Das Erdbeermädchen - Lisa Stromme - E-Book

Das Erdbeermädchen E-Book

Lisa Stromme

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Beschreibung

Neben der tiefsten Finsternis strahlt oft das hellste Licht

Sommer 1893. Die Bewohner von Åsgårdstrand, einem malerischen Fischerdorf an der norwegischen Küste, bereiten sich auf die Ankunft ihrer reichen Sommergäste vor. Die junge Erdbeersammlerin Johanne soll den Sommer über als Dienstmädchen im Hause des Admirals Ihlen arbeiten. Johanne freundet sich mit Tullik, der impulsiven Tochter des Admirals, an. Als diese eine verbotene Affäre mit dem noch unbekannten Edvard Munch beginnt, der geächtet am Rande des Dorfes lebt, drohen ihre Freundschaft und der bürgerliche Friede in Asgardstrand daran zu zerbrechen.

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Seitenzahl: 414

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Das Buch

Sommer 1893. Die Bewohner von Åsgårdstrand, einem malerischen Fischerdorf an der norwegischen Küste, bereiten sich auf die Ankunft ihrer reichen Sommergäste vor. Die junge Erdbeersammlerin Johanne soll den Sommer über als Dienstmädchen im Hause des Admirals Ihlen arbeiten. Johanne freundet sich mit Tullik, der impulsiven Tochter des Admirals, an. Als diese eine verbotene Affäre mit dem noch unbekannten Edvard Munch beginnt, der geächtet am Rande des Dorfes lebt, drohen ihre Freundschaft und der bürgerliche Frieden in Åsgårdstrand daran zu zerbrechen.

Die Autorin

Lisa Strømme, geboren 1973, stammt aus Yorkshire und studierte an der University of Strathclyde in Glasgow. Mit ihrem norwegischen Ehemann und zwei Kindern lebt sie in der Nähe von Åsgårdstrand, dem Küstenort, in dem Edvard Munch ein Sommerhaus hatte. Hier spielt Das Erdbeermädchen, Lisa Strømmes erster Roman.

LISA STROMME

Das

Erdbeermädchen

Roman

Deutsch von Marie Rahn

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel THE STRAWBERRY GIRL

Zitatnachweis Zur Farbenlehre:Johann Wolfgang von Goethe, Zur Farbenlehre, Cotta, Tübingen 1810.

Vollständige deutsche Erstausgabe 07/2017Copyright © 2016 by Lisa StrommeCopyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Steffi KordaUmschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, MünchenSatz: Fotosatz Amann, MemmingenAlle Rechte vorbehaltenISBN: 978-3-641-18671-5V001www.heyne.de

Für Dagfinn,die Palette, auf der ich meine Farben mische

Åsgårdstrand1893

1

Weiße Leinwand

Das höchste nicht blendende Helle wirkt neben dem völlig Dunkeln.

Johann Wolfgang von Goethe, Zur Farbenlehre

Ich versteckte mich in Dem Bild, in der Hoffnung, sie würde nicht sehen, was aus mir geworden war. Manchmal gelang mir das noch. Wenn ich die Augen schloss und an Erdbeeren dachte, spürte ich, wie die Fäden des eingerissenen Kleides an meiner nackten Schulter kitzelten, während Herrn Heyerdahls Pinsel über die Palette rieb und die Leinwand tupfte. Wenn ich mir Mühe gab, wurde meine Miene trotzig und doch fügsam, genau so, wie er sie festgehalten hatte. Ich spürte sogar die dünnen Stängel des Jasmins, die sich wie Spinnweben zwischen meinen Fingern verwoben hatten. Meine andere Hand hielt, zitternd vor Anstrengung, die Schale umfasst. An meiner Schulter juckte es, aber ich durfte mich nicht kratzen: nicht bewegen, nicht reden, ganz still bleiben.

Im Winter, wenn keine Gäste da waren, sah sie mich so, wie ich früher war: zehn Jahre alt, unbedarft und nützlich. Aber mit sechzehn wurde es immer schwerer, das Erdbeermädchen zu sein. Der Spitzname hatte mich ersetzt, mich entschieden hinter sich geschoben. Kaum war Das Bild fertig und wurde im Grand Hotel ausgestellt, damit alle Gäste aus Kristiania es bewundern konnten, hatte ich diesen Titel inne, der sich verhärtete wie Farbe auf einer Leinwand. Als Kind trug ich ihn mit gezwungenem Stolz. Jetzt trug er mich. Doch der Firnis bekam Risse und blätterte langsam ab.

Mutter kniete vor dem Ofen und schwenkte den Lappen im Eimer, als badete sie ein kleines Kind. Als sie mich kommen sah, wrang sie ihn so entschieden aus, als hätte er Widerworte gegeben.

»Beweg dich, Johanne«, keifte sie. »Was trödelst du, wenn noch so viel zu tun ist? Herrgott, es ist Saisonbeginn! Heute Nachmittag kommen die Heyerdahls. Du weißt, er will das Haus hell und luftig, makellos …« Sie hob die Stimme, hielt inne und wartete auf meine Antwort. »Makellos?«

»Ordentlich«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

»Deinen Trotz kannst du dir sparen, Mädchen.« Wie um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, schob sie ihre bereits aufgerollten Ärmel noch höher. »Er bringt Leinwände, Farben, seine gesamte Ausrüstung mit. Da kann er nicht arbeiten, wenn nicht alles makellos ordentlich ist.«

Dabei war Hans Heyerdahl so etwas völlig gleichgültig. Er war Maler. Er schuf mehr Unordnung, als wir vier je gemacht hatten.

Ich malte mit dem Finger einen Kringel auf die Wand.

»Also, steh nicht einfach nur so da! Ich habe dir doch den Brief vorgelesen, oder etwa nicht? Laut und deutlich.«

»Ja, Mutter. Zuerst mit dem Boot, dann mit dem Wagen. Wir sollen Vater und Andreas schicken, um sie abzuholen.«

»Und deshalb müssen wir uns beeilen.«

Sie hastete an mir vorbei, reckte sich, um das hohe Wandbord zu erreichen, und knallte dann eine Holzschale auf den Ofen.

»Pflück Beeren, ja?«, herrschte sie mich an. »Die ganze Schale voll. Schnell. Danach musst du noch die Böden wischen und die Laken lüften.«

»Es ist noch zu früh dafür«, entgegnete ich. »So viele Erdbeeren werde ich erst in ein paar Wochen pflücken können.«

»Ich sagte, du sollst diesen Trotz ablegen. Los, ab in den Wald, und lass deine Widerworte gleich da.« Sie klatschte dicht vor meinem Gesicht in die Hände. »Und wenn dir dieser Thomas wieder nachläuft, sag ihm, an solcher Aufmerksamkeit bist du nicht interessiert. Hörst du?«

»Ja, Mutter.«

»Und lungere nicht in der Nähe des Hauses des anderen Malers herum. Der Sünder! Frau Jörgensen hat gesagt, er sei gestern Abend angekommen. Und er habe wieder das Böse mitgebracht. Dieser Mann ist nicht ganz da.« Sie tippte sich an die Schläfe. »Nicht wie unser Herr Heyerdahl. Nicht ganz richtig im Kopf. Geh schnurstracks an seiner Hütte vorbei. Wirf nicht mal einen Blick in den Garten. Du weißt ja, er lässt seine grässlichen Bilder draußen trocknen. Sündig, das sind sie. Er stellt seine Verdorbenheit noch zur Schau, als wäre er stolz darauf. Du hältst den Kopf gesenkt, Johanne Lien, verstanden? Denk an deinen Ruf und an den deiner Familie. Und jetzt geh, und sammle Beeren für die Heyerdahls.« Sie drückte mir die Schale in die Hand. Dann scheuchte sie mich hinaus und brummte noch etwas über meine nackten Füße und wirren Haare, während ich in die strahlende Morgensonne hinauseilte. Ich ließ sie im Wirrwarr ihres Gemurmels zurück.

