Das Flüstern der Augen - Jörg Sader - E-Book

Das Flüstern der Augen E-Book

Jörg Sader

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Beschreibung

Die große Liebe von Jan und Tamara beginnt heftig und unbefangen. Doch mehr und mehr verfängt sie sich in den Ungewißheiten eines unfreien, verschlossenen Landes. Als Tamara verschwindet, geht Jan auf die Suche nach ihr. Beide sind nicht nur ihren starken emotionalen Verstrickungen unterworfen, sondern ebenso der harten politischen Realität

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Jörg Sader, 1945 in Erfurt geboren, wo er vor seiner Flucht in die Bundesrepublik für eine Lokalzeitung schrieb. Im Anschluß Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie in Frankfurt am Main und Paris. Nach der Promotion verschiedene Tätigkeiten: Antiquariatsbuchhändler und Übersetzer, Dozent für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Frankfurt am Main, schließlich Trainer für Rhetorik und Kommunikation. 2010 erscheint der erste Erzählungsband Unter Tage, 2018 der zweite Alba, Liebste, und 2012 ein Band mit Reden und Aufsätzen Bilder und Lektüren. Gegenwärtig bereitet Jörg Sader einen dritten Band mit Erzählungen vor.

L'être aimé pour l'amant est la transparence du monde.

Bataille

Doch ehret / nur die Seele der Liebenden

Hölderlin

für Anette

Der Anruf erreichte Jan in der Redaktion, wo er an einem Artikel schrieb, an einem Feuilleton über die Stadt, in der er lebte, und die er, seit er Tamara kannte, noch mehr mochte als zuvor. Plötzlich war ihm die Schönheit der Stadt aufgegangen, er hatte sie regelrecht entdeckt, neben vielen anderen Plätzen besonders die des mittelalterlichen Kerns, der die Zeiten unbeschadet überstanden hatte.

Sie hatten sich eine Zeitlang aus der Ferne, aus den Augenwinkeln registriert, Tamara und er, sich irgendwann unverhofft getroffen, miteinander getanzt, dann geküßt, wobei Jan, als er Tamara küßte, so war, als küsse er mit ihr die gesamte Stadt. Kein Wunder, daß ihm seitdem so war, als sei er ein glücklicher Mensch, vielleicht war er ja tatsächlich der glücklichste in der Stadt.

Und immer wenn er vom Schreibtisch aufblickte, sah er sie, sah er Tamara, die durch seine Stadt ging und von einem Tag zum anderen seine Ansichten über die Stadt gehörig durcheinander brachte. Lag auf den maroden Vierteln, die doch zusehends verfielen, nicht, seit er Tamara kannte, ein freundlicheres Licht, und wirkten die klobigen Wohnmaschinen, die die Funktionäre rücksichtslos, ohne Sinn für Harmonie und Proportion in die Altstadt geschoben hatten, nicht harmloser als früher, friedlich nämlich und fast entschuldbar?

Während er an seinem Lob der Stadt für eine Dresdner Zeitschrift schrieb, sah Jan vor seinem geistigen Auge die roten und schiefergrauen Ziegel auf den Dächer der Altstadt, die, so fand er jedenfalls, eine geheime Ordnung bildeten und von der obersten Empore des Doms gut zu sehen waren. Wie übrigens auch die verwirrend vielen Kirchtürme, die ein Gefühl für Heimat verschafften, obwohl das Wort keine besondere Bedeutung für ihn besaß. Und jetzt floß auch noch das Blau des Himmels, das hoch über den Straßen und Gassen webte, in die Szene ein, es tanzte flirrend auf und ab und erinnerte Jan an stillgelegte Eisenbahngleise sehr heißer Sommertage. Die Weite des Horizonts, der den kundigen Vögeln endlose Flugräume bot, müsse, sagte er sich, ebenso in seinem Bild der Stadt erwähnt werden, wie die Tiefebene mit ihren blauen Wäldern, in deren Mitte die Stadt lag, seine Stadt, ihrer beider Stadt, wie gesagt. Inmitten dieser Gedankensplitter ertappte sich Jan von Zeit zu Zeit dabei, auch darüber nachzudenken, was ihm hier zuteil geworden war, sein berufliches Glück, eine Anstellung nämlich in der Lokalredaktion einer Tageszeitung ergattert zu haben, trotz der dunklen Abmachungen, die die Stadt beherrschten. Gleichwohl empfand Jan die Stelle immer wieder als außerordentliches Privileg, das er aber in der Skizze nicht erwähnen wollte.

