Das Flüstern der Toten - Stephen Woodworth - E-Book
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Das Flüstern der Toten E-Book

Stephen Woodworth

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Beschreibung

Wer die Stimmen der Verstorbenen hört, lebt gefährlich: Der Mystery-Thriller »Das Flüstern der Toten« von Stephen Woodworth als eBook bei dotbooks. Sie werden bewundert, gefürchtet – und gejagt … Jeder weiß, dass es sie gibt, und doch ziehen fast alle es vor, ihnen niemals zu begegnen: Jenen Menschen, die das geheimnisvolle Talent haben, mit den Seelen der Toten zu sprechen. Weltweit gibt es nur zweihundert dieser Medien – und nun hat ein geheimnisvoller Killer begonnen, eins nach dem anderen zu ermorden. Agenten Dan Atwater wird vom FBI beauftragt, Natalie Lindstrom von der »Nordamerikanischen Gesellschaft für Jenseitskommunikation« zu schützen, aber die kühle Frau mit den violettfarbenen Augen traut niemandem. Bringt sie sich damit leichtsinnig in Gefahr – oder verfolgt sie einen eigenen Plan? »Eiskalte Spannung in der Tradition von ›Minority Report‹ – das fesselnde Rätselspiel voller unerwarteter Wendungen wird durch sein hohes Tempo und die starke Welt, in die der Autor uns wirft, noch mitreißender.« Publishers Weekly Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Das Flüstern der Toten« von Stephen Woodworth ist der erste Band der Urban-Fantasy-Tetralogie »Violet Eyes«. Wer liest, hat mehr vom Leben! dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 450

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Über dieses Buch:

Sie werden bewundert, gefürchtet – und gejagt … Jeder weiß, dass es sie gibt, und doch ziehen fast alle es vor, ihnen niemals zu begegnen: Jenen Menschen, die das geheimnisvolle Talent haben, mit den Seelen der Toten zu sprechen. Weltweit gibt es nur zweihundert dieser Medien – und nun hat ein geheimnisvoller Killer begonnen, eins nach dem anderen zu ermorden. Agenten Dan Atwater wird vom FBI beauftragt, Natalie Lindstrom von der »Nordamerikanischen Gesellschaft für Jenseitskommunikation« zu schützen, aber die kühle Frau mit den violettfarbenen Augen traut niemandem. Bringt sie sich damit leichtsinnig in Gefahr – oder verfolgt sie einen eigenen Plan?

»Eiskalte Spannung in der Tradition von ›Minority Report‹ – das fesselnde Rätselspiel voller unerwarteter Wendungen wird durch sein hohes Tempo und die starke Welt, in die der Autor uns wirft, noch mitreißender.« Publishers Weekly

Über den Autor:

Stephen Woodworth, geboren 1967 in Kalifornien, veröffentlichte zahlreiche Kurzgeschichten und Novellen, für die er unter anderem für den renommierten Locus-Award nominiert wurde, bevor er mit seinem übernatürlichen Thriller »Das Flüstern der Toten« international bekannt wurde.

Bei dotbooks veröffentlichte Stephen Woodworth die vier Bände seiner Violet-Eyes-Tetralogie: »Das Flüstern der Toten«, »Die Stimme der Nacht«, »Die Sprache des Blutes« und »Der Schrei der Seelen«.

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eBook-Neuausgabe Juli 2022

Die amerikanische Originalausgabe dieses Romans erschien 2004 unter dem Titel »Through violet eyes« bei Bantam Dell, a division of Random House, Inc.

Copyright © der Originalausgabe 2004 by Stephen Woodworth

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2006 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-98690-345-9

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Stephen Woodworth

Das Flüstern der Toten

THE VIOLETS 1 – Thriller

Aus dem Amerikanischen von Helmut Gerstberger

dotbooks.

Dieses Buch ist CELIA LOUISE HAMILTON WOODWORTH und HARRY HOLLIS WOODWORTH gewidmet, die mir mehr Liebe, Ermutigung und Unterstützung gegeben haben, als es ihre Aufgabe als Eltern verlangt hat. Ich liebe euch, Mom und Dad.

»Wäre ich im Himmel, Nelly, würde ich dort sehr unglücklich sein.«

»Weil Sie dort nicht hingehören«, antwortete ich. »Alle Sünder wären im Himmel unglücklich.«

»Aber das ist es nicht. Mir träumte einmal, ich wäre dort.«

»Ich sage Ihnen doch, ich werde mir Ihre Träume nicht anhören,Miss Catherine! Ich gehe jetzt zu Bett«, unterbrach ich sie wieder.

Sie lachte und hielt mich zurück, als ich Anstalten machte, vom Stuhl aufzustehen.

»Hab doch keine Angst«, rief sie. »Ich wollte doch nur sagen, dass der Himmel mir nicht mein Zuhause zu sein schien. Und ich weinte mir schier das Herz aus dem Leib, weil ich wieder auf die Erde zurückwollte; und die Engel waren so wütend, dass sie mich hinauswarfen, mitten auf die Heide, an die höchste Stelle von Wuthering Heights; dort erwachte ich und schluchzte vor Freude …«

Emily Brontë

Der, der seine Welt nicht mit Phantomen füllt, bleibt allein.

Antonio Porchia

Kapitel 1Der Mann ohne Gesicht

Der Mann kauerte hinter dem aus Brettern gezimmerten Werkzeugschuppen am hinteren Zaun und beobachtete das kleine rotblonde Mädchen, das im Hof spielte. Dunkle Schweißflecken durchtränkten das schwarze Tuch, das sein Gesicht verbarg, und Schweiß klebte an seinen Fingern, als er sie in seinen Latex-Handschuhen bewegte.

Seit sechs Monaten hatte es in Los Angeles nicht mehr geregnet, und der Smog, der sich über der Stadt angesammelt hatte, lag wie ein bernsteinfarbener Schleier über dem rosa gestrichenen Bungalow und seinem winzigen Hinterhof. Die Hitzewelle Ende September hatte das Gras zu spröden, gelben Halmen verdorrt, und die Flecken aus braunem Erdreich ließen den Rasen wie das Fell eines räudigen Hundes aussehen. Ein aufblasbares Planschbecken mit Figuren aus Winnie-the-Poo darauf stand halb in sich zusammengesackt in der Mitte des Hofs, und das Mädchen, das einen Badeanzug mit Tigger vorne drauf trug, saß in dem seichten Wasser. Zwei vom Wasser strähnige Zöpfe umrahmten ihr sommersprossiges Gesicht, während sie ihre nackte Barbie-Puppe um sich herumschwimmen ließ.

Der Atem des Mannes ging schneller, die Luft unter seiner Maske aus Krepp war heiß und stickig. Die Mutter des Kindes war in der Arbeit, und die Babysitterin war vor mehr als zwanzig Minuten ins Haus gegangen. Zum ersten Mal seit drei Tagen sah der Mann das Mädchen unbeaufsichtigt. Dennoch zögerte er.

Dann sah er, wie sie zu zucken anfing.

Sie ließ ihre Puppe ins Wasser fallen und presste die Hände auf ihre Ohren. »Jemand klopft! Jemand klopft!«

Der Mann erstarrte und murmelte etwas vor sich hin. Er stellte sich vor, das lautlose Flüstern hören zu können, das jetzt in den Kopf des Mädchens eindrang.

Sie hatten sie gefunden.

Das Mädchen stolperte aus dem Planschbecken, die Hände noch immer auf die Ohren gepresst, den Kopf hin und her werfend, als würde sie von einem Anfall geschüttelt. »Jemand klopft! Jemand klopft!«

Der Mann warf einen wachsamen Blick auf die Hintertür des Hauses und rannte mit großen Sätzen auf das Kind zu.

Sobald es ihn sah, kreischte das Mädchen auf und rannte im Zickzack Richtung Haus. Er versperrte ihr den Weg, aber sie tauchte unter seinen zupackenden Händen hindurch und lief jetzt auf die hintere Gartentür zu. Als er ihr erneut den Weg versperrte, floh sie an den Maschendrahtzaun zum Nachbargarten, krallte die Finger in die Drahtmaschen und rüttelte schreiend daran.

Während er sie an den Schultern packte, schien sie eine plötzliche Erschöpfung zu überwältigen, und sie sank kraftlos gegen den Zaun. Mit angespanntem, konzentriertem Gesicht flüsterte sie die Buchstaben des Alphabets, als bete sie einen Rosenkranz. »A-B-C-D-E-F-G … H-I-J-K-L-M-N-O-P … Q-R-S-T-U-V…«

Ihre Stimme erstarb. Die Konturen ihres Gesichts veränderten sich kaum merklich, ihre Miene verdüsterte sich.