Die Erdbeeren waren bestimmt noch nicht reif, sondern hart und zäh wie kleine, weiße Fäuste. Die Natur hatte ihre Farben zwar schon angemischt, aber noch nicht auf die Leinwand aufgetragen. Die Früchte und Blumen brauchten Licht und Wärme, bevor sie reifen und blühen konnten. Offenbar meinte Mutter, ich als Erdbeermädchen könnte sie kraft meiner Gedanken reifen lassen. Für sie hatte dieser Titel weniger mit meiner Beschäftigung und mehr mit Dem Bild zu tun. Er war wie eine Währung, eine Brücke, die uns mit den höheren Klassen verband, den reichen Sommerfrischlern aus Kristiania, Herrn Heyerdahls Gästen, die jedes Jahr nach Åsgårdstrand strömten.

Das Bild war ein Porträt von mir als Zehnjährige. Blaue und gelbe Farbflächen verschmolzen so, dass sich ein unordentliches kleines Mädchen in einem verschlissenen Kleid darin zeigte, dessen Falten und Risse von Schatten verdunkelt wurden. Durch den zerrissenen Ärmel wirkte meine nackte Schulter fast rein, dabei war ich von meinen wilden Streifzügen durch Gebüsch und Unterholz immer mit Schrammen übersät. Ich begriff nicht, wieso Das Bild eine Verbindung zwischen uns und den Damen schaffen sollte, die mit feinen, weißen Kleidern, Hüten und Schleifen durch den Ort stolzierten. Aber Herr Heyerdahl wohnte in unserem Häuschen. Das musste doch etwas bedeuten, oder nicht? Das Bild verlieh uns eine Sonderstellung. In den Augen der Gäste aus Kristiania schien dieses Gebilde aus Formen, Konturen, Farbe und Licht mich in eine Prinzessin zu verwandeln. In den Augen meiner Mutter reichte das als Beweis, dass wir praktisch dazugehörten.

Es gab nur einen Erdbeerstrauch, der schon reif sein konnte. Sein Standort war perfekt: auf einem Hügel vor einem Wall gelegen, leicht zugänglich und den ganzen Tag von der Sonne beschienen, obwohl es noch früh im Jahr war. Das einzige Problem war nur, dass er sich in seinem Garten befand.

Wenn Hans Heyerdahl für Mutter wie ein Gott war, so war der Sünder für sie der leibhaftige Teufel. Andreas und ich durften nicht mal seinen Namen in den Mund nehmen. Auch nur an ihn zu denken war Verrat.

Mutter wusste nicht, was er mir gegeben hatte. Wusste nichts von unseren Gesprächen und unseren Treffen im Wald.

Der Mann war weder vornehm noch erfolgreich. Er war ein Unikat im Ort. Der Feriengast, den die Einheimischen mochten, aber nicht verstanden, nicht mal ansatzweise. Er war genauso arm wie wir und konnte kaum die Miete für seine Hütte bezahlen. So arm war er, dass wir nicht mal ein »Herr« vor seinen Namen setzten, als wäre er dessen nicht würdig.

Seine merkwürdigen Bilder kamen seinem Ruf auch nicht zugute, und es gingen Gerüchte um, er wäre trunksüchtig und verrückt. Unsere vornehmen Gäste aus Kristiania, zu denen Mutter unbedingt gehören wollte, ignorierten ihn. Den Damen war angeraten worden, den Blick von seinen Bildern abzuwenden und sich gar mit ihren Sonnenschirmen von der dort offen zur Schau gestellten Vulgarität abzuschirmen.

Draußen im Freien traute ich mich jetzt, seinen Namen auszusprechen, trat dabei aber heftig mit den Füßen auf, um meine Stimme zu übertönen. Zuerst flüsterte ich ihn, wisperte die beiden Wörter, die geradezu vor Verderbtheit troffen. Dann sprach ich seinen Namen laut aus.

»Edvard Munch.«

Als der Name meinen Lippen entschlüpfte, knackte etwas hinter mir. War ich jetzt verflucht? Auf der Stelle verdammt? Als ich herumschnellte, entdeckte ich jedoch bloß Thomas, der aus einem Birkenhain an der Straße geschlendert kam. Sein offenes Gesicht strahlte, und seine dunkelbraunen Augen funkelten trotz des hellen Sonnenlichts so deutlich, dass ich genau wusste, was in ihm vorging.

»Johanne! Warte!«, rief er. »Wohin gehst du?«

»Beeren pflücken für die Heyerdahls.«

»Kann ich dir helfen?«

Ich winkte Thomas leicht, mir zu folgen. Meine Hand fuhr über meine Schulter, nestelte am Stoff und strich die Nähte meiner Bluse glatt.

»Wie viel Zeit hast du?«, fragte er und schnappte sich meine Schale.

»Gib sie zurück!« Ich streckte die Hand aus, er aber hob sie hoch über den Kopf, wich zurück in Richtung Birkenhain und bedeutete mir, näher zu kommen. »Thomas! Für so was habe ich heute keine Zeit! Gib sie zurück.«

»Ist gut«, sagte er und ließ die Hand mit der Schale sinken. »Aber komm wenigstens mit zum Strand. Eine kleine Abkühlung kann doch nicht schaden, oder?« Er lief los und ließ mich zurück.

Ich starrte mit dem vertrauten Aufkommen von Sehnsucht aufs Meer. Diese riesige Wasserfläche bestimmte mein ganzes Leben. Das Meer hatte mich schon immer fasziniert. Es wirkte so unendlich, dass ich kaum glauben mochte, was die Fischer vom Ende des Fjords erzählten, wo dieser in die offene See überging. Das endlose Blau wurde nur hier und da von Schiffen und Segelbooten sowie der Insel Bastoy unterbrochen und konnte überall von Åsgårdstrand aus gesehen werden; der Ort selbst schien in den Steilhang geschnitzt zu sein, so als hätten die Bewohner des Fjords ein Zeichen setzen wollen.

Thomas lief schon weit vor mir. Vom Wasser angezogen, brauchte ich keine weitere Aufforderung. Unser Hügel senkte sich steil zum Meer, daher fiel es schwer, ihn langsam hinunterzugehen. Ich stolperte hinter Thomas her, durch das Viertel Nygardsgaten, bis das Gefälle unten nachließ. Wir kamen an den Fischerhütten vorbei, in denen meine Familie und ich den Sommer über hausen würden, während die Heyerdahls in unserem Haus wohnten. Aus reiner Gewohnheit wandte ich den Blick ab, als wir zu der kleinen senfgelben Hütte am Ortsende gelangten, die Munch von Frau Jörgensen gemietet hatte. Dann stürmten wir die Havnagata entlang. Die Kopfsteine fächerten sich unter uns auf und führten zur Pier und dem Badehaus auf der felsigen Seite der Küste, wo das Wasser vom Fjord hereinströmte. Erleichtert atmete ich auf und sog die frische Seeluft ein.

Thomas rollte die Hosenbeine bis zum Knie hoch und watete hinaus ins Wasser. Ich raffte Rock und Unterrock. Schlick drang zwischen meine Zehen. Draußen auf dem Meer zogen Segelboote vorbei, bewegten sich leise und verträumt mit der Dünung. Am Strand war es ruhig. Unter dem wachsamen Blick einer Mutter, die auf einem Felsen unter ihrem Sonnenschirm saß, spielten ein paar kleine Mädchen am Ufer mit Kieselsteinen. Etwas weiter entfernt schrubbte ein alter Fischer den Rumpf seines umgekippten Boots, während ein bärtiger Mann hinter ihm Knoten in ein Seil knüpfte. Ich war froh, dass sie uns keine Beachtung schenkten.

