Das Geheimnis der Anhalterin - Britta Bendixen - E-Book

Das Geheimnis der Anhalterin E-Book

Britta Bendixen

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  • Herausgeber: neobooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

In Flensburg wird die schrecklich zugerichtete Leiche eines verwitweten Pensionärs gefunden. Die Kommissare Andresen und Weichert ermitteln und kommen einer jungen Frau auf die Spur, die sich in der Nähe des Tatorts aufgehalten hat. Wie sich herausstellt, wurde sie als Anhalterin mitgenommen. Kristina Wilbert und ihre Freunde sind auf dem Weg zu einer Hochzeitsfeier in Berlin, als sie auf die junge Frau treffen und sich um sie kümmern. Kurz nach der Ankunft in der Hauptstadt ist Kristina plötzlich verschwunden …

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Seitenzahl: 321

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Das Geheimnis der Anhalterin

Kriminalroman

Britta Bendixen

Neobooks

Erstausgabe im April 2018

als Orange Cursor-eBook

Alle Rechte bei Verlag/Verleger

Copyright © 2018

Britta Bendixen

24983 Handewitt

Alter Kirchenweg 66

www.brittabendixen.de

Inhalt

Prolog

Kapitel 1 – Krise & Karriere

Kapitel 2 – Mord & Mordgelüste

Kapitel 3 – Zwischenstopp & Zeugen

Kapitel 4 – Pläne & Platzhirsche

Kapitel 5 – Suche & Standesamt

Kapitel 6 – Verführung & Verstimmung

Kapitel 7 – Faustschlag & Fragen

Kapitel 8 – Liebe & Lektüre

Kapitel 9 – Blut & Bettspiele

Kapitel 10 – Besprechung & Begegnung

Kapitel 11 – Fahndung & Fluchtpläne

Kapitel 12 – Gefühle & Gefahr

Kapitel 13 - Wut & Wahrheit

Kapitel 14 – Aufklärung und Abschied

Epilog

Prolog

02. Mai

Es ist merk­wür­dig, je­man­den zu be­ob­ach­ten, der in we­ni­gen Stun­den tot sein wird und nichts da­von weiß. Was wür­de er wohl tun, wenn er ah­nen könn­te, dass sein Le­ben bald vor­bei ist? Si­cher nicht Ra­sen­mä­hen und in der Er­de wüh­len.

Er wür­de sein Haus auf­räu­men, sei­ne An­ge­le­gen­hei­ten re­geln und sich von Na­he­ste­hen­den ver­ab­schie­den. Oder et­was tun, was er schon im­mer ma­chen woll­te. Fall­schirm­sprin­gen oder sei­nem Chef auf den Schreib­tisch pin­keln.

Wäh­rend ich durch die He­cke lu­ge wird mir klar, dass der Ge­dan­ke an sei­nen Tod in die­sem Au­gen­blick weit weg sein muss, denn um ihn her­um tobt das Le­ben.

Schmet­ter­lin­ge tan­zen in der Luft, die Vö­gel zwit­schern und um ihn her­um blüht und ge­deiht al­les. Selbst das Un­kraut, das er ge­ra­de aus den Blu­men­bee­ten zupft.

Die Son­ne wan­dert be­reits Rich­tung Wes­ten, als er müh­sam auf­steht – er hält sich das Kreuz, das vom vie­len Bücken und Ho­cken zu schmer­zen scheint – und sei­ne Gar­te­nu­ten­si­li­en zu­sam­men­räumt, ehe er sie in ei­nem klei­nen Schup­pen ver­staut.

Et­was Zeit hat er noch.

Ge­nug für ei­ne war­me Mahl­zeit und ein we­nig Zer­streu­ung vor dem Fern­se­her.

Doch wenn es dun­kel ist, kom­me ich zu­rück.

Dann ist es so­weit.

Dann wird er ster­ben.

Kapitel 1 – Krise & Karriere

Es blitzt und don­nert. An ih­rem Rücken spürt Kris­ti­na den wei­chen Tep­pich.

»End­lich, Kris­si!«, keucht Jan und dringt tiefer in sie ein. »End­lich!«

Eng um­schlun­gen be­we­gen sie sich, fin­den ih­ren Rhyth­mus. Sein Stöh­nen in ih­ren Ohren, sei­ne glat­te Haut auf ih­rem er­hitz­ten Kör­per … Es ist so schön, doch sie kann es nicht ge­nie­ßen, weil sie spürt, dass ein Un­heil naht, ei­ne furcht­ba­re Ka­ta­stro­phe.

Wie­der don­nert es. Dann wird es mit ei­nem Mal so hell, dass sie glaubt, ein Blitz sei ein­ge­schla­gen. Das grel­le Licht blen­det sie und ihr Herz be­ginnt so hart ge­gen ih­ren Brust­korb zu häm­mern, als su­che es pa­nisch einen Weg hin­aus, raus aus ih­rem Kör­per.

Sie sieht zur Tür.

Dort steht Ste­phan, die Hand am Licht­schal­ter, und starrt sie an. Sei­ne Au­gen blit­zen vor Wut und sein Ge­sicht ver­zerrt sich zu ei­ner gräss­li­chen Frat­ze …

Kris­ti­na Wil­bert keuch­te und setz­te sich mit auf­ge­ris­se­nen Au­gen ruck­ar­tig im Bett auf. Ihr Puls ras­te.

Schon wie­der die­ser Traum! Wür­de er sie bis an ihr Le­bens­en­de ver­fol­gen?

Schwer at­mend ver­grub sie das Ge­sicht in den Hän­den, bis sich ihr Herz­schlag wie­der nor­ma­li­siert hat­te. Dann fuhr sie sich durch das kur­ze dunkle Haar. Im Na­cken war es feucht, ihr T-Shirt kleb­te am Rücken. Sie kniff die Au­gen zu­sam­men und drück­te ih­re Zei­ge­fin­ger ge­gen die Li­der, bis bun­te Punk­te und Mus­ter auf­tauch­ten wie sur­rea­le Licht­re­fle­xe.

Sie ließ die Hän­de sin­ken, blin­zel­te und war­te­te ab, bis sie im Däm­mer­licht die ver­trau­ten Kon­tu­ren er­ken­nen konn­te; das Fern­seh­ge­rät auf dem klei­nen Re­gal, die Grün­pflan­ze in der Ecke vor dem Fens­ter und die Um­ris­se des Klei­der­schranks.

Mü­de schau­te sie zum We­cker. Bis er klin­gel­te, dau­er­te es noch ei­ne hal­be Stun­de. Ob­wohl es noch so früh war, drang be­reits die Mor­gen­däm­me­rung an den Sei­ten des Ver­dun­ke­lungs­rol­los durch.

Es schi­en wie­der ein son­ni­ger Tag zu wer­den. Für Mai war das Wet­ter di­rekt som­mer­lich ge­we­sen in der letz­ten Wo­che und laut dem Wet­ter­be­richt soll­te es zu­min­dest noch bis zum nächs­ten Tag so blei­ben. Vi­el­leicht so­gar län­ger. Doch in die­sem Jahr ge­lang es dem schö­nen Früh­lings­wet­ter nicht wie sonst, Kris­tinas Lau­ne zu he­ben.

Sie hör­te ein lei­ses Schnar­chen ne­ben sich, ver­mischt mit kur­z­en Grunz­tö­nen, und wand­te den Kopf. Ste­phan lag auf dem Rücken, der nack­te Ober­kör­per war un­be­deckt, das Ge­sicht völ­lig ent­spannt. Er sah so fried­lich und un­schul­dig aus. Kris­ti­na muss­te bei dem An­blick lä­cheln. In Mo­men­ten wie die­sen war er ihr fast so nah wie frü­her.

Sie seufz­te lei­se, leg­te sich wie­der hin und starr­te an die De­cke. Ge­wiss wür­de sie nicht mehr ein­schla­fen kön­nen. Statt sich in den nächs­ten drei­ßig Mi­nu­ten un­ru­hig her­um­zu­wäl­zen, konn­te sie ge­nau­so gut auf­ste­hen.

Vor­sich­tig, um Ste­phan nicht zu we­cken, schlug sie die De­cke zur Sei­te, setz­te sich auf und ver­ließ lei­se den Raum.

Kurz dar­auf durch­zog an­re­gen­der Kaf­fee­ge­ruch die Kü­che. Kris­ti­na saß mit ei­nem damp­fen­den Be­cher am Ess­tisch und starr­te vor sich hin.

