Künstlerpech - Britta Bendixen - E-Book

Künstlerpech E-Book

Britta Bendixen

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Beschreibung

Ein junger Mann, tot, mitten im Baumarkt, ein kleiner Junge, verrückt nach Facebook-Likes, ein verschwundenes Mädchen im Park oder ein Suizid in der Badewanne. ¿ Viele Szenarien für die Ermittler, welche in komplizierten und amüsanten Fällen versuchen, den Tathergang aufzudecken. Manche sind konfus, manche logisch oder gar von Wahnsinn getrieben, aber immer eines: spannend! Tauchen Sie mit unseren vielversprechenden Autoren in spannende Polizeiarbeit ein. Ermitteln Sie mit und finden Sie heraus, ob auch in Ihnen ein kleiner Detektiv steckt.

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Seitenzahl: 327

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HYBRID VERLAG

Ebookversion

12/2017

Copyright © by Hybrid Verlag, Homburg

Umschlaggestaltung:

© 2016 by Creativ Work Design, Homburg

Lektorat/Textbearbeitung: Hybrid Verlag

Coverbild ›Das Eden-Projekt‹

© 2016 by Creativ Work Design, Homburg

piqs.de - Some Rights Reserved

ISBN 978-3-946-82020-8

www.hybridverlag.de

Britta Bendixen's

KÜNSTLERPECH

& 13 weitere Kurzkrimis

Anthologie

Inhaltsverzeichnis

Künstlerpech – Britta Bendixen

Studie in Karmoisinrot – Klaus Peter Walter

Alles Recherche – Christina Stöger

Pixelglück – Connie Roters

Das Alabama-Gambit – Karlheinz Bauer

Der unsichtbare Gegner – Ann-Bettina Schmitz

Land unter – Daniela Herbst

Des Spießers Methoden – Stefan Lochner

Heiß und Kalt – Symone Hengy

Die Gier nach Fleisch – Veronika M. Dutz

Schwarze Nylons – Sabine Kohlert

Ententod – Johanna Wohlgemuth

Der seltsame Mörder – Monika Grasl

Die Wahrheit im Fall Burger – Klaus-Peter Walter

Künstlerpech – Britta Bendixen

11.45 Uhr

Es roch nach Holz und Gummi. Aus den Lautsprechern drang der neueste Song von James Blunt.

Kriminalkommissar Lasse Bertram drängelte sich durch die Menge der neugierigen Kunden des Baumarkts, die tuschelnd und mit langen Hälsen an der Absperrung standen. Dort angekommen, hob er das gestreifte Plastikband an, ging darunter hindurch und weiter bis zu der Beamtentraube, die sich um den Toten gebildet hatte.

Die Kollegen machten Platz und gaben ihm so Gelegenheit, einen kurzen Blick auf die Leiche zu werfen, die mit offenen Augen auf der Seite lag und förmlich in Blut schwamm. Es handelte sich um einen noch relativ jungen Mann mit dunklen, etwa kinnlangen Haaren. Er war schlank, fast zart, was der dünne, schwarze Rollkragenpullover noch unterstrich, und nicht besonders groß. Höchstens eins-fünfundsiebzig, schätzte Bertram, der selbst nicht wesentlich größer war.

Dann ließ er sich von Meier, dem altgedienten Leiter der Spurensicherung, informieren.

»Julian Sommer, 34 Jahre alt. Hier ist die Adresse. Der Notarzt hat drei Stiche in den Bauchraum festgestellt. Vermutlich ist er verblutet.«

»Das kann er jetzt schon sagen?«, wunderte sich Bertram und reichte den Zettel mit der Adresse an seine Assistentin, die Kommissaranwärterin Ulla Steinhoff weiter, die schon vor ihm am Tatort eingetroffen war.

»Natürlich nicht mit Sicherheit«, erwiderte Meier mit leicht gerunzelter Stirn. »Vielleicht trafen die Stiche auch wichtige Organe. Gewissheit hast du erst nach der Obduktion.«

»Schon klar.«

Bertram wandte sich an Ulla: »War das Opfer allein hier?«

»Sieht ganz so aus.«

»Was ist mit der Mordwaffe?«

Meier schüttelte den Kopf.

»Bisher haben wir nichts gefunden.«

»Zeugen?«

Erneutes Kopfschütteln, diesmal von Ulla.

»Er war offensichtlich bereits tot, als er entdeckt wurde. Wir wurden informiert und haben natürlich sofort angeordnet, dass niemand den Baumarkt verlässt. Im Augenblick werden die Personalien aller Anwesenden aufgenommen.«

»Auch die von den Gaffern da drüben?« Bertram sah hinüber zur Absperrung, wo sich noch immer etwa zehn Personen die Hälse verrenkten.

Ulla folgte seinem Blick.

»Wenn nicht jetzt, dann gleich.« Sie winkte einen der uniformierten Beamten zu sich und bat ihn, die Leute fortzuschicken. Zufrieden beobachtete Bertram, dass die sensationslüsternen Baumarktkunden mürrisch abzogen. Er wandte sich wieder an Ulla.