Anfangs hatte er den Anruf schlicht überhört, später nicht ernst genommen oder kurzerhand verdrängt. Woher hätte er wissen sollen, daß der Anruf ihm ganz persönlich galt. Daß der Anrufer, als er schließlich doch abgenommen hatte, ihn einzuschüchtern trachtete und regelrecht bedrohte, war ungewohnt, war eine neue Erfahrung, so hatte bisher noch niemand mit ihm gesprochen, auch die kurz angebundenen Chefredakteure des Verlages nicht. Jan hielt den Hörer noch immer in der Hand, obwohl der Anrufer längst aufgelegt hatte, was folgte, war ein Unbehagen, das sich mit einem Mal eingestellt hatte, beharrlich blieb und nicht abzuschütteln war, etwas bedrohlich Heimliches, dachte Jan, das allerdings in den ersten Tagen vor den Farben der Stadt verblaßte und an Wichtigkeit verlor.

Von all dem unbeeindruckt, tat der Anruf seine Arbeit, geräuschlos, aber wirkungsvoll begann er Jans Denken zu verändern, er unterwarf sich Straßen und Gassen und zog die Stadt in seinen schwermütigen Bann. Dagegen hatte es Jans neuer Blick auf die Stadt schwer, der natürlich von Tamara herrührte. Die Menschen, denen er begegnete, erschienen zwar freundlich und offen, sie sahen ihn aber auch verwundert mit großen Augen an, er indes nahm Gesten dieser Art kaum wahr.

Jetzt fielen Jan auch die Veränderungen im Stadtbild auf, und plötzlich sah er deutlicher als früher das schmal Verwinkelte der Stadt, das Beengte und das Düstere der Gassen, das selbst die Straßenbahn zwergenhaft, wie eine gelbe müde Raupe in die Altstadt kriechen ließ. Ja, sagte sich Jan, die Stadt verschließt sich mehr und mehr und läßt freundliches Licht kaum noch zu. Der Anruf des Funktionärs hatte den Mauern plötzlich etwas Abweisendes gegeben, und kehrten sich die Fachwerkhäuser nicht tatsächlich nach innen, nahmen sie ihren Bewohnern nicht die Luft zum atmen?

Und mit einem Male hatte der Anruf dem Postkartenidyll, das die Stadt ja auch war, einen Knacks versetzt. Die Zerstörung ließ Jan lange Selbstgespräche führen, um die Angst zu mildern, die indes bedrohlich blieb und nicht nachließ. Je näher der Termin rückte, den der Parteisekretär festgesetzt hatte, umso geringer wurde die Stadt und kleiner, ja, sie nahm zusehends ab und schrumpfte zu einem Gedankengebilde, das ihn mißtrauisch machte. Nicht länger Tamaras liebenswerte Kulisse, war sie mit einem Mal eine Ansammlung von Befürchtungen und Androhungen, die nach ihm langten, als habe er sich bereits schuldig gemacht.

Bei ihrer ersten Begegnung war der Arbeitskollege Florians, Jan täuschte sich da nicht, wie eine harmlose Person erschienen, Jan und Tamara waren ihnen per Zufall begegnet, in leichter Verlegenheit hatten sich die Vier dann gegenüber gestanden, Florian, sie beide und der Fremde. Da seht, das ist er, der Parteisekretär meines Kombinats, hatte Florian ihn präsentiert; obwohl er vor Wochen noch anders gesprochen, nämlich ausdrücklich das Schuldbekenntnis erwähnt hatte, das der Sekretär einfordere, eine Selbstkritik vor der Parteileitung wie vor den Arbeitern des Kombinats? Und hatte Florian nun mit dem Verschwinden seines hundertfünfzigprozentigen Bruders zu tun oder nicht, und hatte er, wie er in der Kneipe nach langem Zögern und Herumdrucksen berichtete, tatsächlich eine Ansichtskarte aus West–Berlin erhalten?

