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In den Fängen der Vergangenheit: der Spannungs- und Familiengeheimnisroman »Die Schatten von Glory Cottage« von Joanna Hines als eBook bei dotbooks. In ihrer Jugend waren die Freunde unzertrennlich, die gemeinsamen Sommer in dem Cottage am Fluss unvergesslich … Doch seit dem Tod von Janes Bruder ist nichts mehr wie zuvor. Die Ehe mit ihrem Jugendfreund Owen beginnt zu zerbrechen – und dann erreicht Jane ein aufwühlender Anruf von Rob, dem Mann, den sie einst so sehr liebte. Er fühlt sich verfolgt – und mehrere rätselhafte Ereignisse scheinen mit ihrer gemeinsamen Zeit in dem alten Cottage verbunden zu sein. Jane beschleicht schon bald der dunkle Verdacht, dass jemand sie und ihre Freunde nach und nach zum Schweigen bringen will. Aber welches Geheimnis ist schrecklich genug, um dafür zu morden? »Joanna Hines ist neben Minette Walters und Frances Fyfield eine der besten psychologischen Thrillerautorinnen.« Life Magazin Jetzt als eBook kaufen und genießen: der fesselnde Spannungsroman »Die Schatten von Glory Cottage« von Joanna Hines. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 444
Über dieses Buch:
In ihrer Jugend waren die Freunde unzertrennlich, die gemeinsamen Sommer in dem Cottage am Fluss unvergesslich … Doch seit dem Tod von Janes Bruder ist nichts mehr wie zuvor. Die Ehe mit ihrem Jugendfreund Owen beginnt zu zerbrechen – und dann erreicht Jane ein aufwühlender Anruf von Rob, dem Mann, den sie einst so sehr liebte. Er fühlt sich verfolgt – und mehrere rätselhafte Ereignisse scheinen mit ihrer gemeinsamen Zeit in dem alten Cottage verbunden zu sein. Jane beschleicht schon bald der dunkle Verdacht, dass jemand sie und ihre Freunde nach und nach zum Schweigen bringen will. Aber welches Geheimnis ist schrecklich genug, um dafür zu morden?
Über die Autorin:
Schon in ihrer frühen Jugend begann Joanna Hines, mit Leidenschaft zu schreiben. Neben ihren Romanen veröffentlichte sie auch Kurzgeschichten und Artikel in »The Guardian« und »The Literary Review«; unter dem Namen Joanna Hodgkin schreibt sie außerdem Biografien. Die Autorin verbrachte viele Jahre mit ihrer Familie in Cornwall; heute lebt und arbeitet sie wieder in ihrer Heimatstadt London.
Bei dotbooks veröffentlichte Joanna Hines außerdem ihre Spannungsromane »Das Geheimnis von Chatton Heights«, »Die Frauen von Briarswood Manor« und »Das Erbe von Grays Orchard«.
Ebenfalls erschien bei dotbooks ihre historische Familiensaga mit den Romanen »Die Rosen von Cornwall – Sturmjahre«, »Die Rosen von Cornwall – Sehnsuchtsleuchten« und »Die Rosen von Cornwall – Schicksalslied«.
Die Website der Autorin: joannahines.co.uk
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eBook-Neuausgabe Dezember 2020
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1995 unter dem Originaltitel »The Fifth Street« bei Hodder & Stoughton, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 1997 unter dem Titel »Das fünfte Geheimnis« bei Droemer Knaur
Copyright © der englischen Originalausgabe 1995 by Joanna Hines
Copyright © der deutschen Erstausgabe 1997 by Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München
Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/brickrena, Schanks, callumrc
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (kb)
ISBN 978-3-96655-332-2
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Joanna Hines
Die Schatten von Glory Cottage
Roman
Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt
dotbooks.
Für Diane,
meine erste Leserin,
und Valerie,
Gefährtin seit langer Zeit
Es war typisch für mich mit meiner fehlgeleiteten Zuversicht, daß ich am Morgen des Tages, als wir von Esme hörten, beinahe guter Dinge war. Zunächst gab es keinerlei Anzeichen für die bevorstehenden Veränderungen und Turbulenzen. Nun gut, die Aussichten hätten rosiger sein können. Die Ferien hatten gerade angefangen, so daß Laura und Billy sich ausgiebig der hohen Kunst der Familienfehde widmen konnten; draußen goß es in Strömen, und zu allem Überfluß harrten unser elftausend Salatschößlinge, die wir ins große Gewächshaus setzen mußten. Aber beim Frühstück war ich noch imstande, über derlei Widrigkeiten großzügig hinwegzusehen.
Owen ging die Post durch. Er sah sogar in dem abgewetzten Pulli und den verwaschenen Jeans umwerfend gut aus. Man hätte glauben können, daß ich mich allmählich daran gewöhnt haben sollte, nachdem ich ihn seit meiner Kindheit kannte und sieben Jahre mit ihm verheiratet war, aber es fasziniert mich immer noch, wenn ich ihn bei solch profanen Tätigkeiten beobachte. Es kommt mir stets vor, als ertappte man einen Botticelli-Engel beim Müllraustragen.
Während er die Umschläge begutachtete und dann vor sich aufstapelte, vertiefte sich die Falte zwischen seinen Augenbrauen, die sich schon seit geraumer Zeit dort eingenistet hatte. Ich wußte, was mir blühte, konnte es aber trotzdem nicht lassen, ihm zuzuschauen. Heute bestand der Stapel aus vier Mahnungen für Rechnungen, die seit Wochen unbezahlt waren, zwei Rundschreiben, die uns ermunterten, Summen zu investieren, von denen wir jetzt und in nächster Zukunft nur träumen konnten, und einem weiteren pikierten Brief von der Bank, der durchblicken ließ, daß unser Finanzloch das Resultat mangelnder Umsicht sei. Ich stellte fest, daß keine der Firmen, die bei uns in der Kreide standen, es für notwendig befunden hatte, uns einen Scheck zukommen zu lassen.
»Mistkerle!« stieß ich aus.
Ich war verblüfft, als Owen plötzlich grinste; sein Grinsen wirkt, als ob unversehens die Sonne durch die Wolken bräche. »Daher hat er das also«, sagte er.
»Wer?«
»Billy hat gestern den Briefträger einen Mistkerl genannt. Als ob der Bote schuld wäre.« Er wandte sich unserem Sohn zu, der sein Müsli verspeist hatte und jetzt seinen Vater anstarrte. Sein Mund stand leicht offen, und er hatte den typischen Gesichtsausdruck eines Vierjährigen, der durch die Nase schlecht Luft bekommt. Owen erklärte: »Der Postbote trägt die Briefe nur aus, Billy. Schreiben tun sie andere Leute. Außerdem bringt es wenig, wenn man seine Mitmenschen als Mistkerle beschimpft. Das ist kontraproduktiv.«
Billy schniefte laut, kletterte von seinem Stuhl herunter, marschierte um den Tisch herum und stieg auf den Schoß seines Vaters.
Ich stöhnte. »Kannst du ihm nicht einfach sagen, er soll nicht so ungezogen sein?«
Owens Lächeln war verflogen. »Du meinst die Methode, Kinder zu schlagen, damit sie andere nicht mehr hauen?« Ich weiß nicht, ob er es absichtlich macht oder nicht, aber Owens Angewohnheit, ständig vernünftig zu sein, kann einem extrem auf die Nerven gehen. »Sei doch nicht so verdammt logisch. Du verdirbst mir das Frühstück«, erwiderte ich.
»Pardon.«
»Und entschuldige dich nicht, um Himmels willen. Merkst du nicht, daß das alles noch schlimmer macht?« Einen kurzen Moment lang sah ich seinen Zorn, dann verschloß sich sein Gesicht. Laura hatte uns aufmerksam beobachtet. Jetzt beugte sie sich zu ihrem Vater und sagte: »Und verdammt ist auch verdammt ungezogen, oder, Daddy?«
Er tätschelte ihr geistesabwesend die Hand und setzte Billy von seinem Schoß runter. Dann stand er wortlos auf und begann den Tisch abzuräumen. Sein Gesicht wirkte starr, wie immer, wenn er sich extrem beherrschte, was in letzter Zeit häufig vorkam, vor allem in meiner Nähe. Ich sah ihm zu, wie er Wasser in die Spüle laufen ließ, die Becher und Schalen abwusch und sie umgekehrt auf das Abtropfgitter stellte. Er arbeitete bedächtig und ruhig. Als Junge war er der Typ gewesen, bei dem alte Damen anfangen zu grinsen und dämlich loszuschnattern. Er war immer noch flachsblond, und auch die langen Wimpern, die braungrünen Augen sowie die feinen Gesichtszüge hatten sich nicht verändert, doch er blickte nicht mehr mit großen aufrichtigen Augen in die Welt. Er wirkte so verschlossen, daß man ihn beinahe für kalt halten konnte. Diese Kombination aus Sensibilität und Reserviertheit schienen Frauen allen Alters unwiderstehlich zu finden. Owen war natürlich viel zu integer, um sich dieser Wirkung bewußt zu sein. Er hielt sich wahrscheinlich für absolut durchschnittlich.
