich können wir die ganze Sache wie vernünftige Erwachsene besprechen ...«

»Tja, nein, eigentlich nicht. Noch nicht, Gordon. Kommt nicht in Frage.«

Es bereitete Lydia keinerlei Probleme, brillante Antworten auf seine Fragen zu finden – doch leider nur in Gedanken. Wenn sie allein in ihrem baufälligen kleinen Häuschen saß, erklärte sie ihm immer wieder, was genau sie hier tat, warum sie ihm noch nicht sagen konnte, wo sie sich aufhielt, und weshalb ihre Schwester als Mittlerin fungieren mußte. Sie war eben bloß noch nicht dazu gekommen, ihre Gedanken zu Papier zu bringen.

Morgen. Morgen würde sie sich ganz bestimmt aufraffen und einen dieser »Laß-uns-das-wie-zwei-erwachsene-Menschenbesprechen«-Briefe schreiben, die Gordon so sehr schätzte. Heute aber, vor der Ablenkung durch den Krach in der Senke und die Distelfinken, hatte sie sich mit der dringenden Frage beschäftigen müssen, was sie zum Dinner im Herrenhaus anziehen sollte. Da sie zwei Monate zuvor mit nur einem kleinen Koffer angekommen war, blieb ihr keine große Auswahl. Zugegebenermaßen hätte ihr die zurückgelassene Kleidung auch nicht viel weitergeholfen, weil sie ihre Kleidung stets entweder auf dem Flohmarkt kaufte oder aber ultramodernes Zeug, das man nach einer Saison schon nicht mehr tragen konnte. Wenn das einen leicht geschmacklosen Eindruck erweckte, um so besser: Lydia war groß, schlank und hatte markante Gesichtszüge, sie konnte einen Hauch von Vulgarität durchaus vertragen. Sie hatte sich schließlich für einen schwarzen Minirock und ein rotglänzendes, rückenfreies Oberteil entschieden, wobei der einzige Nachteil darin bestand, daß sie diese Kombination bereits bei ihren letzten beiden Besuchen im Manor getragen hatte – mal ganz abgesehen davon, daß diese Kleidung für ein Dinner im Herrenhaus völlig unpassend war.

»Ach, zum Teufel«, dachte sie, »es ist mir egal.«

Doch es war ihr nicht egal. Vielleicht hatte die feudale Atmosphäre in Briarswood ihr Selbstbewußtsein angegriffen, vielleicht lag es auch daran, daß George und Twinks sie beinahe mietfrei im Rose Cottage wohnen ließen, vielleicht hatte sie es auch einfach nur satt, immer die Außenseiterin zu sein. Caro, deren Grobknochigkeit und Rosigkeit durchaus attraktiv war, würde bestimmt etwas Klassisches tragen – beim letzten Mal war es ein einfaches, aber edles blaues Leinenkleid gewesen –, und was Twinks anbelangte, so war sie die eleganteste ältere Dame, die Lydia je kennengelernt hatte. Man konnte kaum glauben, daß sie bereits weit über siebzig war, so umwerfend sah sie noch in ihren fließenden Seidenchiffonblusen und den erlesenen cremefarbenen oder enzianblauen Kleidern aus. Nicht daß Lydia je der Typ für klassische Leinenkleider, geschweige denn Seidenchiffonblusen gewesen wäre. Gott bewahre.

Als ihr plötzlich bewußt wurde, daß ihr kaum noch Zeit blieb, um sich fertig zu machen, raste Lydia die schmale Treppe des Cottages hoch und riß sich Jeans und T-Shirt vom Leib, die sie den ganzen Tag getragen hatte. Sie ignorierte die Kleidungsstücke, die sie bereitgelegt hatte, und schlüpfte statt dessen in eine enganliegende schwarze Hose, eine dünne Spitzenweste und eine kurze Jacke. Dann fuhr sie sich noch einmal kurz mit dem Kamm durch ihr wirres dunkles Haar, legte ein bißchen Make-up auf und suchte und fand ihre Lieblingsohrringe, bevor sie barfuß den Grasweg hochrannte, der vom baufälligen Charme des Rose Cottage zu Eleganz und Komfort von Briarswood Manor führte.

Lydia verbrachte viel Zeit damit, Entscheidungen zu treffen, die sie in letzter Minute wieder über den Haufen warf. Sie war der festen Überzeugung, daß das Leben völlig beliebig war, weshalb selbst die besten Pläne immer vereitelt würden, und die Erfahrung hatte sie gelehrt, daß harte Arbeit bloß zu Frustration und Enttäuschungen führte. Deshalb war es durchaus sinnvoll, eigenen Plänen zuwider zu handeln, wann immer sich die Möglichkeit dazu bot, um nämlich so das Schicksal zu überrumpeln.

Als sie durch das Törchen in den Garten des Herrenhauses getreten war, hielt Lydia einen Moment an, um in ein Paar Sandalen zu schlüpfen. Dann schlenderte sie über den weitläufigen Rasen zum Haupteingang und entdeckte auf dem Platz vor dem Haus neben Jim und Caros Range Rover einen ihr unbekannten Sportwagen.

Neugierig öffnete sie die Eingangstür und betrat das Haus.