Die Mor­gen­son­ne tauch­te den Raum in war­mes Licht. Klit­ze­klei­ne Staub­par­ti­kel tanz­ten in den Son­nen­strah­len. Auf der Ei­che vor dem Fens­ter zwit­scher­ten ein paar Vö­gel ih­re mor­gend­li­che Ou­ver­tü­re, von Fer­ne war ein ver­gnüg­tes La­chen zu hö­ren und das über­mü­ti­ge Bel­len ei­nes Hun­des.

Auf dem Tisch lag der Brief, den Jan ihr im März ge­schickt hat­te. Sie er­in­ner­te sich, dass noch tiefer Schnee ge­le­gen hat­te. Ein har­ter und lan­ger Win­ter hat­te Nord­deutsch­land fest im Griff ge­habt. Sie über­flog das vor ihr lie­gen­de Schrei­ben noch ein­mal, ob­wohl sie es mitt­ler­wei­le fast aus­wen­dig konn­te.

Es sei ihm und Yvon­ne un­heim­lich wich­tig, dass sie und Ste­phan zu ih­rer Hoch­zeit kämen, schrieb Jan. Er wol­le sich un­be­dingt noch bei Ste­phan ent­schul­di­gen und hof­fe, dass sie wie­der zu­rück­fin­den wür­den zu der Freund­schaft, die sie einst ver­bun­den hat.

Das sagt sich al­les so ein­fach, dach­te Kris­ti­na be­drückt und nipp­te an ih­rem Kaf­fee, doch ge­nau das ist es lei­der nicht.

Zu dem Zeit­punkt, als Jans Brief an­ge­kom­men war, schi­en es noch ei­ne Chan­ce für Ste­phan und sie zu ge­ben. Ihr Ver­hält­nis zu­ein­an­der war bei­na­he wie­der nor­mal ge­we­sen.

Sie hat­te schon er­leich­tert auf­ge­at­met. Zu früh, wie sich her­aus­stell­te. Der Brief riss die fast ver­heil­te Wun­de wie­der auf und in­zwi­schen heg­te Kris­ti­na große Zwei­fel, dass es zwi­schen Ste­phan und ihr je wie­der so wer­den könn­te, wie es frü­her ge­we­sen war.

Ih­re Bit­te, Jans Ein­la­dung an­zu­neh­men und nach Ber­lin zu fah­ren, hat­te die Sa­che nicht ge­ra­de bes­ser ge­macht. Ste­phan ver­spür­te nicht das ge­rings­te Be­dürf­nis, zur Hoch­zeit zu fah­ren. Er war noch im­mer ver­letzt und woll­te Jan kei­nes­falls wie­der­se­hen.

Kurz­zei­tig hat­te Kris­ti­na dann auch dar­über nach­ge­dacht, ab­zu­sa­gen und die Rei­se nicht an­zu­tre­ten. Doch Ste­phans stän­di­ge vor­wurfs­vol­le Mie­ne und sei­ne schlech­te Lau­ne rie­fen ir­gend­wann Trotz in ihr her­vor.

Sie war es satt, zu Kreu­ze zu krie­chen.

Au­ßer­dem woll­te sie nach Ber­lin. Sie freu­te sich auf Jans un­be­küm­mer­tes Grin­sen, auf Yvon­nes Herz­lich­keit, auf Ma­ri­us‹ ru­hi­ge, freund­li­che Art, und vor al­lem auf Sven­ja, der sie mehr ver­trau­te als sonst je­man­dem.

Am ver­gan­ge­nen Abend hat­ten Ste­phan und sie er­neut dis­ku­tiert – nein, viel­mehr ge­strit­ten – und schließ­lich hat­te sie wü­tend zu ihm ge­sagt, wenn er nicht mit­wol­le, kön­ne er ja zu Hau­se blei­ben. Sie wür­de auf je­den Fall fah­ren. En­de der De­bat­te.

Und das Er­geb­nis? Wie­der ein­mal wa­ren sie schla­fen ge­gan­gen, oh­ne sich wie frü­her vor­her zu ver­söh­nen. Je­der fühl­te sich un­ver­stan­den. Sie la­gen zwar im sel­ben Bett, doch zwi­schen ih­nen war ei­ne Mau­er, so hoch und un­über­wind­lich wie ei­ne mit­tel­al­ter­li­che Fes­tung. Kein Wun­der, dass der Traum sie er­neut ge­quält hat­te.

Kris­ti­na leer­te ih­ren Be­cher und ver­tief­te sich in die Ein­la­dung zur Hoch­zeit. Noch war of­fen, ob sie al­lein fah­ren oder ob Ste­phan sie be­glei­ten wür­de.

In­zwi­schen war sie nicht ein­mal mehr si­cher, ob ihr über­haupt dar­an lag, dass er mit­kam.

»Mor­gen.« Ste­phan be­trat schlur­fend die Kü­che, in kur­z­en grau­en Shorts und dem aus­ge­wa­sche­nen gel­ben T-Shirt, das ihn im­mer so blass und krank aus­se­hen ließ.

Wäh­rend sie Jans Brief zu­sam­men­fal­te­te, mus­ter­te sie ihn. Dunkle Schat­ten la­gen un­ter sei­nen Au­gen. Er hat­te of­fen­bar nicht be­son­ders gut ge­schla­fen. Recht so. Sie hat­te schließ­lich auch kei­ne an­ge­neh­me Nacht ge­habt.

Ste­phan goss sich eben­falls einen Kaf­fee ein, dann setz­te er sich ihr ge­gen­über an den Tisch. Sein Blick fiel auf die Ein­la­dung und den Brief. Schwei­gend sa­hen sie sich an. Er nipp­te an sei­nem Kaf­fee und räus­per­te sich.

»Ich ha­be dar­über nach­ge­dacht. Wenn du un­be­dingt hin­fah­ren möch­test, dann kom­me ich eben mit.«

Sie wun­der­te sich über die Sin­nes­wand­lung, zuck­te aber nur mit den Ach­seln. »Wie du willst.«

Stil­le. Ei­ne ein­sa­me Flie­ge schwirr­te um­her, an­sons­ten war nur das Geräusch der Kü­chen­uhr zu hö­ren und das Zwit­schern der Vö­gel im Vor­gar­ten.

»Es ist dir egal, oder?«

Er be­müh­te sich sicht­lich, sei­ne Er­schüt­te­rung über die­se of­fen­sicht­li­che Tat­sa­che vor ihr zu ver­ber­gen, doch sie kann­te ihn zu gut, als dass es ihr ent­gan­gen wä­re. Sie hob das Kinn und sah ihn ge­ra­de­wegs an. »Ganz ehr­lich? Ja. Es ist mir gleich. Denn so, wie es im Mo­ment zwi­schen uns bei­den läuft, wä­re ei­ne Pau­se viel­leicht so­gar ganz gut.«

»Das könn­te dir so pas­sen!« Ste­phan stand so ab­rupt auf, dass die Stuhl­bei­ne auf dem Flie­sen­bo­den einen miss­tö­nen­den Laut er­zeug­ten. Er lehn­te sich an die Ar­beits­plat­te, fun­kel­te sie wü­tend an und ver­schränk­te die Ar­me. »Da­mit du dich un­ge­stört mit Jan auf ir­gend­ei­nem Tep­pich wäl­zen kannst. Oder mit ei­nem an­de­ren. Ver­giss es!«

Kris­tinas Hän­de, die sie um den lee­ren Kaf­fee­be­cher ge­legt hat­ten, ver­krampf­ten sich, so dass ih­re Fin­ger­knö­chel weiß her­vor­tra­ten.