»Wer hat die Leiche gefunden?«

»Eine Kundin. Ihr Name ist Birgit Todsen.«

»Na, dann werde ich wohl mal mit ihr anfangen.«

»Sie können sie nicht verfehlen. Sehr kurze, blonde Haare und von oben bis unten in Jeans.«

Die Kunden, Angestellten und einige Polizisten standen nun in der Gartenabteilung und sprachen halblaut miteinander. Bertram sah sich um und entdeckte nach kurzer Zeit eine Frau, auf die Ulla Steinhoffs Beschreibung passte. Birgit Todsen, eine robust wirkende Mittvierzigerin mit kräftigen Händen schob sich einen Streifen Kaugummi zwischen die Zähne, als Bertram sie um ihre Aussage bat. »Ich wollte mir nur ‘nen neuen Briefkasten besorgen«, versicherte sie. »Bin umgezogen und der vom Vormieter war echt ‘n hässliches Teil. Wie ich in den Gang abbiege, seh‘ ich jemand am Boden liegen. So komisch auf der Seite. Ich also da hin und bemerke das viele Blut. Mir ist tierisch schlecht geworden, das können Sie mir glauben. Na, und dann kam, Gott sei Dank, einer von diesen Baumarkt-Heinis vorbei. Ich hab‘ ihm die Sauerei gezeigt und er hat sofort den Krankenwagen gerufen.«

»Welcher Angestellte war das?«

Frau Todsen sah sich um und zeigte schließlich auf einen großen, gestählt wirkenden dunkelhaarigen Mann mit der typischen Baumarkt-Weste, die sich eng um seine breiten Schultern spannte: »Der dort.«

Bertram bedankte sich und steuerte den Mann an.

»Guten Tag, ich bin Kriminalkommissar Bertram. Wie ist Ihr Name?«

Der Verkäufer musterte ihn kritisch.

»Malte Schuster.«

»Sie haben den Krankenwagen gerufen, nicht wahr?«

»Ja. Eine Kundin sagte mir, der Mann sei bewusstlos und würde bluten.«

»Hat er noch gelebt, als Sie den Notarzt gerufen haben?«

Schuster hob die Schultern. »Das weiß ich nicht. Ich hab nicht den Puls gefühlt oder so. Irgendwie ging ich davon aus, dass er noch lebt. Doch als der Arzt kam, hat er gleich gesagt, der Mann wäre tot. Und dann hat er die Polizei gerufen.«

»Sie wollen also sagen, Sie haben einen stark blutenden Mann gefunden und haben nicht versucht, ihm zu helfen? Sie wissen schon, dass Sie damit den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung erfüllen?«

Schuster verzog das Gesicht. »Ich kann kein Blut sehen. Nicht mal ein bisschen. Ich bekomme dann Panikattacken und Kreislaufprobleme. Und bei der Blutlache …«

Bertram schüttelte unwillig den Kopf.

»Nun gut, das werden wir später klären. – Kannten Sie den Toten? War er häufiger hier im Baumarkt?«

»Nein. Ich habe ihn noch nie hier gesehen.«

»Woanders schon?«

Schuster kratzte sich nachdenklich die Nase.

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Er war also zum ersten Mal hier im Baumarkt?«

»Keine Ahnung. Mir ist er noch nicht begegnet, aber ich arbeite auch erst seit Kurzem hier.«

»Wissen Sie, ob er allein hier war oder ihn jemand begleitet hat?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Bevor die Kundin mich gerufen hat, war er mir nicht aufgefallen.«

12.30 Uhr

Die Dachgeschosswohnung von Julian Sommer war spärlich, aber modern eingerichtet und mit großen Fenstern ausgestattet, die viel Licht spendeten. Überall standen Farbpaletten, Leinwände und fertige oder angefangene Bilder herum. An den Wänden hingen ebenfalls Gemälde, die jedoch zum größten Teil nicht von Sommer stammten, wie Bertram vermutete, als er dessen Kunstwerke mit den aufgehängten verglich.

»Manet, Degas, Cezanne, Renoir – offenbar war Sommer ein Bewunderer der Meister des Impressionismus«, bemerkte Ulla Steinhoff.

Bertram staunte seine Kollegin an. »Sie kennen sich mit Malerei aus?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ein bisschen. Früher wollte ich mal Kunstgeschichte studieren.«

»Und wieso haben Sie sich umentschieden?«, fragte er interessiert.

»Ach, ich weiß nicht. Da gab es verschiedene Gründe«, wich Ulla aus und sah sich weiter in der Wohnung um.

Bertram musterte sie verstohlen. Ihm wurde klar, wie wenig er eigentlich von seiner Kollegin wusste, obwohl sie bereits ein halbes Jahr zusammenarbeiteten. Ihm war nur bekannt, dass sie sich eine Wohnung mit einer Freundin teilte und einmal in der Woche diesen komischen, neuartigen Frauensport ausübte.

Wie hieß das noch mal? Zamba oder Zombie oder so ähnlich.

»Kein PC, kein Fernseher«, bemerkte Ulla verwundert. »Er hatte nicht mal ein Handy bei sich. Julian Sommer lebte wirklich in seiner ganz eigenen, buntgepinselten Welt.«

»Ist vielleicht nicht die schlechteste Art zu leben«, gab Bertram zu bedenken und sah sich in der Küchenzeile um, die offen an den Wohnbereich angrenzte. Auf der mit allerlei Geschirr und Essensresten vollgestellten Arbeitsplatte entdeckte er einen Stapel Briefe. Er nahm ihn zur Hand und betrachtete die Absender. Aus einem Umschlag zog er ein Schreiben und überflog es.