Kapitel 2

Zu Twinks’ Entsetzen war es Suzie, die ihre Dinnerparty zum Entgleisen brachte. Während der ersten beiden Gänge hatte das Mädchen fast gar nichts zur Unterhaltung beigetragen, doch Twinks erwartete auch keine lebhafte Debatte von ihren Gästen und von ihrer Enkelin am allerwenigsten. Sie erwartete lediglich, daß man sich an die Regeln des Anstands hielt. Lydias befremdlicher Aufzug ließ in dieser Hinsicht natürlich einiges zu wünschen übrig, und während der Champignoncreme hatte es einen Moment der Irritation gegeben, als Lydia die unsinnige Behauptung aufgestellt hatte, die Menschheit ließe sich in zwei Kategorien einteilen, die der Nestbauer und die der Höhlenbewohner, und dann auch noch so taktlos gewesen war, Rose Cottage als den Archetyp der englischen Höhle zu bezeichnen. Jim hatte ihre Torheiten auch noch unterstützt, so daß Twinks sich schließlich zum Eingreifen gezwungen gesehen hatte. Doch abgesehen von diesem Fauxpas war die Unterhaltung mit so harmlosen Themen wie Hundehaltung – ein Lieblingsthema von George – oder Wyndham Sales Plänen für eine Haushaltshilfe dahingeplätschert. Im großen und ganzen war Twinks von Wyndham Sale recht angetan: Er hatte nichts Ungestümes an sich – ganz im Gegenteil –, und er besaß eine leise, aber dennoch autoritäre Stimme. Sie hatte einigen seiner Bemerkungen entnehmen können, daß Haddeley Hall trotz seiner Größe keineswegs sein Hauptwohnsitz war. Caro hatte den etwas peinlichen Augenblick entschärft, der entstanden war, als Wyndham seine verstorbene Gattin erwähnt hatte, indem sie ihrem Bedauern über den Tod seiner Frau Ausdruck verliehen hatte, so daß die übrigen Gäste nur noch zustimmend hatten murmeln müssen. Ganz wie es sich gehörte, hatte Wyndham bloß kurz genickt und sich knapp bedankt. Dann aber hatte Twinks Mr. G. gerade angewiesen, abzuräumen und das Dessert aufzutragen – eine Obsttorte mit Apfel und Marmelade, die Sandra immer in Reserve hatte –, als Suzie meinte, das Thema aufbringen zu müssen. Eigentlich trug George unfreiwillig die Schuld daran, denn er hatte versucht, das Mädchen in die Unterhaltung einzubeziehen, und sich nach Bumpkin erkundigt, was Suzie an ihren Nachmittagsspaziergang erinnert und zu ihrer Aussage geführt hatte.

»Was?« krächzte George.

»Was?« wiederholte Caro.

Suzie war so erschreckt, plötzlich in den Mittelpunkt des Interesses gerückt zu sein, daß sich die Röte doppelt so schnell wie gewöhnlich auf ihrem Gesicht ausbreitete.

Sie wiederholte: »Ich habe heute nachmittag so eine Art Hippie-Konvoi in Briarswood ankommen sehen. Ich glaube jedenfalls, daß es ein Hippie-Konvoi war.« Sie lächelte schüchtern, als ob sie dadurch das Gewicht ihrer Aussage mildern wollte.

»Wo?« wollte George wissen.

»Ja, wo?« echote Caro.

»In der Nähe von Bellings Wood. Sie fuhren in Richtung Dorf.«

»Ein Konvoi?« hakte Twinks verzagt nach.

Suzie nickte ihrer Großmutter über den langen polierten Holztisch mit den verschnörkelten Kerzenständern und den aus einer blau weißen Schüssel quellenden Gartenwicken hinweg zu.

»Wie viele waren es?« wollte George wissen.

»Oh, ich weiß nicht, ich habe sie nicht gezählt. Etwa sechs, vielleicht auch etwas mehr. Es können auch zehn gewesen sein.«

»Zehn? Zehn Leute?«

»Na ja, Fahrzeuge eigentlich. Kleine Lastwagen und Busse und Wohnwagen. Aber es waren vielleicht auch nur sechs.«

Twinks richtete sich auf und lächelte ernst, so wie sie schon seit Jahren auf jegliche Art von Katastrophe reagierte. »Es ist kaum zu fassen«, meinte sie zu Wyndham, der zu ihrer Rechten saß und sich bislang nicht zu dem Thema geäußert hatte. Caro schaltete sich wie üblich vermittelnd ein: »Sie werden nur auf der Durchreise gewesen sein, Mami.«

»O nein«, widersprach Suzie, »das glaube ich nicht. Sie haben gefragt, wo Ted Seddens Farm liegt.«

Diese letzte Information veranlaßte ihren Großvater, sofort zu handeln. »Du lieber Himmel, der arme Kerl«, rief er. »Ich werde ihn sofort anrufen, um zu hören, ob er Hilfe braucht, um sie abzufangen. Was für eine gräßliche Geschichte. Wie gut, daß ich noch meine Flinte habe. Jim, geh nach draußen, und sieh nach, ob das Tor geschlossen und verriegelt ist. Seid ihr im Range Rover gekommen? Kluger Mann. Park ihn vorsichtshalber lieber vor dem Eingang.« Dann hastete er mit großen Schritten aus dem Zimmer, und sie hörten, wie er in der Eingangshalle nach Mr. G. rief.