Die Kraft kehrte in ihre zerbrechliche Gestalt zurück, und sie wirbelte fauchend herum und krallte nach dem Stoff seiner Maske. Doch der Mann hatte das erwartet, packte ihre Arme und drückte sie nach unten.

»Wer bist du?« In der Stimme des Mädchens schwang plötzlich die Autorität eines Erwachsenen. »Warum machst du das mit uns?« Sie funkelte ihn aus leuchtend violetten Augen an.

Die glatten Konturen seines maskierten Gesichts verrieten keine Emotion, doch der Mann zitterte sichtbar. Er hielt das sich wehrende Kind auf Armlänge von sich und umfasste ihren Kopf mit seinen gummihäutigen Händen fast zärtlich.

Dann brach er ihr mit einer einzigen ruckartigen Drehung das Genick.

Kapitel 2Ladung einer Zeugin

An diesem Morgen staute sich der Verkehr auf dem Hollywood Freeway, und Dan versäumte den Beginn des Muñoz-Mordprozesses. Als er am Criminal Justice Center eintraf, bereitete sich die Anklage bereits darauf vor, das Opfer als Zeugin zu laden.

Da er spät dran war, entschied er sich, seinen Wagen auf einem der privaten Parkplätze in Downtown zu parken, anstatt lange nach der für die Ermittlungsbehörden reservierten Garage zu suchen. Das Bureau konnte die vierzehn Dollar Gebühr verschmerzen. Noch bevor er einen halben Block gegangen war, bereute er die Entscheidung bereits, denn er fühlte, wie das Hemd unter seinem Blazer von Schweiß feucht wurde.

Trotz der mörderischen Hitze scharten sich Neugierige und Reporter von TV-Nachrichtensendern um den Eingang des Gerichts. Ein Kordon uniformierter Wachen des Sheriffbüros hielt die Menge auf Distanz. Eine Violette würde heute in den Zeugenstand treten – ein so seltenes Ereignis, das Schlagzeilen machte. In der Regel genügte die bloße Androhung der Zeugenaussage eines Violetten bereits, den Angeklagten dazu zu bringen, sich schuldig zu bekennen, doch Hector Muñoz hatte auf seinem ›Nicht schuldig‹ bestanden und die Gelegenheit zur Verteidigung gefordert.

Dan drängte sich durch die Menge zu dem mit einem Seil abgesperrten Areal vor dem Eingang und zeigte dem dort stehenden Officer seinen Ausweis, der ihn zur Tür durchwinkte.

Erleichtert atmete Dan auf, als er in das kühle Foyer trat. Am Sicherheitskontrollpunkt in der Halle zeigte er erneut seine FBI-Dienstmarke. »Okay, Agent… Atwater.« Der Wachposten in weißem Hemd, ein massiger Mann lateinamerikanischer Herkunft, überflog den Ausweis und gab ihn Dan zurück. »Wenn Sie möchten, können Sie mir Ihre Waffe geben, während Sie durch den Detektor gehen ...«

Dan bedachte ihn mit einem schmallippigen Grinsen. »Nicht nötig. Ich trage keine.« Er leerte seine Taschen in eine Plastikschale und ging durch die wie ein Türrahmen aussehende Sicherheitsschleuse ohne Alarm auszulösen.

Der Wachposten grinste. »Wenn das so ist, wünsche ich Ihnen einen wunderschönen Tag!«

Dan legte zwei Finger zu einem Pfadfindergruß an die Stirn und fischte seine Schlüssel und die losen Münzen aus der Schale.

Neben den Aufzügen hing ein Schild, auf dem stand: ›Alle Personen werden im 8. Stock durchsucht‹, und er musste feststellen, dass ihn nicht einmal seine FBI-Dienstmarke vor einer weiteren Verzögerung bewahren konnte. Dan machte das jedoch nichts aus. Violette verursachten bei ihm eine Gänsehaut, und er würde in den folgenden Tagen noch eine Menge Zeit mit dieser Violetten verbringen. Kein Grund zur Eile also.

Saal 9-101 des Superior Court empfing ihn mit einem kühlen, klimatisierten Lufthauch, als Dan einen Flügel der Tür aufstieß und eintrat. Der Saal war fast bis auf den letzten Platz gefüllt, doch Dan erspähte einen freien Sitz in der letzten Reihe der Galerie, während die Richterin ihre obligatorische Belehrung der Geschworenen gerade beendete.

»Sie sollen die Aussagen des Opfers mit derselben Sorgfalt und mit ebenso großer Skepsis wie die eines jeden anderen Zeugen beurteilen, bevor Sie zu Ihrem Urteilsspruch kommen.« Die matronenhafte, dunkelhäutige Richterin blickte die Geschworenen über den Rand ihrer Brille hinweg mahnend an, das zerfurchte Gesicht in strenge Falten gelegt. »Sie müssen die Aussagen der Verstorbenen sorgfältig gegen die anderen von der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung präsentierten Beweismitteln abwägen, um nach eigenem Ermessen die Wahrheit zu erkennen. Ist Ihnen Ihre Verantwortung, wie ich Sie eben beschrieben habe, bewusst?«

Die Geschworenen murmelten ihre Zustimmung, obwohl sich einige von ihnen nicht sonderlich wohl in ihrer Haut zu fühlen schienen. Hector Muñoz, der nervös mit den Fingern auf den Tisch der Verteidigung trommelte, verlagerte das Gewicht auf seinem Stuhl und flüsterte seiner Anwältin etwas zu. Mit einem besorgten Gesichtsausdruck schüttelte sie den Kopf.

»Sehr gut.« Die Richterin nickte dem Distriktstaatsanwalt, einem groß gewachsenen, pflichtbewusst wirkenden Mann mit streng nach hinten gekämmtem Haar, auffordernd zu. »Sie können Ihre nächste Zeugin aufrufen, Mr Jacobs.«

»Danke, Euer Ehren.« Jacobs erhob sich von seinem Stuhl. »Gerichtsdiener, würden Sie bitte Ms Lindstrom hereinbringen?«

Ein stämmiger Mann in Uniform öffnete die Tür links vom Richterstuhl und führte eine hagere, blasse junge Frau mit kahl rasiertem Schädel in den Gerichtssaal. Dan reckte den Hals, um einen besseren Blick auf die Violette zu haben, mit der er in den nächsten paar Wochen zusammen sein würde.

Sie trug ein langärmeliges Hemd und eine weite, bequeme Hose, die beide eine Nummer zu groß für sie wirkten, was sie in dem sterilen Licht der Leuchtstofflampe des Gerichtssaals zart und zerbrechlich aussehen ließ. Doch sie sprach mit ruhiger, bemessener Kraft in der Stimme, als der Gerichtsdiener sie vereidigte.

Ein Stuhl mit hoher Rückenlehne war für ihre Aussage in den Zeugenstand gebracht worden. Breite Nylongurte baumelten von der Lehne und den Beinen des Stuhls. »Bitte nennen Sie für das Protokoll Ihren vollen Namen«, forderte Jacobs die Frau auf, als sie Platz genommen hatte.

»Nathalie Lindstrom.«

»Und Sie sind ein offiziell anerkanntes Mitglied der Nordamerikanischen Gesellschaft für Jenseitskommunikation?«

»Das ist richtig.«

»Und sind Sie bereit, heute Ihre Fähigkeiten dem Gericht mit absoluter Ehrlichkeit zur Verfügung zu stellen?«

»Ja, das bin ich.«

Jacobs wandte sich an einen korpulenten Mann mit Brille, der rechts vom Zeugenstand wartete. »Würden Sie bitte das Medium für die Zeugenaussage vorbereiten, Mr Burton?«

Burton pflückte einen Punktstrahler aus der Innentasche seines Anzugsjacketts und leuchtete damit Lindstrom in beide Augen, um sich zu vergewissern, dass sie keine farbigen Kontaktlinsen trug. Obwohl es inzwischen ausgefeiltere Möglichkeiten gab, die Echtheit eines ›Mediums‹ zu überprüfen, war diese Methode gängig geworden, denn alle Violetten wurden, wie ihr Name schon sagte, mit violetter Iris geboren.

Burton rollte einen Wagen mit einem SoulScan-Gerät – einem Seelenscanner – zum Zeugenstand und schloss Lindstrom an den Apparat an, indem er eine Reihe von Elektroden mit chirurgischem Klebeband an ihrem kahl rasierten Schädel befestigte. Wie bei den meisten Violetten, waren auch bei ihr die zwanzig Kontaktstellen in einem Muster winziger bläulicher Punkte auf ihre Kopfhaut tätowiert.