»Zum ein­hun­derts­ten Mal: Ja, ich ha­be einen Feh­ler ge­macht. Und ich ha­be da­für be­zahlt, ver­dammt noch mal! Seit Mo­na­ten lässt du mich am aus­ge­streck­ten Arm ver­hun­gern, egal wie oft ich dich um Ver­zei­hung ge­be­ten ha­be.«

Er schwieg. Trau­rig schau­te sie ihn an. »Ich kann nicht mehr, Ste­phan. So geht es nicht wei­ter. Ent­we­der du kommst lang­sam dar­über hin­weg und gibst un­se­rer Ehe noch ei­ne ernst­haf­te Chan­ce, oder wir müs­sen den Tat­sa­chen ins Au­ge se­hen.«

Sei­ne Au­gen wur­den schmal. »Re­dest du von Schei­dung?«

Sie lehn­te sich auf dem Korb­stuhl zu­rück und nun war sie es, die die Ar­me ver­schränk­te. »Zu­min­dest von ei­ner räum­li­chen Tren­nung, ja. Denn wenn es so zwi­schen uns wei­ter­geht, macht es uns bei­de frü­her oder spä­ter ka­putt.«

Ste­phan schnaub­te und riss em­pört die Ar­me hoch. »Ent­schul­di­ge viel­mals, dass ich nicht gleich wie­der zur Ta­ges­ord­nung über­ge­hen kann, wenn du dich nackt mit dei­nem ›al­ten Freund‹ auf ei­nem Tep­pich her­um­wälzt wie ei­ne bil­li­ge -«

»Das reicht!« Kris­ti­na stand auf, so schnell, dass ihr Stuhl um ein Haar um­ge­fal­len wä­re. In schar­fem Ton fuhr sie fort. »Ich ha­be kei­ne Kraft mehr für die­se mü­ßi­gen Strei­te­rei­en. Und jetzt ent­schul­di­ge mich, ich muss die Kin­der we­cken. Wenn sie von dem Lärm noch nicht auf­ge­wacht sind.« Oh­ne ein wei­te­res Wort rausch­te sie an ihm vor­bei und ver­ließ den Raum.

Nach­dem Mar­co und Leo­nie ihr ver­schla­fen ver­si­chert hat­ten, sie wür­den gleich auf­ste­hen, ver­drück­te sich Kris­ti­na ins Bad. Dort starr­te sie in den Spie­gel.

Sie hat­te al­les ka­putt ge­macht. Hat­te sich von Jan ein­lul­len las­sen wie ei­ne fünf­zehn­jäh­ri­ge graue Maus, die um Auf­merk­sam­keit buhl­te. Woll­te ein­mal im Le­ben nicht ver­nünf­tig sein. Und was hat­te es ihr ge­bracht? Im­mer wie­der­keh­ren­de Alp­träu­me von dem furcht­ba­ren Mo­ment, in dem ihr Mann sie in fla­gran­ti er­wi­scht hat­te, und ei­ne Ehe, die auf der Kip­pe stand, so sehr, dass sie fast Bo­den­kon­takt hat­te.

Tief in ih­rem In­ne­ren ahn­te Kris­ti­na, dass das Wo­che­n­en­de bei Jan und Yvon­ne ei­ne Ent­schei­dung brin­gen wür­de. Ent­we­der wä­re da­nach al­les vor­bei, oder sie und Ste­phan wür­den wie­der zu­ein­an­der fin­den.

Im Au­gen­blick war sie ge­neigt, von Ers­te­rem aus­zu­ge­hen.

***

Wäh­rend Sven­ja Schil­ler Kar­tof­feln schäl­te, warf sie einen kur­z­en Blick auf die Wand­uhr. Es war vier­tel vor eins. Ju­li­an und Ja­na wür­den erst in ei­ner hal­b­en Stun­de hung­rig auf der Mat­te ste­hen.

Sven­ja sah aus dem Kü­chen­fens­ter hin­aus in den Vor­gar­ten. Vom Kirsch­baum wa­ren die schö­nen ro­sa Blü­ten ab­ge­fal­len und la­gen wie ei­ne flau­schi­ge De­cke um den di­cken Baum­stamm her­um.

Die hübsch ge­streif­te Nach­bars­kat­ze stapf­te vor­sich­tig dar­in her­um, und wenn der Wind die Blü­ten be­weg­te, jag­te sie wie ein Der­wisch hin­ter ih­nen her. Es war ein nied­li­cher, idyl­li­scher An­blick, der Sven­ja un­will­kür­lich lä­cheln ließ.

Als sie zwei Pa­ckun­gen mit Fisch­stäb­chen aus dem Ge­frier­schrank her­vor­kram­te, klin­gel­te das Te­le­fon. Die kal­ten Pa­ckun­gen in der Hand schlug sie die Schrank­tür zu und hetz­te ins Wohn­zim­mer.

Ein Blick auf das Dis­play zeig­te ihr, dass es Ma­ri­us war, der aus der Kli­nik an­rief.

»Hal­lo Lieb­ling,« mel­de­te sie sich er­freut.

»Hi!« Er klang ein we­nig ab­ge­hetzt. »Ich ha­be nicht viel Zeit, weil ich in den OP muss. Hol dir doch bit­te schnell einen Zet­tel und einen Stift.«

In der Kü­che leg­te sie die Fisch­stäb­chen zur Sei­te, öff­ne­te ei­ne Kü­chen­schub­la­de und zog einen Ku­li und einen No­tiz­block her­aus.

»Ok, ich bin be­reit. Worum geht es?«

»Mein Freund Rü­di­ger hat mich an­ge­ru­fen, du weißt schon, der An­walt. Er hat von ei­ner Kol­le­gin ge­hört, de­ren Part­ner aus ge­sund­heit­li­chen Grün­den kurz­fris­tig auf­hö­ren muss­te. Sie sucht da­her drin­gend je­man­den, der bei ihr ein­steigt. Ich dach­te, das wä­re viel­leicht das Rich­ti­ge für dich.«

»Ja, das klingt groß­ar­tig«, rief Sven­ja. Sie hör­te selbst, wie eu­pho­risch ih­re Stim­me klang. Auf ei­ne sol­che Chan­ce war­te­te sie schon viel zu lan­ge.

»Ich ge­be dir mal ih­re Num­mer. Sie heißt Eva He­cken­burg und prak­ti­ziert in der In­nen­stadt. Ruf sie gleich an«, riet Ma­ri­us und dik­tier­te Sven­ja die Te­le­fon­num­mer. »Bis heu­te Abend, mein Schatz. Ich wün­sche dir viel Glück!«

Sie hat­te kaum das Ge­spräch be­en­det, als sie auch schon die Num­mer von Rechts­an­wäl­tin He­cken­burg wähl­te. Der An­ruf­be­ant­wor­ter teil­te ihr freund­lich mit, dass sie au­ßer­halb der Ge­schäfts­zei­ten an­rief. Das Bü­ro sei ab fünf­zehn Uhr wie­der be­setzt. Na, dann muss­te sie es eben in zwei Stun­den noch ein­mal ver­su­chen.

Die Zeit bis da­hin ver­ging rasch. Ja­na und Ju­li­an ka­men nach Hau­se, feu­er­ten Ja­cken und Ta­schen in die nächst­bes­te Ecke und ver­si­cher­ten, sie sei­en kurz vorm Ver­hun­gern.

Sven­ja ver­don­ner­te Ja­na zum Tisch­de­cken und Ju­li­an da­zu, sei­ne Sa­chen und die sei­ner Schwes­ter or­dent­lich weg­zuräu­men.

Die Kin­der ge­horch­ten, wenn auch oh­ne große Be­geis­te­rung Die­se Auf­ga­ben ge­hör­ten ein­fach zur täg­li­chen Rou­ti­ne.

Als sie zu dritt am Mit­tags­tisch sa­ßen, be­rich­te­te Ja­na vom Kin­der­gar­ten. Sie hat­te sich mit ih­rer bes­ten Freun­din ge­strit­ten, »ganz doll, Ma­mi!«, aber in­zwi­schen wie­der ver­tra­gen.

Ju­li­an hat­te ei­ne Drei in Ma­the be­kom­men und war to­tal sau­er dar­über.

»Dann musst du eben das nächs­te Mal gründ­li­cher ler­nen«, riet Sven­ja. »Nicht nur am letz­ten Tag vor der Ar­beit. Fang ein­fach et­was frü­her an.«

Ju­li­an schmoll­te und ver­ar­bei­te­te sei­ne Fisch­stäb­chen zu Ge­schnet­zel­tem.

Nach dem Es­sen ver­schwan­den die Kin­der in ih­ren Zim­mern und Sven­ja räum­te die Kü­che auf.

An­schlie­ßend setz­te sie sich mit ei­nem Buch auf die Ter­ras­se, um ein paar Son­nen­strah­len zu er­ha­schen. Al­ler­dings konn­te sie sich nicht so recht auf den Thril­ler kon­zen­trie­ren, weil sie im­mer wie­der zur Uhr sah.

Als die­se end­lich drei Uhr an­zeig­te, leg­te Sven­ja ihr Buch zur Sei­te, at­me­te tief durch und griff zum Te­le­fon. Vor Auf­re­gung ver­tipp­te sie sich zwei­mal.

Dann klin­gel­te es am an­de­ren En­de. Sven­ja räus­per­te sich ner­vös.