Jim schenkte sich Wein nach. Er wandte sich an Georges leeren Stuhl. »Endlich ist die große Stunde des Range Rovers gekommen.«

»Ich mach das schon, kümmer dich nicht darum, Jim.« Caro hatte ihren Mann mit wachsender Besorgnis beobachtet. Jim trank selten viel und in Anwesenheit ihrer Eltern fast nie, aber wenn es doch dazu kam, war das immer unangenehm, vor allem für sie selbst. Aus welchem Grund er gerade heute trank, war ihr völlig schleierhaft, aber nun entdeckte sie in seinen gewöhnlich so sanften Zügen eine alarmierende Unfreundlichkeit. Sein gerötetes Gesicht bildete einen häßlichen Kontrast zu seinem rotblonden Haar, und in seinen Augen zeigte sich dieses aufmerksame zynische Glitzern, das sie fürchten gelernt hatte. Caro hatte nie die richtige Methode gefunden, mit Jim in diesem Zustand umzugehen, und sie vermutete, daß ihre aufgesetzte Fröhlichkeit ihn nur zu weiteren Exzessen trieb, doch die Panik machte es ihr unmöglich, sich eine geeignete Strategie zurechtzulegen. »Du brauchst dich nicht darum zu kümmern, Liebling.« Sie strahlte ihn über den Tisch hinweg an und versuchte gleichzeitig, ihm mit einem verstohlenen Stirnrunzeln zu verstehen zu geben, daß er jetzt genug getrunken hätte.

Jim beobachtete die Gesichtsverrenkungen seiner Frau mit großem Interesse.

»Unsinn, Caro«, verkündete er. »Ein Mann muß seine Familie beschützen.« Dann stand er so rasch auf, daß er beinahe seinen Stuhl umgeworfen hätte, bevor er, wie sein Schwiegervater, den Raum verließ.

Caro hoffte, daß er sich ein wenig Zeit lassen würde und die frische Abendluft ihn wieder nüchtern werden ließ. Sie lächelte die im Zimmer Zurückgebliebenen an.

»Beruhige dich, Mama«, meinte sie zu ihrer Mutter, »ich bin sicher, die ganze Aufregung ist vollkommen unnötig.« Sie überlegte fieberhaft, wie sie das Thema wechseln könnte, doch Twinks hatte sich bereits Wyndham zugewandt und erzählte ihm einige der schrecklichen Geschichten, die sie in der Zeitung über die gräßlichen Angewohnheiten dieses fahrenden Volkes gelesen hatte. Blieb also nur noch Lydia. »Also nein«, meinte Caro zu ihr, »was für ein Wirbel.«

Lydia hob lediglich die Augenbrauen und sagte: »Ja, in der Tat«, weshalb Caro sich aus irgendeinem Grund dumm vorkam und sich ärgerte. Sie wußte nie genau, was sie von Lydia halten sollte. Am Anfang des Abends hatte sie befürchtet, Jims ehemalige Studentin würde sich in ihrem unpassenden Aufzug bestimmt deplaziert fühlen, und sie hätte sich sicherlich Vorwürfe gemacht, Lydia nicht darauf hingewiesen zu haben, welche Art Dinner das werden würde, wenn Lydia nicht so selbstsicher gewirkt hätte. Caro wäre ja lieber gestorben, als in diesem schmuddeligen kleinen Spitzenfetzen und der viel zu engen Hose herumzulaufen, doch ihr war nicht verborgen geblieben, daß Lydia die Situation recht gut meisterte; dabei war natürlich nicht ganz unerheblich, daß sie ihre gute Figur behalten hatte – ihre Kinderlosigkeit war da sicherlich hilfreich gewesen – und daß ihre Beine außergewöhnlich lang waren. Caro dagegen trug ein beigegestreiftes Kleid und ein Jackett, das sie vor einigen Jahren für eine Hochzeit erstanden hatte und das noch einigermaßen schick aussah, wenn auch der große Seemannskragen ihren Busen vielleicht ein bißchen zu stark betonte. Caro fand Lydias mangelnden Sinn für Kleidung verwirrend, denn sie war sich sicher, daß Jim ihr erzählt hatte, Lydia wäre mit einem Arzt verheiratet, und Arztfrauen waren doch immer so elegant.

Caro überlegte immer noch, was sie zu Lydia sagen konnte, als Jim ins Zimmer zurückkehrte. Soweit Caro sehen konnte, hatte die frische Luft nur einen Teilerfolg erzielt, denn er verkündete mit überlauter Fröhlichkeit, daß die Burg des Engländers nun sicher wäre. Lydia, die bei seiner Ankunft kurz aufgeblickt hatte, schob ihr Stück Kuchen auf dem Teller hin und her.

»Die Marmelade ist selbstgemacht«, erklärte Caro ihr redselig. »Das merkt man doch immer sofort, nicht wahr?«

Bei dieser Frage sah Lydia überrascht auf – in Gedanken war sie nicht bei der Marmelade gewesen – und bemerkte höflich: »Sie schmeckt jedenfalls köstlich«, was Caro zu einem dankbaren Lächeln veranlaßte. Jim schenkte sich Wein nach. Im Hintergrund war Georges Stimme zwischenzeitlich stetig lauter geworden, seit er den Telefonhörer abgehoben hatte, und verstummte nun plötzlich. Er wirkte bestürzt, als er ins Eßzimmer zurückkam, und ließ sich langsam auf seinem Stuhl nieder. »Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte er entgeistert.