»Komm schon! Bis zu den Knien«, rief Thomas, stellte die Schale auf einem Felsen ab und ging mit großen Schritten voraus. »Wenn du dich traust!«

Ich folgte ihm. Als das Wasser über meine Knöchel stieg, spritzte es beim Gehen auf. Thomas steuerte eine Felsengruppe an, die aus dem Meer herausragte. Als Mädchen hatte ich oft dort gesessen und Meerjungfrau gespielt.

»Ich kann heute nicht weit raus«, rief ich, mir des Buches in meiner Tasche bewusst. »Nicht ohne meine Badesachen.«

»Spielverderberin!« Er schöpfte mit beiden Händen Wasser und blies dagegen, sodass dünne Fontänen um mich herum spritzten.

»Thomas!«, kreischte ich.

Wäre das Buch nicht gewesen, hätte ich ihn auch nass gespritzt. Stattdessen entfernte ich mich platschend von ihm und suchte nach Schätzen. Aber kurz darauf war er hinter mir, schlang seine Arme um meine Taille und presste seine Brust an meinen Rücken.

»Schau mal«, sagte er und zeigte auf einen Punkt am Horizont. »Eines Tages bringe ich dich dorthin, Johanne.« Als ich seinen Atem an meinem Ohr spürte, flatterte etwas in meinem Bauch und zog sich dann zusammen, weil seine Lippen über meine Haut strichen und er mit der Geschichte begann, die er so gern erzählte. »Ich nehme dich mit auf ein Abenteuer«, sagte er und senkte seinen Mund zu meinem Hals. »Ich werde Skipper auf einem großen Schiff sein.«

»Und wohin bringst du mich?«, fragte ich, als wüsste ich die Antwort nicht bereits.

»Weit hinaus aufs Meer, zuerst nach Dänemark, dann weiter nach Frankreich und Ägypten. Wir werden reich und mit Juwelen bedeckt zurückkehren. Man wird uns König und Königin von Åsgårdstrand nennen.«

»Du klingst genau wie Peer Gynt«, sagte ich, »und schau, wohin ihn seine Seefahrt gebracht hat.«

»Zumindest war er reich«, entgegnete Thomas. »Am Ende.«

Ich entwand mich seinen Armen und drehte mich zu ihm um.

»Nein, er war selbstsüchtig und hat all seine Reichtümer verloren.«

Thomas zuckte die Achseln. »Aber du kommst trotzdem mit mir, eines Tages. Oder nicht, Johanne?«, fragte er unsicher. Sein Selbstvertrauen sank wie der Wasserspiegel in einem löchrigen Eimer.

»Wer weiß.«

»Willst du denn nicht sehen, was da draußen ist?«, fragte er und umfasste meine Hände. »Es erforschen?«

Ein Schiffshorn ertönte dumpf auf dem Fjord. Als ich mich umwandte, sah ich die Jarlsberg auf die Pier zusegeln; ihre Fahnen flatterten im Wind, um von ihrer Ankunft zu künden.

Ich hob meine Röcke noch höher und schüttelte den nassen Saum aus, als ich zum Strand zurückrannte, um meine Schale zu holen.

»Warte!«, rief Thomas. »Johanne, komm zurück!«

»Keine Zeit!«

»Aber so warte doch! Johanne, bleib stehen!«

Ich eilte schon davon.

»Heute Abend gibt es einen Tanz. Im Grand Hotel«, rief er, »Du kommst doch, oder?«

»Vielleicht«, rief ich zurück. Vielleicht. Wenn mich meine Mutter bis dahin nicht umgebracht hat.

Ich rannte quer über den Strand, über Felsen und Seetanghaufen. Meine Füße kannten den Weg und fanden leicht die glatten Pfade, die unzählige Badende in vielen Jahren ausgetreten hatten. Ich schnappte mir die Schale und eilte am Wassersaum entlang, vorbei am Grand Hotel zu dem Weg, der in den Fjugstad-Wald führte. Munchs Haus war auf einem steilen Hang erbaut, sodass der Pfad unterhalb der Hütte entlangführte. Die Obstbäume und Beerenbüsche auf der anderen Seite des Zauns winkten mich mit ausgebreiteten Armen heran.

Der Zaun hatte mich noch nie aufgehalten. Ich stellte meine Schale auf einen Pfosten und hob meinen Rock bis zu den Knien, während ich an den Fenstern der Nachbarhäuser nach Zeugen für mein Vergehen suchte. Doch außer den kreischenden Möwen über mir sah und hörte ich nichts. Ich stieg mit den Füßen auf den Draht und schaukelte ein bisschen, als er unter meinem Gewicht nachgab. Mein Rock zerriss an einem hervorstehenden Holzsplitter, als ich hinübersprang.

Ich landete im hohen Gras, wich den Brennnesseln aus und machte mich daran, die Büsche nach Beeren abzusuchen. Doch obwohl ich die Zweige mit den zarten, weißen Blüten und den gezackten Blättern gründlich absuchte, fand ich nichts. Also kniete ich mich hin, kroch über den Boden und suchte das Unterholz ab. Ich tauchte meine Arme in die dichte Hecke und zerkratzte mir dabei Finger und Unterarme, bis leuchtend rote Striemen auf meiner Haut erschienen. »Ach, verdammt!«, schimpfte ich. »Diese verfluchten Heyerdahls!« Mein Gesicht steckte tief im Gebüsch.

»Du verschwendest nur deine Zeit.«

Die Stimme stieß eine Tür zu meinen Erinnerungen auf. Ich ließ die Blätter in meiner Hand los und spürte, wie mir ein Schauer über den Rücken lief.

Mit brennenden Armen drehte ich mich um und fand mich Munch gegenüber, der auf mich herabblickte. Er trug eine dunkle Jacke, die ihm so lose von den Schultern hing, als hätte er sie von einem älteren Bruder geerbt. Eine graue Weste hielt ihn zusammen. Er hatte einen sinnlich geformten Mund, den ich mich kaum anzuschauen traute. Die volle, geschwungene Oberlippe wurde von einem dünnen Schnurrbart umrahmt, und seine Unterlippe war prall und weich, fast wie bei einem Kind. Er hatte starke Kieferknochen und fahlblaue Augen, aus denen die Traurigkeit sprach. Ich hatte den Eindruck, diese Traurigkeit war kein vorübergehendes Gefühl, sondern etwas, das ihm immer zu eigen war, wie ein Anker.

»Johanne?«, fragte er mit dem Anflug eines Lächelns.

»Ja, ich bin’s.« Ich strich meinen zerrissenen Rock glatt. »Mutter wollte, dass ich Beeren für die Heyerdahls sammle.«

»Meine Schwester und ich haben die reifen heute Morgen gepflückt«, sagte er. »Komm mit zum Haus.«

Zuerst wollte ich ablehnen. Mutter würde mich bei lebendigem Leib häuten, wenn sie erfuhr, dass ich dabei ertappt worden war, wie ich Erdbeeren stahl – und dann auch noch von ihm. Aber mit leeren Händen konnte ich nicht zurückkommen, und Munchs Gesicht war zwar ernst, aber sein Blick freundlich.

»Wir dürfen doch nicht zulassen, dass Hans keine Erdbeeren bekommt, oder?«, bemerkte er und nahm meine Schale vom Zaun.

Er hielt ein beigefarbenes Skizzenbuch mit abgewetzten Rändern in der Hand. Das Deckblatt war mit Kritzeleien und Kaffeeflecken beschmiert. Er steckte es sich unter den Arm und machte sich an den Aufstieg. Ich folgte ihm, trat in seine Fußspuren und tappte mit schmutzigen Sohlen über das Gras, das er mit seinen Stiefeln platt gedrückt hatte. Als ich zur Hügelkuppe hinaufschaute, fielen mir sofort die Bilder ins Auge.