Als ich ihn jetzt so beobachtete, wußte ich nicht mehr, ob ich ihn liebte oder haßte. Ich wußte nur, daß ich mich nicht wohl fühlte in seiner Nähe und jedesmal ein dumpfes Ziehen irgendwo zwischen den Rippen spürte, wenn er nicht auf meine Sticheleien einging. Ich war nicht mehr hingerissen von seinem Aussehen, sondern seine extreme Sturheit, seine Unfähigkeit, Fehler zuzugeben, trieb mich zur Verzweiflung. Warum hatte er sich noch nicht eingestanden, daß unsere Ehe von Anfang an ein verhängnisvoller Irrtum gewesen war?
»Ich mach das schon«, sagte ich, als er unserer Katze Drongo Futter auf eine Untertasse löffelte.
»Bin schon fertig.«
Ich wurde noch gereizter, zog aber die Schultern ein und widerstand der Versuchung, eine Toastrinde nach Drongos schwarzweiß gemustertem Kopf zu werfen. »Warum setzen wir den Salat nicht morgen?« fragte ich.
»Weil er schon überfällig ist.«
»Das weiß ich.« Der Tag war gelaufen. »Ich hasse Salat. Ich verabscheue und verachte ihn. Wie kann sich irgendein normaler Mensch Salat kaufen? Ich bin sicher, daß Salat ungesund ist, wahrscheinlich salmonellenverseucht.« Owen erwiderte nur: »Ich fange schon mal an.«
»Ich glaube, ich bin allergisch gegen Salat.«
»Ach ja?«
»Ich bekomme immer gräßliche rote Flecken auf der Hand.«
»Zieh dir Gummihandschuhe an.« Owen schlüpfte schon in seinen Overall. »Komm, Billy, du kannst mir helfen, die Schalen rauszutragen.«
Billy stieß seine Füße in seine roten Stiefel und polterte hinter seinem Vater hinaus, am Zementmischer und den Betonplatten vorbei. Es regnete immer noch in Strömen. Meine gute Laune verflüchtigte sich. Die Aussicht, einen weiteren Tag mit Owens Vollkommenheit konkurrieren zu müssen, gab ihr den Rest. Ich seufzte. Um diese Uhrzeit lag der fette Albert noch im Bett und schnarchte. Der fette Albert war eine sehr geschätzte Phantasiefigur von mir, ein Gegenstück zu Owen dem Makellosen. Liebevoll zeichnete ich ihn auf die Rückseite des Bankbriefs. Der fette Albert war ein egoistischer Schmutzfink, der stundenlang vorm Fernseher rumhing und nur seine eigene Meinung gelten ließ. Er trug eine fleckige Weste, kratzte sich häufig am Bauch und rülpste gerne. Er schrie oft herum, hatte eine laute Lache und ertränkte seine Kippen in den Kaffeeresten in seinem Becher. In meiner Fetter-Albert-Phantasie hielt ich mich wacker, und all meine Freunde fühlten mit mir und bewunderten mich.
Ich stellte mir vor, wie schön es wäre, den Vormittag damit zu verbringen, ein Bild vom fetten Albert (oder vom tollen f. A., wie ich ihn zärtlich nannte) an die Wand über der Waschmaschine zu malen. Ein sonniges Bild – der fette Albert im Urlaub an der Costa del Sol, mit grell-bunten Bermudas und Sonnenbrand auf dem Bierbauch.
Den fetten Albert hätten keine zehn Pferde dazu gebracht, Salat zu essen.
Der fette Albert hätte auch kein Kind wie Laura, die jetzt vor mir stand. Sie war erst sechs und doch schon in vielerlei Hinsicht der perfekte Abklatsch von Owen: die gleichen hellen Haare, die gleichen feinen Gesichtszüge – und die gleiche vorwurfsvolle Miene. Ihre zarte Schönheit rührte mich, aber sobald sie den Mund aufmachte, bekam ich ein schlechtes Gewissen.
»Ich hab nichts anzuziehen«, maulte sie, »schon wieder nicht. Meine ganzen Sachen sind dreckig.«
»Die hier sind doch okay, oder?«
Erbost musterte sie ihre ererbten Hosen und ihren ausgewaschenen Pulli. »Und wenn wir weggehen wollen?« »Das ist ziemlich unwahrscheinlich.«
»Aber es könnte doch sein.«
Mein Versagen als Wäscherin war ein Dauerärgernis für Laura, seit ihre Lehrerin im Rahmen eines Muttertagsprojekts die Klasse dazu aufgefordert hatte, die Person zu nennen, die dafür sorge, daß immer frische Kleider in ihren Schubladen seien. Laura hatte schon rufen wollen: Aber meine Schubladen sind immer leer!, als alle im Chor schrien: »Mama!«, und sie begriff, daß sie wohl hier zu kurz kam.
Ich wühlte mich gerade durch einen Berg schmutziger Wäsche im Badezimmer, als ich außer dem Trommeln des Regens noch ein Geräusch hörte, das eindeutig von splitterndem Glas herrührte, gefolgt vom kläglichen Schreien eines Kindes.
Als ich das Gewächshaus erreichte, war Laura gerade dabei, dem tränenüberströmten Billy zu erklären, daß man nicht heulen müsse, wenn man beinahe von Glasscherben getroffen wurde, weil das nicht weh tue. Die frisch geharkte Erde war mit Glassplittern übersät.
Ich tröstete ihn.
»Na komm, Billy, ist schon gut.«
»Das hab ich ihm auch gesagt«, bemerkte Laura pikiert, »aber er wollte nicht hören.«
»Er hat sich erschrocken.«
»Das weiß ich.« Laura begann die Glassplitter einzusammeln.
»Laß das!« schrie ich. »Du schneidest dich!«
Laura zog ein Gesicht. »Ich bin doch kein Baby.«
Owen kam auf uns zugelaufen. Er war blaß vor Zorn.
»Hast du sie erwischt?« fragte ich.
Er antwortete nicht. »Laura, laß das Glas liegen, du schneidest dich. Herrgott, Jane, warum paßt du nicht auf?«
Laura zog die Hand zurück, als hätte sie etwas gebissen, und warf mir einen triumphierenden Blick zu.
»Du hast sie nicht erwischt, oder?«
»Diesmal nicht.« Owen hob Billy hoch und nahm ihn liebevoll in die Arme. Dann fügte er hinzu: »Aber beim nächstenmal.«
Als wir den alten von Mauern umgebenen Küchengarten mit seinen gepflegten Wegen und altmodischen Schuppen (und dem Cottage des Gärtners, in das wir dann einzogen) zum erstenmal sahen, hatten wir uns keine Gedanken darüber gemacht, warum keine Scheibe auf dem Gelände unversehrt war. Man hatte das beim Kaufpreis bedacht und die Glaser kommen lassen. Erst dann hatten wir festgestellt, daß die Gasse hinter der Mauer von den Dorfbewohnern als Abkürzung zu einer Neubausiedlung benutzt wurde und daß die Kinder es sich im Laufe der Jahre, in denen das Grundstück ungenutzt war, angewöhnt hatten, Steine über die Mauer zu werfen, wahrscheinlich, weil es dann so schön klirrte. Wir hörten sie manchmal kichern und jubeln, aber bis wir es zum Vordereingang geschafft hatten, war die Gasse menschenleer. Dies war der erste Hinweis darauf, daß einen beim Betreiben einer Gärtnerei vielerlei Probleme erwarteten, die nicht das Geringste mit der Aufzucht von Pflanzen zu tun hatten.
Und inzwischen war es nicht mehr nur ärgerlich, sondern bedrohlich. Hinter den Mauern der OJ-Gärtnerei lag eine feindselige Welt, von der uns Gefahr drohte. Ich fühlte mich allmählich wie die hilflose Insassin eines Planwagens, der von räuberischen Indianern umzingelt wurde. Doch die örtliche Polizei hatte unser Problem bislang kaltgelassen, woher sollte also die Kavallerie kommen?