Bei der Zusammenkunft mit dem Sekretär am Bratwurststand am Hauptbahnhof gab sich Florian erstaunlich übermütig und wie ausgewechselt, er scherzte mit dem Sekretär und war bei bester Laune, als die Freunde ihn begrüßten. Die Sorgen, die ihn vor Wochen noch bedrückten, hatten sich zum Erstaunen Tamaras und Jans offenbar in Luft aufgelöst. Und als sie wissen wollte, ob er das Problem überwunden habe und gelöst, na, du weißt schon, das dich doch neulich arg bedrückt hatte in der Kneipe, hielt er sich bedeckt. Hattest du nicht behauptet, fügte Tamara mit Blick auf den Kollegen neben ihm äußerst leise hinzu, hattest du nicht erwähnt, dein Bruder sei in den Westen getürmt, auf und davon? Aber Florian lachte nur, gab sich überrascht, im übrigen tat er auf übertriebene Weise unwissend und erweckte den Eindruck, die Sache mit dem Bruder sei für ihn neu – oder schlicht aus der Luft gegriffen. Na, du weißt schon … das Gespräch mit deinem Parteisekretär, die Selbstkritik, die er forderte, da war doch irgendwas, oder?

Florian grinste breit und verwies, statt eine Antwort zu geben, mit der Hand auf den Begleiter neben ihm.

Vielleicht weiß er mehr, der Sekretär hier … neben mir, fragt ihn!

Was Tamara und Jan verdutzte, war Florians Haltung, die sie nicht verstanden. Gar zu gern hätten sie den Spruch schlagfertig mit einem harmlosen Satz pariert, allerdings fiel ihnen in der Sekunde nichts ein, und außerdem machte sie stutzig, daß Florian das ihnen hinter vorgehaltener Hand Anvertraute jetzt öffentlich preisgab und sich dabei so verhielt, als gebe es weder Risiko und Gefahr noch irgendeine entfernte Repression.

Was wollt ihr denn wissen, Genossen?

Es ist die Sache mit seinem Bruder, sagte Tamara vorsichtig.

Der Mann hatte mit seiner Wurst zu tun, die erstens sehr heiß war und zweitens mit Massen von Senf bedeckt, so daß der Sekretär seine liebe Mühe mit dem Abbeißen hatte; offenbar war er zudem mit den Gedanken woanders.

Die Sache mit seinem Bruder, aha, wiederholte er langsam, als müsse er sich Albas Satz noch mal ins Gedächtnis rufen. Zugleich schien er eine Lust daran zu haben, sich dumm zu stellen und ahnungslos, was auf Jan allerdings eher wie eine Pose wirkte, wie eine Inszenierung. Und daß Tamara mit ihrer Frage die Aufmerksamkeit des Parteisekretärs erregt hatte, gefiel Jan auch nicht; andererseits ließ sich die Vermutung nicht abweisen, daß Florian die Geschichte mit dem Bruder nicht für sich behalten oder sie am Ende gar erfunden haben könnte, doch zu welchem Zweck?

Mit seinem Bruder, was? insistierte der Typ, der jetzt die Neugier in Person gab.

Ich glaube, das hat sich erledigt, versuchte Jan die Frage zu entschärfen, war’n kleiner Irrtum unsererseits, nichts anderes als das …

Der Sekretär biß wieder in die Wurst, und für beide, für Tamara und Jan, schien die Klippe umschifft, sie atmeten auf, selbst Florians Gesichtszüge schienen sich aufzuhellen und entspannten sich überdeutlich. Oder täuschten sich die beiden und sahen in Florian etwas hinein? Allerdings hatten sich beide, Florian und der Sekretär, für einige Sekunden so angesehen, als gebe es eine unausgesprochene Übereinkunft zwischen ihnen, ein geheimes Zeichen, das sie bereits vor der Begegnung der Vier am Hauptbahnhof vereinbart hatten, etwas Hintergründiges, das nur die beiden betrifft.

Und sonst, wie geht es euch?

Florian war sichtlich guter Dinge und schaute seine Freunde aufgeräumt an. Er nahm eine Zigarette, zündete sie an und griff zu dem Bier, das vor ihm auf dem Tresen stand.

Ja, geht so, Florian, wie immer halt … Sehen wir uns mal wieder in der Kneipe?

Klar, warum nicht? Allerdings bin ich ab übernächster Woche wieder auf Montage …

Okay, sagte Jan, dann vielleicht morgen oder übermorgen in unserer Stammkneipe in der Barfüßergasse, wie wär’s, was meinst du?