Zwei Leinwände, fast so groß wie ich, ragten über uns auf. Wie Sonnenanbeter lehnten sie an der Mauer des dunkelroten Gebäudes, das Munch vorübergehend als Atelier diente. Die Bilder waren so faszinierend, dass ich den Blick nicht von ihnen abwenden konnte. Eines zeigte eine Dame, eine dunkle Gestalt, die tieftraurig auf etwas blickte, was aussah wie ihr eigener Schatten. Sie wirkte so verzweifelt, dass meine Brust sich zusammenzog und sich in meiner Kehle ein Kloß bildete.

Das andere Bild zeigte eine Szene im Grünen. Ein Mann und eine Frau ruhten sich unter einem Baum aus. Die Frau trug eine hellblaue Schürze und hielt eine Schale mit roten Früchten in den Händen, die meine Neugier weckten und irgendwie meine Traurigkeit vertieften. Am liebsten hätte ich die Hand ausgestreckt und das Paar berührt. Die beiden wirkten verletzlich.

Als wir die Hütte erreichten, rief Munch nach seiner Schwester. »Inger! Johanne sucht Erdbeeren.«

Ich blieb draußen, während er die Stufen zur Hintertür hinaufging.

Als ich mich wieder dem Paar auf dem Bild zuwandte, entdeckte ich, dass die Frau mit den Früchten guter Hoffnung war; ihr Bauch ragte über der Schale empor. Die Früchte waren Kirschen, und der Baum war wie die Frau üppig und auf dem Höhepunkt seiner Reife. Der Mann hingegen war müde, und seine Glieder waren schwer. Zusammengesunken saß er auf einem Baumstamm, neben ihm lehnte ein Gehstock. Im Zentrum des Bildes verschandelte die kreisförmige Schnittwunde eines frisch geschlagenen Astes den Baumstamm und beraubte beide ihres Glücks.

»Hallo«, sagte Inger, die in der offenen Tür erschienen war.

Widerstrebend löste ich meinen Blick von den Bildern und sah sie gezwungen lächelnd an. Sie trug von Kopf bis Fuß schwarz, abgesehen von einem weißen Rüschenkragen, der ihren Hals umschmiegte. Ihre dunkelbraunen Haare hatte sie zu einem strengen Knoten zurückgebunden.

»Die haben wir heute Morgen gepflückt«, sagte sie und präsentierte mir eine Schale, als schuldete sie mir die Erdbeeren darin. »Es ist reichlich davon da.«

Ich warf einen Blick auf das Häufchen Erdbeeren und wusste, dass sie mehr nicht hatten.

Inger ähnelte Munch, aber ihr Ausdruck war offener als seiner, und ihre Augen waren dunkler und größer. In gewisser Hinsicht wirkte sie wie die Frau auf dem Bild, die von ihrem eigenen Schatten gequält schien.

»Die sind für die Heyerdahls«, sagte ich mit schlechtem Gewissen.

»Ja, ich habe von hier oben das Schiff ankommen sehen – wir haben einen prächtigen Ausblick«, erwiderte sie und überreichte mir lächelnd die Schale. »Du bist doch das Erdbeermädchen, nicht wahr? Bist ganz schön gewachsen seit letztem Sommer.«

Munch tauchte wieder aus dem Haus auf. »Die Personen auf Bildern wachsen und verändern sich, Inger, wie das Leben. Sie sind das Leben. Sie verändern sich mit unseren Stimmungen und der Tageszeit. Sind jedes Mal anders, wenn wir sie ansehen.«

Ich beobachtete ihn, während er sprach und dabei Figuren in die Luft malte. »Wie läuft’s mit deinen Bildern, Johanne?«

»Ach, es sind nur Skizzen«, sagte ich rasch. »Ich habe keine Farben. Die würde Mutter zu schmutzig finden. Aber ich lese täglich in dem Buch, das Sie mir gegeben haben.«

»Komm doch morgen wieder«, sagte er. »Du könntest ein paar von meinen Farben haben. Ich wollte welche mischen, aus …« Seine sanfte Stimme verstummte, und seine Hände beschrieben Bögen, als wollten sie den Satz beenden.

»Das würde Mutter nicht erlauben.«

»Sie muss doch nichts davon erfahren, oder?« Er warf einen vielsagenden Blick auf die Erdbeeren in meinen Händen.

»Vermutlich nicht.«

»Dann also bis morgen«, sagte er. »Ich werde eine Leinwand für dich beiseitelegen.«

Die Sonne schien heiß auf meinen Rücken, als ich Nygardsgaten hinaufrannte, und erinnerte mich daran, wie spät es schon war. Mit meinem zerrissenen Rock und den schmutzigen Armen kam ich mir vor wie eine Skizze, zerknüllt und weggeworfen, wie eine Idee, die durchgestrichen worden war. Doch ich konnte nur an morgen denken. Morgen würde ich ihn wiedersehen. Morgen würde ich malen.

Mutters Freundin Frau Berg stand an unserer Gartenpforte, als ich die Spitze des Hügels umrundete. Sie war mollig, hatte aufgeplusterte Backen und wirkte von ihrer kurzen Strecke den Berg hinunter genauso erschöpft wie ich von dem langen hastigen Aufstieg. Ihr riesiger Busen hing über dem Zaun, der sie bei ihrem täglichen Schwatz mit meiner Mutter kaum stützen konnte. Ich verlangsamte meinen Schritt.

»Du meine Güte, Johanne, sieh dich nur an«, sagte Frau Berg und starrte auf mein Kleid und die schmutzigen Füße. »Warst du im Krieg?«

Sie war eine Waschfrau und wie meine Mutter besessen von gestärkten Kragen und makellos sauberen Röcken. Schmutzflecken auf Kleidern waren ein Zeichen für den befleckten Charakter eines Menschen. Für Frau Berg war ich ein hoffnungsloser Fall.

Mutter kam aus der Küche geeilt. Sie hatte ihren besten Rock mit den Nadelstreifen und die weiße Bluse angezogen, die sie sonst nur in der Kirche trug. Ihr schmaler, ohnehin schon angespannter Körper straffte sich noch mehr, als sie mich erblickte. »Wo warst du denn, Johanne? Es ist schon nach zwölf. Sie werden jede Minute da sein. Ich musste mich ganz allein um die Böden und Laken kümmern.« Sie blickte auf den Riss in meinem Rock. »Wie ist das denn … Jetzt sieh dich nur an«, sagte sie mit schriller, erboster Stimme.

»Du wolltest doch eine ganze Schale«, erwiderte ich.

Sie presste die Lippen zusammen, und ihre Wangen blähten sich, als würden sie mit heißem Dampf gefüllt. Wären wir allein gewesen, hätte sie mir eine heftige Ohrfeige versetzt, aber Frau Bergs Knopfaugen dämpften ihren Zorn. »Siehst du, Benedikte«, bemerkte sie, »genau deshalb braucht sie eine Arbeit. Sie rennt den ganzen Sommer wie ein Straßenkind herum. Zugegeben, sie verkauft Beeren, aber als Hausmädchen wird sie uns mehr einbringen.«

»Was soll das heißen?«, fragte ich.

»Frau Berg und ich haben dir Arbeit besorgt. Du wirst als Hausmädchen für Admiral Ihlen und seine Familie in Borre arbeiten.«

»Aber ich pflücke doch Erdbeeren«, sagte ich ungläubig.

»Das wirst du auch weiterhin tun. In deiner Freizeit. Aber von Montag bis Samstag bist du nun ein Hausmädchen. Du fängst morgen an.«

2

Grundierung

Beim Kolorieren war das unterlegte gleichsam getuschte Bild immer wirksam.