»Es ist zu gefährlich für Laura und Billy hier draußen«, sagte ich.
»Ihnen passiert schon nichts. Die Kinder kommen nie zweimal am selben Tag.«
»Ich habe aber das Gefühl, daß es gefährlich ist.«
Owen zuckte die Achseln und begann Styroporschalen mit Salatschößlingen im Gewächshaus zu verteilen. Der Regen hämmerte immer noch aufs Dach und klatschte an die Fenster. Schlechtes Wetter ist nirgendwo so penetrant wie in einem Gewächshaus. Das Wasser strömt übers Dach, plätschert seitlich herunter, und durch jede geborstene (oder zerbrochene) Scheibe tropft und sickert und platscht es herein. Durch Kälte wird es noch nasser, und durch Nässe noch kälter. Manchmal kommt man sich vor, als hätte man seinen Arbeitsplatz unter den Niagarafällen. An einem trüben Novembermorgen wie diesem ist das Getöse des Regens immerhin laut genug, um unser Zähneklappern zu übertönen.
Leute, die uns an lauen Sommertagen bei der Arbeit zuschauen, gewinnen den Eindruck, daß wir in einer ländlichen Idylle leben, um die man uns beneiden kann. »Oh, ihr Glücklichen«, schwärmen sie. Sie sehen den Kindern zu, wie sie mit ihren kleinen Spaten und Schubkarren im Garten herumwerkeln, sie nehmen die frische Luft wahr, die gesunde Arbeit und die Nähe zur Natur. »Wir haben es nicht nur mit Sonne und Blumen zu tun«, wenden wir ein, doch sie lächeln nur ungläubig. Im Winter besucht uns keiner – da ist es wahrscheinlich zu gemütlich in ihren »langweiligen« Büros. Deshalb bekommen sie uns nicht mit steifen Fingern und Frostbeulen an den Füßen zu Gesicht, sie sehen nie die Stapel unbezahlter Rechnungen und sind nie Zeuge unserer verzweifelten und nicht immer erfolgreichen Kämpfe gegen Feuchtigkeit, Schimmel, Moder und Fäulnis.
Ich klaubte die Glassplitter auf und merkte dabei, daß der Schmerz in den Gelenken meiner linken Hand wieder da war. Na wunderbar, dachte ich, keine dreißig und schon Arthritis. Als ich sicher war, daß nirgendwo mehr Splitter lauerten, hörte ich die Kundenklingel.
Unsinnigerweise war ich wieder guten Mutes, als ich in den Regen hinausrannte und zwischen Reihen fein säuberlich aufgereihter Blumentöpfe aufs Haus zusprintete. Ein Kunde verhieß ein mögliches Geschäft, was in der magersten Zeit des Jahres eine Seltenheit war, und ein mögliches Geschäft verhieß Geld. Vielleicht beabsichtigte dieser gnomenhafte, in einen Trenchcoat gewandete alte Mann mit dem grauen Schnurrbart, der eine Broschüre der Hardy Plant Society studierte, fünftausend gemischte Primeln für den Frühling zu bestellen und gleich bar zu zahlen.
Ich begrüßte ihn herzlich. Er beäugte mich mißtrauisch.
»Ich suche einen Christbaum«, sagte er.
Mir wurde ganz flau. »Wir züchten keine Christbäume«, erwiderte ich, »und abgesehen davon, ist es noch viel zu früh dafür.«
»Ich wollte aber gerne jetzt schon einen.«
»Tut mir leid.«
»Was haben Sie denn sonst?«
»Primeln«, sagte ich fest. »Wir sind auf Primeln spezialisiert – Schlüsselblumen, Tazetten, viele interessante Pflanzen als Teichumrandung ...«
»Mit einem Weihnachtsstern käme ich wohl auch aus«, fiel er mir ins Wort.
»Ich fürchte, daß wir Ihnen nicht helfen können. Wenn Sie aber vielleicht ein außergewöhnliches Geschenk suchen, die Becherprimeln sind in etwa einem Monat soweit, und die eignen sich ebenfalls hervorragend als Zimmerpflanzen ...«
»Ich habe Ihnen doch gesagt«, klagte er, »daß ich jetzt etwas brauche. Sie sind nicht sehr hilfsbereit.«
»Vielleicht haben Sie im Gartenzentrum mehr Glück ...«
»Ich dachte, Sie würden sich über Kundschaft freuen. Ich wohne hier, wissen Sie.«
»Wie schön für Sie.« Der Satz war heraus, ohne daß ich die Worte auch nur einen Moment überdachte, und der Ton war völlig falsch.
Seine Äuglein funkelten wütend, und er zerrte am Gürtel seines Trenchcoats. »Es besteht kein Anlaß, unhöflich zu werden. Ich merke schon, ich verschwende hier meine Zeit.«
Ich versuchte ihn zu beschwichtigen. »O nein, bitte, ich finde bestimmt etwas, das ...«
»Und ich werde andere davor warnen, hierherzukommen.«
Ich gab auf. »Tun Sie das.«
Er war mächtig in Rage – wäre er ein Vogel gewesen, hätte er sich bestimmt aufgeplustert. Er setzte vermutlich gerade zu einem größeren Kampf an, als er Owen auf uns zukommen sah, und da er wohl annahm (zu Unrecht, wie sich erwies), daß Owen sich auf meine Seite stellen würde, schlug er seinen Kragen hoch und marschierte zu seinem glänzenden deutschen Auto zurück.
Wie aus weiter Ferne hörte ich die Stimme meines Bruders Lucien:
»So laß mich geh’n, graubärtiger Tor!«
Sogleich sinkt seine Hand herab.
Ich muß das wohl versehentlich ausgesprochen haben, denn ich sah, wie der Mann die Schultern straffte, sich aber dann eines Besseren besann und in sein Auto stieg.
Owen kam gerade rechtzeitig, um ihn abfahren zu sehen. Er zweifelt schon lange an meiner Fähigkeit zum liebenswürdigen Umgang mit Kunden.
»Was war los?«
»Bloß ein graubärtiger Tor, der einen Christbaum haben wollte.«
»Wozu denn das? Es war noch nicht mal Guy Fawkes Day.«
»Das hab ich ihm auch zu erklären versucht. Aber vielleicht sollten wir es als Omen betrachten. Womöglich kommen noch mehr von der Sorte. Wir sollten ein paar Bäume zum Verkaufen reinnehmen. Man weiß nie, vielleicht läßt sich sogar was damit verdienen.«
Owen zuckte zusammen, als hätte ich einen Pakt mit dem Teufel vorgeschlagen. »Wir versuchen hier eine Gärtnerei zu betreiben, Jane. Das heißt, daß wir alles selbst ziehen, was wir verkaufen. Wir haben keinen Pflanzenladen. Außerdem haben wir keinen Platz, um Christbäume anzupflanzen.«
»Nur weil du in jedes verdammte Eckchen Primeln gesetzt hast.«
»Das nennt man Spezialisierung.«
Wir waren kurz davor, uns über ein altvertrautes Thema zu streiten, das vor allem um diese Jahreszeit immer wieder aufkam.
Der Spätherbst ist die härteste Zeit des Jahres. Die Tausende von Primeln bestehen zunächst nur aus ein paar grünen Blättchen. Im Dezember kommen die ersten zur Blüte, die Kugelprimeln und die Aurikeln, die mit ihrem bezaubernden strahlenden Orange und Violett und warmem Gelb jede Trübsal vertreiben. Im März, wenn dann die Mehrzahl blüht, bin ich immer wieder hingerissen. Aus dem reizlosen Blätterrund bricht eine Farbenpracht hervor, die an einen orientalischen Bazar erinnert. Strahlendes Weiß, Rost- und Ockertöne, Siena- und Feuerrot und das Rot der untergehenden Sonne, Indigo- und Aquamarinblau und das Azur klarer Sommertage, kleine Erdschlüsselblumen, schillernd wie Juwelen, und altmodische Himmelschlüssel, die nach Wiesen aus der Kindheit und Rebstöcken duften. Doch um diese Jahreszeit ist dieses Wunder noch fern.
Lediglich das Klingeln des Telefons, das durch den Garten schrillte, hielt mich davon ab, eine ausführliche Kritik an Owens Verkaufsstrategie vom Stapel zu lassen. Ich war froh, mich reinen Gewissens ins Haus flüchten zu können, doch die Stimme meiner Mutter machte jegliches Wohlgefühl sofort zunichte. Ihr dringlicher Tonfall kündete von ihrem interessanten, ausgefüllten Leben, ich hatte also bitte schön aufmerksam zuzuhören.