Jacobs erklärte den Geschworenen, auf welche Weise dieser hoch entwickelte Elektroenzephalograph die elektromagnetische Präsenz der Seele des Opfers ermittelte, während sie das Gehirn des Mediums durchdrang. »Sie werden in der Lage sein, mit eigenen Augen den exakten Augenblick des Eintritts der Seele der Verstorbenen zu beobachten«, erklärte er und deutete auf einen großen, grün leuchtenden Monitor, der an der Wand über Lindstroms Stuhl angebracht war. Dan fiel auf, dass Jacobs es unterließ, die Funktion des großen roten Knopfs auf der Schalterkonsole des Seelenscanners zu erklären. Er wurde als ›Panikknopf‹ bezeichnet, weil er einen starken Elektroschock durch die Kabel in das Gehirn des Violetten schickte und damit gewaltsam eine Seele vertrieb, die gewalttätig wurde oder sich weigerte, den Körper des Mediums wieder zu verlassen. Mit Hilfe ihrer strengen geistigen Disziplin konnten jedoch ausgebildete Violette gewöhnlich jede widerspenstige Seele jederzeit loswerden. Der Panikknopf war lediglich zur Sicherheit angebracht, denn die Toten waren stets unberechenbar.

Burton trat vom Zeugenstand zurück und ließ Lindstrom, von deren Schädel nun ein Gewirr von Kabeln emporspross, in ihrem Stuhl allein. Die Kabel wanden sich zu einem wie ein dickes Tau aussehenden Bündel zusammen, das sich zu einer Stecköffnung auf dem Seelenscanner hinabschlängelte. Burton schaltete das Gerät an und eine Reihe von grünen Linien erschien auf dem Monitor. Die regelmäßigen, niedrigen Zickzackwellen der oberen drei Linien stellten die Alphawellen von Lindstroms bewusstem Denken dar. Die unteren drei Linien zeigten keinen Ausschlag und warteten auf das in das Medium eintretende Wesen.

»Sind Sie bereit, Ms Lindstrom?«, fragte Jacobs.

»Ja.« Sie lehnte sich in den Stuhl zurück und schloss die Augen, während Burton die Nylongurte um ihre Beine und ihren Rumpf festschnallte und ihre Handgelenke mit einem gezahnten Plastikband fesselte.

Es ist zu ihrer Sicherheit, sagte sich Dan, doch der Gedanke vermochte ihn nicht zu beruhigen. So schmerzhaft die Fesseln waren, Lindstrom würde bald noch schlimmere Qualen erleiden.

Jacobs riss das Siegel einer der durchsichtigen Plastiktüten mit Beweismaterial der Staatsanwaltschaft auf und entnahm ihr ein mit Teddybären bedrucktes Babylätzchen. Er breitete das Lätzchen aus und zeigte es den Geschworenen, dann legte er es in Lindstroms Hände.

Dan verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Dieser Staatsanwalt ging gleich in die Vollen. Er hätte als Kontaktobjekt so gut wie jeden Gegenstand wählen können, den das Opfer berührt oder getragen hatte. Eine Haarbürste, einen Hausschlüssel, einen Führerschein – all diese Dinge hatten ein winziges Quäntchen Verbindung zur toten Frau bewahrt und würden ihre elektromagnetische Essenz wie ein Blitzableiter zum Medium lenken. Stattdessen hatte sich Jacobs wegen der emotionalen Wirkung, die es auf die Geschworenen haben würde, dafür entschieden, ein Kleidungsstück des Kindes zu präsentieren. Weshalb Muñoz bereit war, die Tortur der Zeugenaussage einer Violetten auf sich zu nehmen, konnte Dan nicht verstehen. In diese Augen zu blicken und in ihnen das Leben zu sehen, das man ausgelöscht hatte …

Lindstrom formte mit ihren Lippen stumme Worte, und die Alphawellen, die über den oberen Bereich des Seelenscanner-Monitors wanderten, wurden flacher und gleichmäßiger. Bald würde sie sich in ihr eigenes Unterbewusstsein zurückziehen und die Kontrolle über ihren Körper abgeben.

Jacobs warf einen Blick auf die Menge im Zuschauerraum.

»Bitte bewahren Sie Ruhe«, ermahnte er sie. Er hätte es sich sparen können. Es war so still im Saal, dass man eine Stecknadel zu Boden hätte fallen hören.

Lindstrom saß mehrere Minuten lang vollkommen reglos, das Lätzchen zwischen ihren zusammengepressten Händen. Die Spannung im Gerichtssaal ließ allmählich nach, als lange Zeit nichts geschah. Füße scharrten. Stühle knarrten. Jemand hüstelte. Nur Muñoz saß wie festgefroren auf seinem Platz, den Blick auf die Frau im Zeugenstand geheftet.

Dans Schweiß trocknete in dem klimatisierten Raum zu einer klammen Feuchtigkeit, die die Hitze aus seiner Haut sog. Er fröstelte, als die ersten schnörkeligen Wellen auf dem Monitor des Seelenscanners erschienen. In seinem Nacken richteten sich die Haare auf, und er stellte sich vor, dass der ganze Saal mit der statischen Spannung toter Seelen geladen war.

Lindstroms Körper wurde steif, ihr Rücken wölbte sich und ihr Bauch spannte sich gegen die Gurte, die sie im Stuhl festhielten. Ihre knochigen Hände krallten sich in das Lätzchen, sie bäumte sich auf und wand sich in epileptischen Krämpfen.

Das ist eine Falsche, dachte Dan. Wenn das Kontaktobjekt mehr als eine Seele herbeirief, musste das Medium die anderen Wesen abwehren, damit die gesuchte Seele von ihr Besitz nehmen konnte. Es war schon vorgekommen, dass sich geübte Violette bei einem solchen Anfall die Zunge abgebissen hatten.

Den Kopf von einer Seite zur anderen werfend, stieß Lindstrom einen gellenden, kehligen Schrei hervor. Dan sah, wie mehrere Geschworene blass wurden. Offenbar hatten die meisten von ihnen Violette nur in Kinofilmen oder in TV-Polizeiserien gesehen. Sie in der Realität zu erleben, war eine völlig andere Erfahrung. Dan hatte in seinem Job sicherlich schon fünfzig oder mehr von ihnen gesehen, und jedes Mal kam es ihm schlimmer vor. Besonders in den letzten beiden Jahren.

Lindstroms Augen flogen auf, und sie blickte im Gerichtssaal um sich wie ein Kaninchen inmitten eines Wolfsrudels. Ohne irgendeine erkennbare physiologische Veränderung hatten ihre Gesichtsmuskeln einen neuen Ausdruck bekommen; sie runzelte die Stirn, ihre Augenbrauen wölbten sich, sie schob das Kinn nach vorn und blies die Wangen auf. Sie wimmerte und versuchte, sich von den Fesseln des Stuhls zu befreien. Dann blieb ihr Blick an Hector Muñoz hängen. Sie verstummte und starrte ihn an.

Muñoz presste seine zitternden Händen, gegen die Schläfen, unfähig den Blick abzuwenden. »Rosa …«

Jacobs trat vor und richtete das Wort an die Frau im Zeugenstand. »Erinnern Sie sich an mich?«, fragte er sie.

Sie richtete den Blick auf ihn und nickte. Es bestand kein Zweifel – der Staatsanwalt hatte das Opfer in den Zeugenstand gerufen, um sie zu befragen.

»Sagen Sie uns bitte, wer Sie sind«, forderte Jacobs sie auf.

»Rosa Muñoz.« Sie sprach den Namen mit spanischem Akzent aus, und der weiche Sopran ihrer ursprünglichen Stimme hatte sich zu einem heiseren Alt gewandelt.

»Nehmen Sie ins Protokoll auf, dass sich die Zeugin als das Opfer identifiziert hat.« Jacobs versuchte, erneut Augenkontakt mit ihr aufzunehmen. »Wissen Sie, wo Sie sind?«

Sie schüttelte den Kopf, den Blick unverwandt auf Muñoz gerichtet.

»Erkennen Sie sonst jemanden in dem Saal?«

Die Frau in Natalie Lindstroms Körper antwortete nicht darauf, denn sie starrte auf das Lätzchen hinab, das sie in ihren Händen hielt. »O Gott – Pedrito!«

»Pedrito … – er war Ihr Sohn, nicht wahr?«, hakte Jacobs nach. »Erzählen Sie uns von ihm.«

»Er hat ihn getötet. Mein Ehemann, dieses Schwein.« Sie streckte ihre gefesselten Hände aus und deutete auf Muñoz. »Er hat mein Baby getötet!«

Muñoz sackte über den Tisch der Verteidigung, als sei er von einer Kugel getroffen worden. Seine Anwältin klopfte ihm auf die Schulter, hatte jedoch kein Wort des Trostes oder der Ermutigung für ihn.