Die Se­kre­tä­rin stell­te sie zu Frau He­cken­burg durch, die sym­pa­thisch klang und Sven­ja ein­lud, noch an die­sem Nach­mit­tag vor­bei­zu­kom­men.

Als sie auf­leg­te, brei­te­te sich vor­sich­ti­ger Op­ti­mis­mus in Sven­ja aus. End­lich ih­ren Be­ruf als An­wäl­tin aus­üben zu kön­nen war das Ein­zi­ge, was sie sich noch wünsch­te.

Dann wä­re ihr Le­ben rund­um per­fekt.

Ma­ri­us, ihr al­ter Freund aus Stu­den­ten­ta­gen, hat­te ihr nach dem Tod ih­res Man­nes an­ge­bo­ten, sie zu un­ter­stüt­zen, wenn sie Ham­burg, ih­rem bis­he­ri­gen Wohn­ort, den Rücken keh­ren und mit Ja­na und Ju­li­an nach Flens­burg zie­hen wol­le. Er­leich­tert und vol­ler Dank­bar­keit war sie auf sei­nen Vor­schlag ein­ge­gan­gen.

Flens­burg ge­fiel ihr; die Nä­he zur Ost­see, die ge­müt­li­che In­nen­stadt und die freund­li­chen Men­schen hat­ten es ihr leicht­ge­macht, sich ein­zu­le­ben.

Der wich­tigs­te Grund, wes­halb der Um­zug nach Flens­burg ihr nicht schwer­ge­fal­len war, hieß je­doch Ma­ri­us.

Er war ih­re Ju­gend­lie­be ge­we­sen und das Wie­der­se­hen mit ihm im letz­ten Som­mer hat­te die Ge­füh­le, die sie vor vie­len Jah­ren für ihn emp­fun­den hat­te, vor­sich­tig wie­der­auf­le­ben las­sen. Ihm schi­en es eben­so zu ge­hen und in den letz­ten Mo­na­ten wa­ren sie sich ganz be­hut­sam nä­her­ge­kom­men und hat­ten noch ein­mal zu­ein­an­der ge­fun­den.

In­zwi­schen wohn­ten sie so­gar zu­sam­men. Sven­ja seufz­te und sah sich zu­frie­den um. Der Gar­ten war nicht groß, aber ru­hig und schön an­ge­legt. Das Haus hat­te hel­le, freund­li­che Räu­me, bot aus­rei­chend Platz und lag ver­kehrs­güns­tig. Ganz in der Nä­he be­fand sich der Twed­ter Plack, ein klei­nes, ge­müt­li­ches Stadt­teil­zen­trum mit vie­len Ein­kaufs­mög­lich­kei­ten.

Auch Sven­jas Kin­der fühl­ten sich mitt­ler­wei­le wohl in ih­rem neu­en Zu­hau­se. Es war für die bei­den nicht leicht ge­we­sen, zu rea­li­sie­ren, dass ihr Pa­pa nie mehr wie­der­kom­men wür­de. Be­son­ders für Ju­li­an war es sehr schwer ge­we­sen.

An­fangs war er dem neu­en Mann im Le­ben sei­ner Mut­ter mit Miss­trau­en be­geg­net, war frech und be­lei­di­gend ge­we­sen, doch in­zwi­schen ver­stan­den sich die zwei er­staun­lich gut – dank Ma­ri­us‹ Ge­duld und Ein­füh­lungs­ver­mö­gen. Ju­li­an ver­stand sich so­gar mit Char­lot­te, der Toch­ter von Ma­ri­us, die je­des zwei­te Wo­che­n­en­de bei ih­rem Va­ter ver­brach­te. Ihr hat­te Ju­li­an das größ­te Kom­pli­ment ge­macht, das er ei­nem Mäd­chen ma­chen konn­te:

»Wenn sie nicht so lan­ge Haa­re hät­te, könn­te sie fast ein Jun­ge sein.«

Sven­ja stand auf. Es wur­de Zeit, sich auf das Be­wer­bungs­ge­spräch mit Rechts­an­wäl­tin He­cken­burg vor­zu­be­rei­ten.

»Ju­li­an, ich muss gleich weg. Ist es okay, wenn du mit Ja­na für ein oder zwei Stun­den al­lein bleibst?«

Sven­ja trat ne­ben ih­ren Sohn, der am Schreib­tisch in sei­nem Zim­mer saß und Haus­auf­ga­ben mach­te.

»Klar. Geht in Ord­nung«, ant­wor­te­te er hoch­bli­ckend. »Wo willst du denn hin?«

Sven­ja schob sich ei­ne blon­de Haar­sträh­ne hin­ters Ohr und lä­chel­te zag­haft. »Ich ha­be gleich ein Vor­stel­lungs­ge­spräch und bin et­was auf­ge­regt«, ge­stand sie.

Ju­li­an grins­te. »Das ist die Un­ter­trei­bung des Jah­res. Oder ist es Ab­sicht, dass du zwei ver­schie­de­ne Ohr­rin­ge trägst?«

Sven­jas Hän­de fuh­ren an ih­re Ohren. »Ach herr­je! Dan­ke, mein Schatz.« Sie zog bei­de Ste­cker her­aus und drück­te ih­rem Äl­tes­ten einen Kuss auf die Stirn. »Wünsch mir Glück!«

»Viel Glück, Ma­ma. Darf ich fern­se­hen, wenn ich fer­tig bin?«

»Es wä­re mir lie­ber, wenn du noch ein biss­chen an die fri­sche Luft gehst«, sag­te Sven­ja. »Es ist so schö­nes Wet­ter. Du kannst mit Ja­na auf den Spiel­platz ge­hen. Aber ver­giss nicht dei­nen Haus­schlüs­sel.«

Ju­li­an seufz­te. »Na gut. Bis spä­ter.«

We­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter mach­te Sven­ja sich in ih­rem klei­nen Nissan auf den Weg in die In­nen­stadt, am Kraft­fahrt­bun­des­amt vor­bei, die Mür­wi­ker Stra­ße hin­un­ter.

Bald er­reicht sie Son­wik. Von hier hat­te man einen groß­ar­ti­gen Blick auf die Alt­stadt und den Ha­fen mit dem ru­hi­gen, glit­zern­den Was­ser. Die Aus­sicht ent­zück­te Sven­ja be­son­ders bei so schö­nem Wet­ter je­des Mal aufs Neue.

Das Bü­ro der Kanz­lei He­cken­burg & Schä­fer lag in der zwei­ten Eta­ge ei­nes ele­gan­ten Alt­baus in der Rat­haus­stra­ße, dicht an der Fuß­gän­ger­zo­ne. Vom Park­haus in der Holm­pas­sa­ge brauch­te Sven­ja nur we­ni­ge Mi­nu­ten.

Mit hef­ti­gem Herz­klop­fen be­trat sie die Kanz­lei.

Ei­ne Se­kre­tä­rin mit kur­z­en ro­ten Haa­ren und blas­sen Som­mer­spros­sen be­grüß­te Sven­ja freund­lich und bat sie, im War­te­raum Platz zu neh­men.

Sie setz­te sich und sah sich ner­vös um.

Das War­te­zim­mer war in be­ru­hi­gen­den Grün­tö­nen ge­hal­ten und hübsch ein­ge­rich­tet: An den bei­den Längs­sei­ten stan­den je­weils drei Korb­stüh­le, da­zwi­schen be­fand sich ein pas­sen­der Tisch mit Zeit­schrif­ten.

In ei­ner Ecke gab es einen Spiel­tisch mit zwei Kin­der­stüh­len und dar­un­ter ei­ne Kis­te mit Le­go­stei­nen und ei­ne mit Mal­sa­chen. Der An­blick ließ Sven­ja an Ju­li­an den­ken, der mit sei­ner Schwes­ter ganz al­lein zu Hau­se war. Mit elf Jah­ren war er zwar alt ge­nug, um mal für ein oder zwei Stun­den un­be­auf­sich­tigt zu sein und auf Ja­na auf­zu­pas­sen, den­noch hat­te Sven­ja im­mer ein un­gu­tes Ge­fühl da­bei.

Um sich ab­zu­len­ken, stand sie auf und trat ans Fens­ter. Von hier aus konn­te sie auf die leicht ab­schüs­si­ge Rat­haus­stra­ße hin­ab­se­hen. Au­tos, Bus­se und Mo­tor­rä­der rum­pel­ten laut­stark über das Kopf­stein­pflas­ter, auf den Geh­we­gen schlen­der­ten oder eil­ten Passan­ten.