»Was?«

»Hast du Ted Sedden erreicht?«

George nickte. »Er läßt diese Leute auf seiner Farm bleiben. Es ist kaum zu fassen, aber er hat sie sogar eingeladen.« Die Neuigkeit löste bei den Anwesenden ungläubige Blicke aus. George fuhr fort: »Ich weiß, ich weiß. Der Kerl muß den Verstand verloren haben.«

»Warum, zum Teufel, hat er sie eingeladen?« wollte Jim wissen.

»Das weiß Gott allein.« George lockerte seine Krawatte. »Reine Boshaftigkeit, wenn du mich fragst. Er war doch glatt so unverfroren, mir zu sagen, daß er ein paar dieser Hippies auf irgendeinem Markt kennengelernt und ihnen angeboten hat – das muß man sich einmal vorstellen –, daß sie auf seinem Land kampieren könnten.«

»Für eine Nacht?« fragte Caro hoffnungsvoll.

»Von wegen.« Georges tiefe Stimme klang düster. »Den ganzen Winter über. So lange sie wollen. Er wollte sich nicht festlegen.«

»Das war’s.« Twinks legte ihre Hände in den Schoß, und ihre Stimme klang ernst: »Das ist eine echte Katastrophe.«

»Ach, kommen Sie«, machte sich Wyndham bemerkbar, und da dies sein erster Beitrag zu dem Thema war, horchten alle auf. »So schlimm kann die Lage doch gar nicht sein. Es gibt doch bestimmt unendlich viele Möglichkeiten, wie man sie zum Weiterziehen bewegen kann.«

»Sehr richtig«, pflichtete George ihm bei, »aber leider braucht das seine Zeit, und bis dahin müssen wir auf der Hut sein. Lydia, Sie können heute nacht unmöglich allein im Rose Cottage bleiben, Sie übernachten besser hier.«

Lydia lachte auf. »Machen Sie sich keine Sorgen, mir wird schon nichts passieren.«

»Nein, nein«, beharrte Twinks, »wir würden vor lauter Sorge kein Auge zutun; Ted Seddens Hof liegt doch so dicht bei Rose Cottage. Bleiben Sie lieber hier.«

»Bitte« – Lydias Lächeln erstarb, als ihr klar wurde, daß die Einladung völlig ernst gemeint war –, »Sie müssen sich wirklich keine Sorgen um mich machen. Außerdem bestehe ich darauf, zu Hause zu übernachten.« Um von ihrer Renitenz ein wenig abzulenken, fragte sie Suzie: »Wie sahen sie eigentlich aus?«

»Oh.« Suzie runzelte die Stirn und schob die Haare hinter die Ohren. »Ich habe nur ein Pärchen gesehen. Das waren die, die nach dem Weg gefragt haben. Sie sahen irgendwie ... ungewöhnlich aus. Sehr schmutzig. Ein bißchen unheimlich, um ehrlich zu sein, aber auch irgendwie fröhlich.«

»Einfach grauenvoll«, hauchte Twinks.

»Lydia, wenn Sie schon nicht hierbleiben wollen«, schaltete sich George wieder ein, »nehmen Sie wenigstens eine Flinte mit. Sie brauchen gar nicht zu wissen, wie man sie bedient, wedeln Sie einfach damit herum, wenn Sie sich bedroht fühlen.« Lydia starrte ihn entsetzt an. »Eine Waffe? Ist das Ihr Ernst?« »Es ist wirklich das Beste«, erklärte ihr Twinks. »Sie haben ja keine Ahnung, wie diese Leute sind.«

Lydia schüttelte den Kopf. »Ich kann kaum glauben, was ich hier höre. Da erscheint eine Gruppe junger Leute in ein paar alten Wohnwagen, und schon führen Sie sich alle auf, als wäre gerade die Französische Revolution ausgebrochen. Das ist haarsträubend.«

Lydia wirkte immer besonders attraktiv, wenn sie etwas als ungeheuerlich empfand, gerade nach einigen Gläsern Wein. Wyndham und Jim betrachteten sie interessiert. Die dunklen Locken wippten um den Kopf, und ihre Augen blitzten, während sie die Anwesenden mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Verachtung musterte. Weil sie deren Schweigen als Interesse für ihre Meinung fehlinterpretierte, fuhr sie fort: »Bis jetzt hat sie doch niemand auch nur zu Gesicht bekommen – abgesehen von Suzie natürlich –, und trotzdem verurteilt man sie, ohne zu zögern. Sie alle könnten doch erst einmal abwarten und sehen, wie sie sind, bevor Sie mit Waffen und Vertreibung anfangen.«

»Theoretisch mag das ja zutreffen«, stimmte Wyndham ihr zu, »aber in diesem konkreten Fall haben Sie wahrscheinlich unrecht. Ich habe immer wieder feststellen können, daß es besser ist, sich mit Plagen zu befassen, bevor sie lästig werden. Auf lange Sicht gesehen ersparen sich alle damit eine Menge Arger.« Wyndham schien Lydias zornigen Blick zu genießen.