»Hier ist eine Abrechnung von einer örtlichen Galerie«, informierte er Ulla. »Vielleicht erfahren wir dort etwas mehr über ihn.«

13.15 Uhr

Der Galerist André Wiczorek, ein bunt gekleideter Mann mit Halstuch und blondem Seitenscheitel, war fassungslos.

»Ich kann es nicht glauben. Herr Sommer war so ein netter Mensch. Wer tut so etwas?«

»Das versuchen wir herauszufinden.«

Bertram sah sich aufmerksam um. Die Galerie war hell und schön geschnitten. An den Wänden hingen unzählige Bilder in allen Größen und Farben.

»Hängen hier viele Werke von Sommer?«

»Oh ja, einige. Dies zum Beispiel, das daneben, und weiter hinten finden Sie einige herrliche Landschaftsbilder. Er war ungemein fleißig und seine Werke werden sehr gern gekauft. Erst vorletzte Woche veranstalteten wir in unserem Hause eine äußerst erfolgreiche Ausstellung seiner Bilder.«

»Ist er allein zu der Ausstellung gekommen?«

»Nein, das erste Mal seit Langem war er wieder in weiblicher Begleitung.«

»Können Sie mir sagen, wie die Dame hieß?«

»Puh, da muss ich nachdenken.«

Wiczorek kräuselte die Lippen. Dann leuchteten seine blassblauen Augen für einen Moment auf.

»Oh, jetzt erinnere ich mich. Sie hieß Beatrice. Wie die Stewardess auf dem Traumschiff.«

»Einen Nachnamen haben Sie nicht für uns?«, fragte Bertram und ahnte die Antwort.

»Herr Sommer hat sie nur mit ihrem Vornamen vorgestellt. Tut mir wirklich leid.«

Ulla sah sich die Bilder an der Wand neben ihr an.

»Waren denn Gäste hier, die diese Beatrice kannten?«, fragte sie.

André Wiczorek überlegte: »Also, wenn da jemand in Frage käme, dann Dr. Bärfeldt und seine Frau. Er ist Kunstsammler und ein großer Bewunderer von Herrn Sommer. Die vier haben sich an dem Abend ausführlich unterhalten.«

13.50 Uhr

Sie suchten den gut situierten Kunstsammler in seiner Stadtvilla auf. Dr. Bärfeldt erinnerte sich zwar nicht an den Nachnamen von Sommers Begleitung, aber seine Frau, eine modebewusste Endfünfzigerin mit fülliger Figur und kunstvoll hochgesteckten Haaren, half Bertram und Ulla weiter.

»Beatrice Jacob ist die Besitzerin der Boutique am Steindamm. Ich bin seit einiger Zeit Stammkundin bei ihr«, berichtete sie. »Eine sehr nette Frau.«

»Und wie gut kannten Sie Julian Sommer?«, fragte Ulla Steinhoff.

»Ich schätze sein Talent, sein Können«, antwortete Dr. Bärfeldt. »Wir haben uns oft unterhalten, aber nur über Kunst. Von ihm persönlich weiß ich praktisch gar nichts.«

»Und ich weiß nur, dass seine Eltern früh verstorben sind, und dass er geschieden ist«, berichtete die Kunstsammlergattin. »Seine Ex-Frau kam mit seiner Art zu leben auf die Dauer nicht zurecht und hat ihn vor die Wahl gestellt: Entweder sie oder die Malerei.«

»Und er hat sich gegen seine Frau entschieden«, nickte Bertram.

»Natürlich! Einem Künstler die Kunst zu nehmen ist, als würde man ihm die Luft zum Atmen entreißen. Er wäre wie ein Fisch ohne Wasser. Seine Frau hat das nicht begriffen.«

»Und Beatrice Jacob versteht das?«, erkundigte sich Ulla.

Frau Bärfeldt nickte langsam.

»Ich denke schon. Sie schien stolz auf ihn und seinen Erfolg zu sein und hat – soweit ich es mitbekommen habe – nie versucht, ihn in irgendeiner Form zu bremsen. Sie erzählte mir, ihr letzter Freund sei ein oberflächlicher Muskelprotz gewesen. Sie war froh, mit Julian das absolute Gegenteil gefunden zu haben.«

»Seit wann war Julian Sommer geschieden?«, fragte Bertram.

Sie dachte nach.

»Ich glaube, seit vier oder fünf Jahren.«

»Was du alles weißt!«, wunderte sich Dr. Bärfeldt lächelnd.

»Du wüsstest ebenso viel, wenn du den Leuten auch dann zuhören würdest, wenn sie nicht über Malerei reden«, tadelte seine Gattin sanft.

14.15 Uhr

Bertram und Ulla fuhren zum Steindamm. Dort angekommen, ließ er den Motor laufen.

»Ich schlage vor, Sie gehen allein in diesen Männeralbtraum aus Seide und Kaschmir«, schlug Bertram vor. »Ich werde mich derweil mal mit Sommers Ex-Frau unterhalten. Vielleicht hat sie einen Hinweis für uns.«

Ulla schmunzelte. »Sie wollen doch nur nicht dabei sein, wenn Beatrice Jacob vom Tod ihres Freundes erfährt.«

»So ein Unsinn«, brummte Bertram. »Ähnliche Gespräche habe ich schon unzählige Male geführt.«

»Ja, ich weiß. Entschuldigung.« Ulla öffnete die Beifahrertür und stieg aus.