Wartet mal, Genossen, stop, halt, meldete sich plötzlich der Sekretär zu Wort, der seine Wurst endlich bewältigt hatte, und jetzt einen Schritt auf Tamara und Jan zu tat; offenbar hatte ihn die Sache mit dem Bruder, so Jans Eindruck, mehr beschäftigt, als sie gedacht hatten. Oder er hatte nichts verstanden oder aber bloß so getan, als verstehe er.

Moment mal, Genossen, was hat sich erledigt – von welchem Bruder sprecht ihr überhaupt?

Florians Blicke, der so tat, als ducke er sich weg, trafen die des Sekretärs, und wieder hatte Jan den Eindruck, als gingen da Verabredungen hin und her, Signale, Zeichen. Hätten Tamara und Jan antworten sollen? Aber wen hatte der Kerl mit seiner Frage angesprochen?

Es geht um meinen älteren Bruder, antwortete Florian etwas knapp; er fing sich indes mehr und mehr und fand langsam zu seiner unterkühlten und flapsigen Haltung zurück. Mein Bruder ist im Urlaub und Ende nächster Woche wieder da …

Und warum machst du daraus ein Geheimnis? bohrte der Sekretär weiter. Er könnte aber auch, dachte Jan, informiert gewesen sein und spielte jetzt Florians Spiel zum Schein mit, oder aber Jan täuschte sich.

Verschweigst du uns was, Genosse Heller? Was ist an der Geschichte dran … wir warten!

Das war deutlich, es war im übrigen der Ton der Firma, der Jan und Tamara zusammenzucken ließ.

Nichts ist dran, klar, kam indes von Florian, nichts, gar nichts. Längst hatte er die alte Sicherheit wiedergewonnen und grinste übers Gesicht.

Quatsch, Mann, alles war Spiel, nichts weiter, bekräftigte er. Ich hatte behauptet, Volker, mein älterer Bruder, sei getürmt, er habe sich abgeseilt …

Getürmt, sagst du, aha, sehr interessant …, sagte der Sekretär und schien eine Weile nachzudenken.

Und, ist er?

Wo denkst du hin, nein, natürlich nicht, beeilte sich Florian und begleitete die Antwort mit einem fröhlichen Lächeln. Traust du meinem Bruder eine Flucht zu, ihm, dem Direktor eines riesigen Kombinats? Er ist in Ungarn und macht dort Urlaub und ist nächste Woche wieder da, Ehrenwort, außerdem ist das ein felsenfester Genosse, der zur Partei steht!

Anfänglich hatte Jan, wie gesagt, den Anruf als Bagatelle abgetan, als Nichtigkeit, die keine Beachtung verdient: Was kann der Typ schon wollen, hatte er sich gesagt. Der Anruf hatte ihn, das gestand er sich ein, aber doch ziemlich verunsichert und aus der Bahn geworfen, wieso aber wandte sich der Parteisekretär ausgerechnet an ihn? Wir kannten uns gar nicht, überlegte Jan, und hatten so gut wie nie ein Wort miteinander gewechselt.

Der Tag, zu dem er den Sekretär aufsuchen sollte, rückte näher, und mit ihm diese unbestimmte Angst, die größer wurde, gewaltiger und ihm die Brust abdrückte. Das ungewisse Gefühl steigerte sich, und als er auf dem Wege zu ihm durch die Stadt ging, wurde er langsamer und setzte bald nur noch mechanisch einen Fuß vor den anderen. Unmißverständlich hatte sich der Parteisekretär, das erinnerte er auf den letzten Metern, am Telefon verhalten, kalt, offen aggressiv, er hatte schroff das Datum fixiert, und das keineswegs so freundlich und harmlos wie bei der ersten Begegnung am Bratwurststand. Jan fragte sich, wer der Mann sei, und stand auch schon vor den Wohnmaschinen, die besonders, von Dom oder Petersberg aus gesehen, wie riesige Tiere anmuteten, die zwischen jahrhundertealten Häusern schliefen, oder wie unfertige, sperrige Raumschiffe. Die Adresse, die ihm der Parteisekretär genannt hatte, gehörte zu einer Privatwohnung in einem dieser monotonen Plattenriegel mitten in der Altstadt, und Jan fand schließlich, nachdem er an Reihen schmaler, verklebter Briefkästen vorbeigegangen war, den Eingang. Noch immer alles Mögliche befürchtend, wählte er eine der vielen Treppen gegenüber der Haustür und stieg langsam in den fünften Stock. Auffallend die absolute Stille im Haus, weder Kindergeschrei war zu hören noch Gespräche unter Nachbarn, seltsamerweise schienen die Wohnungstüren niemals geöffnet zu werden, abweisend wirkten sie, vernagelt geradezu und anders als das nüchtern–sachliche Treppenhaus, das einigermaßen gepflegt erschien. Auf Jans Klingeln hin hatte der Parteisekretär wortlos die Eingangstür per Summer geöffnet, und nun stand er in der geöffneten Wohnungstür und sah ihn an.