Sven­ja ging zu­rück zu ih­rem Stuhl und sah noch ein­mal ih­re Un­ter­la­gen durch. Ein mut­lo­ses Seuf­zen ent­rang sich ih­rer Brust. Viel war es nicht, was sie zu vor­zu­wei­sen hat­te. Sie mach­te sich nichts vor; dass Eva He­cken­burg sie ein­stel­len wür­de, war ziem­lich un­wahr­schein­lich.

Es dau­er­te knapp zehn Mi­nu­ten, bis die Se­kre­tä­rin in der Tür zum War­te­zim­mer auf­tauch­te und Sven­ja bat, ihr zu fol­gen. Als sie in Frau He­cken­burgs Bü­ro tra­ten, stand die An­wäl­tin von ih­rem Platz hin­ter dem mit Ak­ten­ber­gen be­la­de­nen Schreib­tisch auf und kam Sven­ja ent­ge­gen.

»Frau Schil­ler, wie schön, dass Sie gleich Zeit hat­ten«, sag­te sie lie­bens­wür­dig und reich­te ihr ei­ne mit meh­re­ren großen, gol­de­nen Rin­gen ge­schmück­te Hand. »Set­zen Sie sich. Möch­ten Sie einen Kaf­fee?«

Sven­ja nahm auf ei­nem der bei­den Stüh­le vor dem Schreib­tisch Platz. »Ja, sehr gern. Dan­ke.«

Frau He­cken­burg nick­te ih­rer Mit­ar­bei­te­rin zu.

Nach­dem die­se die Tür wie­der ge­schlos­sen hat­te, warf die An­wäl­tin einen Blick auf die Be­wer­bungs­map­pe in Sven­jas Hand: »Darf ich?«

»Na­tür­lich.«

Die Map­pe wan­der­te über den Schreib­tisch und Eva He­cken­burg blät­ter­te durch die we­ni­gen Sei­ten.

Sven­ja mus­ter­te sie wäh­rend­des­sen. Die An­wäl­tin war ver­mut­lich Mit­te Vier­zig, al­so et­wa zehn Jah­re äl­ter als sie selbst. Sie hat­te kur­z­es, stu­fig ge­schnit­te­nes hell­blon­des Haar und trug da­zu große, run­de Schild­platt-Ohr­rin­ge.

Ih­re ro­te, eckig ge­form­te Bril­le kon­tras­tier­te her­vor­ra­gend mit dem leicht run­den Ge­sicht. Sven­ja hat­te den Ein­druck, dass die An­wäl­tin ei­ne Per­son war, die ge­nau wuss­te, was sie woll­te. Und wie sie es be­kam.

Eva He­cken­burg sah auf und un­ter­brach da­mit Sven­jas Über­le­gun­gen.

»Sie ha­ben nie prak­ti­ziert?«, ver­ge­wis­ser­te sie sich.

Sven­ja schüt­tel­te ver­le­gen den Kopf. »Lei­der nein. Di­rekt nach dem Stu­di­um wur­de ich schwan­ger und ha­be ge­hei­ra­tet. In den letz­ten Jah­ren ha­be ich mich voll auf mei­ne Fa­mi­lie kon­zen­triert. Doch jetzt sind die Kin­der aus dem Gröbs­ten her­aus und ich wür­de wirk­lich gern end­lich als An­wäl­tin ar­bei­ten.«

Eva He­cken­burg nick­te lang­sam, den Blick nach wie vor auf die Un­ter­la­gen in ih­ren Hän­den ge­rich­tet. »Es hat sich ei­ni­ges ver­än­dert in den letz­ten Jah­ren«, sag­te sie ernst. »Wir be­ar­bei­ten sehr vie­le Fa­mi­li­en­rechtssa­chen und ge­ra­de im Hin­blick auf den Un­ter­halt gibt es ei­ne Men­ge Neue­run­gen. Das gilt auch für das Kos­ten­recht. Die BRAGO wur­de vom RVG ab­ge­löst. Sind Sie ei­ni­ger­ma­ßen auf dem Lau­fen­den?«

Na­tür­lich kann­te Sven­ja die Kurz­for­men für die Bun­des­rechts­an­walts­ge­büh­ren­ord­nung und das Rechts­an­walts­ver­gü­tungs­ge­setz, doch mit den ent­spre­chen­den neu­en Pa­ra­gra­phen hat­te sie noch nie ge­ar­bei­tet. Wie auch?

»Ich ha­be dar­über ge­le­sen und mich in­for­miert, ja. Prak­tisch an­wen­den konn­te ich die­se Kennt­nis­se lei­der noch nicht. Doch ich bin gern be­reit, mich ein­zu­ar­bei­ten und das Ver­säum­te mög­lichst rasch nach­zu­ho­len. Ich könn­te Se­mi­na­re und Fort­bil­dun­gen be­su­chen oder -«

Die Tür öff­ne­te sich und die Se­kre­tä­rin stell­te ein Ta­blett mit zwei Tas­sen Kaf­fee, ei­nem Sah­ne­känn­chen und ei­nem Zu­cker­topf auf den Schreib­tisch. Dann lä­chel­te sie Sven­ja kurz zu und ging wie­der hin­aus.

Eva He­cken­burg goss et­was Sah­ne in ih­re Tas­se.

»Was das The­ma Se­mi­na­re an­geht … Ich bräuch­te recht bald einen Er­satz für mei­nen Part­ner«, gab sie zu be­den­ken und lehn­te sich mit der Tas­se in bei­den Hän­den zu­rück.

»Spä­tes­tens zum ers­ten Ju­li. Für einen An­walt al­lein ha­ben wir ein­fach zu vie­le lau­fen­de Fäl­le. Das ist auf Dau­er nicht zu schaf­fen. Glau­ben Sie, bis da­hin könn­ten Sie -«

»Ganz si­cher.« Sven­ja nick­te der An­wäl­tin über­zeugt zu. »Ich hat­te in der letz­ten Zeit so we­nig zu tun, dass ich froh wä­re, end­lich wie­der et­was Nütz­li­ches ma­chen zu kön­nen, das mir dar­über hin­aus auch Freu­de bringt.« Sie nipp­te an ih­rem Kaf­fee. Mit ei­nem Lä­cheln stell­te sie die Tas­se wie­der zu­rück. »Es gibt noch einen wei­te­ren Grund, wes­halb ich gern hier ar­bei­ten wür­de.«

»Und der wä­re?«

Sven­ja schlug die Bei­ne über­ein­an­der und schmun­zel­te. »Der Kaf­fee ist ein­fach köst­lich.«

Eva He­cken­burg muss­te la­chen. »Ja, ich weiß, er schmeckt toll.« Dann wur­de sie wie­der ernst. »Sie ge­fal­len mir, Frau Schil­ler. Ich glau­be, wir kämen gut mit­ein­an­der zu­recht.«

»Das Ge­fühl ha­be ich auch«, stimm­te Sven­ja er­leich­tert zu.

»Vi­el­leicht könn­ten Sie sich in den nächs­ten Ta­gen dar­über in­for­mie­ren, ob in Kür­ze ent­spre­chen­de Se­mi­na­re an­ge­bo­ten wer­den«, schlug die An­wäl­tin vor.

»Das wer­de ich ganz ge­wiss tun.«

Eva He­cken­burg zeig­te Sven­ja noch die Räum­lich­kei­ten und das Zim­mer, das even­tu­ell ihr Bü­ro wer­den wür­de, dann ver­ab­schie­de­ten sie sich von­ein­an­der.

»Na­tür­lich kann ich jetzt noch kei­ne end­gül­ti­ge Ent­schei­dung fäl­len, das ver­ste­hen Sie si­cher.«

Frau He­cken­burg schüt­tel­te Sven­ja lä­chelnd die Hand. »Aber hal­ten Sie mich auf dem Lau­fen­den. Je mehr Ein­satz ich fest­stel­le, de­sto bes­ser ste­hen Ih­re Chan­cen.«

***

Kris­ti­na brü­te­te über Klas­sen­ar­bei­ten zum The­ma ›Wei­ma­rer Re­pu­blik‹, als sie hör­te, dass die Haus­tür ins Schloss fiel. Sie press­te die Lip­pen auf­ein­an­der. Ste­phan hat­te al­so wie­der ein­mal das Haus ver­las­sen, oh­ne sich zu ver­ab­schie­den.