Bertram sah ihr nach, als sie auf den Eingang der Boutique zuging. Er musste seiner Kollegin ja nicht unbedingt auf die Nase binden, dass sie mit ihrer Einschätzung richtig lag. Diese Gespräche nahmen immer einen unschönen Verlauf, doch bei frisch verliebten Frauen waren sie am schlimmsten. Darauf konnte er gut verzichten. Abgesehen davon wusste er, Ulla Steinhoff würde sehr viel feinfühliger vorgehen, als er es könnte.

Nur wenig später saß Beatrice Jacob zusammengesunken und mit bebenden Schultern auf einem kleinen Sofa bei den Umkleidekabinen und schnäuzte sich die zierliche Nase.

»Es ist so furchtbar. Er war so ein wunderbarer Mann. Wir wollten nächsten Monat zusammenziehen.« Dicke Tränen kullerten über die Wangen der Boutiquen-Besitzerin. Ulla reichte ihr wortlos ein weiteres Taschentuch.

Eine Kundin betrat den Laden. Ulla stand rasch auf und ging ihr entgegen.

»Kommen Sie bitte später wieder, im Augenblick ist es schlecht.«

Indigniert sah die Kundin sie an, doch dann erblickte sie die aufgelöste Beatrice.

»Ist etwas passiert, Frau Jacob?«, erkundigte sie sich und bemühte sich erfolglos, ihre Neugier als Mitgefühl erscheinen zu lassen.

»Ja«, antwortete Ulla knapp. »Danke für Ihr Verständnis. Auf Wiedersehen.«

Damit wies sie zur Tür. Beleidigt zog die Kundin ab und Ulla ging zurück zu Beatrice, die sich erneut die Nase putzte.

»Wissen Sie, ob Julian Sommer allein zum Baumarkt wollte?«, fragte Ulla vorsichtig.

Beatrice sah sie mit großen rot geweinten Augen an.

»Baumarkt? Julian war in einem Baumarkt?«

»Ja. Warum fragen Sie?«

»Na ja, weil er Baumärkte nicht mochte. Ich kenne keinen Mann, der handwerklich so unbegabt war wie er. Julian war Künstler und hat die schönsten Bilder gemalt, doch er konnte nicht mehr als bestenfalls einen Nagel in die Wand schlagen. Schon beim Anbringen einer Jalousie oder dem Zusammenbau eines Nachttisches war er hoffnungslos überfordert. Solche Dinge habe ich gemacht.«

»Nun, er war dennoch dort. Wir fanden ihn vor einem Regal mit Briefkästen.«

Beatrice schluchzte auf, ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen.

»Briefkästen! Also hat er … Er wollte …« Ulla sah sie fragend an. »Ich habe ihn immer … mit seinem Briefkasten … aufgezogen, weil er alt, hässlich und angerostet war«, erklärte Beatrice stockend. »Ihn störte das nicht, doch nun … wollte er einen Neuen kaufen – für mich! Und dann hat ihn jemand einfach …« Sie begann bitterlich zu weinen.

14.50 Uhr

Bertram saß mit Ulla Steinhoff im Büro und rekapitulierte die bisher bekannten Fakten.

»Der Tod trat ein durch mehrere Stiche, vermutlich mit einem Messer. Es gibt keine direkten Zeugen, niemand hatte ein Motiv, nicht mal eine Mordwaffe liegt vor. Es ist zum Kotzen.«

Ulla hatte beide Hände um ihren Kaffeebecher gelegt und nippte vorsichtig daran.

»Hat die Befragung von Sommers Ex-Frau keine neuen Erkenntnisse gebracht?«

Bertram schüttelte den Kopf.

»Die beiden haben sich vor mehr als drei Jahren das letzte Mal gesehen. Seitdem gab es keinerlei Kontakt.«

»Wer profitiert eigentlich von seinem Tod?«, überlegte Ulla.

»Hm, da Sommer keine Kinder hat, seine Eltern bereits tot sind und die geschiedene Ehefrau kein Erbrecht mehr hat – höchstens seine Geschwister, Großeltern oder andere Verwandte zweiten oder dritten Grades«, antwortete Bertram.

»Dann sollten wir herausfinden, ob es solche Verwandten gibt.«

Bertram griff zum Telefon.

»Die Ex-Frau wird es wohl wissen«, vermutete er und wählte die entsprechende Nummer.

Während er telefonierte, stöberte Ulla ein wenig im Internet.

»Das ist interessant«, murmelte sie, nachdem ihr Chef aufgelegt hatte.

Bertram, der gerade etwas notierte, hob den Kopf.

»Was?«

»Jeder Baumarkt-Angestellte trägt ein Messer bei sich«, antwortete sie. »Sie brauchen es zum Auspacken von neuer Ware und so was.«

»Haben Sie ein Bild davon?«

»Ja.«

Bertram umrundete die Schreibtische und sah Ulla Steinhoff über die Schulter. Ihr Parfüm kroch in seine Nase und lenkte ihn für einen Augenblick ab, doch dann konzentrierte er sich auf die Abbildung des Messers, das auf dem Bildschirm zu sehen war. Es hatte einen roten Plastikgriff und war etwa so groß wie ein übliches Klappmesser.