»Ihre Hunde«, warf Twinks ein, »reißen Schafe.«

Jim grinste. »Seit wann haltet ihr denn Schafe?«

Seine Schwiegermutter bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Du solltest keine Scherze darüber machen, Jim. Briarswood ist ein kleiner Ort, und wenn ein Grundbesitzer leidet, sind alle betroffen.«

»Sehr richtig«, pflichtete George ihr bei.

»Trotzdem«, widersprach Jim, »betrachtet es doch einmal so: Ungewaschene wilde junge Leute sind der Fluch des modernen Landlebens, und jetzt ist eben Briarswood an der Reihe. Vielleicht sollten wir einfach dankbar dafür sein, daß wir bislang Glück gehabt haben. Wir werden sie eben ein Weilchen ertragen müssen.«

»So etwas solltest du nicht einmal denken«, sagte Caro verständnislos. »Warum sollte unser armes altes Briarswood sie ertragen müssen? Niemand will sie hier haben.«

»Niemand will sie irgendwo haben«, bemerkte Lydia.

»Dann sollen sie eben einfach verschwinden.«

»Wohin denn?«

Caro ignorierte die Frage. »Man fühlt sich so schrecklich hilflos«, klagte sie. »Es müßte ein Gesetz dagegen geben.« »Aber das gibt es doch«, meinte Lydia. »Unmengen von Gesetzen.«

Twinks beugte sich zu Wyndham vor und raunte verschwörerisch: »Sie haben keine Toiletten. Und sie waschen sich nicht.«

»Das habe ich auch schon gehört«, sagte er mit einem Lächeln, denn immer noch weckte Twinks in Männern jeden Alters den Gentleman. »Ist das nicht entsetzlich?«

»O Herr im Himmel«, rief Lydia aufgebracht, »ich habe in meinem ganzen Leben noch keine so abenteuerlichen Vorurteile gehört.«

»Beruhige dich, Lydia«, wies Jim sie zurecht. »Deine Meinung ist unerheblich und interessiert niemanden. Du bist hier nicht unter Studenten.«

Lydia zuckte zusammen, als habe sie einen Schlag erhalten, dann sah sie ihn zornig an und sagte: »Ich hätte ja erwartet, daß wenigstens du meiner Meinung bist. Seit wann ist es unwichtig geworden, für die Rechte anderer Menschen einzustehen? Klär mich doch bitte auf, ich würde es liebend gerne wissen.«

Jim tat ihren Sarkasmus mit einem Achselzucken ab. »Du bist hier eine Fremde. Auf dem Land werden die Dinge anders gehandhabt – Briarswood ist eben anders. Misch dich nicht in Dinge ein, die du nicht verstehst.«

Lydia setzte an: »Ich glaube, ich verstehe sehr wohl einen Fall von –«, doch da mischte sich rasch Caro ein.

»Ach, laßt uns bitte nicht darüber streiten. Wir müssen doch zusammenhalten. Niemand hat etwas gegen einzelne Personen, Lydia. Ich meine, wir kennen sie ja nicht, genau wie Sie gesagt haben, und ich stimme Ihnen wirklich darin zu, daß man für andere eintreten soll, selbstverständlich. Diese Leute gehören bloß einfach nicht in einen Ort wie Briarswood. Sie wissen doch gar nicht, wie sie sich integrieren können. Ich bin mir sicher, daß sie unter ihresgleichen viel glücklicher wären. Auf richtigen Wohnwagenplätzen zum Beispiel.«

»Weniger Worte und mehr Taten«, forderte George. »Bitte entschuldigt mich, ich muß ein paar Anrufe erledigen und die Truppen mobilisieren.«

Während der ganzen Diskussion war Suzie immer tiefer in sich zusammengesunken. Noch nie zuvor hatte eine ihrer Äußerungen eine derartige Wirkung gehabt. Vielleicht hätte sie ein wenig Genugtuung verspürt, wenn nicht alle sie völlig vergessen hätten. Sie spielte mit einer Haarsträhne, und ihr Großvater tätschelte ihr freundlich den Kopf, bevor er das Zimmer verließ; er behandelte Enkelkinder und Hunde unterschiedslos mit den gleichen Gesten der Zuneigung. Eines Tages, dachte Suzie wütend, wird er mir noch einen Knochen anbieten.

Twinks war sich der angespannten, aufgeheizten Atmosphäre bewußt. Laute Stimmen wirkten immer schrecklich bedrükkend, ganz gleichgültig, welche Ursache sie hatten. Sie erinnerte sich an ihre erste und liebste Klavierlehrerin, Miß Finn, die ihr vorgeschlagen hatte, ein mitreißendes Duett zu üben, um den Lärm ihrer Eltern zu übertönen, als diese sich nicht weit von ihnen entfernt in irgendeinem Zimmer stritten. »Spiel, Veronica Jane, spiel, spiel! Die Musik wird dich nie im Stich lassen.« Twinks’ Finger wanderten nervös über die polierte Oberfläche des Eßtisches, doch es gab für sie keine Musik mehr, die Trost hätte spenden können.