»Jane, Liebes«, posaunte sie, »du würdest es mir doch sagen, wenn euch bei der Gärtnerei irgend jemand seltsam vorkommt, oder?«
»Nicht unbedingt. Weshalb?«
»Ist dir jemand aufgefallen? Oder habt ihr merkwürdige Anrufe erhalten?«
Nur diesen, dachte ich, laut aber sagte ich: »Inwiefern merkwürdig, Faith?«
»Es fällt einem doch auf, wenn sich jemand verdächtig benimmt. Du würdest es sofort merken.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ich meine das eher generell. Doch da ja nichts Außergewöhnliches war, muß man sich nicht beunruhigen.«
»Heute morgen hat wieder jemand eine Scheibe eingeworfen.«
»Also wirklich, Jane, das hättest du inzwischen in den Griff bekommen müssen.«
»Wie denn?«
»Ich meine, Laura oder Billy könnten verletzt werden.«
»Ach ja? Weißt du, darauf bin ich noch gar nicht gekommen.«
»Reiner Sarkasmus, Jane. Ich versuche doch nur, euch zu helfen. Und du versprichst mir, daß du mir sofort Bescheid sagst, wenn dir irgend etwas Verdächtiges auffällt, ja?« »Warum? Warum machst du dir plötzlich darüber Gedanken?«
»Man muß doch nicht immer einen Grund haben. Ich kann doch mal anrufen, um mich nach meinen Enkeln zu erkundigen. Wie geht es denn den beiden überhaupt? Ihr besucht mich nie.«
»Ihr seid uns jederzeit willkommen.«
»Das ist nicht so einfach, Eric hat immer so viel zu tun.«
»O Gott, wie widerlich.«
»Bitte?«
Drongo, unsere wunderschön schwarzweiß getigerte Katze, saß an der Hintertür und verzehrte genüßlich wie ein Gourmet den Kopf von etwas, das bis vor kurzem ein kleines Felltier gewesen war.
»Ach, bloß Drongo, die sich schlecht benimmt.«
»Manchmal ist es schwer, dir zu folgen, Jane«, sagte meine Mutter, bevor sie auflegte. Was aus ihrem Mund ganz schön dreist war, fand ich.
Obwohl ich allmählich hätte abgebrüht sein müssen, beunruhigte mich die Warnung meiner Mutter, die so kurz nach dem Steinwurf erfolgte. Den Vorstädten drohte Gefahr. Wenn ich mit Faith redete, hatte ich oft danach das Gefühl, als ob sich meine Hirnwindungen verheddert hätten und aufgebracht surren würden, doch heute gab es obendrein eine vage Warnung. Deshalb zuckte ich erschrocken zusammen, als die Hintertür zufiel.
Eine Frauenstimme flötete: »Hallo-o! Ich bin’s nur.«
Dinah war alles andere als bedrohlich. Sie war untersetzt und kompakt wie ein stämmiges, robustes Bergpony. Irgendwie hatte sie es wieder einmal geschafft, ihre ausladenden Hüften und Brüste vorteilhaft in einem gutsitzenden Guernsey-Pullover und perfekt gebügelten Cordhosen unterzubringen. Dazu trug sie ein buntes Tuch, das sie mit einer Bernsteinbrosche festgesteckt hatte. Sie hat fügsames Haar, das sie mit einer Vielzahl von Schleifen und Spangen aus Schildpatt und Samt zusammenhält. Dinah strahlt Gesundheit und Fröhlichkeit aus, Eigenschaften, denen heutzutage viel zuwenig Bedeutung beigemessen wird.
Ihr Eintreffen verhieß mir eine zeitweilige Erlösung von den Qualen des Salats.
»Hallo, Dinah. Hallo, Duncan.«
»Hallo, Jane.« Duncan inspizierte mit seinen hellen Augen die Küche. Es gibt wenige Dinge, die so beschämend sind wie die unbestechliche Kritikfähigkeit von Kindern. Bei Erwachsenen konnte man sich darauf verlassen, daß sie in unserer Küche »vielseitige Nutzungsmöglichkeiten« entdeckten und glaubten, daß das unvollendete Wandgemälde über dem Gemüseregal sich eines Tages zur witzigen Karikatur eines holländischen Stillebens entwickeln würde. Duncan jedoch, das sah ich, nahm nur wahr, daß unsere Küchenregale altersschwach und unsere Böden der Reinigung bedürftig waren. Duncan hatte nichts von der robusten Adrettheit seiner Mutter. Er ähnelte eher seinem Vater Aidan, einem Rechtsanwalt, der für ein Steuerbüro tätig war. Man konnte sich gut vorstellen, daß die bläulichen Schatten unter seinen Augen das Resultat nächtlichen Brütens über Prozeßakten waren und nicht davon herrührten, daß er Computerspiele dem Aufenthalt im Freien vorzog.
»Möchtest du Kaffee?« fragte ich.
»Nur ein Täßchen auf die Schnelle, sonst komme ich zu spät.«
»Wieso hast du’s denn so eilig?«
»Ich habe in einer Stunde Friseurtermin. Und da du gesagt hast, daß du heute auf Duncan aufpaßt, habe ich mich noch mit einer Freundin zum Mittagessen verabredet.«
»O Gott, das habe ich ganz vergessen.«
»Jetzt kann ich aber nichts mehr ändern.«
Dinah sah gekränkt aus, und ich beeilte mich, sie zu beruhigen. Laura und Billy verbrachten so viel Zeit bei Duncan, daß es nur gerecht war, wenn ich ab und zu einen Tag auf ihn aufpaßte. Das Problem war bloß, daß der Junge es verständlicherweise in der Gärtnerei scheußlich fand. Deshalb sah er jetzt so geknickt aus. Er war im »Haupthaus« heimisch, zumindest in einem Flügel, und er versuchte nach Möglichkeit einen Aufenthalt bei den armen Gärtnersleuten zu vermeiden.
Dinah und Aidan hatten sich gleich nach unserem Einzug sehr um uns bemüht. Zu Anfang waren Owen und ich so dankbar dafür, daß wir ab und zu ein anständiges Essen erhielten, baden konnten und in den Genuß eines netten Abends kamen, während wir rackerten und gleichzeitig das Cottage renovierten und die Gärtnerei auf Vordermann brachten – wir begriffen bald, daß sogar Chef-Gärtner spartanische Lebensumstände aushalten mußten, die für ihre Pflanzen das Ende bedeutet hätten –, daß wir nicht dazu kamen, innezuhalten und uns zu überlegen, was eigentlich für Dinah und Aidan dabei heraussprang. Nach und nach dämmerte uns, daß wir für sie die Alibi-Bauernfreunde darstellten, die sie brauchten, um ihr Bild von sich als Landbewohner zu vervollkommnen. Aidan fuhr jeden Tag in die Stadt, aber er hielt sich im Herzen für einen Landmenschen. Wenn am Wochenende schönes Wetter war, schlüpfte Aidan in schicke Gummistiefel mit Schnallen, schlenderte mit Owen übers Gelände und nickte gedankenvoll, während Owen sich über Lehmerde und Säuregehalt und späten Frost ausließ. Einmal habe ich Aidan sogar dabei beobachtet, wie er verstohlen einen Grashalm abriß und darauf herumkaute, um seinen Spaziergang besinnlicher zu gestalten. Er bedauerte es vermutlich, daß wir kein Weidengatter angebracht hatten, an dem er sich lässig anlehnen konnte. Doch sosehr wir uns auch darüber ärgern mochten, daß wir in die Rolle der aufrechten Bauern gedrängt wurden, so sehr waren wir ihnen auch zu Dank verpflichtet für die vielen Annehmlichkeiten – und fürs Babysitten, da unsere Kinder vom Alter her so gut zueinander paßten, daß wir sie bequemerweise für Freunde halten konnten.
In meinen trüberen Momenten – und an denen herrschte kein Mangel – neigte ich zu der Annahme, daß meine Freundschaft zu Dinah auf ihrem Bedürfnis zum Angeben und einer masochistischen Veranlagung meinerseits beruhte, die mich dazu trieb, ständig im Schatten zu stehen. Ihr Leben schien wie am Schnürchen zu laufen, vermutlich aufgrund der zahlreichen Ratgeberseiten in diversen Magazinen. Sie hatte einen Karteikasten für praktische Putztips und einen für nützliche Telefonnummern und Adressen (wo kriege ich die richtige Vorhangquaste). Ihr Gefrierschrank war voller ordentlich beschrifteter Behälter, auf denen »Hühnerfrikassee für 1 Person« oder »Spinat-Schafskäse-Pastete für 24 Personen« stand. Dinah war auf alle Eventualitäten vorbereitet, während ich schon mit dem simplen Alltag nicht zurechtkam.