Johann Wolfgang von Goethe, Zur Farbenlehre

Als sie eintrafen, wusch ich mir gerade an der Wasserpumpe die Füße. Leises Hufgeklapper ertönte von der staubigen Straße, und als ich aufblickte, sah ich ein geflecktes Pony, das sich gegen das Gewicht eines schwer beladenen Wagens stemmte. Es nickte mit dem Kopf, als wollte es Kraft aus seinen Muskeln am Nacken ziehen. Das Fell glänzte vor Schweiß.

Mein Vater wirkte auf dem Wagen fehl am Platz. Er war Segelmacher und benutzte sonst nie Wagen oder Pferd; es war ihm unangenehm, bis auf die Knochen durchgerüttelt zu werden. Lieber ließ er sich sanft vom Meer wiegen. Der Karren war eine Leihgabe von Vaters Freund Svein Karlson, aber mein Bruder Andreas war derjenige, der ihn fahren konnte. Er saß in der Mitte, flankiert von Vater und Herrn Heyerdahl. Er zügelte das erschöpfte Pony und brachte den Wagen zum Stehen. Mutter hatte Andreas gezwungen, seine Sonntagssachen anzuziehen. In seinem weißen Hemd und der schwarzen Weste wirkte er ziemlich steif. Selbst seine Kappe war gebürstet worden.

»Gut gemacht, Junge«, sagte Herr Heyerdahl mit dröhnender Stimme und schlug Andreas leicht aufs Knie.

Andreas war dreizehn und so schüchtern, dass er kaum sprach. Mit an die Brust gepresstem Kinn sprang er vom Wagen und band die Zügel des Ponys an unseren Zaun.

Herr Heyerdahl hatte seit letztem Jahr zugenommen. Die Knöpfe seiner Weste kämpften gegen den Druck seines vorragenden Bauchs, den er umklammerte, als er schwer atmend ausstieg. Sein Bart war ebenfalls gewachsen und verjüngte sich unter seinem Kinn zu einer ordentlichen Spitze. Vater war bereits im hinteren Teil des Wagens und half Frau Heyerdahl, einer spröden Dame mit Blümchenhaube. Sie saß eingezwängt zwischen Schrankkoffern und riesigen Leinwänden, die jeden Moment umzukippen und sie unter sich zu begraben drohten. Ihre beiden Kinder Sigrid und Hans sprangen vom Wagen und flitzten durch den Garten wie zwei Vögel, die ihrem Käfig entkommen waren.

Mutter eilte herbei, um ihre Gäste zu begrüßen. »Willkommen zurück in Åsgårdstrand«, sagte sie mit süßlicher Stimme.

Mit besonderem Nachdruck betätigte ich den Schwengel der Wasserpumpe, um ihre Plattitüden zu übertönen.

»Sara, wie schön«, erwiderte Herr Heyerdahl. »Halvor hat mir erzählt, dass Sie wieder alles getan haben, damit wir es gemütlich haben. Sie sollen sich nicht solche Umstände machen.«

»Aber das sind doch keine Umstände«, wehrte Mutter überschwänglich ab. »Ich hoffe, es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit.«

Während sie weiterplapperte, merkte ich, dass Herrn Heyerdahls Aufmerksamkeit abschweifte und er nur noch aus Höflichkeit weiterlächelte. Über Mutters Schulter hinweg sah er mich an wie ein Mann, der über Bord gegangen ist und Hilfe suchend den Arm ausstreckt. »Johanne!«, rief er übertrieben laut.

»Sie war Beeren sammeln und hatte noch keine Zeit, sich sauber zu machen«, haspelte Mutter. »Achten Sie gar nicht auf …«

»Meine Güte, bist du gewachsen«, sagte er. »Aber du hast immer noch die kornfeldfarbenen Haare und diese wunderhübschen blauen Augen.«

Ich schüttelte das Wasser von meinen Füßen und senkte den Kopf. »Hallo, Herr Heyerdahl«, sagte ich. Ich mochte vielleicht der vollkommene Gegensatz zu meiner Mutter sein, aber unhöflich war ich nicht.

»Du hast Beeren gesammelt? So früh im Jahr? Was hast du gefunden?«, fragte er und betrachtete mich mit seinen Maleraugen.

Mir stieg die Röte in die Wangen. »Erdbeeren«, antwortete ich und spürte unangenehm den Blick meiner Mutter auf mir.

»Eigentlich ist es noch zu früh«, ergänzte sie, »aber Sie können sich darauf verlassen, dass sie Ihnen noch viel mehr bringt, wenn sie erst reif sind.« Sie suchte angestrengt nach den richtigen Worten, um seine Aufmerksamkeit von mir abzulenken. Offenbar hatte sie Angst, dass mein bloßer Anblick bewirken könnte, dass er seine Entscheidung, unser Haus zu mieten, rückgängig machte und alle zurück in den Wagen beorderte.

Aber er blieb unbeeindruckt. »Man nennt dich nicht umsonst das Erdbeermädchen. Wo hast du sie denn gefunden?«, fragte er.

»Ach, im Wald«, erwiderte ich vage.

»Wirklich, Johanne, du musst jetzt deine Stiefel anziehen«, fuhr Mutter fort. »Wir sollten die Heyerdahls in Ruhe ankommen lassen. Halvor!«, rief sie. »Was ist mit unserer Truhe? Ist sie schon aufgeladen?«

»Wir sind bereit, Sara«, flüsterte Vater. Seine Stimme wurde von der Stille gedämpft, die ihm zu eigen war und jedes weitere Wort unnötig werden ließ.

Ich kletterte hinten auf den Wagen und setzte mich auf die Truhe mit unserer Kleidung und Bettwäsche. Mutter ließ sich neben mir nieder und warf mir meine Stiefel und ein Paar Strümpfe zu. »Zieh das an«, sagte sie und hielt sich an der Seite des Wagens fest. »Im Ernst, Johanne, je früher du eine Uniform bekommst, desto besser.«

Andreas ließ die Zügel knallen und zog am Mundstück des Ponys, damit es umdrehte. Dann ratterten wir los, fort von unserem Haus, den Hügel hinunter zur Pier. Von meinem Blickwinkel aus schien alles rückwärts an mir vorbeizuziehen. Nicht nur die weißen Holzhäuschen mit den Fliederbüschen am Zaun, sondern auch ich. Mein Leben im Rückwärtsgang. Viele Monate hatte ich versucht, mich von Dem Bild abzugrenzen, denn das Unschuldige und Erwartungsvolle daran waren eine zu schwere Last für mich, doch jetzt sehnte ich mich schmerzlich danach. Nach der Freiheit darin. Als Erdbeermädchen hatte ich die Freiheit, durch die Natur zu vagabundieren, zu rennen und zu tanzen, ohne die Bande, die andere an ihrem Platz hielten. Ich konnte frei durch die Wälder und Felder streifen, den Strand und die Felsen erkunden. Ich war ein Vagabund, wie er. So fanden wir einander, immer wieder. Und morgen hätte ich gemalt. Endlich wäre ich in der Lage gewesen, das, was ich im Buch gelesen hatte, in die Tat umzusetzen, Farben anzumischen und mit ihnen auf einer echten Leinwand zu experimentieren. Stattdessen würde ich ein Hausmädchen in Uniform sein – aller Freiheit beraubt.

Ich sah meinen Sommer auf der Spitze des Hügels verschwinden, so als überließe ich ihn wie unser Haus den Heyerdahls. Diese Saison gehörte doch mir! Konnte Mutter wirklich so grausam sein, sie mir wegzunehmen?

Als wir an Munchs Hütte vorbeikamen, zuckte Mutter zusammen. »Nicht hinsehen, Johanne«, befahl sie, als der Wagen an den Bildern vorbeirollte, die immer noch vor dem Atelier in der Sonne standen.

»Das sind doch nur Bilder«, entgegnete ich. »Was können die schon schaden?«

»Johanne Lien!«

Als hätte ich etwas Gotteslästerliches gesagt.