»Wir werden den Kaffee im Salon einnehmen«, verkündete sie, »und in Anbetracht der Umstände können wir uns wohl ein Schlückchen Brandy genehmigen.«

Wyndham, den das kleine Scharmützel zwischen Lydia und Jim kurzzeitig abgelenkt hatte, nahm an, daß der unterhaltsamste Teil des Abends nun wohl vorbei war und er das Eintreffen der Hippies gut als Entschuldigung nutzen konnte, um seinen Besuch abzukürzen, ohne daß jemand beleidigt war. Kaum hatte er seine Absicht kundgetan, lebte in Twinks und Caro die Sorge auf, Haddeley Hall stünde in der Gefahr, überwältigt zu werden.

»Ich hoffe, sie versuchen nicht einzubrechen«, sagte Twinks. »Warum sollten sie das tun?« fragte Lydia ungehalten. »Sie sind Ted Seddens Gäste.«

»Vagabundierende Elemente«, stichelte Jim.

Wyndham erhob sich von seinem Platz Lydia gegenüber. Während sie den anderen die Stirn geboten hatte, war ihm ihr langer und äußerst attraktiver Hals aufgefallen. Jetzt entdeckte er außerdem ihre sehr schön geschwungenen Augenbrauen, von denen eine ein wenig höher lag als die andere, und die Intensität ihrer braungrünen Augen.

»Sie glauben, daß alle überreagieren«, mutmaßte er.

»Verdammt richtig, genau das tue ich.« Lydia fing seinen Blick auf, und es gab einen kurzen Augenblick der Übereinstimmung: Zwei Außenseiter bei einem Familientreffen, die vielleicht – vielleicht aber auch nicht – mehr miteinander gemein hatten als mit einem der Mitglieder der Heimmannschaft.

»Dann hoffe ich sehr, daß Sie Ihren jetzigen Optimismus nicht noch einmal bedauern werden«, sagte er unverbindlich. »Diese spezielle Gruppe mag sich ja als ein Bataillon von Heiligen erweisen, aber das würde mich doch sehr überraschen. Diese Leute haben einen schrecklichen Ruf, und wissen Sie, manchmal haben die Zeitungen ja auch einmal recht.«

Lydia starrte ihn weiterhin unbeirrt an, ohne ihren abschätzenden Blick durch ein Lächeln abzumildern. Während des Essens hatte sie ihm kaum Aufmerksamkeit geschenkt, weil sie in ihm bloß einen weiteren der nicht besonders interessanten Freunde der Cartwrights gesehen hatte. Jetzt stellte sie fest, daß Wyndham nicht nur reich, sondern auch intelligent war, und daß er ebensoviel Spaß an einer klugen Auseinandersetzung hatte wie sie; ihr wurde auch klar – und in diesem Moment erschien ihr das sehr plausibel –, daß sie ihn durchaus sehr attraktiv gefunden hätte, wenn er ihr Typ gewesen wäre. Doch so wie die Dinge standen, sagte sie lediglich: »Es ist immer noch besser, Menschen zu vertrauen und dabei hereinzufallen, als niemandem zu vertrauen.«

»Oh, bravo«, kommentierte Jim, »Lydia, die ewige Idealistin.«

Wyndham lächelte ihr zu und distanzierte sich so von Jims Bemerkung. »Wie ich bereits sagte, hoffe ich, daß Sie recht behalten und ich unrecht habe. Aber bis das entschieden ist, sollten Sie nicht alles als Unsinn abtun, was andere Ihnen sagen.« »Richtig«, stimmte Jim ihm zu, »diese Leute haben schließlich nicht umsonst einen so schlechten Ruf.«

Caro lächelte angestrengt in die Runde, um ihre wachsende Verzweiflung zu verbergen. »Laßt uns jetzt einfach alle in den Salon gehen und einen Kaffee trinken. Wir sollten uns den Abend doch nicht völlig von diesen schrecklichen Menschen verderben lassen.«

Auf dieses Signal hin erhoben sich alle. Wyndham verabschiedete sich von Twinks und ging dann in die Eingangshalle, um sich bei George zu bedanken. Suzie, Caro und Twinks verließen das Zimmer gemeinsam. Als sie die Halle durchquerten, stolperte Twinks über einen Läufer, und Caro streckte den Arm aus, um sie zu stützen.

»Du lieber Himmel«, kicherte Twinks, als Wyndham an ihnen vorbeikam, »wie ungeschickt. Danke, Caro, mein Schatz, ich glaube, ich bin ein bißchen angeheitert.«

»O Mama.« Caros Zurechtweisung klang halbherzig. Niemandem stand ein leichter Schwips so gut wie Twinks, die dadurch noch weicher und femininer wurde. Ihre kleine Schwäche machte sie zugänglicher und liebenswerter. Niemand hätte Twinks am Ende eines geselligen Abends als »betrunken« bezeichnet, und Twinks selbst verfügte über einen reichhaltigen Wortschatz, um ihren Zustand zu umschreiben, ganz so, wie man Spitznamen für sein Lieblingkind hat: Sie war beschwipst, angesäuselt oder hatte einen im Tee. Nur die ungehobelteren und weniger privilegierten Menschen betranken sich.

Man hörte, wie Mr. G. den Teewagen mit dem Kaffee und den Tassen über die Steinfliesen in Richtung Salon schob. Jim war im Eßzimmer geblieben, um sich ein letztes Glas von Georges Rotwein zu gönnen. Lydia verharrte im Türrahmen, drehte sich dann und betrachtete ihn einen Moment lang.