Als ich Dinah am Küchentisch gegenübersaß, fiel mir ein, daß ich wohl ziemlich vergammelt aussah. Es war durchaus möglich, daß ich mal wieder nicht dazu gekommen war, mich zu kämmen. Dinah gab gelegentlich vor, mich um meine dünne Taille zu beneiden, aber neben ihr fühlte ich mich immer wie eine dürre Vogelscheuche, und ich bildete mir nicht ein, daß ich in meiner abgewetzten alten Hose und ebensolchem Sweatshirt irgendwie attraktiv aussah. Ich habe kurzes dunkles Haar und ein schmales Gesicht ohne bemerkenswerte Eigenschaften. Als ich fünfzehn war, teilte mir einmal ein lieber Mensch mit, daß ich reizend aussähe, wenn ich lächelte. Ich dachte sofort, daß er mir damit sagen wollte, wie schrecklich ich den Rest der Zeit aussah.
»Hast du hier irgend jemanden bemerkt, Dinah, der sich verdächtig benimmt?« fragte ich.
»Nein. Warum?«
»Ich hatte gerade so einen seltsamen Anruf von meiner Mutter. Ihre Anrufe sind immer seltsam, aber der war noch schlimmer als sonst. Sie klang besorgt, wollte jedoch nicht sagen, weshalb. Es hatte irgendwas mit Leuten zu tun, die sich bei der Gärtnerei herumtreiben. Ich dachte, es stand vielleicht was in der Zeitung über diese Gegend.«
»Und hat sich jemand hier herumgetrieben?« Dinah warf einen Blick auf Duncan, der davonschlurfte, um Laura und Billy zu suchen.
»Nur ein graubärtiger Tor, der einen Christbaum haben wollte.«
»Ein was?«
»Du kennst das doch:
›So laß mich geh’n, graubärtiger Tor!‹
Sogleich sinkt seine Hand herab.«
Dinah blickte mich verständnislos an, und so erklärte ich: »Das ist aus ›Die Ballade vom alten Seemann‹. Das war eines von Luciens Lieblingsgedichten – es gefällt wahrscheinlich allen Kindern. Und das mit Lady Shallot und dem Fluch.«
Dinah hatte das Interesse verloren und betrachtete den Umschlag, den ich als Zeichenblock benutzt hatte. »Wer soll denn bitte das sein?«
»Das ist ein Phantombild von der Gestalt, die meine Mutter beschrieben hat.«
»Ich dachte, du hättest niemanden gesehen.«
»Hab ich auch nicht. Der fette Albert ist eine Ausgeburt meiner Phantasie.«
»Der ist ja widerlich.«
Dinah schob den Umschlag von sich, und ich war gekränkt, weil ich mich mit dem fetten Albert identifizierte. Es besänftigte mich auch nicht, als sie hinzufügte: »Aber er ist sehr gut gezeichnet. Ich glaube, du hast wirklich Talent.« Ich nahm an, daß sie das aus reiner Höflichkeit sagte. Sie kicherte. »Einen Moment lang dachte ich, es sei einer deiner Freunde. Ach ja, das wollte ich dir zeigen. Da war ein großer Artikel über diesen Freund von dir in einer Zeitschrift, die ich gestern gekauft habe.«
»Ach ja?«
Ich wußte sofort, wer gemeint war. Ich hatte nur einen Freund, einen ehemaligen, über den geschrieben wurde.
Sie faltete den säuberlich ausgeschnittenen Artikel auseinander und legte ihn auf den Tisch.
Robs Gesicht, ein edles Schwarzweißporträt, lächelte mich an. Er wirkte elegant, aber entspannt, als wäre er viel zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt, um sich mit seinem Aussehen abzugeben, und würde einfach von Natur aus phantastisch ausschauen. Er trug ein dunkles, makellos gebügeltes Hemd mit offenem Kragen, und sein braunes Haar (ich wußte, daß es braun war, obwohl es auf dem Foto natürlich schwarz wirkte) war exzellent geschnitten, aber ein wenig zerzaust. Er schien sich mit jemandem, der auf dem Bild nicht zu sehen war, über etwas zu amüsieren; in seinen Augenwinkeln zeigten sich die ersten Fältchen. Er schaffte es, gleichzeitig weise, witzig, sympathisch und ungemein anziehend auszusehen – eine ziemliche Leistung.
Rob Hallam, der widerstrebend und unversehens zum Medien-Star geworden war.
Ich überflog den Artikel. Er enthielt die üblichen Details. Seine Geschichte gab einiges her, es lohnte sich, sie immer wieder auszubreiten als Kontrast zu den üblichen Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Storys.
Er war vor etwas über dreißig Jahren in Australien auf die Welt gekommen, aber seit er acht war, in England zur Schule gegangen. Diese Unruhe in seiner Kindheit hatte unter anderem dazu geführt, daß er bis zum heutigen Tag nicht recht wußte, wo er hingehörte; er hatte sich inzwischen damit abgefunden, überall der Außenseiter zu sein.
(Er hatte das der Reporterin anscheinend als intime Offenbarung serviert, was ziemlich verlogen war, weil er es jedermann »offenbarte«.) Trotz seiner inneren Unruhe war er erfolgreich – gute Schulzeugnisse, ein beachtlicher Abschluß in Oxford, eine Assistentenstelle an der Uni und beginnendes Interesse für die Medien.
Und dann – die Katastrophe.
Er hatte Recherchen für einen Artikel über Obdachlose gemacht und mit ihnen gelebt, weil er viel Wert auf Authentizität seiner Reportagen legte. Dabei war er verhaftet und wegen bewaffneten Raubüberfalls angeklagt worden. Er beteuerte seine Unschuld, wurde aber verurteilt und saß die Hälfte der achtjährigen Haftstrafe ab. Erst als ein neues Alibi auftauchte und der wirkliche Täter sich schuldig bekannte, wurde das Urteil widerrufen. Die Haftzeit veränderte sein Leben. Sein ursprünglich beiläufiges Interesse an Randgruppen verdichtete sich zur Besessenheit. Er schrieb und produzierte ein vielgerühmtes »Dokudrama« über seine Erlebnisse und die persönliche Geschichte seiner Mitinsassen. Er erwies sich als derart medienwirksam, daß er monatelang an nahezu jeder Talk-Runde in Funk und Fernsehen teilnahm. Ein Kommentator vertrat die Ansicht, daß Rob sich in der Sprache des Establishments für die Unterdrückten einsetze.
Vor achtzehn Monaten hatte er eine Möglichkeit gefunden, seine Überzeugungen konkret umzusetzen. Er richtete Branden House ein, eine Unterkunft für obdachlose ehemalige Straftäter. In letzter Zeit hatte man gemunkelt, daß er in die Politik einsteigen wolle. Unterdessen hatte er eine eigene Fernsehsendung bekommen, das Magazin Blickpunkt Gesellschaft, in dem Raum für Dokumentationen, Kommentare und sachbezogene Interviews war.
Durch Rob Hallam war es schick geworden, sich sozial zu betätigen, stand in dem Artikel.
(Durch Rob Hallam war es gefährlich geworden, einem Freund zu trauen, dachte ich.)
Doch was mich seltsam berührte, waren nicht der Artikel und das Foto von Rob, sondern ein kleineres Bild rechts unten auf der Seite. Darauf war Rob mit seinen Angestellten und einigen »Gästen«, wie sie genannt wurden, von Branden House auf dem Kiesweg vor dem Gebäude zu sehen. Er lächelte wieder weise (ob er jemals damit aufhörte?) und schaffte es, gleichzeitig sehr attraktiv und betroffen zu wirken.
Aber die Frau mit dem glatten braunen Haar und der undurchdringlichen Miene, die neben ihm stand, das war doch Esme, oder?
Was machte sie da? Sie war wohl kaum eine geläuterte Kriminelle, und in dem Wohnheim war sie bestimmt keine große Hilfe. Sie mußte also hier abgebildet sein, weil Rob und sie wieder zusammen waren.
»Auf der anderen Seite geht’s weiter«, sagte Dinah.