»Die Klinge ist lang genug, um jemanden damit ins Reich der Toten zu schicken«, murmelte er. »Ich denke, ich sollte noch einmal den Baumarkt aufsuchen.«

»Und was ist mit mir?«

Bertram sah sie nachdenklich an.

»Da hätte ich eine Idee.«

15.20 Uhr

Er ging direkt zum Filialleiter Herrn Carstens und bat ihn, alle Mitarbeiter an einem Ort zu versammeln. Nur eine Kasse und der Informationsstand durften besetzt bleiben.

Das wird den Kunden kaum auffallen, dachte Bertram und verkniff sich ein Grinsen, schließlich sind Baumärkte dafür bekannt, dass nie ein Angestellter da ist, wenn man ihn braucht.

Wenige Minuten später fanden sich alle im großen Aufenthaltsraum ein.

Bertram verschränkte die Arme hinter dem Rücken und musterte die Männer und Frauen mit ihren rot-grünen Mitarbeiterwesten. Sie sahen neugierig oder gelangweilt zurück.

»Ist einem von Ihnen noch etwas eingefallen, was uns bei uns Ermittlungen helfen könnte?«, begann Bertram. Die Angestellten schwiegen oder schüttelten den Kopf.

»Nun denn. Das Opfer wurde durch Messerstiche getötet. Da jeder von Ihnen ein Messer bei sich führt, möchte ich Sie bitten, dass Sie uns Ihre Messer für eine Weile aushändigen.«

Gedämpftes Gemurmel erklang. Bertram begann links und ging dann von einem Mitarbeiter zum anderen. Jedes Messer landete in einer Plastiktüte, die jeweils mit dem Namen des Angestellten versehen wurde.

Währenddessen sah sich Ulla im Baumarkt um und wartete darauf, dass die Angestellten ihre Arbeit wieder aufnahmen. Es dauerte nicht lange, bis die ersten in kleinen Grüppchen aus dem Aufenthaltsraum zurückkehrten.

»Wir wären doch bescheuert, wenn wir die Kunden abstechen«, ereiferte sich ein schlanker Glatzkopf mit randloser Brille in gedämpfter Stimme. Ulla verbarg sich hinter einer Dusche und lauschte.

»Allerdings. War bestimmt ein Kunde, der abgehauen ist, bevor die Bullen hier waren.«

»Klar. Aber ob sie den finden?«

Die Stimmen wurden leiser. Ulla ging in die Richtung, aus der die beiden gekommen waren, bis sie zu einer Tür gelangte. ›Nur für Angestellte‹ stand auf einem gelben Schild. Sie sah sich um. Niemand nahm Notiz von ihr. Rasch öffnete sie die Tür einen Spalt und schlüpfte hindurch.

16.00 Uhr

Bertram hatte die Messer mit der Bitte um sofortige Untersuchung an die KTU weitergegeben. Nun saß er im Auto an einer roten Ampel und dachte an Ulla Steinhoff. Ob sie etwas herausfinden würde? Er lächelte in Erinnerung an ihre Aufregung, als er ihr vorgeschlagen hatte, sich als Kundin getarnt ein bisschen im Baumarkt umzuhören. Sein Handy klingelte. Er erkannte die Nummer und ging ran.

»Ja?«

»Die Untersuchungen haben nichts ergeben«, sagte der Leiter der KTU.

Bertram war enttäuscht.

»Überhaupt keine Blutspuren?«

»Keine. Tut mir leid. Das war wohl ein Schuss in den Ofen.«

»Sieht so aus«, seufzte Bertram. Am liebsten hätte er laut geflucht. Es wäre aber auch zu schön gewesen. »Trotzdem danke. Ihr könnt mir die Messer wieder ins Büro raufschicken.«

»Wird gemacht. Schönen Feierabend!«

»Danke gleichfalls. Aber bei mir dauert das wohl noch ein Weilchen.«

Die Ampel schaltete auf Grün und Bertram gab Gas. Möglicherweise brachte der Besuch bei Julian Sommers einziger Schwester, deren Adresse Bertram von der Ex-Frau des Opfers erhalten hatte, neue Anhaltspunkte.

16.20 Uhr

Lilian Sommer war ebenso kreativ wie ihr Bruder, nur verdiente sie ihren Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Liebesromanen und Schicksalsgeschichten für Zeitschriften.

»Ist das denn lukrativ?«, erkundigte sich Bertram und sah sich in der kleinen, nur notdürftig möblierten Wohnung um. Überall standen Kartons.

»Wie bei vielen Kreativen ist es zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig«, antwortete Lilian Sommer seufzend und zündete sich eine Zigarette an. »Setzen Sie sich doch.«

»Danke.« Er nahm auf einem Korbstuhl Platz. »Ziehen Sie gerade aus?«

»Ja, ich will mit meiner Freundin zusammenziehen. Am Wochenende geht es los.«

»Verstehe. Wann haben Sie Ihren Bruder das letzte Mal gesehen?«

Sie blies den Rauch steil nach oben Richtung Stuckdecke. »Vor eineinhalb Jahren ungefähr. Wir hatten nicht viel Kontakt und auch nie ein inniges Verhältnis. Er kam nicht damit klar, dass ich Frauen mehr mag als Männer. Ich habe mich immer gefragt, wie ein Vollblutkünstler gleichzeitig derart spießig sein kann.« Sie schnippte etwas Asche auf eine mit Kippen gefüllte Untertasse. »Verstehen Sie mich nicht falsch, es tut mir sehr leid, dass er tot ist. Er war eigentlich ein netter Kerl. Doch uns beiden fehlten diese gewissen Bande, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Sie wussten, dass er geschieden ist?«

»Ja, klar. Warum?«

»Weil damit Sie zu seiner Erbin geworden sind. Ich schätze, nach seinem Ableben wird der Wert seiner Bilder in die Höhe schießen. Das muss Ihnen doch sehr gelegen kommen.«

Lilians Augen wurden schmal. »Glauben Sie etwa, ich hätte meinen einzigen Bruder umgebracht, damit ich seine Pinseleien erben kann?«

Bertram hielt ihrem Blick stand.