Jacobs wandte sich an die Geschworenen. »Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Zeugin den Angeklagten identifiziert hat ...«

»Du und dein gottverdammtes Speed!« Zitternd starrte die Frau im Zeugenstand Muñoz aus Lindstroms unergründlich violetten Augen an, ihr Gesicht zu einer Maske der Verachtung verzerrt. »Ständig dieses verdammte Speed. Und Pedrito weinte und ging dir auf die Nerven. ›Sei still! Sei endlich still!‹« Sie machte eine schüttelnde Bewegung mit ihren Händen. »Du hast dafür gesorgt, das er still ist, oder nicht, Hector?«

Muñoz blickte nicht auf.

»Und was passierte dann?«, fragte Jacobs.

»Und dann fing ich an zu schreien und nannte Hector den asesino, der er war. Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist, dass er mich bei der Kehle packte und mich anbrüllte: ›Sei still, du Nutte! Sie hören dich!‹« Sie presste das Lätzchen an ihr Gesicht und schloss schluchzend die Augen. »Er folgt mir überallhin. Weißt du, wie das ist, Hector? Nur wir beide, und wir weinen in der Dunkelheit.«

Hector Muñoz hob den Kopf, das Gesicht von Tränen überströmt. »Oh, Gott, Rosa, lo siento, lo siento!« Ehe seine Anwältin ihn aufhalten konnte, stieg er über den Tisch der Verteidigung und stürzte, die Hände flehend seiner toten Frau entgegengestreckt, auf den Zeugenstand zu. Zwei Wachen sprangen vor und packten ihn, bevor er ihn erreichte. »Perdoneme! Perdoneme!«, schluchzte Muñoz, als die beiden Männer ihn zu Boden rangen.

Er hatte von Anfang an gewusst, dass er nicht gewinnen konnte, begriff Dan. Er hatte die Verhandlung nur deshalb gewollt, weil sie die einzige Möglichkeit war, die Frau, die er erdrosselt hatte, um Vergebung zu bitten.

Die Frau im Zeugenstand bäumte sich in ihrem Stuhl auf, und Dan hörte, wie sich die Nylongurte bis zum Zerreißen spannten. »Niemals«, schnarrte sie. Ihre Stimme schwoll zu einem Kreischen, und die Luft vibrierte von der Kraft ihres Hasses. »Hast du gehört, Hector? NIEMALS!«

Auf dem Monitor des Seelenscanners verwandelten sich die flachen, regelmäßigen Wellen zu spitzen Zacken. Ihr Gesicht verzerrte sich.

Mit einem besorgtem Gesichtsausdruck streckte Burton die Hand nach dem Panikknopf aus.

Die Mundwinkel der Violetten zogen sich nach hinten und entblößten ihre aufeinander gepressten Zähne, als trüge sie eine Maske, die zu eng für ihr Gesicht war. Dann verwandelte sich ihr bebendes Fleisch zu einem melancholischen Ausdruck, und Lindstroms Haltung in dem Stuhl entspannte sich. Sie atmete jetzt tief und regelmäßig.

Burton zog seine ausgestreckte Hand zurück. Jacobs nickte ihm zu, und der Assistent begann, die Gurte und Drähte von Lindstroms Körper zu entfernen.

Die Wachen legten Hector Muñoz Handschellen und Fußfesseln an. Er schluchzte verzweifelt, als sie ihn aus dem Saal führten. Seine Anwältin, eine erfahrene, vom Staat bestellte Strafverteidigerin, hatte offenbar von Anfang an ein solches Ergebnis erwartet, denn sie beantragte mit ruhiger Stimme eine Vertagung der Verhandlung, um ihr Zeit zu geben, die Verteidigung ihres Klienten im Licht der jüngsten Entwicklungen zu revidieren. Obwohl der Staatsanwalt gegen die Verzögerung Widerspruch einlegte, gab die Richterin ihrem Antrag statt. Der Gerichtsdiener half der erschöpften Lindstrom, den Raum mit schlurfenden Schritten durch die Nebentür zu verlassen.

Während die Leute um ihn herum durch die Flügeltür des Gerichtssaals nach draußen drängten, stellte Dan fest, dass seine Augen vom langen Starren ganz trocken und klebrig geworden waren. Seine Zunge fühlte sich pelzig an, und er steckte sich ein Bonbon in den Mund, um etwas Speichel zu entwickeln. Rosa Muñoz’ letztes Wort geisterte noch immer in seinem Kopf herum.

NIEMALS…

Er trödelte noch eine Weile im Gerichtssaal herum, bevor er sich im Stande fühlte, Natalie Lindstrom kennen zu lernen.

Solang sie mich nicht anfasst…

Dan zog seine Krawatte gerade, ging zur Nebentür des Gerichtssaals hinüber und zeigte dem Wachposten seinen Dienstausweis. Er trat durch die Tür in einen für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Warteraum, in dem er Lindstrom auf einem Sofa ausgestreckt fand. Sie hatte einen Unterarm über ihre Augen gelegt. Wo die Plastikfessel gegen ihre Haut gerieben hatte, waren ihre Handgelenke stark gerötet. In ihren von der Anspannung verzerrten Zügen war noch immer ein Nachempfinden von Rosa Muñoz’ Gesichtsausdruck zu erkennen, ähnlich wie bei einem doppelt belichteten Foto.

»Ms Lindstrom?«

Erschreckt setzte sie sich auf und sah ihn mit misstrauischem Blick an.

»Tut mir Leid, wenn ich Sie störe.« Er gab ihr beinahe die Hand, steckte sie dann allerdings in seine Tasche. »Special Agent Dan Atwater, FBI. Investigative Support Unit. Das war eine … ziemlich beeindruckende Vorstellung da draußen.«

Sie ließ sich wieder auf das Sofa zurücksinken. »Wenn Sie es sagen.«

Er ging neben ihr in die Hocke, um auf annähernd gleicher Höhe mit ihr zu sein. »Ich weiß, Sie müssen müde sein, aber wir brauchen dringend Ihre Hilfe bei einem unserer aktuellen Fälle. Wenn Sie die Details hören, werden Sie, glaube ich, Ja sagen ...«

»Ich kenne die Details.« Ihre Augen suchten seinen Blick und hielten ihn fest. »Sie haben sie mir erzählt.«

Kapitel 3Tote Violette

Die Haare in Dans Nacken richteten sich auf. »›Sie?‹«

Sie schloss halb die Augen. »Sie wissen, wen ich meine.«

Er kaute auf seiner Unterlippe. »Mit wie vielen von ihnen haben Sie gesprochen?«

»Mit vieren. Wie viele sind verschwunden?«

»Bis gestern sieben.« Dan richtete sich wieder auf und ging im Zimmer auf und ab, um vor sich selbst eine Rechtfertigung zu haben, weshalb er ihren violetten Augen auswich. »Wenn wir nicht bald handeln, könnte es sein, dass Sie mit einer Menge mehr sprechen müssen.«

»Hm. Und wenn ich mich weigere, Ihnen zu helfen?«

Er gab vor, den Glanz seiner frisch polierten Florsheims-Schuhe zu studieren. »Dann muss ich Sie in Schutzhaft nehmen. Schließlich sind Sie ein potenzielles Ziel für den Killer.«

Sie seufzte. »Ich hab auch nicht angenommen, dass ich eine Wahl habe, aber ich möchte wissen, woran ich bin.« Sie schwang ihre Beine vom Sofa und setzte sich auf. »Was dagegen, wenn ich meine Klamotten wechsle?«

»Kommt darauf an, in wen Sie sich verwandeln.« Dan grinste, doch Lindstrom bedachte ihn mit einem eisigen Blick. Er räusperte sich. »Nein, tun Sie, was immer Sie für nötig halten.«

Sie zog den Reißverschluss einer kleinen Reisetasche auf, die auf einem Tisch neben einer runden, wie eine Hutschachtel aussehenden Box stand. Sie nahm einen Stapel zusammengelegter Kleidungsstücke heraus und warf Dan über die Schulter einen Blick zu. »Äh … Könnten Sie für eine Minute aus dem Zimmer gehen?«

»Ich fürchte, nein. Das Bureau will, dass Sie sieben Tage lang und das vierundzwanzig Stunden am Tag unter Bewachung stehen.«

»Sie meinen, die haben Angst, dass ich ihnen entwische?«

»Vergessen Sie nicht, der Killer könnte direkt hinter dieser Tür lauern«, erwiderte er mit einem Achselzucken.

»Oder sogar direkt vor mir stehen.«

Dan lachte glucksend. »Touche. Obwohl der Mörder, wie ›sie‹ Ihnen wahrscheinlich erzählt haben, seinen Opfern nie sein Gesicht zeigt.«

»Das stimmt. Aber wenn ich umgebracht werde, beschwere ich mich höchstpersönlich beim Bureau über Sie. Macht es Ihnen was aus, sich umzudrehen?«

»O… Selbstverständlich nicht.« Er sah die Wand an und verschränkte die Arme. »Ich habe eine Menge über Sie gelesen«, sagte er mit der gezwungenen Freundlichkeit von jemandem, der mit einem Psychopathen spricht.