Und da marschierten sie Hand in Hand durchs Herbstlaub. Die Bildunterschrift lautete: »Rob Hallam sagt, seit sechs Monaten habe er bei seiner Freundin aus Kindertagen, Esme Drummond, wieder Geborgenheit und Glück gefunden.«
Ich spürte einen Stich, den ich nicht recht erklären konnte. Es war keine Eifersucht. Es hatte eher Ähnlichkeit mit dem leeren Gefühl der Verlassenheit, das sich bei einem Kind einstellt, wenn die beiden besten Freunde kichernd davonrennen und einen nicht beim Spiel mitmachen lassen. Ich sah sie vor mir, wie sie händchenhaltend in einem teuren Restaurant saßen, wie sie ins Theater gingen, exotische Reisen unternahmen, gemeinsam lachten und sich an die alten Zeiten erinnerten.
Im Grunde konnte es mir egal sein. Ich hatte sie beide seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen.
»Ist das nicht ein Witz?« meinte Dinah.
»Was?«
»Daß er sich ausgerechnet mit der Tochter eines Kronrats einläßt, nach allem, was er durchgemacht hat. Das steht hier auch.« Dinah zog den Artikel zu sich her und las vor: »Offenbar hat Rob Hallam keine Vorbehalte mehr gegenüber den Juristen, oder aber es ist eine clevere Art der Vorsorge, denn die Frau seines Herzens dieser Tage ist die Tochter des ehemaligen Kronrats John Drummond.«
»Des bedeutenden ehemaligen Kronrats«, korrigierte ich sie. »Lucien sagte, daß Kronräte immer bedeutend seien.« Ich hatte die Stimme meines Bruders im Ohr, wie er höhnisch sagte: »Hast du schon mal von einem Kronrat gehört, der nicht bedeutend ist? Einem zweitklassigen Kronrat zum Beispiel? Es ist wie mit Überlebenden, die immer mutig sind, und Kindern im Krankenhaus, die immer klein sind. Ist dir das noch nie aufgefallen?«
Dinah war das noch nie aufgefallen. Ich dachte einmal mehr, daß mein Bruder Lucien Dinah vermutlich kaltgelassen hätte.
Sie fragte: »Wie gut kanntest du ihn?«
»Rob? Schwer zu sagen.«
»War er nicht ein Freund deines Bruders?«
»Ja, sein bester Freund.« Dann fiel mir wieder ein, wie Lucien ihn dauernd gepiesackt hatte. »So was Ähnliches jedenfalls.«
»Du hast mal erzählt, daß ihr immer die Ferien zusammen verbracht habt.«
»Nur manchmal.«
»Und diese Esme war auch dabei?«
»Ja. Ihren Eltern gehörte das Cottage, in dem wir gewohnt haben.«
»Am Meer.«
»Nein«, erwiderte ich peinlich berührt. »Es war an einem Fluß. Am Fluß.«
Für Dinah war das unerheblich. »Und Owen war auch dort?«
»Zunächst nicht. Erst später war er öfter dabei.«
Nachdenklich strich Dinah über den Artikel, über Robs Wange und sagte: »Mir war nie klar, daß Rob Hallam so gut aussieht. Nicht so gut wie Owen, aber doch ...«
Ich gab einen indifferenten Laut von mir. Mir war es nämlich auch nicht klar gewesen. Der Junge mit dem ausdruckslosen Gesicht, dem kantigen Kinn, der plumpen Nase und den unruhigen, ängstlichen Augen war ein anderer geworden. Soziales Engagement konnte offenbar wundersame Verwandlungen auslösen.
»Hattest du nicht mal erzählt, daß du in ihn verliebt gewesen bist?«
Dem war nicht so, aber Dinah verstand sich aufs Schnüffeln, und ich nahm an, daß sie scharf war auf Geschichten über Promis, mit denen sie dann beim Lunch ihre Freunde unterhalten konnte.
»Wir waren doch noch Kinder«, antwortete ich abwehrend.
»Wie alt wart ihr?«
»Acht oder neun.«
»Und später?«
»Da sind wir uns ein paarmal über den Weg gelaufen.« Dinahs braune Augen blickten mich forschend an. »Und du hast dich zu ihm hingezogen gefühlt?«
Ich versuchte ein möglichst aufrichtiges Gesicht zu machen. »Das läßt sich schwer erklären«, sagte ich, und das entsprach tatsächlich der Wahrheit. »Ich bin nicht mal sicher, ob ich das selbst so genau weiß.« Auch das stimmte. »Du hast schon recht, wir fanden uns anziehend, aber irgendwie war da immer eine Schranke, fast so etwas wie ein Tabu. Als wären wir Geschwister.«
Mein aufrichtiger Gesichtsausdruck drohte zu entgleisen. Das war’s, Mrs. Neugierig, dachte ich, mehr gibt’s nicht. Aus ihrer etwas verschnupften Miene schloß ich, daß sie annahm, Rob und ich seien ein Paar gewesen. Wären wir’s nur gewesen, dachte ich bedauernd, dann hätten wir es leichter gehabt. Ich erinnerte mich genau an alle Männer, mit denen ich vor Owen zusammengewesen war, erinnerte mich an Namen, Einzelheiten und sexuelle Vorlieben, doch ich empfand nicht viel dabei, obgleich ich mindestens in zwei von ihnen wohl verliebt gewesen war. Aber mit Rob war es anders gewesen.
»Und nach der Beerdigung hast du ihn nicht mehr gesehen?« fragte Dinah.
»Er war nicht bei der Beerdigung.«
»Aber ich war der Meinung, er hätte fast zur Familie gehört.«
»Ja, das glaubten wir auch.«
»Und damals habt ihr euch dann gefunden, Owen und du?«
»So ungefähr.«
Ich dachte nicht gerne an diese Zeit, als Owen die Scherben meines Lebens wieder zusammenfügte. Er muß diese verfehlte Großzügigkeit inzwischen häufig bereut haben. Doch davon würde Dinah nichts erfahren.
»Seltsam, was«, meinte sie, »daß ihr euch alle als Kinder schon kanntet und immer noch zusammen seid. Zumindest sie mit Rob Hallam und du mit Owen.«
Ich nickte. Sie betrachtete das Foto vom lächelnden Rob mit einem Gesichtsausdruck, dem klar zu entnehmen war: Wie schade, daß du den Versager abgekriegt hast.
Und ich ärgerte mich, weil mir derselbe miese Gedanke gerade durch den Kopf geschossen war.
Als Dinah in ihrem kleinen Sportwagen davongebraust war, ging ich ins große Gewächshaus zurück. Duncan kauerte auf einem umgedrehten Blumentopf und fröstelte trotz seines Anoraks. Owen hatte schon mit dem Salat angefangen. Billy schob ein Auto in das Maul eines ausgedienten Halloween-Kürbisses, und Laura half zum Schein ihrem Vater, damit sie ihm ungestört aufzählen konnte, was sie sich zu Weihnachten wünschte.
Die letzten Überbleibsel meiner guten Laune vom frühen Morgen lösten sich in Luft auf. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil Owen schon mit der Arbeit angefangen hatte, während ich in der Küche saß und Kaffee trank und dann auch noch versäumt hatte, ihm einen mitzubringen. Ich fand es ausgesprochen ungerech daß mal wieder alle anderen es besser hatten als ich – Dinah ließ sich beim Friseur verwöhnen; und Rob und Esme genossen, durch den Herbstwald schlendernd, »Geborgenheit und Glück«. Und nun schämte ich mich plötzlich beim Anblick von Duncans blassem Gesicht, den man seiner Zentralheizung und seiner Teppichböden beraubt hatte.
Ich ging den Weg zwischen den Beeten entlang. Der Boden links und rechts davon war sorgfältig geharkt und dann mit Hunderten gerader Linien versehen worden – ein exzellentes Beispiel für ein gartentechnisches Kreuzmuster. Die Salatsetzlinge waren in separaten Kästchen herangewachsen, und Owen pflanzte sie nun in regelmäßigen Abständen in die markierten Reihen. Sie sahen aus wie Zuckerwürfel mit kleinen grünen Schleifen. Ich wollte nicht auf die präparierten Beete treten und war deshalb gezwungen zu warten, bis Owen sich zur Mitte vorgearbeitet hatte.