»Du bist hier völlig anders.«

»Ich bin älter geworden. Wir haben uns alle verändert.«

»Du weißt, was ich meine.«

»Ja.«

Plötzlich waren der Zynismus und die Boshaftigkeit aus seinem Gesicht verschwunden, und er schien der Verzweiflung nahe.

»Die frühere Version war mir lieber«, meinte Lydia.

»Mir auch.«

»Warum dann dieser Wandel?«

»Das Leben ist nicht so einfach, wie du immer tust.«

»Da muß ich dir widersprechen«, erwiderte sie kalt. »Du hast es immer unnötig kompliziert gemacht.«

Jim hob sein Weinglas, trank jedoch nicht. Er schien gerade etwas sehr Bedeutsames sagen zu wollen, als Wyndham hinter Lydia auftauchte und erklärte, er hoffe, sie beide bald wiederzusehen. Und als er sich abwandte, machte Lydia sich auf den Weg in den Salon, um einen Kaffee zu trinken.

Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit brauchte Lydia in dieser Nacht lange, bis sie einschlief.

Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Briarswood an einem warmen Nachmittag Anfang Juli war sie sich der Tatsache bewußt, daß Rose Cottage ein ganzes Stück von der Straße zurückgesetzt lag und keine Nachbarn in Rufweite wohnten. Sie gestand sich nicht ein, daß sie Angst hatte; sie war weiterhin der Meinung, daß alle anderen überreagiert hatten.

Trotzdem konnte sie nicht einschlafen.

Wie die meisten Stadtmenschen machte Stille sie mißtrauisch, und diese Septembernacht war so still, daß sie ihr eigenes Blut in den Ohren pochen hören konnte – oder was immer dieses innere Rauschen war, das ihr bislang nie aufgefallen war. Auf der Umgehungsstraße, fast drei Kilometer entfernt, brummte gelegentlich ein Laster vorbei. Dann herrschte wieder Stille – abgesehen von dem viel zu lauten Knacken, Knarren und Rascheln einer Nacht auf dem Lande. Bislang hatte sie diese Geräusche nie als störend empfunden, wenn sie abends in den tiefen Schlaf der Rekonvaleszenz gefallen war. Doch jetzt war das mit einem Mal anders.

Um sich abzulenken, konzentrierte Lydia sich auf die Ereignisse des Abends. Sie wußte längst, daß es schwierig war, gleichzeitig wütend zu sein und Angst zu haben, und sie zog die Wut vor. Sie erinnerte sich daran, wie Caro ständig ihre Kleidung beäugt hatte, als hätte sie einen schrecklichen Fauxpas begangen und wäre in einem Overall aus künstlichem Leopardenfell erschienen. Dieser Gedanke hellte ihre Stimmung augenblicklich auf: Vielleicht sollte sie sich ja für ihre nächste Einladung ins Herrenhaus einen besorgen – falls man sie tatsächlich noch einmal dorthin einlud. Möglicherweise taten es auch eine Wildlederjacke mit Fransen und kniehohe Stiefel.

Nicht daß ihr unbedingt daran gelegen war, Caro zu verprellen oder gar George und Twinks, die beinahe übertrieben großzügig zu ihr gewesen waren und die sie außerdem mochte. Jeder mochte die beiden, denn sie besaßen viele bewundernswerte Eigenschaften wie Freundlichkeit, Mut und eine wirklich angenehme, altmodische Höflichkeit. Lydia hatte sie nicht kritisieren wollen, schließlich hatte sie von ihnen keine andere Haltung gegenüber den Hippies erwartet. Ihre ganze Verachtung galt Jim; von ihm hatte sie sich wesentlich mehr versprochen.

Sie hatte Jim vor über sechzehn Jahren als jungen Dozenten kennengelernt, dessen Ideen radikal genug gewesen waren, um bei den meisten seiner Studenten beliebt zu sein. Lydia war eine seiner intelligentesten Studenten gewesen; sie hatte Zeit und Energie für fast jede gute Sache außer ihrer eigenen Arbeit aufgebracht, und ihre engere Zusammenarbeit hatte begonnen, als sie gemeinsam den Protest gegen die Abschiebung eines afrikanischen Studenten organisiert hatten. Jetzt fragte sich Lydia, ob seine derzeitige Haltung als Tarnung gegenüber der Familie seiner Frau dienen sollte oder ob der idealistische junge Dozent vielleicht nichts als eine Pose gewesen war. Konnte sich jemand innerhalb von fünfzehn Jahren so stark verändern?

Nachdem man das Ritual des Kaffeetrinkens hinter sich gebracht hatte, war sie von Jim nach Hause gefahren worden, weil Caro und George in ihrer üblichen Besorgnis nicht zugelassen hatten, daß sie allein im Dunkeln über den grasbewachsenen Pfad nach Hause ging. Man hatte Jim angewiesen, dafür Sorge zu tragen, daß alles in Ordnung war, weshalb er gewartet hatte, während sie nach ihrem Haustürschlüssel gesucht hatte. Dann hatte er wissen wollen, ob ihr Telefon neben dem Bett stünde, und war gebührend entsetzt gewesen, als sie ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, daß Rose Cottage überhaupt keinen Telefonanschluß besaß. Lydia fühlte sich durch seine demonstrative Fürsorge beleidigt, implizierte sie doch, daß sie nicht nur zu schwach, sondern auch zu naiv war, um der Gefahr zu begegnen, in der sie vermeintlich schwebte.