»Ich will nicht, dass du so etwas siehst«, sagte sie und wandte sich auf ihrem Sitz ab. »Die Ärzte in Kristiania haben gesagt, solche Bilder könnten einen krank machen. Ich will nicht, dass du dir so etwas Sündhaftes anschaust. Wenigstens bist du dem jetzt den ganzen Sommer über nicht mehr ausgesetzt«, fügte sie hinzu und nahm ihre Hand vom Gesicht. »Die Ihlens sind eine überaus achtbare Familie, und du wirst dich nur in Gesellschaft von Damen befinden. Sie haben drei Töchter und tragen die feinsten Kleider in ganz Kristiania. Frau Berg kümmert sich um ihre Wäsche.«

»Wozu brauchen sie dann mich?«

»Ach, Johanne, du musst noch viel lernen.«

Ich zupfte am Riss meines Rocks und rollte die losen Fäden auf.

Als wir die Fischerhütten erreichten, war die Luft warm und weich. Normalerweise kam vom Wasser her ein belebender Wind, doch als wir jetzt einatmeten, weiteten sich unsere Lungen nicht. Es herrschte Chaos, da die Hälfte der Einwohner plappernd und klappernd in die Hütten zog und die Morgenstille zerriss.

Überall sah man Familien, Karren und Truhen. Männer trugen Kisten hoch über ihren Köpfen. Der Schweiß tropfte ihnen von der Stirn, während sie ihre Karren lenkten oder über den frischen, dampfenden Pferdedung auf dem Weg stiegen. Überall wimmelten Kinder umher, strömten die Pier entlang und rannten mit Reifen zum Badehaus; einige der Kleinen weinten wegen der Wärme und Aufregung. Hunde jagten mit heraushängender Zunge und laut kläffend Möwen. Pferde wieherten und schlugen mit ihren Schweifen nach Fliegen. Frauen fächelten sich mit ihren Hauben Luft zu, während sie versuchten, ihre Kinder, Männer und Habseligkeiten im Auge zu behalten. In der Wärme erhitzten sich auch die Gemüter, und hier und da flammte Streit über Räumlichkeiten und Schlüssel auf.

Unser Wagen hielt in der prallen Sonne. Meine Beine und Füße erstickten geradezu in den Strümpfen und Stiefeln, und ich verspürte den heftigen Drang, sie mir abzustreifen und zum Wasser hinunterzurennen. Ich schwitzte aus allen Poren. Meine Bluse war mir zu eng, und die Stangen meines Korsetts drohten meinen Brustkorb zu durchbohren.

»Kannst du nicht in den Schatten fahren?«, stöhnte meine Mutter.

»Die Straße ist blockiert«, sagte Vater, während sein Blick zu den Segelbooten in der Bucht schweifte. »Wir müssen einfach warten, bis wir an der Reihe sind.«

»Aber das könnte Stunden dauern«, protestierte meine Mutter. Vom Chaos angezogen wie von Staub auf der Fensterbank, wurde sie unruhig. »Sieh doch! Da ist Frau Hansen. Ich steige mal aus und frage sie, was los ist. Halvor – hilf mir!«

Gehorsam sprang Vater vom Wagen. Mutter stieg über die Schränkchen, Teppiche und Kerzenleuchter, die um uns herum aufgestapelt waren, und zwängte sich zum Ende des Karrens, wo mein Vater sie so ungeschickt herunterhob, dass ihre Waden zu sehen waren. Sie blickte sich um, ob das jemand mitbekommen hatte, schalt raunend meinen Vater und winkte ihm kurz zu, um sich dann in die Menge zu stürzen, fest entschlossen, alles in Ordnung zu bringen.

»Was macht sie denn?«, fragte ich.

»Ach, offenbar hat Frau Hansen unsere Schlüssel«, antwortete Vater kopfschüttelnd und begab sich zurück auf den Bock des Wagens.

»Dadurch wird die Straße auch nicht frei«, sagte Andreas, lüftete seine Kappe und wischte sich über die Stirn.

Während ich meiner Mutter nachsah, die in der Menge hinter uns verschwand, fiel mein Blick auf einen lockigen Haarschopf. Thomas. Er trug eine Palette Kabeljau. Die silbernen Schuppen des frischen Fangs glitzerten in der Sonne. Er hatte mich noch nicht bemerkt, und für einen Augenblick beobachtete ich, wie er zielstrebig die Straße herunterkam. Alles an Thomas war zielstrebig, und ich beneidete ihn darum. Seine muskulösen Arme spannten sich so zuversichtlich an, als wäre die Last der Palette gar nichts. Die Menschenmenge wirbelte um ihn herum, doch er hob nur das Kinn. Wärme wellte in meiner Brust auf und flutete mir über Hals und Wangen. Da ich keine Zeit hatte, dieses Nervenflattern näher zu untersuchen, schob ich es in die Nische meines Kopfs, die ich für nüchternes Nachdenken freihielt.

Weil meine Mutter nicht da war und Thomas näher kam, ergriff ich die Gelegenheit, drehte mich um und tippte meinen Vater an.

»Hm?«

»Hast du gehört, dass Mutter mich den Sommer über nach Borre wegschickt?«

»Sie schickt dich doch nicht weg, Schatz«, entgegnete er. Beim Gedanken an meine Abwesenheit umwölkte sich sein Gemüt, und seine Miene verdüsterte sich. »Sonntags kommst du ja wieder und vielleicht sogar an manchen Abenden, wenn man dich nicht braucht.« Da wusste ich, er hatte die »Johanne wird Hausmädchen«-Debatte schon hinter sich und wie so viele Male zuvor jämmerlich verloren.

»Ich dachte nur … heute Abend ist ein Tanz im Grand Hotel«, sagte ich, »und weil ich morgen ja wegmuss, würdest du mir vielleicht erlauben hinzugehen?«

Die Frage hing in der flirrenden Luft. Thomas kam auf uns zugestapft.

»Das ist meine letzte Gelegenheit für so etwas«, drängte ich.

Mein Vater reckte seine Hand nach hinten und strich mir über das verschwitzte Haar. »Ist gut, Schatz. Wenn du mir sagst, wann du gehst, und versprichst, nicht zu spät zurückzukommen.«

Die Arme voller Fisch, konnte Thomas nicht winken, aber er grinste mich breit an. »Hallo!«, rief er. »Ich habe hier dein Abendessen.« Er neigte die Palette zu mir, als wäre jeder einzelne Fisch nur für mich. Ich fand den salzigen Geruch, der mir in die Nase drang, seltsam frisch und verlockend.

»Wohin gehst du denn?«, fragte ich.

»Ich liefere die bei den Damen aus. Das ist der Fang von heute Morgen. Mit Pellkartoffeln und einem Glas Bier werden sie köstlich schmecken. Du kommst doch auch zum Strand, oder?«

»Wenn ich es je von dieser Straße runter schaffe.«

»Und zum Tanz? Später? Kommst du?«

Ich nickte, worauf er erneut grinste; er hatte wieder dieses Funkeln in den Augen. Noch während er weiterging, konnte ich sehen, wie er breit grinste.

Es ging nur quälend langsam voran. Doch als die Sonne uns endlich aus ihrem sengenden Griff entließ, setzten sich die Wagen in Bewegung, und die Fesseln um unser Gemüt lösten sich, sodass bessere Stimmung aufkam. Wir luden unsere Habseligkeiten ab und schleppten alles in die Hütte. Unser Haus auf dem Hügel war alles andere als geräumig, wirkte wegen Mutters übertriebener Ordnungsliebe aber größer. Hier konnte aber selbst sie nichts ausrichten. Die Hütten waren eng und dunkel und eigentlich für Männer gedacht, die nur eine primitive Schlafgelegenheit brauchten. Sie waren horizontal aufgeteilt, was hieß, dass einige Familien oben lebten und ihre Haustüren nach Nygardsgaten hinausgingen, während andere Familien, wie unsere, unten und mit Blick auf den Strand wohnten.