Dann sagte ich: »Es ist verdammt blödsinnig.«
»Was ist denn jetzt schon wieder los?«
»Wieso verschwendest du nur soviel Zeit mit den dämlichen Salatsetzlingen, wenn wir mit ein paar Christbäumen genausoviel Geld verdienen könnten?«
»Das haben wir doch schon geklärt.«
»Na und? Warum müssen wir es uns noch schwerer machen, als es sowieso schon ist? Du hast bloß Angst, daß wir zur Abwechslung mal etwas Geld haben könnten. Du mußt ja immer leiden, weiß der Himmel, warum.«
»Ich leide nicht. Mir macht die Arbeit Spaß.«
»Du mußt doch verrückt sein.«
Er zuckte nur die Achseln und begann mit der nächsten Reihe. Den Setzling nehmen, an die richtige Stelle plazieren, den nächsten nehmen – die Vorstellung, den ganzen Tag mit einer derart verblödend langweiligen Tätigkeit zuzubringen, fand ich so frustrierend, daß ich das Gefühl hatte, mein Kopf würde von Stahlbändern zusammengepreßt. Nach ein paar Minuten mußte Owen wieder in die Mitte kommen, wo ich immer noch herumstand.
»War’s das?« fragte er und warf mir einen Blick zu, der Ausdruck seines Abscheus sein mochte – das ließ sich bei Owen immer schwer sagen.
»Nein, war es nicht. Schau dir bloß Duncan an. Er fühlt sich nicht nur elendiglich, sondern könnte auch noch jeden Moment von einem Stein oder Glassplittern verletzt werden. Es macht dir vielleicht nichts aus, wenn unsere Kinder in Gefahr sind, aber bei fremden ist für mich Schluß. Ich werd sie für heute von hier wegbringen.«
»Wohin?«
»Zu meiner Mutter.« Ich hatte mir das vorher nicht überlegt, aber mir fiel kein anderer Ort ein, an dem es trocken war und man nichts bezahlen mußte.
Owen fuhr einfach mit der Arbeit fort, was mich zur Weißglut trieb.
Der fette Albert hätte sicher schon Schaum vor dem Mund. Der fette Albert und ich würden uns jetzt wahrscheinlich zehn Minuten lang anbrüllen und uns danach ausgiebig versöhnen. Ach, lieber fetter Albert, warum mußte ich mir nur ausgerechnet den fanatischsten Ehepazifisten von ganz England aussuchen?
Owen war mit dem ersten Schwung Setzlinge fertig und beschäftigte sich mit der Sprinkleranlage, um die Pflänzchen zu bewässern. Um unsere einseitige Unterhaltung fortzuführen, mußte ich mich an den Rand des Gewächshauses begeben.
»Willst du nicht mal protestieren?« fragte ich. »Ist es dir egal, ob du den ganzen Mist alleine machen mußt? Hast du nicht manchmal das Gefühl, daß du hier drin langsam durchdrehst?«
»Halt das mal einen Moment, ja? Genau, das war’s.« Die Sprinkleranlage regte sich, Wasser tröpfelte auf die dankbaren Schößlinge. O Gott, dachte ich, jetzt regnet’s auch noch hier drinnen.
»Und?« hakte ich nach.
Owen wandte sich zu mir um und sagte: »Ich habe im Moment lediglich das Problem, daß ich nicht weiß, was zum Teufel du willst, Jane.«
»Ich dachte, das hätte ich klargemacht.«
»Dann sag’s mir bitte deutlich.«
Als ich nicht sofort etwas darauf erwiderte, beschäftigte er sich mit dem nächsten Kasten Setzlinge. Hier drin wirst du nur beachtet, wenn du die Photosynthese beherrschst, dachte ich. Dennoch mußte man zugeben, daß elftausend Salatpflänzchen für einen allein eine Zumutung waren. Ich geriet ins Wanken, war sogar zu feige, meine egoistischen Pläne umzusetzen.
»Ich denke, ein, zwei Stunden könnte ich schon mithelfen.«
»Ich komme zurecht.«
Die Reaktion enttäuschte mich irgendwie. Hatte ich etwa die ganze Zeit gehofft, daß Owen sagen würde, er brauche mich, könne es ohne mich nicht schaffen? Und jetzt bestrafte er mich mit seiner Unabhängigkeit. Selbst wenn ich tat, was ich mir vorgenommen hatte, fühlte ich mich, als wäre ich ausgetrickst worden.
»Du mußt nicht den Märtyrer spielen«, entgegnete ich. »Wenn du willst, bleibe ich hier.«
Er hielt einen Moment in der Arbeit inne und schien eingehend ein Stück Boden vor seinen Füßen zu betrachten. Dann sagte er: »Entscheide selbst. Die Kinder würden sich bestimmt über einen Ausflug freuen.«
Er hatte mich geschlagen. War er nun wütend? Ich kam einfach nicht dahinter. Den meisten Leuten sieht man an, was sie empfinden, aber bei Owen mußte man auf die geringsten Regungen achten – ein Zucken unter dem Auge, ob er die Hand anspannte, dann wieder locker ließ. Ich kam mir häufig vor wie ein glückloser Archäologe, der versucht, die Geschichte einer ganzen Kultur aus einer Tonscherbe herzuleiten.
Ich suchte Zuflucht bei Feindseligkeit und starrte zornig seinen Rücken an. Er schien seine ganze bigotte Entrüstung auszudrücken. Um der einsetzenden Trübsal entgegenzuwirken, stellte ich mir ein Gemälde vor, das »Owen, der heilige Märtyrer« heißen sollte. Sein Gesicht war ein einziger Vorwurf, die braunen Augen blickten zum Himmel auf (»Wie lange noch, o Herr, wie lange noch?«), und es nahm einen nicht wunder, daß er an einen Pfahl gefesselt war, während seine Frau, ein dürres Ungeheuer mit stachligem braunem Haar und Mordlust im Blick, um ihn herumtanzte und ihn mit grünen Schößlingen bewarf.
Besonders tröstlich war es nicht. Seit Jahren war ich zu keiner kreativen Leistung mehr gekommen, außer mir Bilder auszudenken, die ich niemals fertigstellen würde.
Die Kinder, perfide, wie sie waren, zeigten sich alles andere als begeistert von dieser Programmänderung. Duncan hatte seinen Platz auf dem Blumentopf geräumt und errichtete ein mehrstöckiges Parkhaus für Billys Autos aus den leeren Styroporkästen. Lauras Augen weiteten sich vor Entsetzen bei der Aussicht, sich von ihrem Vater trennen zu müssen.
»Armer Daddy. Ganz alleine«, sie stieß einen tiefen Seufzer aus, »den ganzen Tag. Mach dir nichts draus, armer Daddy, Wendy bleibt bei dir.«
Die Puppe war passend zum Gemüsepflanzen in ein rosa Tutu gekleidet, ihr Haar stand vertikal von ihrem rosa Plastikkopf ab und ihre Brüste horizontal von ihrem rosa Plastikkörper. Ihr Gesichtsausdruck blieb unverändert dümmlich, als sie zwischen zwei zarten Salatpflänzchen bis zu den Knien in die weiche Erde gesteckt wurde.
»Danke, Schätzchen.« Zu Lauras Entzücken nahm Owen sie hoch und schloß sie in die Arme. »Ich hoffe, Wendy hat nichts dagegen, wenn sie bewässert wird«, fügte er hinzu, und beide lachten.
Um nicht ausgebootet zu werden, kam Billy in seinen viel zu großen Gummistiefeln angestapft. Seine Schwester sah stets aus wie aus dem Ei gepellt, Billy dagegen schien mit seinem offenstehenden Mund, heraushängendem Hemd und Triefnase immer in Auflösung begriffen. Jetzt versenkte er ein kleines Auto mit der Kühlerhaube zuvorderst in der Erde. Owen setzte Laura ab und umarmte Billy, der strahlte wie ein Honigkuchenpferd.
Ich war nicht eifersüchtig oder so, aber wenn ich Owen mit den Kindern erlebte, wurde ich wütender denn je. Mit ihnen ging er spontan und natürlich um. Sie hatten es lustig zusammen und schienen mich kein bißchen zu vermissen. Wenn ich sah, wie Owen mit ihnen lachte und sie in den Arm nahm, wie sogar der trübsinnige Duncan in seiner Nähe auflebte, wie jungenhaft Owen wurde, sobald er mit ihnen herumalberte, wurde mir nur um so bewußter, wie steif und eckig er sich mir gegenüber verhielt. Er sollte mir eigentlich leid tun, dachte ich verdrießlich, als ich die Kinder zu unserem Kombi schaffte. Es muß scheußlich sein, wenn man mit jemandem zusammenlebt, den man nicht mehr leiden kann, und zu dickköpfig ist, sich dies selbst einzugestehen.