»Das kann ich mir vorstellen.«

Hinter ihm raschelte Stoff gegen Haut. Er redete einfach weiter, um zu verhindern, dass er sich vorstellte, wie sie in Unterwäsche aussah. »Gute Arbeit im Aquädukt-Mordfall.«

»Meine Arbeit ist nie wirklich gut. Wie ist das bei Ihnen?«

Dan war froh, dass sie seine Grimasse nicht sehen konnte. »Sie hat ihre Höhen und Tiefen.«

»Sie können sich jetzt umdrehen.«

Er setzte das freundlichste Gesicht auf, das er hinbekam, und drehte sich um. Lindstrom trug jetzt eine ärmellose weiße Bluse und Bluejeans, die ihre schlanke, aber wohlproportionierte Figur betonten. Sie schlüpfte wieder in ihre schwarzen Doc-Marten-Boots und schnürte sie zu. Dann raffte sie ihr abgelegtes langärmliges Hemd und die legere Hose zusammen und warf sie in die Reisetasche. Sie kramte in ihrer Handtasche herum und brachte einen kleinen Schminkspiegel und ein Döschen für Kontaktlinsen zum Vorschein.

»Wie lange arbeiten Sie schon beim FBI?«, fragte sie, als sie farbige Kontaktlinsen in ihre Augen legte.

»Seit fünf Jahren. Vorher war ich Detective hier in Los Angeles.«

»Sie müssen ja ganz versessen auf Bestrafung sein.« Aus ihrer Reisetasche nahm sie ein doppelseitiges Klebeband, riss Streifen von dem stark haftenden Plastiktape ab und befestigte sie in einem Bogen quer über ihren Kopf bis hinab zu den Schläfen. Dann öffnete sie die Hutschachtel und nahm eine lange, glatthaarige kupferrote Perücke heraus, die sie sich sorgfältig auf den Kopf setzte und festdrückte. »Und wohin gehen wir jetzt?«

»Ins Verwaltungsgebäude des Los Angeles Police Department. Wir haben dort ein Meeting mit allen möglichen Annehmlichkeiten für Sie vorbereitet. Wir können in meinem Wagen fahren, um der Presse aus dem Weg zu gehen.«

»Nein. Lassen Sie uns zu Fuß gehen.« Sie betrachtete prüfend ihr Spiegelbild in dem kleinen Spiegel, rückte die Perücke noch einmal zurecht und kämmte die verflochtenen Strähnen mit den Fingern aus. »Damit werden sie mich nicht erkennen.«

Mit etwas Rouge und einem roten Lippenstift aus ihrer Handtasche brachte sie ein wenig Farbe in ihr blasses Gesicht. Die Veränderung war verblüffend. Die langen Haare verbargen die knochige Strenge ihres tätowierten Schädels und machten die Flächen ihrer Wangen und ihres Kinns weicher, während die Kontaktlinsen das intensive Violett ihrer Augen zu einem klaren Kristallblau aufhellten. Keine Spur von Rosa Muñoz war in ihrem Gesicht mehr zu entdecken.

»Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie als Rothaarige verdammt gut aussehen?«, fragte er mit einem zaghaften Grinsen. Und das war nicht nur ein lahmer Spruch, um das Eis zu brechen. Er meinte, was er sagte. Wenn sie keine Violette wäre…

Lindstroms Gesicht mochte sich verändert haben, doch der Ausdruck in ihm nicht; er blieb verdrossen, resigniert und ein bisschen traurig. »Hier. Machen Sie sich nützlich.« Sie hielt ihm ihre Reisetasche und die Perückenschachtel hin. »Wir nehmen den Hinterausgang.«

Dan blieb zurückhaltend und freundlich, doch er gab höllisch acht, dass seine Finger nicht ihre berührten, als sie ihm ihr Gepäck reichte. Er wusste, dass Violette auch Menschen als Kontaktobjekt benutzen konnten, und anders als Hector Muñoz verspürte Dan nicht den Wunsch, mit Geistern aus seiner Vergangenheit zu sprechen.

Es ist nur für ein paar Tage – eine Woche oder höchstens zwei, beruhigte er sich. Solange sie mich nicht anfasst…

Sie verließen das Gericht durch den Flügel des Gebäudes, zu dem nur Richter, Polizisten und Gefangene, die zu ihrer Verhandlung geführt werden, Zutritt hatten. Wenn sie den Aufzug benutzt hätten, wären sie in wenigen Minuten im Erdgeschoss gewesen, doch Lindstrom bestand darauf, dass sie die Treppe nahmen.

Dan wölbte die Augenbrauen. »Platzangst?«

»Es ist ein gutes Training«, erwiderte sie nur, als sie die Tür zum Treppenhaus im achten Stock aufstieß.

»Sie haben leicht reden. Sie schleppen keine Koffer.«

Vor dem Gerichtsgebäude lungerten immer noch Reporter und Amateurfotografen herum, die offensichtlich darauf hofften, ein paar Schnappschüsse von der Violetten in all ihrer kahlköpfigen, violettäugigen Fremdheit zu ergattern. Aber niemand verschwendete auch nur einen Blick auf Natalie Lindstrom, als sie mit Dan aus dem Gebäude trat und beide die Temple hinab in Richtung Los Angeles Street schlenderten.

Ein Sicherheits-Kontrollpunkt an der Ecke sorgte dafür, dass nur autorisierte Fahrzeuge in die Temple hineinfuhren, doch für Fußgänger war die Straße offen, und sie gingen den halben Block bis zu ihrem Ziel zu Fuß – ein Zementgletscher auf zylindrischen Betonsäulen, der den monumentalen Eingang zum Parker Center, dem Verwaltungsgebäude des LAPD, bildete. Nachdem sie durch die brütende Hitze draußen in den Straßen marschiert waren, genoss Dan die erfrischende Kühle, die sie empfing, als sie unter dem Gletscher hindurch in das klimatisierte Präsidium der Polizei von Los Angeles traten.

Er führte Lindstrom in den ersten Stock hinauf und klopfte an die Tür eines kleinen Konferenzzimmers. Ein missmutig dreinblickender Mann mit mokkafarbenem Gesicht und dichtem, schwarzem Kraushaar ließ sie ein. Der Knoten seiner Krawatte hing locker unterhalb dem geöffneten Kragenknopf seines weißen, mit militärischer Präzision gebügelten Hemds. »Wird auch Zeit! Ich hab mich schon gefragt, ob wir Sie beide ebenfalls auf die Liste der Opfer setzen müssen.«

»Darf ich Ihnen meinen Boss Earl Clark vorstellen«, sagte Dan zu Lindstrom, als Clark zur Seite trat, um sie eintreten zu lassen. »Er ist der SAC, der leitende Special Agent für diesen Fall. Earl – Natalie Lindstrom.«

SAC Clark streckte ihr die Hand entgegen, die sie ohne Begeisterung schüttelte. Dan erschrak. Er fragte sich, ob sie in diesem kurzen Augenblick des Kontakts eine flüchtige Ahnung von den Toten in Clarks Vergangenheit bekam. Machte es Earl etwas aus, zu wissen, dass sie es könnte?

Dan stellte Lindstroms Reisetasche und Hutschachtel neben der Tür ab. Er deutete auf die dunkelhaarige Frau im beigefarbenen Hosenanzug, die an einem langen, mit aufgeschlagenen Aktenordnern, Fotos und verschiedenen Beweisgegenständen bedeckten Tisch saß. »Und das ist Yolena Garcia, Detective von der East Los Angeles Division des LAPD.«

Garcia stand auf und reichte Lindstrom die Hand. »Erfreut, Sie kennen zu lernen.« Wie Lindstrom schien Garcia niemals zu lächeln. Sie legte im Dienst die übereifrige Professionalität einer Frau an den Tag, die hart hatte kämpfen müssen, um den Respekt ihrer Kollegen zu gewinnen.

»Detective Garcia leitet die lokalen Ermittlungen«, erklärte Dan. »Natalie – darf ich Sie Natalie nennen? –, Natalie sagt, sie ist mit einigen der Opfer in Kontakt.«

Clark und Garcia wechselten einen Blick.

»Das ist interessant.« Clark nahm ein acht mal zehn Zentimeter großes Foto vom Tisch und reichte es Lindstrom. »Haben Sie auch irgendwas von ihr gehört?«

Zum ersten Mal seit der Gerichtsverhandlung veränderte sich Lindstroms steinerne Miene: Ihre Augen funkelten, ihr Mund zitterte. Dan warf einen Blick über ihre Schulter auf das Foto, auf dem ein kleines Mädchen mit rotblondem Haar und violetten Augen zu sehen war. Ihr breites, ausgelassenes Grinsen verriet, dass ihr links oben zwei Zähne fehlten. Sie hielt eine rotbraun getigerte Katze fest, die fast so groß war wie sie selbst. Dan kannte das Foto von dem kurzen Briefing, das Garcia ihm am Morgen gegeben hatte.