Es gab jeweils drei Zimmer. Die Haustür führte direkt in die Küche, die nur mit einem Eisenofen und einer Anrichte ausgestattet war. Rechts davon befand sich ein kleines Schlafzimmer, wo Andreas und ich in einem Stockbett schliefen. Links von der Küche war das Wohnzimmer, wo Mutter und Vater Matratzen unter dem Sofa aufbewahrten, die sie abends zum Schlafen herauszogen. In einer Ecke des Wohnzimmers gab es einen alten Tisch mit Farbflecken auf der Platte, und vier unterschiedlich hohe Stühle standen darum herum.

Während wir unsere Sachen hereinschleppten, zwängten wir uns aneinander vorbei, stießen uns die Ellbogen an den Möbeln und stiegen über verwaiste Koffer. Ich fragte mich, wie die Andersons oben zurechtkamen. Sie hatten genauso viel Platz wie wir, waren aber zu siebt, mit fünf Kindern im Alter zwischen sechs Monaten und sechs Jahren.

Da die Heyerdahls nicht mehr in Sichtweite waren, gab es für meine Mutter keinen Grund mehr, sich vorteilhaft zu präsentieren, daher zog sie wieder ihre normalen Sachen an und nahm sich, mit einem Lappen bewaffnet, die Hütte vor. Andreas und ich packten aus. Mein erster Gedanke galt einem Versteck für das Buch. Ich schob es vorübergehend unter meine Matratze. Mutter würde das Bettzeug oft wechseln und die Matratzen umdrehen, um sie auszuklopfen. Also war es dort nicht lang sicher.

Ich wühlte in meinem Koffer, um ein Kleid für den Tanz herauszusuchen, aber alles, was ich fand, war eine Bluse mit Matrosenkragen und Puffärmeln, ein Baumwollrock und ein breiter Gürtel, um meine Taille zu betonen.

»Oh«, sagte Mutter, als sie mich so sah. »Tja, das war doch gar nicht so schwer, oder, Johanne? Wenn du dir jetzt noch die Haare kämmst, könntest du halbwegs anständig aussehen.«

Ich hatte ihr nichts vom Tanz erzählt. Das konnte warten, bis wir am Strand waren, wo sie wegen der Leute keine Szene machen würde. Einstweilen würde ich sie in dem Glauben belassen, ich wollte wie die Ihlens aussehen, die feinen Herrschaften aus Kristiania, deren Hausmädchen ich werden sollte.

»Könntest du dich um meine Haare kümmern?«, fragte ich.

Ihre Augen leuchteten auf, und sie eilte zu ihrem Koffer.

»Ich habe hier irgendwo die Schildpattkämme. Damit könnten wir dein Haar feststecken«, sagte sie und schob mich zum höchsten der Stühle am Esstisch. »Andreas, füll den Krug mit Wasser«, befahl sie. »Wir müssen uns alle fürs Abendessen sauber machen.«

Ich ließ es zu, dass meine Mutter mich kämmte und frisierte, hier und da Kämme anbrachte wie ein Kind bei einer Puppe. Mein Daumennagel fand einen Farbplacken auf dem Tisch, aus dem ich einen Halbmond formte, indem ich wie mit dem Bleistift vor und zurück schraffierte.

»Hör auf zu zappeln, Johanne!« Mutter zog meinen Kopf zur Seite. »Jetzt sieh dir an, was du wieder angestellt hast. Halt still, ich will dich doch hübsch machen. Du könntest so nett aussehen, wenn du nur wolltest. Das hat sogar Herr Heyerdahl gesagt. Hast du das nicht gehört?«

Nein, ich hatte nur gehört, dass meine Augen blau und meine Haare wie ein Kornfeld waren.

»Vielleicht malt er dich diesen Sommer noch einmal«, sagte sie mit einem Kamm zwischen den Zähnen, während sie meine Haare zu schmerzhaft straffen Zöpfen flocht, die an meiner Kopfhaut zerrten. »Du musst sie besuchen, hörst du? Bring ihnen Erdbeeren und Kirschen, wenn sie reif sind.« Sie nahm den Kamm aus dem Mund und kratzte damit über meine Kopfhaut, als sie meine Haare penibel feststeckte. »Niemand hat gesagt, dass du nur Erdbeeren pflücken musst. Kirschen können genauso schön auf Bildern aussehen, oder etwa nicht?«

Ich musste wieder an die Schale auf dem anderen Bild denken: die reifen Kirschen, die schwangere Frau und die frisch geschlagene Wunde am Baum, die ihr Glück gestohlen hatte.

Wir versammelten uns am Sandstrand auf der anderen Seite der Pier. Es war nicht mehr so heiß, doch ein warmer Wind umspielte die Grüppchen der Einwohner. In einem Topf überm Feuer spülten Frauen Geschirr und Besteck. Die älteren sangen beim Arbeiten Volkslieder, während die jüngeren mit verhaltenem Respekt Melodien summten. Die Männer, müde nach einem hektischen Tag und besänftigt vom Bier, hockten auf Liegestühlen oder Fischerbooten, redeten über Netze und Holzpreise und erzählten sich schlüpfrige Witze. Zwischen dem Knacken des Feuers und dem Gesang der Frauen erhoben sich ihre Stimmen rau und brummend in die Luft. Die Kinder plantschten mit der unermüdlichen Energie, die nur ein Sommerabend erzeugen kann, im Wasser und spielten Fangen, jagten einander entzückt aufquiekend am Ufer entlang. Andreas und seine Freunde flitschten Kieselsteine und ließen sie geschickt über das sich kräuselnde Wasser hüpfen.

Die Sonne zerfloss in orangefarbenen Streifen auf der Meeresoberfläche, was mich magisch zum Wasser zog. Ich widerstand der Versuchung, meine Stiefel auszuziehen und hineinzuwaten, und ging am Strand entlang, lief seitwärts wie ein Krebs, wenn die Wellen ans Ufer rauschten. Ich hatte schon fast die Biegung der Bucht erreicht, als Thomas mich entdeckte.

»Johanne!«, rief er. »Warte!«

Ich drehte mich um und sah ihn auf mich zurennen, seine wilden Locken hüpften. Er lief so schnell, dass ich schon dachte, er würde mich umstoßen, doch als er mich erreichte, blieb er wie angewurzelt stehen, als hätte er mich mit jemandem verwechselt.

»Was ist denn?«, fragte ich.

»Nichts – du siehst nur …« Er fuhr sich atemlos mit der Hand durchs Haar. »Bist du fertig? Für den Tanz?«

»Ja«, sagte ich und hob das Kinn.

»Du siehst … anders aus«, sagte er und vollendete damit seinen abgebrochenen Satz.

»Mutter hat mir die Haare geflochten.«

»Also erlaubt sie dir, zum Tanz zu gehen?«

»Sie weiß noch nichts davon. Aber Vater hat es mir erlaubt«, sagte ich, »weil es doch mein letzter Abend ist und so.«

»Dein letzter Abend? Was meinst du damit?«

»Mutter hat mir für den Sommer eine Arbeit in Borre besorgt, als Hausmädchen.«

»Ach.« Er wurde genauso bleich wie mein Vater.

»Aber sonntags bin ich hier und auch an den Abenden, wo man mich nicht braucht.«

»Als Hausmädchen«, wiederholte er, verwirrt von dem Wort. »Aber du sammelst doch Erdbeeren.«

Ich wusste nicht, ob er wegen meiner Eignung für diese Arbeit irritiert war oder bereits um die heimlichen Küsse trauerte, die er mir bei meinen Streifzügen in den Wäldern entlockte.