»Und? Haben Sie?«

Sie stand auf und drückte verärgert die Zigarette aus. Ihr dunkler Pferdeschwanz schwang dabei hin und her.

»Natürlich nicht! An so etwas wie die Möglichkeit, seine Bilder zu erben, habe ich nie auch nur nachgedacht. Das ist einfach lächer…«

»Hallo Maus, ich bin wieder da!«, erklang in diesem Moment eine Stimme von der Haustür.

Wenige Sekunden später betrat eine kaugummikauende, blonde Frau in Jeanskluft die Küche.

Bertram staunte.

»Ach, hallo! Das ist aber eine Überraschung!«

16.55 Uhr

Als Bertram ins Büro kam, wartete Ulla Steinhoff bereits aufgeregt auf ihn.

»Sie haben etwas für uns«, ahnte er, als er ihre funkelnden Augen bemerkte. Sie nickte.

»Gut möglich. Ich bin mir zwar nicht sicher, aber …«

»Erzählen Sie schon!« Bertram setzte sich ihr gegenüber an den Schreibtisch und sah sie gespannt an.

»Nachdem die Verkäufer wieder an ihre Arbeit gegangen sind, wollte ich mich im Angestelltenbereich ein wenig umsehen«, berichtete sie. »Zwei der Verkäufer waren aber noch dort. Die Tür zum Aufenthaltsraum war angelehnt, so, dass ich hören konnte, worüber sie sprachen.«

»Und? War es relevant?«, fragte Bertram.

»Na ja, der eine fragte den anderen, was er da für ein Messer abgegeben habe. Er hätte doch immer so ein edles mit Holzgriff gehabt, doch in die Tüte hätte er ein ganz anderes getan. Ein Einfaches, nehme ich an. Der Mann hat es als ›genauso ein 08/15-Teil wie unsere‹ bezeichnet.«

Bertram horchte auf.

»Und was hat der andere geantwortet?«

»Er behauptete, er hätte seins vor ein paar Tagen verloren. Darauf der Erste: ›Quatsch, gestern hattest du es doch noch, das hab ich gesehen‹.«

»Und weiter?«

»Da wurde der andere wütend. Das sei nicht wahr, das könne gar nicht sein. Und dann hat er gesagt, sein Kollege solle bloß nicht auf die Idee kommen, diesen Mist an die Bullen – wie er sich ausgedrückt hat - weiterzugeben.«

»Nun, das muss er ja auch nicht – dank Ihnen, Frau Kollegin. Aber nun die Gretchenfrage: Wer waren diese Beiden?«

»Die Namen weiß ich nicht, aber durch den Türspalt konnte ich sie sehen. Ich würde sie auf jeden Fall wiedererkennen. Doch dann musste ich machen, dass ich wegkomme, sonst hätten sie mich noch erwischt.«

Bertram holte Ullas Jacke vom Garderobenständer und hielt sie ihr hin.

»Also dann, noch mal ab in den Heimwerkerladen.«

17.20 Uhr

Gemeinsam schlenderten sie durch die Gänge, vorbei an Hämmern und Sägen, Schrauben und Zangen, Zollstöcken und Gartengeräten. Sobald ihnen ein Verkäufer begegnete, sah Bertram seine Kollegin erwartungsvoll an, doch sie schüttelte jedes Mal den Kopf.

»Womöglich haben die zwei schon Feierabend«, murmelte er niedergeschlagen.

Ullas Hand packte seinen Arm.

»Da! Dort drüben bei den Bohrmaschinen!«

Er folgte ihrem Blick. Neben einem Regal mit Elektrokleingeräten stand ein Mann und befestigte ein Sonderangebots-Schild. Er war um die Dreißig, hatte blonde, leicht gelockte Haare und ein von Akne gezeichnetes schmales Gesicht.

»Und welcher von den beiden ist das?«, wollte Bertram wissen. »Der mit dem verlorenen Messer oder der andere?«

»Der andere.«

»Dann sollten wir uns mal mit ihm unterhalten.«

Sie gingen auf ihn zu. Als sie vor ihm stehenblieben, sah er auf und erkannte Bertram.

»Ach, Sie sind doch der Kommissar von vorhin. Bringen Sie mir mein Messer schon wieder zurück?«

»Nein, das wird noch ein bisschen dauern. Wir hätten aber ein paar Fragen an Sie, Herr …«

»Mertens.«

Der Verkäufer legte das Angebotsschild zur Seite und sah Bertram beschwörend an.

»Hören Sie, ich habe mit diesem Mord wirklich nichts zu tun, ich …«

»Das glauben wir Ihnen, Herr Mertens. Aber Sie sagten vorhin zu einem Ihrer Kollegen, dass er mir ein anderes Messer ausgehändigt hat, als das, welches er normalerweise benutzt.«

Die Augen des Verkäufers weiteten sich.