Er nahm sich in­zwi­schen recht oft abends et­was vor. Ge­mein­sa­men Aben­den mit ihr ging er so häu­fig wie mög­lich aus dem Weg.

Ver­wun­der­lich war das nicht. Wenn sie bei­de zu Hau­se wa­ren, war die At­mo­sphä­re so fros­tig, als sä­ßen sie in ei­nem Iglu am Nord­pol.

Er war­te­te im­mer noch dar­auf, dass sie ein­lenk­te und die ge­plan­te Fahrt nach Ber­lin ab­sag­te. Das je­doch kam für Kris­ti­na über­haupt nicht in Fra­ge.

Sie war der Mei­nung, sich wahr­haf­tig oft ge­nug ent­schul­digt zu ha­ben. Au­ßer­dem freu­te sie sich auf das Wie­der­se­hen mit ih­ren Freun­den. Auf kei­nen Fall wür­de sie sich das von Ste­phan ver­mie­sen las­sen.

Na­tür­lich hat­ten auch die Kin­der längst mit­be­kom­men, dass ir­gen­det­was ganz und gar nicht stimm­te. Mar­co wirk­te be­drückt und ver­brach­te viel Zeit in sei­nem Zim­mer. Und Leo­nie hat­te sie vor ein paar Ta­gen ge­fragt, warum Pa­pa im­mer so schlech­te Lau­ne hat­te.

»Ist er bö­se auf mich?«, hat­te sie ängst­lich ge­fragt.

In die­ser Hin­sicht konn­te Kris­ti­na sie be­ru­hi­gen.

»Nein, Schätz­chen, er ist nicht bö­se auf dich, über­haupt nicht.«

»Aber was hat er denn dann?«

Kris­ti­na mur­mel­te dar­auf­hin et­was von Är­ger bei der Ar­beit, der dem Pa­pa zu schaf­fen mach­te.

Ih­rer Toch­ter zu er­zäh­len, dass Ste­phan wü­tend auf sei­ne Frau war, hat­te sie ein­fach nicht fer­tig­ge­bracht.

Leo­nie hät­te wis­sen wol­len, warum das so war. Und wie, bit­te schön, soll­te sie ei­ner Sie­ben­jäh­ri­gen er­klä­ren, dass der Pa­pa ver­letzt war, weil die Ma­ma ihn be­tro­gen hat­te?

Dem Rat­ten­schwanz an Fra­gen, der die­ser Aus­sa­ge fol­gen wür­de, war sie schlicht nicht ge­wach­sen. Ab­ge­se­hen da­von konn­te und woll­te sie ih­re Kin­der nicht da­mit be­las­ten. Sie könn­ten oh­ne­hin nicht nach­voll­zie­hen, warum das hat­te ge­sche­hen kön­nen.

Sie ver­stand es ja selbst nicht mehr, wie soll­ten Mar­co und Leo­nie es dann be­grei­fen?

Sie seufz­te und wid­me­te sich wie­der den ein­falls­rei­chen Ant­wor­ten ih­rer Schü­ler.

Nach­dem be­reits ei­ner den da­ma­li­gen Reich­s­prä­si­den­ten in Pe­ter von Hin­den­berg um­ge­tauft hat­te, be­haup­te­te ein an­de­rer, der vor­letz­te Reichs­kanz­ler vor Hit­ler sei »von Pap­pe« ge­we­sen.

Soll­te tat­säch­lich Herr von Pa­pen ge­meint sein, oder war das nur ei­ne mo­der­ne Cha­rak­ter­be­zeich­nung?

Wäh­rend sie mit ih­rem Rot­stift Be­mer­kun­gen schrieb und No­ten gab, schweif­ten ih­re Ge­dan­ken wie­der zu Ste­phan ab. Wo war er wohl hin­ge­gan­gen? Sie ver­mu­te­te, dass er sich mit ei­nem Freund oder Kol­le­gen traf, doch ge­nau wuss­te sie es nicht. Oder räch­te er sich an ihr, in­dem er die Aben­de mit ei­ner an­de­ren Frau ver­brach­te?

Nein, das war un­mög­lich.

Nach­denk­lich sah Kris­ti­na aus dem Fens­ter in die Däm­me­rung. War es wirk­lich so un­denk­bar, dass ihr Mann sich von ei­ner an­de­ren Frau trös­ten ließ?

Ste­phan war zwar kein Wo­ma­ni­zer-Typ mit sei­nem schüt­teren Haar und dem klei­nen Bauch­an­satz, doch er konn­te sehr char­mant sein und hat­te Hu­mor. Es gab be­stimmt ei­ni­ge Frau­en, die ihn an­zie­hend fan­den.

Mit­ten in die­se be­un­ru­hi­gen­den Über­le­gun­gen hin­ein klin­gel­te das Te­le­fon, das di­rekt ne­ben Kris­ti­na lag.

Sie fuhr er­schro­cken zu­sam­men, war­te­te ein paar Herz­schlä­ge ab und griff dann nach dem Ap­pa­rat.

Wer konn­te das sein? War Ste­phan et­was zu­ge­sto­ßen? Vi­el­leicht hat­te er einen Un­fall ge­habt.

Geh ran, dann weißt du es, for­der­te sie sich stumm auf und drück­te auf die ent­spre­chen­de Tas­te. »Wil­bert.«

»Hal­lo Kris­si, ich bin es, Sven­ja.«

Er­leich­tert lehn­te Kris­ti­na sich zu­rück. »Sven­ja! Wie geht es dir?«

»Sehr gut, dan­ke. Stell dir vor, ich hat­te heu­te ein Vor­stel­lungs­ge­spräch. Ich hof­fe so sehr, dass ich den Job be­kom­me.«

»Das wä­re ja su­per«, sag­te Kris­ti­na an­ge­nehm über­rascht.

»Es wä­re per­fekt«, schwärm­te Sven­ja. »Ei­ne klei­ne Kanz­lei, nur ei­ne An­wäl­tin und ich. Ihr Part­ner kann nicht mehr prak­ti­zie­ren, al­so sucht sie einen Er­satz.«

Sie seufz­te. »Das Ein­zi­ge, das für mich spricht, ist, dass ich zeit­nah ein­stei­gen könn­te und sehr früh da­von er­fah­ren ha­be, durch Ma­ri­us, weißt du? Aber wenn es noch mehr Be­wer­ber gibt, bin ich ver­mut­lich schnell wie­der aus dem Ren­nen.«

»Nun sieh mal nicht so schwarz. Es kommt doch auf mehr als nur Be­rufs­er­fah­rung an. Stimm­te die Che­mie zwi­schen euch?«

»Ja, ich den­ke schon. Ich fand sie sehr sym­pa­thisch, und ich glau­be, sie moch­te mich auch.«

»Na, siehst du. Dann ste­hen dei­ne Chan­cen ver­mut­lich bes­ser, als du denkst.«

Sven­ja lach­te. »Ich glau­be, des­halb ha­be ich dich an­ge­ru­fen. Du hast so ei­ne herr­lich op­ti­mis­ti­sche Art. Ir­gend­wie muss ich ge­wusst ha­ben, dass du mich auf­baust. Dan­ke, Kris­si.«

»Gern ge­sche­hen. Wie geht’s Ma­ri­us?«

»Oh, ei­gent­lich sehr gut, aber er ar­bei­tet zu viel. Wenn er so wei­ter macht, sieht er bald so krank aus wie sei­ne Pa­ti­en­ten.«

»Dann wird ihm das Wo­che­n­en­de in Ber­lin be­stimmt gut­tun.« Kris­ti­na klemm­te das Te­le­fon zwi­schen Ohr und Schul­ter und sta­pel­te die Ar­bei­ten ih­rer Schü­ler auf­ein­an­der. Für heu­te hat­te sie ge­nü­gend ha­ne­bü­che­ne Ant­wor­ten ge­le­sen.

»Rich­tig! Gut, dass du Ber­lin er­wähnst«, sag­te Sven­ja. »Ei­gent­lich ru­fe ich ja ge­nau des­we­gen an. Ich dach­te mir, es ist doch idio­tisch, wenn wir mit zwei Au­tos fah­ren. Wir könn­ten euch ab­ho­len und fah­ren dann ge­mein­sam die rest­li­che Stre­cke.«

»Ist das nicht ein Um­weg für euch?«

»Über­haupt nicht. Ich muss die Kin­der vor­her oh­ne­hin zu mei­ner Schwie­ger­mut­ter brin­gen – du weißt schon, Ni­ko­lais Mut­ter. Sie wohnt in Quick­born, das ist doch ganz dicht bei Ham­burg. So­bald wir Ju­li­us und Ja­na bei ihr ab­ge­lie­fert ha­ben, fah­ren wir bei euch vor­bei. Kein Pro­blem.«

»Das klingt wirk­lich ver­nünf­tig«, stimm­te Kris­ti­na er­leich­tert zu.