Guten Tag, sagte Jan und reichte ihm die Hand.

Der Sekretär nahm sie wortlos und zog ihn in die Wohnung, in der alles stimmte, was sie wohl gerade deshalb so beunruhigend und abstoßend machte. Karg möbliert das Wohnzimmer, Tisch und vier Stühle, bunt geblümte Vorhänge an den Fenstern, eine welkende Pflanze auf dreibeinigem Schemel, fünf oder sechs Gläser peinlich korrekt aufgereiht in einem niedrigen Vertiko, und über dem Sofa mit akkurat aufgelegten Häkeldeckchen auf den Armlehnen eine Waldlandschaft mit Hirschen im Hintergrund, nein, so kitschig war man da schon nicht mehr, vielmehr hing das Porträt sozialistischer Arbeiter an der Wand, Arbeiter in Schutzkleidung und Maske beim Abstich am Hochofen. Vermutlich hätte man bedenkenlos vom Boden essen können, dachte Jan, so makellos war die Sauberkeit, die in der Wohnung herrschte, eine Sterilität, die sich anschickte, einem das Leben aus dem Leibe zu trocknen. Daß hier jemand wohnte, hatte er schon in der Sekunde seines Eintretens ausgeschlossen. Und während er sich umsah, stand der Sekretär am Fenster, als suche er einen bestimmten Punkt in den gegenüber liegenden Häusern und bot Jan schließlich mit einer glühenden Zigarette in der Hand Platz an.

Also, gut, weshalb bist du da, was meinst du?

Das ‚Du’ kam von oben herab und definierte eindeutig die Verteilung von Macht im Raum, keine Frage, sie lag unmißverständlich bei dem Sekretär und verwies überdies auf ein verborgenes Wissen, das er offenbar einzusetzen gedachte, und das Jan nicht geheuer war. Er zuckte mit den Schultern zum Zeichen seiner Ahnungslosigkeit und war auf die erklärenden Worte des Sekretärs gespannt.

Keine Idee, nein?

Jan mußte an den Tag denken, an dem der Bursche in der Redaktion angerufen hatte, was, wie gesagt, eine grundlegende Verstörung nach sich gezogen hatte. Zunächst konnte er den Anrufer nicht identifizieren, die Stimme kannte er nicht, bald aber stellte sich heraus, daß Florians merkwürdiger Parteisekretär am anderen Ende der Leitung sprach, der Bratwurstesser, und ihn zu sprechen wünschte. Jan hatte ihn, als der Anruf kam, längst vergessen.

Worum geht es?

Nein, nicht am Telefon, sagte er überaus leise, dann aber scharf. Vielleicht kommst du mal ins Büro und wir reden …

Was hätten wir zu besprechen?

Warte ab, Genosse!

Offenbar gab es Gründe, das Thema nicht am Telefon anzusprechen, vielleicht wollte er auch, wie Jan später mutmaßte, beim Gespräch den Augenkontakt nutzen.

Komm vorbei, und dann sehen wir.

Jan wiederholte seine Geste, ahnungslos zu sein, was er ja tatsächlich war. Im Übrigen war ihm aufgefallen, daß der Sekretär, anders als bei dem zufälligen Treffen an der Bratwurstbude am Hauptbahnhof, keinen Wert mehr auf Freundlichkeit legte, der Eindruck, er führe etwas im Schilde, war nicht abzuweisen, und auch die zweite Frage empfand Jan als ungewohnt aggressiv formuliert.

Kennst du Volker Heller?