»Woher wissen Sie das?«

»Sagen wir, es gab einen Zeugen für das Gespräch«, wich Bertram aus. »Wir bräuchten den Namen des Kollegen, mit dem Sie sich unterhalten haben.«

Mertens druckste ein wenig herum, doch dann nannte er den Namen.

»Vielen Dank.« Bertram lächelte ihm zu. »Sie haben uns sehr geholfen. Wo finden wir den Filialleiter?«

»Herrn Carstens? Der müsste in seinem Büro sein.« Der Verkäufer zeigte zum rückwärtigen Teil des Baumarktes.

»Was passiert denn jetzt mit Malte? Werden Sie ihn verhaften?«

»Wir werden ihm nur ein paar Fragen stellen«, beruhigte Ulla Herrn Mertens. »Es sei denn, es besteht dringender Tatverdacht. Gibt es da doch noch etwas, das Sie uns sagen möchten?«

Der pickelige Verkäufer schüttelte den Kopf.

»Nein, ich weiß gar nichts. Wirklich.«

»Na dann, vielen Dank.«

Bertram und Ulla nickten dem Mann zu und machten sich auf den Weg zum Büro des Filialleiters.

Auf dem Weg dorthin berichtete Bertram von dem überraschenden Zusammentreffen in der Wohnung von Lilian Sommer.

»Die Frau, die den Toten gefunden hat, ist die Lebensgefährtin von dessen Schwester?«, fragte Ulla verblüfft. »Das ist allerdings ein merkwürdiger Zufall.«

»Sie schwor, sie hätte keine Ahnung gehabt, wer der Tote ist. Da aber Lilian Sommer kein enges Verhältnis zu ihrem Bruder hatte und ihr obendrein durch den Mord ein nicht unerhebliches Erbe winkt, bin ich nicht sicher, ob Birgit Todsen die Wahrheit gesagt hat. Möglicherweise ist sie nur eine gute Schauspielerin.«

»Soll ich mich noch einmal mit ihr unterhalten? Vielleicht verstrickt sie sich in Widersprüche.«

Bertram nickte.

»Tun Sie das.« Er fischte einen zerknitterten Zettel aus seiner Jackentasche.

»Hier ist die Adresse. Wir treffen uns später im Büro.«

17.40 Uhr

Filialleiter Carstens wies auf einen schmalen Metallschrank. »Dies ist der Spind von Herrn Schuster.«

»Würden Sie ihn bitte öffnen?«

Carstens nickte, steckte seinen Universalschlüssel ins Schloss und wolle die Tür gerade aufziehen, als Malte Schuster aufgebracht hereinstürmte und sie mit einem donnernden Scheppern wieder zudrückte.

»Was geht hier vor?«, fragte er empört, die funkelnden Augen auf Bertram gerichtet. »Finger weg von meinem Spind! Oder haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?«

»Warum regen Sie sich so auf, Herr Schuster?«, fragte Bertram ruhig. »Haben Sie etwas zu verbergen?«

»Ich mag es einfach nicht, wenn fremde Leute in meinen Sachen herumschnüffeln!«

Bertram zückte sein Handy.

»Kein Problem. Ich gebe der Staatsanwaltschaft einfach die Email-Adresse des Baumarkts durch und warte hier, bis der Durchsuchungsbefehl eintrifft.« Das Handy am Ohr sah Bertram lächelnd zu Malte Schuster. »Sie können gern mit mir warten. Wir könnten uns unterhalten, bis die E-Mail da ist. Und keine Sorge, es wird sicher nicht lange dauern.«

Schusters Mundwinkel zuckten, seine Augen blitzten vor Wut.

»Einen Scheiß werde ich!«, brüllte er und zog die Hand vom Spind weg, die sich sogleich zornig zur Faust ballte. Mit mahlenden Kieferknochen fixierte er Bertram, sah aus, als wollte er etwas sagen, doch dann drehte er sich um und stürzte davon.

»Verflucht!« Bertram steckte schnell das Handy ein, dann sprintete er hinterher. »Rufen Sie die Polizei«, rief er Herrn Carstens über die Schulter zu. »Ich brauche Verstärkung.«

Der Filialleiter sah ihm verdattert nach.

17.50 Uhr

Ulla Steinhoff hatte in der Wohnung von Lilian Sommer niemanden angetroffen und fuhr zurück ins Präsidium. Auf einem Stuhl im Gang vor ihrem Büro saß Beatrice Jacob, die Freundin des Opfers. Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie Ulla erkannte.

»Kann ich Sie kurz sprechen?«, fragte sie mit großen Augen.

»Natürlich. Kommen Sie.« Ulla öffnete die Tür und ließ Beatrice vorangehen. »Nehmen Sie Platz«, bat sie und wies auf einen Stuhl. »Ist Ihnen noch etwas eingefallen?«

Beatrice schüttelte den Kopf und setzte sich hin.

»Nein, das nicht. Aber vorhin traf ich einen Kumpel von meinem Exfreund. Angeblich arbeitet mein Ehemaliger seit Kurzem in einem Baumarkt. Ich dachte, Sie sollten das wissen.«

»Kannte Ihr Ex-Freund denn Julian Sommer?«

Ulla zog ihre Jacke aus, hängte sie an die Garderobe und setzte sich dann ihrer Besucherin gegenüber an den Schreibtisch.