Lindstrom gab Clark das Foto zurück. »Nein, sie hat nicht geklopft. Ist sie …?«

»Wir haben gehofft, Sie könnten uns das sagen. Sie verschwand gestern. Wir haben noch keine Leiche gefunden, falls das irgendeine Bedeutung hat. Aber von den anderen haben wir ja auch noch keine gefunden.« Clark warf das Foto neben die aufgeschlagenen Aktenordner. »Nachdem er sie umgebracht hat, schafft er die Leichen weg. Deshalb können wir auch nicht sagen, wo die Opfer sind.«

»Wer war sie?« Lindstroms Gebrauch der Vergangenheitsform ließ Dan zusammenzucken.

»Laurie Gannon«, erwiderte Garcia. »Die Babysitterin, die auf sie aufpassen sollte, schlief im Haus, als sie Laurie im Hinterhof schreien hörte. Bis sie im Hof draußen war, war Laurie verschwunden. Die Babysitterin sah jemanden in dunkler Kleidung über den Zaun steigen und wegrennen. Wegen der Größe und Haltung der Gestalt war sie sich ziemlich sicher, dass es ein Mann war.« Der Detective runzelte die Stirn. »Er hatte einen prall gefüllten Müllsack über die Schulter geschlungen.«

»Habt ihr am Tatort irgendwas gefunden, das uns weiterbringt?«, erkundigte sich Dan.

»Keine Fingerabdrücke oder Fasern – der Kerl hat keine Spuren hinterlassen. Das Einzige, was wir haben, ist das hier.« Detective Garcia hielt den Gipsabdruck einer Schuhsohle in die Höhe. »Reeboks, Größe 10 1/2. Nagelneu, wie es aussieht. Wir haben den Abdruck auf einem der staubtrockenen Flecken im Rasen des Hinterhofs gefunden.«

»Na bestens. Das reduziert die Zahl der Verdächtigen auf ein paar Millionen. Was ist mit dem Wagen des Mörders?«

Garcia legte den Sohlenabdruck beiseite und schüttelte den Kopf. »Wir nehmen an, er hat in der schmalen Gasse geparkt, die hinter dem Grundstück der Gannons vorbeiführt.« Sie tippte mit dem Finger auf eine schematische Zeichnung des Tatorts und seiner näheren Umgebung. »Wir haben sämtliche Nachbarn befragt, aber niemand erinnert sich, einen Wagen in die Gasse hinein- oder aus ihr herausfahren gesehen zu haben. Die meisten Leute, die in der Gegend wohnen, sind während des Tags zur Arbeit weg. Die einzige gute Nachricht ist, dass wir keine Blutspuren von dem Mädchen gefunden haben – was immer das auch bedeuten mag.«

»Warum war sie nicht in der Schule?«

Lindstroms Frage überraschte Dan und die anderen. »Komisch, dass Sie das fragen«, sagte Clark. »Ihre Mutter hat sie letzte Woche aus der Schule genommen, noch bevor wir überhaupt daran dachten, auch die Kinder als mögliche Ziele für den Killer in Betracht zu ziehen. Ms Gannon ist jetzt davon überzeugt, dass wir ihre Tochter entführt haben.«

»Waren Sie es?« Lindstrom hatte ihre kühle Gelassenheit wieder erlangt, und Dan glaubte, ihre violetten Augen hinter den blauen Kontaktlinsen funkeln zu sehen.

Clark bedachte sie mit einem ärgerlichen Blick. »Wir hatten nichts damit zu tun.«

»Zweifellos hat jetzt die Gesellschaft all die anderen Kinder in ihre Obhut genommen …«

»Zu ihrer eigenen Sicherheit«, gab der SAC mit ironischem Unterton in der Stimme zurück.

Um die Spannung zwischen den beiden abzubauen, sagte Dan: »Warum erzählen Sie uns nicht, welche von diesen hier mit Ihnen Kontakt aufgenommen haben?«

Er deutete auf die offenen Aktenordner, und Garcia schob sie näher zu Lindstrom hinüber, damit sie die Bilder besser sehen konnte. Ein Foto von jedem Vermissten war mit einer Büroklammer an die Innenseite des jeweiligen Aktendeckels geheftet, daneben ein Lebenslauf, der die persönlichen Daten, Informationen über die Familie und eine Registrierungsnummer der NAGJK, der Nordamerikanischen Gesellschaft für Jenseitskommunikation, enthielt. Die unpersönlich und amtlich wirkenden Polaroidfotos sahen alle aus wie Bilder aus dem Verbrecheralbum, Fotos von Männern und Frauen mit kahlem Schädel und violetten Augen.

Ohne einen Blick auf den mit Maschine geschriebenen Namen zu werfen, deutete Lindstrom auf das Foto eines betagten dunkelhäutigen Manns mit runzligem Gesicht und eingefallenen Wangen. »Jem hat geklopft.« Ihr Finger glitt weiter zu dem Foto einer rundlichen Frau mittleren Alters mit einem Leberfleck an ihrem Mundwinkel. »Gig ebenfalls.« Dann zu einem hageren Mann mit langen Schneidezähnen, einem schiefen Grinsen und dicken, gewölbten Brillengläsern. »Und Russel.« Als Nächstes zu einer Puertoricanerin mit kupferfarbener Haut. »Sylvia.«

Abrupt hielt Lindstrom inne, und ihre Fingerspitzen verweilten auf dem unrasierten Gesicht eines jungen Mannes mit dicken Augenbrauen. »Evan …«

»Haben Sie auch von ihm gehört?«, fragte Dan.

»Nein. Aber ich hätte von ihm hören sollen.« Sie blickte zu Dan auf, und ihre Augen funkelten vor Empörung und Argwohn. »Woher wissen Sie, dass er tot ist?«

»Russel Travers hat ihn mit Hilfe eines Kontaktobjekts herbeigerufen. Wir haben die Aussage auf Video, wenn Sie sie sehen möchten.«

Sie stützte ihre Hände flach auf den Tisch, um sich auf den Beinen zu halten. Dan zog einen Stuhl für sie unter dem Tisch hervor. Sie ließ sich darauf niedersinken.

»Es tut mir Leid, dass Sie es auf diese Weise erfahren haben«, sagte er. »Sie waren Freunde?«

»Das könnte man sagen.« Sie starrte auf Evans Foto hinab. »Sie waren alle meine Freunde. Alle außer… wie hieß sie noch mal? Laurie?«

»Ja. Dass Sie mit den anderen Opfern bekannt waren, war für uns auch der Grund, weshalb wir Sie für diese Ermittlungen ausgewählt haben, Ms Lindstrom«, sagte Clark. »Deshalb, und weil Sie eine … Expertin auf dem Gebiet der Gewaltkriminalität sind.« Er schob ihr einen weiteren Ordner hin. »War sie auch eine Freundin von Ihnen?«

»Nicht unbedingt.« Die Linien um Lindstroms Mund wurden tiefer, während sie das Foto einer hellhäutigen jungen Frau mit breitem, herzförmigem Gesicht betrachtete. Der Kopf der Frau war ein wenig zur Seite gedreht, und sie hatte die Augen niedergeschlagen, als hätte der Fotograf sie überrascht. »Ich kannte Sondra. Aber sie hat sich auch nicht bei mir gemeldet. Das Letzte, was ich von ihr gehört habe, war, dass sie und Evan zusammen sind.«

Dan registrierte den bitteren Nachgeschmack von Eifersucht in ihrer Stimme. Waren Lindstrom und Evan Markham einmal ein Paar gewesen? Dan hatte mit Evan im vergangenen Jahr am Philly-Ripper-Fall gearbeitet und gefunden, dass der Violette ein unfreundlicher, aufgeblasener Typ war.

Sie würden ein perfektes Paar abgeben, dachte Dan. Seltsamerweise war er von Lindstrom enttäuscht, weil sie einen Misanthropen wie Evan Markham als Lover gewählt hatte.

»Wann haben Whitman und die anderen angefangen zu ›klopfen‹, wie Sie es ausdrücken?«, fragte Clark.

»Ende August. Jem war der Erste. Er versuchte, so viele von uns wie möglich zu warnen.« Sie maß Clark mit einem kalten Blick. »Er wusste, die Gesellschaft würde es nicht tun.«

Der Mund des SAC zuckte, doch er widersprach ihr nicht.