Das ist Florians älterer Bruder, schloß Jan. Er erinnerte sich an den freundlichen Mann und dachte spontan an ein ‚Nein’ als Antwort; daß er mit ihm flüchtig zu tun gehabt haben mußte, wußte er noch.

Kennen ist zu viel gesagt …

Das heißt was? Du kennst ihn also, den Volker Heller?

Nein, ich glaube nicht, oder doch … ja, durchaus möglich, dass ich ihn schon mal gesehen habe, flüchtig, ja.

Vielleicht, das heißt was …? Du kennst ihn also tatsächlich?

Ja, das heißt, bei seinem Bruder habe ich ihn gesehen … aber gesprochen haben wir nicht miteinander … oder doch, warten Sie, einmal in einer Kneipe, er traf den Bruder und holte ihn ab, da haben wir ein paar Worte gewechselt.

Interessant, sehr interessant, sagte der Sekretär und nahm eine neue Zigarette. Und weißt du noch, worüber du mit ihm gesprochen hast?

Ja, natürlich weiß ich das noch, es war belanglos, so zwischen Tür und Angel.

Belangloses Zeug, sagst du, belangloses Zeug? Ich verstehe …! Er klopfte mit dem Bleistift auf die Tischplatte, als wüßte er nicht weiter, er sah sich im Raum um, und streifte, wie Jan schien, das Arbeiterbild an der Wand. Worüber dachte er nach?

Belangloses Zeug, aha, gut …

Er nahm eine neue Zigarette.

Belanglos … also, ihr habt nicht über Ungarn gesprochen, über Bahnverbindungen in die Volksrepublik, und du hattest nicht eine Einladung in das Bruderland erhalten, die du irgendwann an Heller weitergegeben hast?

Warum hätte ich das tun sollen?

Die Fragen stellen wir, Kohlberg, klar! …

Der Sekretär machte eine Pause und sah Jan lange an.

Aber ich will es dir sagen, ganz genau werde ich dir das sagen, ganz genau …

Vor dem Fenster zeigten sich die Kastanien in frischem Grün, sie trieben helle Spitzen aus und der Chor der Vögel lärmte von den Ästen herunter, daß es eine Freude war, selbst durch die geschlossenen Fenster war es zu hören, lauter als unten auf der Straße. Und während Jan dem aggressiven Mann gegenüber saß, wurde ihm sehr klar, daß er es nicht mit einem gewöhnlichen Parteisekretär zu tun hatte, der sich für die Belegschaft eines Betriebes einsetzt, mit Arbeitern über ihre Bereitschaft zur Planerfüllung redet oder über Norm und Soll, nein, dieser Mann war ein Mitarbeiter der Firma, wie Leute der Staatssicherheit genannt wurden, und er, Jan, war, was er sich nie hatte träumen lassen, bei einem dieser unauffälligen Ungetüme gelandet. Schlimmste Dinge waren von ihnen im Gerüchteumlauf, haarsträubende Vorfälle und abscheuliche Taten, die der Firma zugerechnet wurden, leider ohne jeglichen Beweis. Gewissermaßen blind und ohne eigenes Zutun war Jan in ihre Mühlen geraten und erlebte in diesem Augenblick nichts anderes als ein veritables Verhör, ein Verhör mit offenem Ausgang, wie er im Augenblick befürchtete, an dessen Ende sich seine Schuld, die nicht real bestand, erweisen könnte. Der falsche Parteisekretär räusperte sich mehrmals und nahm eine neue Zigarette.

Warum du die Einladung dem Heller, Volker gegeben hast, wissen wir nicht, noch nicht … aber wir kriegen das raus! Jetzt wäre Zeit zu gestehen, Kohlberg … das schafft Erleichterung und beeinflußt in erheblicher Weise das Strafmaß, hörst du, Kohlberg, die Dauer deiner Haft, das hast du in der Hand, nimm Vernunft an …

Der Sekretär drohte unverblümt, und seine Worte wirkten wie eine Wand aus Stahl, die keinen Millimeter nachgibt, obwohl man ohne Unterlaß gegen sie anrennt.

Sie wollen mich inhaftieren?

Ja, Kohlberg, womöglich … wenn wir es als notwendig erachten, aber so schnell schießen ja bekanntermaßen die Preußen nicht, ganz und gar nicht so schnell … außerdem sind wir ja keine Unmenschen … das alles ist doch sehr einfach …

… Sie wollen mich für nichts …?