Die Fahrt nach Ber­lin wür­de zu viert si­cher­lich ent­spann­ter ver­lau­fen. Sie hat­te we­nig Lust, vier Stun­den lang ab­wech­selnd mit Ste­phan zu strei­ten oder sei­nem ei­si­gen Schwei­gen zu lau­schen.

»Dann ma­chen wir es so«, be­stimm­te Sven­ja zu­frie­den. »Sag mal, was schen­ken wir Jan und Yvon­ne ei­gent­lich zur Hoch­zeit? Hast du schon ei­ne Idee?«

»Die ha­be ich tat­säch­lich«, er­wi­der­te Kris­ti­na. »Aber ob sie gut ist, weiß ich nicht.«

Mit we­ni­gen Wor­ten un­ter­brei­te­te sie der Freun­din ih­ren Vor­schlag.

Sven­ja stimm­te be­geis­tert zu. »Das klingt su­per. Ich freue mich ja so auf euch al­le. Das letz­te Mal ha­ben wir uns bei der Ge­richts­ver­hand­lung ge­se­hen.«

Kris­ti­na schluck­te, lehn­te sich zu­rück und zupf­te an ih­rem Pony. Am Tag der Ur­teils­ver­kün­dung hat­ten Yvon­ne und Sven­ja er­fah­ren, was zwi­schen Jan und ihr vor­ge­fal­len war.

»Wie läuft es denn zwi­schen dir und Ste­phan?«, woll­te Sven­ja wis­sen, als hät­te sie den glei­chen Ge­dan­ken ge­habt.

»Na ja, es geht so«, ant­wor­te­te Kris­ti­na un­be­stimmt. »Mal bes­ser, mal schlech­ter.«

»Ist er im­mer noch nicht dar­über hin­weg?«

»Ehr­lich ge­sagt, er sä­he es am liebs­ten, wenn ich Jan und Yvon­ne ab­sa­ge«, be­rich­te­te Kris­ti­na wahr­heits­ge­mäß. »Ihm graut da­vor, Jan wie­der­zu­se­hen. Ich ha­be ihm al­ler­dings klar­ge­macht, dass ich auf je­den Fall fah­ren wer­de. Al­so hat er be­schlos­sen, mit­zu­kom­men. Da­mit er auf­pas­sen kann, dass ich nicht wie­der ir­gend­ei­nen Un­sinn ma­che.«

Sven­ja schnalz­te mit der Zun­ge. »Na, das kann ja hei­ter wer­den.«

»Ja«, seufz­te Kris­ti­na. »Das be­fürch­te ich auch.«

»Hast du im­mer noch die­se Alb­träu­me?«

»Im­mer mal wie­der, ja.«

»Mach dir kei­ne Sor­gen, hörst du? Ir­gend­wann hö­ren die von al­lein auf. Da bin ich si­cher.«

»Mag sein«, stimm­te Kris­ti­na mit lei­sem Zwei­fel zu.

»Aber wohl erst dann, wenn Ste­phan mir mei­nen Fehl­tritt ver­zeiht. Und bis da­hin wird noch sehr viel Was­ser die El­be her­un­ter­flie­ßen, fürch­te ich.«

***

Jan Schro­eder drück­te den Knopf der Sen­seo-Kaf­fee­ma­schi­ne und lausch­te dem mo­no­to­nen Brum­men, wäh­rend ein dün­ner Strahl Kaf­fee in den Be­cher lief. Er rieb sich den Schlaf aus den Au­gen und gähn­te herz­haft.

Sein Blick fiel nach drau­ßen. Der Bal­kon vor der Kü­che ging nach Os­ten und sah son­nig und ein­la­dend aus.

Jan nahm sei­nen Kaf­fee­be­cher, öff­ne­te die Bal­kon­tür und trat hin­aus. Es war noch nicht ein­mal Mit­te Mai, doch selbst um die­se frü­he Uhr­zeit wärm­ten die Son­nen­strah­len schon recht stark.

Die­se Wo­che soll­te das Wet­ter noch so schön blei­ben. Die letz­te Wo­che sei­nes Jung­ge­sel­len­da­seins.

In fünf Ta­gen wür­de Yvon­ne ihm einen schma­len, gol­de­nen Ring über den Fin­ger strei­fen – das Sym­bol schlecht­hin für Spie­ßig­keit, Ab­hän­gig­keit und Ver­pflich­tung ei­nem an­de­ren Men­schen ge­gen­über.

Zu­min­dest hat­te er es frü­her so emp­fun­den.

Jan horch­te tief in sich hin­ein und ver­such­te her­aus­zu­fin­den, was die­ser Ge­dan­ke bei ihm aus­lös­te.

Fühl­te er Trau­er oder Angst vor die­sem großen Schritt? Be­dau­ern, dass die wil­de Zeit end­gül­tig vor­bei war?

Be­ru­higt stell­te er fest, dass die Freu­de über­wog. Er schi­en wirk­lich lang­sam er­wach­sen zu wer­den.

Im Ge­fäng­nis war ihm klar ge­wor­den, dass es Zeit wur­de, et­was zu ver­än­dern. In den knapp drei Mo­na­ten bis zur Ver­hand­lung hat­te er sehr viel Ge­le­gen­heit zum Nach­den­ken ge­habt.

Seit­dem wuss­te er, dass Yvon­ne und er zu­sam­men ge­hör­ten und er sich glück­lich schät­zen konn­te, dass sie ihn noch nicht zum Teu­fel ge­jagt hat­te.

Grün­de da­für hat­te er ihr wirk­lich reich­lich ge­lie­fert.

Wäh­rend er vor­sich­tig an dem hei­ßen Kaf­fee nipp­te und in die Son­ne blin­zel­te, be­schloss er, auf dem Bal­kon den Früh­stücks­tisch zu de­cken.

Es war herr­lich warm und sie konn­ten über die Ora­ni­en­bur­ger Stra­ße se­hen, bis hin zu der Neu­en Sy­n­ago­ge, de­ren gol­de­ne Kup­pel in der Son­ne glänz­te und fun­kel­te wie ei­ne gi­gan­ti­sche Kro­ne.

Der Ge­dan­ke, Yvon­ne ei­ne Freu­de zu ma­chen, be­flü­gel­te sei­ne Ener­gie und so­gleich be­gann er, sein Vor­ha­ben in die Tat um­zu­set­zen.

Bald dar­auf schlurf­te Yvon­ne gäh­nend in die Kü­che, in wei­ße Baum­wolls­horts und ein li­la­far­be­nes T-Shirt gehüllt, auf dem in oran­ge­far­be­nen Buch­sta­ben das Lo­go ›Wor­k­out & Well­ness‹ prang­te. Ih­re lan­gen blon­den Lo­cken fie­len un­ge­kämmt über Schul­tern und Rücken.

Jan kam gut ge­launt durch die Bal­kon­tür auf sie zu. »Gu­ten Mor­gen, En­gel!«, rief er mun­ter. »Hast du gut ge­schla­fen?«

Sie brumm­te zu­stim­mend.

Er gab ihr einen Kuss und strich zärt­lich über ih­ren leicht ge­wölb­ten Bauch. »Das Früh­stück ist gleich fer­tig. Setz dich.«

Ver­wun­dert und ein we­nig miss­trau­isch sah sie ih­ren Ver­lob­ten an. »Was is’n mit dir los? Has­te was an­ge­stellt?«

»Bis­her nicht«, lä­chel­te er zu­frie­den. »Aber mit die­ser Über­ra­schung ha­be ich einen gut, oder?«

Sie ging nicht dar­auf ein, son­dern trat auf den Bal­kon hin­aus. »Man­noh­mann, du hast dir ja echt Mü­he ge­ge­ben.«

Er lä­chel­te stolz. Auf der mit Mohn­blu­men be­druck­ten Tisch­de­cke be­fan­den sich ein Brot­korb mit fri­schen Weiß­brot­schei­ben so­wie But­ter, Kä­se und Mar­me­la­de. Für Yvon­ne stan­den Corn­fla­kes und ei­ne klei­ne Kar­af­fe mit Milch be­reit, au­ßer­dem zwei Bana­nen. Da­zu gab es Kaf­fee und Oran­gen­saft.