»Das kann ich immer noch«, sagte ich, »wenn ich Zeit habe.«

Er schnappte sich meine Hand und zog mich zu sich. »Dann komm, Johanne«, sagte er. »Lass uns gehen.«

Während wir den Strand zurückeilten, überflog mein Blick auf der Suche nach meinem Vater die Menge. Es war fast unmöglich, ihn ausfindig zu machen. Halvor Lien war eine dünne, stille Gestalt, die mit der Umgebung zu verschmelzen schien – manchmal fiel es sogar schwer, ihn in einem leeren Raum zu entdecken.

Als wir so am Ufer standen und den Strand nach ihm absuchten, hörte ich meine Mutter meinen Namen kreischen wie eine verrückte Möwe. »Johanne! Ich habe überall nach dir gesucht«, rief sie und warf einen kurzen Seitenblick auf Thomas. »Was machst du denn? Wir gehen jetzt nach Hause.«

»Ich geh noch zum Grand Hotel – dort gibt es einen Tanz.«

»Auf gar keinen Fall.« Ihr Gesicht begann zu glühen. »Morgen fängst du bei deiner neuen Stelle an und musst früh aufstehen.«

»Ich hab Vater um Erlaubnis gefragt, und er hat sie mir gegeben«, erwiderte ich und wich langsam zurück.

Sie stemmte die Hände in die Hüften, während ihr meine Hinterlist klar wurde und sie erkannte, dass sie mir sogar bei den Vorbereitungen geholfen, mich frisiert und hübsch gemacht hatte. Ich dachte, sie würde anfangen, mich anzuschreien, aber da erschien Vater neben ihr und unterband den Wutausbruch, den er bestimmt vorausgesehen hatte.

»Halvor!«, stieß Mutter hervor, »sag ihr, sie geht nirgendwohin. Und schon gar nicht mit diesem …«

Noch bevor sie diesem Thomas sagen konnte, hatte mein Vater seinen Arm um ihre Taille geschlungen und fing an, sie herumzuwirbeln. Er hatte eindeutig schon ein paar Bier getrunken, vielleicht in Vorbereitung auf den unvermeidlichen Zorn meiner Mutter. »Ach, komm schon, Sara«, sagte er. »Du warst doch auch mal jung, weißt du nicht mehr?«

»Aber sie fängt ihre neue Stelle an. Halvor!« Sie wehrte sich gegen seinen Griff. »Und wenn sie zu spät kommt? Was werden sie dann von ihr denken? Was werden sie sagen?«

»Du wirst bestimmt nicht zulassen, dass sie zu spät kommt, Liebes«, sagte er. »Jetzt komm, lass dein Haar herunter, Frau. Ich habe selbst Lust zu tanzen.« Er wirbelte sie herum, zog sie zu sich und begann leicht schwankend, mit ihr zu tanzen. Lauter Beifall ertönte von einer Gruppe Männer, die in der Nähe auf einem Fischerboot saßen, und einer von ihnen hob sogar seine Flasche zum Gruß.

»Halvor!«, jammerte Mutter. »Halvor! Also wirklich!«

Das Grand Hotel lag zwischen zwei Stränden am Ende der Mole für die Dampfschiffe. Es war ein schönes, weißes Gebäude, grenzte an Havnegata und das Ufer und lag gegenüber zum Kiosterud-Haus, das Herr Heyerdahl und Munch so gerne malten. Als wir dort ankamen, erstrahlte es in voller Pracht. Aus allen Fenstern fiel Licht, und Geigen lockten uns mit einem drängenden Rhythmus hinein. Thomas fasste mich an der Hand, und dann rannten wir die Treppe hinauf.

»Komm«, sagte er. »Mein Vetter Kristian spielt.«

Die Türen standen offen, und als wir eintraten, wurden Stimmengewirr und Lachen lauter.

Aus dem Speisesaal, wo es Essen für die Sommergäste gegeben hatte, strömten Leute heraus. Kellnerinnen räumten die Tische ab, und ich hörte das Klirren von Porzellan und Besteck. Zigarettenrauch hing in Schlieren und Wölkchen in der Luft, und mit einem Mal fühlte ich mich erwachsen, kühn und frei.

Thomas führte mich in den Salon, wo der Tanz gerade anfing. Im Hintergrund saßen die Geiger auf Hockern, zuckten mit den Ellbogen, tappten mit den Füßen und waren in ihre Musik versunken. Die Möbel waren beiseitegeschoben worden, um Platz für eine Tanzfläche zu schaffen. Die Gäste standen in Grüppchen beieinander. Ein paar hatten Stühle von der Wand gezogen und in kleinen Kreisen aufgestellt.

Mehrere Paare drehten sich bereits auf der Tanzfläche in der Mitte des Raums. Wir umrundeten sie, und Thomas winkte seinem Vetter zu. Eine Weile standen wir an der Wand und beobachteten die hereinströmenden Gäste aus der Stadt. Die Frauen trugen Abendkleider mit Rüschen, Schleifen und Turnüren. Sie waren so herausgeputzt, als wollten sie an einem Wettbewerb teilnehmen. Eine der Tänzerinnen hatte ein perlenbesticktes Kleid mit applizierten Schwalben und Schmetterlingen. Eine andere trug ein Kleid mit goldenen Blättern und Spitze. Einige hatten ihre Haare in perlenverzierten Zöpfen hochgesteckt, andere hatten Blumen im Haar und lange Korkenzieherlocken, die ihre Gesichter einrahmten.

Eine gertenschlanke Frau Anfang zwanzig stand etwas abseits. Sie trug ein hauchzartes, weißes Kleid mit kurzen Ärmeln, die die Schultern kaum bedeckten. Ihr tiefer Ausschnitt wurde von einer einzelnen roten Rose geschmückt. Das Korsett war so eng geschnürt, dass ihre Taille kaum noch wahrnehmbar war. Sie hatte ihren Rock gefasst und schwenkte ihn langsam hin und her, jedoch nicht im Takt, sondern in einem sanften Rhythmus, als hörte sie in ihrem Innern eine eigene Musik. Sie hatte blaue Augen, die durchdringend gewesen wären, hätte nicht ein glasiger Film über ihnen gelegen, und rote Locken, die ihr lose auf die nackten Schultern fielen.

Als die Musiker ein neues Stück anstimmten, fasste Thomas mich am Arm und sprang vor. »Tanz mit mir!«

Er zog mich in seine Arme und wirbelte mich so schnell herum, dass ich ein flaues Gefühl im Magen bekam. Meine Füße berührten kaum den Boden, als wir uns im zunehmenden Tempo des Tanzes drehten. Entzückt lachte ich auf, als der Saal in allgemeinem Geschrei und Gelächter und einem Schleier aus Gold und Weiß an mir vorbeizog. Ich klammerte mich an Thomas’ Oberarm und fühlte mich trotz des schnellen Tanzes wunderbar sicher. Ich blickte in seine strahlenden Augen, froh, von ihm geführt zu werden, und als die Geigen endlich verstummten und ich erneut aufsah, drückte er mir einen Kuss auf den offenen Mund.

Der Abend verging wie im Flug. Wir tranken Bier und Apfelwein gegen unseren Durst, tanzten und lachten und küssten uns. Auf wundersame Weise befreit, kümmerte ich mich nicht darum, ob man mich sah oder über mich redete. Mutter sperrte ich aus meinem Kopf aus. Schließlich suchten wir uns ein leeres Sofa, und ich kuschelte mich an die Lehne. Mir lief der Schweiß von den Schläfen, und ich musste meinen Gürtel lockern.

»Ich kriege kaum noch Luft«, sagte ich. »Wo hast du so tanzen gelernt?«

Thomas lächelte. »Das haben Seeleute im Blut.«

Er ließ sich neben mir nieder, und ich erlaubte ihm, seinen Arm über mein Knie zu legen, während wir die Tanzenden beobachteten.