… was heißt denn hier ‚für nichts’? schrie der Funktionär und wechselte die Gesichtsfarbe. Als ob das alles ‚nichts’ wäre, verdammt noch mal.

Und wieder der eiserne Blick als stille Aufforderung, doch endlich zu reden.

Immerhin ist Volker Heller ein Spitzenfunktionär, einer, der ein Riesenkombinat geleitet hat … also, Kohlberg, es ist ganz einfach. Du lieferst eine plausible Erklärung für die Einladung nach Ungarn und raus bist du … daß aber der Heller das Gebiet unserer Republik inzwischen verlassen hat, das steht fest, felsenfest …

Und nach einer Sekunde: Und im übrigen, Hellers Begleiter und, äh, Mitflüchtling ist an der Grenze erschossen worden, er hatte sich leichtsinnigerweise den mehrfachen Anrufen der Wachsoldaten widersetzt, er hatte die Parole nicht gekannt … oder vergessen, was bei Heller – aber das dürfte ich dir gar nicht sagen – anders war, der nämlich kannte sie …

Nach dieser Information fiel es Jan schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Unbeweglich und starr saß er auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch des Sekretärs. Die Fragen, die er hatte, gingen ins Leere. Welche Rolle spielte Florian bei all dem? Hatte er der Firma etwas gesteckt, um von sich abzulenken, oder hatte er gar seinem Bruder bei der Flucht geholfen? So viel Jan wußte (aber was wußte er zu diesem Zeitpunkt?), war Florian an der Flucht des Bruders nicht beteiligt, aber würden sie ihm das glauben, und zweitens: Gab es eine Verabredung zwischen ihm und der Firma?

Eine Einladung nach Ungarn habe ich nie besessen, erwiderte Jan erregt und wunderte sich zugleich über seinen Mut, demzufolge habe ich eine Einladung an Volker Heller oder wen auch immer nicht weitergeben können, unmöglich, beweisen Sie mir das Gegenteil!

Das werden wir, Kohlberg … warte ab, verlaß dich drauf! Dafür brauchen wir nur etwas Zeit!

Offenbar war die Unterredung damit beendet. Wie es weitergehen würde, wußte Jan nicht. Von Haft oder irgendwelchen anderen Maßnahmen war nicht mehr die Rede gewesen. War er jetzt frei, konnte er gehen?

Woher wissen Sie denn von der Einladung aus Ungarn? wagte er vorsichtig und übermütig zugleich zu fragen, ein schlechter Versuch, das Gespräch zu beeinflussen, es hat keine Einladung gegeben …

Kein Kommentar, Kohlberg! Wir wissen es, und das reicht.

Es könnte sich um eine falsche Information handeln, erwiderte Jan.

Falsch? Wie kommst du drauf?

Nur so.

Täuschte er sich oder sah der Sekretär mit einem Mal die Sache als Spiel, er wirkte jedenfalls plötzlich, fand Jan, so harmlos wie bei dem Zusammentreffen am Hauptbahnhof. Offenbar genoß er, wie zu beobachten war, die Situation, und wie er sie genoß. Bot sie ihm nicht die Chance, Jan die prekäre Lage deutlich vor Augen zu führen, in der er sich befand? Aber wenn er glaubte, ihn überführt zu haben, warum nahm er ihn dann nicht einfach fest?

Du kannst gehen, wir melden uns.

Er nahm eine Zigarette und blätterte, scheinbar hoch konzentriert, in einer Akte, die plötzlich auf seinem Schreibtisch lag, und würdigte ihn keines Blickes mehr.

Fürs Erste bin ich den Klauen der Firma entkommen, sagte sich Jan auf der Treppe nach unten. Ob das Gefühl anhielt, wußte er nicht. Fast übermütig, jedenfalls erleichtert nahm er zwei Stufen auf einmal, und noch besser fühlte er sich, als er auf die Straße trat und in die Sonne eintauchte, die Wärme, die er auf der Haut spürte, hielt ja die Drohung, die der Sekretär ausgestoßen hatte, einigermaßen in Schach. Allerdings konnten die Leute von der Firma, dachte Jan, jederzeit Ernst machen, die Drohung Wirklichkeit werden lassen und nach ihm greifen. Unlöschbar hatte sich der Satz, man werde sich mel