Sie dreh­te sich um und gab ihm einen Kuss. »Dan­ke, Schnucki, das ist echt lieb von dir.«

»Ich dach­te nur, es wä­re ganz nett, in der Son­ne zu früh­stücken.« Er schob ihr einen Stuhl hin, setz­te sich auf sei­nen Platz und nahm sich ei­ne Schei­be Brot. Yvon­ne füll­te Fla­kes und Milch in die Schüs­sel und schnitt ei­ne Bana­ne hin­ein.

»Wann kom­men dei­ne El­tern?«, woll­te sie wis­sen und schob sich einen vol­len Löf­fel in den Mund. Die Fla­kes knirsch­ten, als sie sie zer­malm­te.

»Ir­gend­wann mor­gen Abend. Sie wol­len dann mit uns es­sen ge­hen.« Er schlug sich mit der fla­chen Hand ge­gen die Stirn. »Stimmt ja, ich muss noch einen Tisch re­ser­vie­ren.«

»Bei Lu­i­gi?«

Jan nick­te und be­leg­te sein Brot mit ei­ner Schei­be Kä­se, auf der er Mar­me­la­de ver­teil­te.

»Ist ja na­he lie­gend, im wört­li­chen Sin­ne. Im­mer­hin liegt sein Re­stau­rant ziem­lich ge­nau zwi­schen hier und dem Ho­tel, das mei­ne El­tern ge­bucht ha­ben.«

»Ich freu mich drauf, sie end­lich ken­nen­zu­ler­nen.«

»War­te es ab«, unk­te Jan. »Mei­ne Mut­ter wird dich durch­leuch­ten wie ein Rönt­gen­ap­pa­rat und mein Va­ter wird nichts un­ver­sucht las­sen, um dich da­von zu über­zeu­gen, dass du auf der gan­zen Welt kei­nen grö­ße­ren Ver­sa­ger hät­test fin­den kön­nen.«

»Ach, Schnucki …«

»Doch wirk­lich! Das Net­tes­te, was die bei­den je ge­tan ha­ben, war, nach Mal­lor­ca um­zu­sie­deln, da­mit wir uns mög­lichst sel­ten se­hen müs­sen.«

»Sie sind doch wohl kaum we­gen dir da­hin ge­zo­gen.«

Jan zuck­te mit den Schul­tern. »Sie wa­ren so höf­lich, an­de­re Grün­de vor­zu­schie­ben.«

Yvon­ne hob ei­ne Au­gen­braue und wech­sel­te das The­ma. »Wann kom­men die an­de­ren?«

»Am Frei­tag«, ant­wor­te­te Jan, biss in sein Brot und warf einen ver­stoh­le­nen Blick auf sei­ne Ver­lob­te.

Sie aß schwei­gend. Er wuss­te, sie moch­te sei­ne Freun­de, doch es war noch kein Jahr ver­gan­gen, seit er sie mit Kris­ti­na be­tro­gen hat­te. Und das, ob­wohl er hoch und hei­lig ge­schwo­ren hat­te, nie wie­der fremd­zu­ge­hen. Die­ser Ver­trau­ens­bruch tat ihr si­cher noch im­mer weh, und der Ge­dan­ke, Kris­ti­na wie­der­zu­se­hen, er­füll­te Yvon­ne ge­wiss mit Un­be­ha­gen, was er gut ver­ste­hen konn­te.

Er rech­ne­te es ihr hoch an, dass sie trotz al­lem zu­ge­stimmt hat­te, Kris­si und Ste­phan zur Hoch­zeit ein­zu­la­den.

Sie trank ihr Glas mit Oran­gen­saft leer und stand auf. »Ich geh du­schen. Räums­te auf, be­vor du gehst?«

»Okay.« Jan er­hob sich eben­falls, nahm ih­re Hand und zog sie in sei­ne Ar­me. »Du bist im­mer noch sau­er we­gen da­mals, oder?«

Yvon­ne schüt­tel­te den Kopf. »Nee, bin ich nicht.«

»Hör zu, ich weiß, dass ich Mist ge­baut und dir weh­ge­tan ha­be, En­gel. Es tut mir leid, mehr, als ich sa­gen kann. Ich war ein rie­sen­großer Voll­trot­tel.«

»Ist schon gut, lass den Da­ckelblick«, sag­te sie ernst. »Du weißt, ich mag Kris­si. Und ich freu mich ja auch auf sie und die an­de­ren. Es ist halt nur im­mer noch et­was … merk­wür­dig.«

Jan nick­te. »Na klar. So geht es mir, wenn ich Sven­ja se­he. Im­mer­hin bin ich da­für ver­ant­wort­lich, dass sie jetzt Wit­we ist.«

»Das war ’n däm­li­ches Un­glück, Schnucki! Und er hat­te es ver­dient, die­ser er­bärm­li­che Mist­kä­fer.«

Jan woll­te das The­ma nicht ver­tie­fen. Er lös­te sich von Yvon­ne und sah auf sei­ne Arm­band­uhr. »En­gel, ich glau­be, du musst dich be­ei­len. In ei­ner hal­b­en Stun­de be­ginnt der Step-Kurs.«

Sie folg­te sei­nem Blick. »Ver­damm­ter Mist, du hast recht.«

Auf dem Weg ins Bad schimpf­te sie: »Wie­so has­te mich nicht frü­her ge­weckt, ver­flucht?«

Er schmun­zel­te. »Ach, En­gel?«

Sie hat­te die Ba­de­zim­mer­tür er­reicht und dreh­te sich ge­reizt zu ihm um. »Was ist?«

»Spä­tes­tens, wenn der klei­ne Ho­sen­matz da ist, soll­test du un­be­dingt an dei­ner nicht ganz ju­gend­frei­en Aus­drucks­wei­se ar­bei­ten.«

La­chend ver­schwand sie im Bad.

Lu­i­gi kam eil­fer­tig und mit ei­nem brei­ten Grin­sen, das einen blin­ken­den Gold­zahn ent­hüll­te, auf sei­ne Gäs­te zu, die Ar­me weit aus­ge­brei­tet.

»Aah, Yvon­ne, la mia bel­lez­za, du se­hen heu­te wie­der fan­ta­sti­co aus!« Er er­griff ih­re Hand, drück­te einen zar­ten Kuss dar­auf und be­trach­te­te un­ge­niert ih­ren kaum sicht­ba­ren Ba­by­bauch. »Wie es ge­hen die Bam­bi­no?«

»Be­ne«, lä­chel­te Yvon­ne huld­voll. »Gra­zie, Lu­i­gi.«

Jan grins­te. In der Ge­sell­schaft des char­man­ten Lu­i­gi äh­nel­te sei­ne Ver­lob­te mehr ei­ner ita­lie­ni­schen Prin­zes­sin als ei­ner Ber­li­ner Fit­ness-Trai­ne­rin.

Der Re­stau­rant­be­sit­zer mit dem ge­gel­ten, grau­me­lier­ten Haar und dem dün­nen Schnurr­bart wand­te sich nun an ihn. »Jan, il mio ami­co, wie du has­te ge­schafft, dass die­se Traum­frau aus­ge­rech­net hei­ra­tet dich, he?«

Jan zuck­te fei­xend mit den Schul­tern. »Das musst du sie schon selbst fra­gen, Kum­pel.«

Lu­i­gi rea­gier­te nicht, statt­des­sen warf er einen neu­gie­ri­gen Blick auf die bei­den an­de­ren Gäs­te.

»Mei­ne El­tern«, er­läu­ter­te Jan un­ge­fragt. »Si­gno­ria e Si­gno­re Schro­eder.«

»Ben­ve­nu­ti al­la ›Trat­to­ria Ro­ma‹!« Lu­i­gi deu­te­te ei­ne Ver­beu­gung an. »Ihr mir fol­gen, bit­te. Ich brin­gen euch an eu­re Tisch.«

Nach­dem sie die Ge­trän­ke be­stellt hat­ten, sah sich Jans Mut­ter in­ter­es­siert um. Ihr neu­er­dings kup­fer­far­be­nes kur­z­es Haar glänz­te wie ein frisch ge­präg­tes Fünf-Cent-Stück und ih­re braun­ge­brann­te Haut har­mo­nier­te gut mit dem cre­me­far­be­nen Ko­stüm, das sie trug.

Ja, dach­te Jan, Pa­me­la Schro­eder ist noch im­mer ei­ne at­trak­ti­ve Frau.