»Armer Daddy«, setzte Laura ihre Litanei fort, als sie auf die Ladefläche des Lieferwagens kletterte. »Ganz alleine ...«
»Von wegen armer Daddy«, fauchte ich. »Ich habe angeboten, ihm zu helfen, aber er hat gesagt, er wolle es alleine machen.«
Laura ließ sich nicht dazu herab, diese etwas unwahrhaftige Bemerkung zu kommentieren, da sie vollauf damit beschäftigt war, die besten Säcke und das einzige Kissen für sich in Anspruch zu nehmen.
»In unserem Auto gibt es hinten Sicherheitsgurte«, sagte Duncan düster.
»Ohne Sitze dazu nützen die nicht viel«, entgegnete ich.
Der Wagen sprang nicht an.
Die Kinder fingen an zu zanken, während ich zunehmend in Rage geriet. Es ist schon schlimm genug, wenn man mit einem rostigen, altersschwachen Lieferwagen unterwegs sein muß, der ständig nach Kompost und feuchten Blättern müffelt, aber gar nicht unterwegs zu sein ist noch übler.
Ich erwog kurz, mir den Kopf am Lenkrad aufzuschlagen, damit ich bewußtlos wurde, begnügte mich aber dann damit, »elender Mist« zu knurren und aufs Armaturenbrett zu hauen. Die Kinder hörten auf zu streiten und verfielen in Schweigen – dieses ängstliche Schweigen von Kindern, die merken, daß die Erwachsenen, von denen sie abhängig sind, nicht sonderlich gut mit der Welt klarkommen.
Jetzt mußte ich Owen um Hilfe bitten. Oder, noch schlimmer, der Wagen hatte womöglich endgültig den Geist aufgegeben, und ich saß in der Gärtnerei fest und konnte nicht mehr entkommen. Einen Moment lang fühlte ich mich so gefangen, daß ich um Atem ringen mußte.
»Du solltest lieber Daddy holen«, meinte Laura.
»Der kann auch nicht mehr machen als ich«, erwiderte ich, holte ihn aber trotzdem.
»Die Batterie ist leer«, sagte Owen, womit er unsere gesamten Technikkenntnisse in vier Worte faßte. »Ich schiebe euch an. Sieh zu, daß du an einem Abhang parken kannst. Die Starthilfekabel liegen hinten drin.«
»Das weiß ich.«
Da wir der Werkstatt immer noch einen astronomischen Betrag für die letzte Instandsetzung schuldeten, kam eine neue Batterie nicht in Frage.
Eines Tages, gelobte ich mir, als der Wagen auf der schrägen Straße hinter der Gärtnerei zum Leben erwachte und die Kinder jubelten, wohl in der Hoffnung, daß ich jetzt besser gelaunt sein würde, eines Tages werde ich auch Leute besuchen können, die nicht an Abhängen wohnen.
Es goß nicht mehr, sondern nieselte, die Scheibenwischer grunzten und quiekten, der Wagen ratterte. Normalerweise entspannte ich mich, wenn ich mit den Kindern im Schlepptau der Gärtnerei den Rücken kehren konnte, und wir amüsierten uns. Sonst war ich immer in der Lage, das Gefühlswirrwarr, das Owen in mir auslöste, zu vergessen und mich auf ihr munteres Geplapper und ihre Spiele einzulassen. Doch heute wurde ich meine Bedrücktheit nicht los, sie verstärkte sich eher noch. Ich hatte das vertraute Gefühl, daß ich kurz davor war, kopfüber in ein schwarzes Loch zu stürzen.
Ich erinnere mich noch, wie ich zum erstenmal von schwarzen Löchern hörte – es muß Lucien gewesen sein, der mir davon erzählte –, unsichtbare Räume, die Materie verschlucken und in denen es so dunkel ist, daß das Licht darin verschwindet. Damals dachte ich: Das ist die passende Beschreibung. Ich lebe am Rande von einem dieser Löcher. Ich hatte seit jeher das Gefühl, von Unerklärlichem, von heimtückischer Düsterkeit umgeben zu sein. Diesmal hatte der Anruf meiner Mutter diesen Zustand bei mir ausgelöst. Und die Steineschmeißer und die Begegnung mit dem graubärtigen Toren. Der Anruf selbst hatte vermutlich nicht viel zu bedeuten, aber er fügte sich in eine Kette von Ereignissen ein, die mich mein Leben lang begleiteten und die ich niemals verstand: Telefongespräche und Unterhaltungen, bei denen rasch das Thema gewechselt wurde, wenn ich hereinkam; ständige Umzüge; Bemerkungen, die nicht erklärt, und Fragen, die nicht beantwortet wurden, lastendes Schweigen und schiefe Blicke von Fremden. Seit ich denken konnte, fühlte ich mich wie eine Figur in einem komplizierten Spiel, dessen Regeln man mir immer vorenthalten würde.
Ich war nie einbezogen, verstand nie, was vor sich ging. Nein, das stimmte nicht. Es hatte eine andere Zeit gegeben, vier kurze Sommer, in denen ich gespürt hatte, wie es sich im üppigen, sonnigen Herzen der Welt leben ließ.
Ich seufzte ergeben und erlaubte meinen Gedanken, in die Vergangenheit zu wandern. Tun das alle Menschen? fragte ich mich. Blicken sie alle durch den Sucher der Vergangenheit, um in eine Welt zurückzukehren, die erst dann so kostbar wurde, als sie verschwand? Gönnt sich jeder so eine innere Straße, über die er den Ängsten und der Ödnis der Gegenwart entkommen kann – dem Regen, den Rechnungen, mißverstandenen Mitteilungen und aussichtslosen Streitereien?
Ich hielt mich dazu an, knauserig zu sein mit meinen Erinnerungen, sie zu rationieren, damit sie sich nicht durch zu häufigen Gebrauch vorzeitig abnutzten.
Glory Cottage. Durchs Fenster wehten die süßen Düfte aus dem Obstgarten herein. Der raunende Gesang des Flusses. Feuchte Erde, Moos, Laub. Der weiche Rasen zwischen dem Bootshaus und der Weide, die für uns vier Sommer lang der Mittelpunkt unseres Daseins war.
Fünf Kinder lungern im Kreis auf dem Gras herum. Vier warten darauf, daß der fünfte spricht – Lucien, mein Bruder, Lucien, der Magier.
Heute sagt er: »Ihr müßt euch ein Wort ausdenken. Das umwerfend großartigste und beeindruckendste Wort, das ihr je gehört habt.«
Rob rutscht unruhig hin und her. »Was für ein Wort?«
»Du sollst es doch sagen, du Blödmann.«
Das Rauschen und Gluckern des Flusses macht das Schweigen um so deutlicher. Keiner will der erste sein – und womöglich das falsche Wort sagen.
»Du bist die Jüngste, Esme. Du fängst an«, bestimmt Lucien.
Sie runzelt die Stirn. Ihr braunes Haar fällt ihr ins Gesicht, und sie entfernt den Sand aus dem Fluß zwischen ihren Zehen.
»Also los.«
»Hm ...«
Owen liegt im Gras, die Arme unterm Kopf verschränkt, und schaut zur Weide und zum Himmel hoch. Sein Gesichtsausdruck ist schon jetzt unergründlich.
»Harmonisch«, sagt er, als spräche er mit sich selbst.
»Warte. Esme ist zuerst dran.«
»Hm.« Sie kneift die Augen zusammen, damit alle merken, daß sie sich anstrengt. Dann lächelt sie. »Schokolade«, sagt sie.
Lucien stöhnt. »Versuch’s noch mal. Es muß ein klangvolles Wort sein, ein machtvolles Wort, ein Wort, das Bestand hat, mit dem man Abenteuer erleben kann.«
Sie blickt ihn verständnislos an.
»Ein Wort wie Füllhorn, Alchimie oder Katastrophe ...«
»Also gut, dann das.«
»Welches?«
»Kat – oder wie das hieß.«
»Katastrophe?«
»Ja, genau. Ich nehme Katastrophe.« Und Esme setzt sich wieder bequem hin und lächelt.
Ich lächelte auch, als ich an Luciens Vorliebe für lange Wörter dachte. Von seiner Begeisterung angesteckt, reichten wir sie herum wie Süßigkeiten.
»Enthusiastisch«, sagt Rob.
»Mysterium«, sagt Lucien.
»Arpeggio«, sagt Owen.
»Elektrizitätswerk«, sage ich.
»Katastrophe«, sagt Esme wieder. Alle stöhnen, und sie versteht nicht, warum wir das Wort jetzt nicht mehr gut finden, war es doch beim erstenmal so ein Erfolg.