Dan sah beunruhigt vom einen zur anderen. Er hatte hässliche Dinge über die NAGJK gehört, aber so etwas noch nicht. »Die Gesellschaft hat ihre Mitglieder nicht gewarnt?«

»Natürlich nicht«, erwiderte Lindstrom. »Sie wollten nicht, dass wir in Panik geraten und davonlaufen. Hab ich Recht, Mr Clark?«

Dans fragendem Blick ausweichend, erwiderte der SAC: »Der Sicherheitsdienst der Gesellschaft verlangte die Chance, das Problem intern zu lösen, bevor es außer Kontrolle geraten konnte.«

»Aber es ist außer Kontrolle geraten, oder etwa nicht?«, ließ Lindstrom nicht locker. »Als Jem Sylvia warnte, versuchte sie unterzutauchen, aber die Gesellschaft schleppte sie wieder zurück…«

Clarke wandte ihr den Rücken zu, deutete auf eine Karte der USA, die mit Reißnägeln an ein schwarzes Brett an der Wand geheftet war, und erläuterte mit erhobener Stimme: »Whitman verschwand am achtundzwanzigsten August in Washington D.C., Gig Marshall zwei Tage später in Baltimore. Violette sind bekannt dafür, dass sie unvorhergesehen Urlaub machen, deshalb dachten wir zunächst, sie würden schon wieder auftauchen.«

»Als der Sicherheitsdienst der Gesellschaft sie aufspürte«, fügte Lindstrom hinzu.

Der SAC atmete ein paarmal durch, um ruhiger zu werden, und fuhr fort: »Sondra Avebury und Evan Markham arbeiteten für uns in Quantico. Beide berichteten, dass Whitman und Marshall zu ihnen gekommen seien und ihnen gesagt haben, dass ein Mann, der eine schwarze Maske trug, sie umgebracht habe. Eine Woche später verschwand Avebury und einen Tag darauf Markham. Da wussten wir, dass unser Killer es auf Violette abgesehen hat.

Die NAGJK übergab uns den Fall, und wir zogen Russell Travers hinzu und baten ihn, alle bis dahin bekannten Opfer für eine Zeugenaussage herbeizurufen. Wegen der geografischen Häufung der ersten Opfer in der Region Washington dachten wir, der unbekannte Killer, das UNSUB, stammt möglicherweise aus Maryland oder Virginia«, erklärte Clark, wobei er das polizeitechnische Akronym für ›unbekanntes Subjekt‹ verwendete. »Die Gesellschaft unternahm Schritte, ihre Mitglieder in der Region zu schützen. Dann erwischte der Killer Travers am 10. September in New York und zwei Tage später Sylvia Perez in Miami. Beide wurden im Schlaf getötet. Deshalb konnten sie uns nichts Neues über den Unbekannten sagen. Jetzt ist er an der Westküste aufgetaucht, hat sich Laurie Gannon geholt, und wir haben nicht die geringste Ahnung, wer der Nächste sein könnte.« Er verstummte, um seine Worte wirken zu lassen, und beugte sich näher zu Lindstrom. »Vielleicht Sie?«

Dan sah ihren Puls am Hals pochen. »Es ist eine bewundernswerte Leistung von Ihnen, diese Geschichte aus den Zeitungen herauszuhalten.«

Clark schnaubte. »Bisher ja. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand einen Zusammenhang zwischen all den Vermissten herstellt – oder eine Leiche auftaucht. Deshalb müssen wir diesen Irren jetzt schnappen.«

»Na schön, in Ordnung. Was wollen Sie von mir?«

»Nun, wie Sie sehen, haben wir nicht einmal eine Leiche, die wir untersuchen könnten.« Der SAC deutete auf den Berg von Unterlagen, der auf dem Tisch ausgebreitet war. »Früher haben uns Mörder, die eine Maske trugen oder ihr Aussehen verändert haben, immer irgendetwas zurückgelassen, mit dem wir arbeiten konnten – winzige forensische Beweisstücke, ein Motiv, das in den Erinnerungen des Opfer verborgen war, oder die Handschrift, die der Mörder bei der Tat erkennen ließ. In diesem Fall hat der Killer nicht einmal ein Haar am Tatort zurückgelassen, und keines der Opfer hat eine Ahnung, wer er ist oder warum er tötet.«

»Wie kommen Sie darauf, ich könnte mehr über ihn herausfinden als die anderen Violetten?«

»Wir müssen mit dem Mädchen sprechen«, schlug Dan vor. »Mit Laurie. Sie scheint nicht in das Muster der anderen Opfer zu passen. Sie war ein Kind, kein volles Mitglied der Gesellschaft. Vielleicht kann sie uns etwas darüber sagen, nach welchen Kriterien sich der Killer unter den Violetten seine Opfer aussucht.«

Lindstrom seufzte. »Ich brauche ein Kontaktobjekt.«

Garcia kramte eine Beweistüte aus den auf dem Tisch liegenden Gegenständen und hielt sie hoch. Eine nackte Barbie-Puppe mit wirrem Nylonhaar lächelte durch das Plastik. »Würde das gehen?«

Trotz ihres sorgfältig aufgelegten Make-ups erschienen wieder dunkle Schatten der Erschöpfung unter Lindstroms Augen. »Ja. Das wird genügen.«

Sie machte keine Anstalten, die Puppe zu nehmen.

»Wir haben für Sie extra einen Raum vorbereitet.« Clark nickte in Richtung der Tür. »Detective, würden Sie …?«

»Sicher.« Mit der eingetüteten Barbie in der Hand durchquerte Garcia den Raum und zog die Tür auf. »Ms Lindstrom?«

Die Violette nahm ihr Gepäck an sich und stöckelte hinter Garcia durch die Tür. Dan machte Anstalten, ihnen zu folgen, doch Clark legte eine Hand auf seine Schulter.

»Warten Sie.« Er sah aus wie ein Vater, dessen Sohn durch das Schlussexamen gerasselt war. »Wo ist Ihre Waffe?«

Dan schob die Hände in seine Taschen. »Sie ist im Kofferraum meines Wagens.«

»Falsche Antwort, Special Agent Atwater.« Clarks Miene wurde weicher. »Hören Sie, ich weiß, was Sie durchmachen, aber Sie dürfen nicht zulassen, dass es Ihre Arbeit stört.

Vergessen Sie nicht, Sie sind nicht nur ihr Partner – Sie sind ihre letzte Verteidigungslinie.«

Dan schüttelte den Kopf. »Und ich dachte, das wird ein Schreibtischjob«, beklagte er sich mit einem leise glucksenden Lachen und verließ den Raum.

Kapitel 4Laurie

Als Dan in das Vernehmungszimmer trat, hatte Garcia Lindstrom bereits auf ihrem Stuhl festgegurtet. Garcia begann, die Elektrodenkabel eines in der Nähe stehenden Seelenscanners zu entwirren, doch die Violette erhob Einspruch.

»Das wird nicht nötig sein«, blaffte sie gereizt.

Garcia sah Dan Hilfe suchend an. »Sind Sie sicher?«, fragte Dan Lindstrom.

Sie fuhr sich mit einer Hand durch die Strähnen ihrer Perücke. »Ich hab gerade erst mein Haar gemacht.«

»Wir haben aber dann den Panikknopf nicht zur Verfügung.«

»Ich komme auch so zurecht. Und an Elektroschocks kann ich wirklich nichts Angenehmes finden.«

»Wie Sie wollen.« Mit einem Kopfnicken bedeutete er Garcia, auf Lindstroms Wunsch einzugehen, und seine Kollegin rollte die Elektrodenkabel wieder zu einem ordentlichen Bündel zusammen. Aus einer Ecke des Raums holte sie einen Camcorder mit Stativ und baute ihn vor Lindstrom auf, doch Dan sagte ihr, sie solle ihn wieder zurückstellen.

Garcia rührte sich nicht vom Fleck. »Die Vorschriften verlangen, dass alle Aussagen eines Mediums auf Video aufgenommen werden müssen.«

Dan wartete, dass Lindstrom ebenfalls Protest erheben würde, doch als sie es nicht tat, schob er sich näher zu Garcia und flüsterte mit gesenkter Stimme: »Wir sind im Begriff, ein kleines Mädchen aus der Dunkelheit des Todes zu reißen und sie nach brutalen Einzelheiten darüber zu befragen, wie sie umgebracht wurde. Sie wird schon verängstigt genug sein, auch ohne dass ihr eine Kamera vors Gesicht gehalten wird. Finden Sie nicht auch?«

Detective Garcia zügelte ihren Diensteifer und stellte die Kamera mitsamt Stativ wieder in die Ecke.

Lindstrom gab Dan mit einem knappen Nicken zu verstehen, dass sie bereit war.

Er stellte zwei Klappstühle vor der Violetten zurecht, während Garcia ihr die Beweismitteltüte reichte, in der Laurie Gannons Barbie-Puppe war. Lindstrom ließ ihre Finger über das Gesicht der Puppe gleiten, doch es schien ihr zu widerstreben, sie aus der Tüte zu holen.