Und das ärgerlichste an diesem ganzen Hokuspokus war die Wirkung seines Verhaltens, denn als Jim endlich gegangen war und sie Hintertür und Haustür verriegelt sowie alle Fenster kontrolliert hatte, stellte sie fest, daß sie plötzlich verängstigt war. Anstatt daß sie sich sicherer fühlte, machte ihr das ganze Prozedere des Einschließens nur bewußt, welche Gefahren da draußen in der dunklen Septembernacht lauerten. Vielleicht hatte sie ja unrecht gehabt. Sie hatte sich in der Vergangenheit schon häufiger nicht auf ihre Menschenkenntnis verlassen können, und es war durchaus möglich, daß sie auch jetzt wieder falsch lag und die Leute, die Suzie gesehen hatte, genauso unangenehm waren, wie alle annahmen. Sie konnte Twinks und Caro wegen ihrer Ängstlichkeit wirklich keinen Vorwurf machen: Welcher vernünftige Mensch wünschte sich schon, plötzlich von lauter Fremden überrollt zu werden, die weder seinen Lebensstil noch seine Werte teilten. Vielleicht waren Ted Seddens Besucher ja nichts weiter als ein mit Drogen vollgepumpter Haufen von Außenseitern, die einen tiefen Groll hegten gegen Menschen wie sie, die in einem richtigen Haus lebte und augenscheinlich vom Schicksal begünstigt war. Vielleicht respektierten sie das Hab und Gut anderer Menschen nicht, ja, vielleicht respektierten sie andere Menschen generell nicht. Schließlich mußte doch irgend jemand für all die Kriminalität, die Überfälle und Einbrüche verantwortlich sein, von denen man ständig hörte – warum also nicht sie? Und selbst wenn die Berichte über ihre Taten übertrieben waren, konnte ihre Unbeliebtheit, genau wie Wyndham gesagt hatte, doch durchaus begründet sein. Sie erinnerte sich an einen Vorfall während ihrer Hochzeitsreise mit Gordon vor vier Jahren. Sie waren eines Nachmittags in greller staubiger Hitze durch ein Bergdorf in Italien gewandert, das in völliger Verlassenheit dalag, weil sich die Einwohner vernünftigerweise zu ihrer Siesta hinter die von der Sonne ausgebleichten Fensterläden zurückgezogen hatten. Ein alter Hund war um die Ecke gebogen, und Lydia – über dieses Lebenszeichen erfreut – hatte ihn mit einem »Ciao, Hund« begrüßt und war hinübergegangen, um ihn zu streicheln. »Laß ihn, Lydia«, hatte Gordon ihr in seinem Der-Gesundheitsminister-warnt-Tonfall geraten, »er könnte Tollwut haben.« Doch sie hatte seine Warnung ignoriert und halb scherzhaft erwidert: »Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen, Gordon. Wußtest du nicht, daß ich ein Händchen für Tiere habe?« Dann hatte sie sich hingekniet, um ihn zu streicheln, woraufhin der Hund die ihm verbliebenen Zähne in ihre Hand gegraben hatte.

Damals hatte sie die Sache heruntergespielt und Gordons Versuche, sie zu einer Tollwutimpfung zu bewegen, mit einem Achselzucken abgetan. Nach ihrer Rückkehr nach England hatte sie ihre Freunde dann des öfteren mit einer bildhaften Darstellung ihrer Unvorsichtigkeit unterhalten. »Ich habe ein Händchen für Tiere«, war seitdem Gordons Standardreaktion, wenn er der Meinung war, daß sie sich mal wieder auf ein riskantes Vorhaben einlassen wollte. Lydia hatte selbstredend immer als erste über sich selbst gelacht.

Aber das war eine andere Lydia gewesen, eine Lydia, die unerschütterlich darauf vertraut hatte, sich immer wieder aufrappeln zu können, wie schmerzhaft ihr Fall auch gewesen sein mochte; jemand, der wirklich geglaubt hatte, daß man die Welt verbessern könnte, wenn man nur hart genug dafür kämpfte.

Was hatte sie nur zu dieser Art Frau werden lassen, die sich schon durch eine Abendgesellschaft einschüchtern ließ und dann die halbe Nacht wach lag, um zu lauschen, ob draußen auf dem Weg vor ihrem Haus Schritte zu hören waren?

Es war eine ganze Menge geschehen. Viel zuviel. Genau das hatte sie hier vergessen wollen.

»Sie haben schließlich nicht umsonst diesen schlechten Ruf«, hatte Jim gesagt.

Kurz bevor sie einschlief, geisterte ihr ein Satz durch den Kopf. Sie mußte ihn in einem alten Film gehört oder in einem Geschichtsbuch gelesen haben ... oder wo auch immer. »Die Barbaren stehen vor der Stadt.«

Eine leichte Brise war aufgekommen und ließ die alten Fenster in ihren Rahmen klappern, und Lydia zog ihre Bettdecke dichter um den Hals. Als ob ihr eine Decke Sicherheit geben könnte.

Barbaren vor der Stadt: Diese Furcht war so alt wie die Menschheit selbst.

Kapitel 3

Kaum war Caro vor die Tür getreten, spürte sie auch schon die Spannung, die in der Luft lag.