»Soll ich sie für Sie herausnehmen?«, fragte Garcia.

»Nein. Das kann ich schon.« Während Lindstrom eine Litanei monotoner, sich wiederholender und unverständlicher Worte flüsterte, riss sie die Plastiktüte auf.

Mit einem beinahe spastisch anmutenden Zucken schloss sich ihre Hand um die Taille der Puppe, und auf ihrem Unterarm traten die angespannten Sehnen und geschwollenen Venen unter ihrer bleichen Haut hervor. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, als sich die Muskulatur ihrer Kiefer und Wangen zu Strängen verhärtete und neu formte.

Dan dachte an das kleine Mädchen mit den rotblonden Haaren und den fehlenden Milchzähnen und fühlte, wie sich in seinem Magen ein flaues Angstgefühl breit machte. Er stemmte sich gegen die Lehne des Stuhls und ihm wurde bewusst, dass er seit fast einer Minute den Atem anhielt.

Garcia warf ihm einen mitfühlenden Blick zu. »Das erste Mal?«

»Ja und nein.« Dan leckte sich nervös über die trockenen Lippen. »Mir kommt jedes Mal wie das erste Mal vor. Ich bin in ’ner Minute wieder zurück.«

Er ging aus dem Zimmer und zerrte den Knoten seiner Krawatte von seinem Adamsapfel. Die schalldichte Tür fiel hinter ihm ins Schloss und löschte das panische Kreischen eines Kindes aus, das seine Angst mit Lindstroms Stimme hinausschrie. Dan seufzte und trottete den Korridor zu einer Nische in der Wand hinab, in der ein Verkaufsautomat mit kühlen Getränken und einer mit Snacks und Süßigkeiten standen. Allmählich kehrte das Blut wieder in sein Gesicht zurück. Er benahm sich wie ein blutiger Anfänger.

Er rieb sich mit den Handballen die Augen, dann fischte er einen Dollar aus seiner Brieftasche und schob ihn in einen der Automaten. Der Automat spuckte zusammen mit dem Wechselgeld einen Schokoriegel aus. Er nahm beides aus dem Fach und kehrte, nachdem er vor der Tür eine Weile stehen geblieben war, um ein fröhliches Gesicht aufzusetzen, wieder in den Vernehmungsraum zurück.

»Ist ja gut, ist ja gut«, sagte Garcia in mütterlichem Ton, als Dan eintrat. »Wir tun dir nicht weh …«

Lindstrom hockte zusammengesunken auf ihrem Stuhl und spähte durch die langen, vor ihrem Gesicht herabhängenden Strähnen ihrer Perücke, als versuchte sie sich hinter dem Vorhang aus kupferroten Haaren zu verstecken. Sie kaute auf dem Daumen ihrer linken Hand herum und mit der rechten presste sie die Barbie-Puppe an ihre Brust.

Ohne den Augenkontakt mit ihr zu unterbrechen, stellte Garcia sich und Dan dem Mädchen vor. »Ich bin Yolena, Laurie, und das ist mein Freund Dan. Wir hoffen, dass du uns helfen kannst.«

Lindstrom sah mit großen, tränennassen Augen zu Dan auf.

Der Blick erinnerte ihn an die scheue Ängstlichkeit, mit der seine kleine Nichte Fremden begegnete, die sie zum ersten Mal sah. Was für eine Qual für ein Kind, so etwas durchmachen zu müssen, dachte er, lächelte jedoch beruhigend, als er sich auf den Stuhl neben Garcia sinken ließ. »Hallo, Laurie. Schön, dich endlich kennen zu lernen. Hier, ich hab dir was mitgebracht …« Er hielt den Riegel in die Höhe. »Magst du Schokolade?«

Sie nickte.

Dan riss die Verpackung auf und brach eine der mit Schokolade überzogenen Rippen für sie ab.

Sie schaute die Schokolade an, die er ihr anbot, machte jedoch keine Anstalten, sie zu nehmen. Ihr Blick huschte suchend durch den Raum. »Ist Mommy hier?«

Dan schluckte, um sich von dem Kloß zu befreien, der in seinem Hals steckte. »Nein, mein Schatz. Aber sie wollte, dass wir dir sagen, dass sie dich sehr lieb hat und immerzu an dich denkt.«

»Ohh.« Enttäuschung. Da ihre Mutter nicht da war, um sie in den Arm zu nehmen, nahm sie den Daumen aus dem Mund und deutete auf den Schokoriegel. »Kann ich den haben?«

»Klar.«

Sie nahm den Riegel, steckte ihn in den Mund und fing an, den Schokoladenüberzug von der allmählich durchweichenden Waffel abzuschlecken. Speichel tropfte auf ihre Finger, und die schmelzende Schokolade verschmierte ihren sorgfältig geschminkten Mund. Die Puppe hielt sie nach wie vor fest an ihr Herz gepresst.

»Laurie?« Garcia beugte sich vor. »Kannst du uns sagen, woran du dich als Letztes erinnerst? Das Letzte, das du gesehen hast, bevor ...«

»Bevor ich gestorben bin?« Sie starrte Detective Garcia mit dem harten, grimmigen Blick eines Violetten an, und Dan wurde erneut klar, dass diesem kleinen Mädchen das tröstliche Nichtwissen um ihre Sterblichkeit, das den meisten Kindern zu eigen ist, verwehrt worden war. Ihr war die Gegenwart des Todes an jedem Tag ihres kurzen Lebens bewusst gewesen.

»Ja, Laurie«, sagte Dan. »Kannst du uns sagen, wie du gestorben bist?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Warum nicht? Hast du geschlafen?«

»So ähnlich.« Sie biss ein Stück der sauber abgeleckten Waffel ab und kaute es. »Jemand war in mir drin.«

»Jemand war in dir? Jemand, der tot ist?« Garcia fischte einen Kugelschreiber und einen kleinen Notizblock aus ihrer Jackentasche. »Wer war es?«

»Jem. Er war einer meiner Lehrer.« Sie schob den Rest des Schokoriegels in den Mund und schleckte sich die Finger ab. »Er hat mir von dem Mann ohne Gesicht erzählt.«

Sie deutete stumm auf den Rest der Schokolade in Dans Hand. Er brach eine weitere Rippe für sie ab. »Hast du den Mann ohne Gesicht gesehen?«

Sie nickte und presste die Ellbogen fest an ihren Körper, als kauere sie sich in einem kalten Luftzug zusammen. »Er kam so, wie Jem gesagt hat, dass er kommen würde.«

»Was meinst du damit, wenn du sagst, er hatte kein Gesicht?«

»Es war nur … wie ein schwarzer Klumpen. Keine Augen oder Nase oder Mund oder sonst was.«

»Eine Maske«, stellte Garcia fest. »Derselbe Modus Operandi wie bei den anderen.«

»Wann hast du den Mann ohne Gesicht zum ersten Mal gesehen?«

»Als er raussprang und auf mich zurannte. Ich kriegte Angst und wollte weglaufen.«

»Und dann? Was passierte dann?«

»Jem kam rein. Er wollte mir helfen, aber es war zu spät.«

»Das ist alles, woran du dich erinnerst?«

»An das. Und dass ich tot war.« Ihr Blick schweifte ab und blieb irgendwo im Nichts hängen. Den in ihrer Hand schmelzenden Schokoladenriegel hatte sie völlig vergessen.

Dan berührte ihren Unterarm. »Laurie? Laurie? Warum hat dich deine Mutter aus der Schule genommen?«

»Weil Jem gesagt hat, dass er dort sein würde.« Ihre Stimme klang fern, leise und traurig. »Der Mann ohne Gesicht.«

»Jem hat dir über ihn erzählt, als du noch in der Schule warst? Hast du den Mann je dort in der Schule gesehen?«

Sie dachte über die Frage nach, und ihr Mund öffnete sich. Dann schüttelte sie den Kopf.

Garcia kritzelte etwas in ihr Notizbuch. »Kannst du uns sonst noch etwas über den Mann ohne Gesicht sagen? Weißt du, warum er dir wehtun wollte?«

»Mm-hm.«

»Was ist mit Jem?«, fragte Dan. »Wusste er, warum der Mann kam, um dich zu töten?«

»Er glaubt, der Mann hasst uns.«

»Uns?«

»Die Besonderen. Die mit den Toten reden. Deshalb hat Jem versucht, uns zu warnen. Er sagte, er würde mich so oft er kann besuchen, um sicher zu sein, dass ich okay bin.«

»Hat dich sonst noch jemand außer Jem in der Schule besucht?«

»Mich nicht. Aber ein paar andere haben sich bei meinen Freunden dort gemeldet.«

»Und die haben dasselbe gesagt? Über den Mann ohne Gesicht?«

Sie nickte.