»Kennen ist zuviel gesagt«, räumte Beatrice ein. »Er hat ihn ein- oder zweimal mit mir zusammen gesehen und bei diesen Gelegenheiten nicht damit hinter dem Berg gehalten, dass er Julian am liebsten … Also, dass er ihn nicht leiden konnte.« Sie beugte sich leicht vor. »Mein Ex war extrem eifersüchtig. Das war der Hauptgrund dafür, dass ich mich von ihm getrennt habe. Er war unberechenbar, wenn er sich von anderen Männern bedroht fühlte. In einer Bar hat er mal einen Mann verprügelt, nur weil der mir ein Getränk ausgegeben hat.«

»Wissen Sie, ob Ihr Exfreund in dem Baumarkt arbeitet, in dem Julian Sommer getötet wurde?«

Beatrice schluckte und schüttelte dann den Kopf.

»Leider nein. Aber ich dachte, ich erzähle Ihnen das trotzdem.«

»Das war goldrichtig.«

Ulla nahm einen Kugelschreiber zur Hand und riss einen Notizzettel vom Block.

»Wie heißt Ihr Exfreund denn?«

17.52 Uhr

Nach einer rasanten Jagd quer durch die Gänge des Baumarkts, während der Malte Schuster immer wieder Gegenstände aus den Regalen gerissen und Kommissar Bertram vor die Füße geschleudert hatte, wurde die Schlange an der Kasse dem Flüchtenden zum Verhängnis. Bevor er sich an den Kunden vorbeidrängeln konnte, hatte Bertram ihn an seiner Weste gepackt und schwungvoll zurückgerissen. Der muskelbepackte Malte Schuster riss sich jedoch sofort los und ging zum Gegenangriff über. Seine Rechte landete in Bertrams Magen, der einen ächzenden Laut von sich gab und sich nur mühsam auf den Beinen halten konnte.

Entsetzte Schreie drangen an Bertrams Ohr. Gequält nach Atem ringend, stützte er sich an einem Einkaufswagen ab. Schuster nutzte die Gelegenheit und versuchte, an den wartenden Kunden vorbei Richtung Ausgang zu flüchten. Einige sprangen auch verängstigt zur Seite, doch ein paar Mutige stellten sich ihm mit grimmigen Mienen in den Weg.

»Hiergeblieben, Freundchen«, knurrte ein gedrungener Mittsechziger und fixierte den jungen Mann. Sein üppiger, weißer Schnauzbart vibrierte erbost.

»Geht mir aus dem Weg, du blöder Tattergreis!«, brüllte Schuster und stieß wütend gegen die Schulter des Rentners, der zwar schwankte, aber nicht wich.

»Ich denke gar nicht daran«, stieß er hervor.

»Herr Schuster, bleiben Sie stehen«, rief Bertram. Der Angesprochene drehte sich um, die Hände erneut zu Fäusten geballt. Lasse Bertram sah das und presste Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand fest an den Daumen. Statt die Dienstpistole zu ziehen und bei den Kunden Panik auszulösen, hatte er beschlossen, notfalls auf einen alten Trick zurückgreifen. Doch zunächst versuchte er es im Guten.

»Seien Sie vernünftig und kommen Sie mit mir.«

»Vergessen Sie’s!«

Schuster schnaubte verächtlich und machte Anstalten, noch einmal anzugreifen, doch Bertram war schneller. Er trat einen Schritt nach vorn, holte aus und stieß seine angespannten Finger hart in Malte Schusters linkes Auge. Der schrie auf und hob reflexartig die Hände ans Gesicht. Darauf hatte Lasse Bertram spekuliert. Kurzerhand rammte er sein Knie in die ungeschützten Weichteile seines Gegners. Schuster jaulte auf und sackte stöhnend zu Boden.

Bertram atmete tief durch und zückte seine Handschellen. Ein Mann begann zu applaudieren, dann noch einer und immer mehr. Pfiffe mischten sich darunter. Bertram ließ die Handschellen um Malte Schusters Gelenke schnappen und sah sich verwundert um. So etwas hatte er noch nie erlebt. Der mutige Rentner mit dem Schnauzbart schlug ihm gar begeistert auf die Schulter.

»Ohne viel Tamtam, so soll es sein«, meinte er vergnügt und um seine Augen bildeten sich Lachfältchen.

»Danke.«

Bertram wollte Schuster gerade aufhelfen, als sein Handy klingelte. Er hielt es sich ans Ohr: »Ja?«

Es war Ulla Steinhoff, die ihn mit wenigen Worten über Beatrice Jacobs Aussage informierte.

»Und jetzt halten Sie sich fest. Ihr Ex-Freund ist Malte Schuster«, schloss sie. »Der mit dem speziellen Messer.«

Bertram sah zu dem nun kleinlauten Muskelprotz neben sich.

»Was Sie nicht sagen.«

18.30 Uhr

Ulla Steinhoff und Kommissar Bertram saßen Malte Schuster in einem kleinen Vernehmungsraum gegenüber. Sein linkes Auge war gerötet, er blinzelte immer wieder.

»In Ihrem Spind wurde ein Messer mit Holzgriff gefunden«, informierte ihn Bertram. »Ich nehme an, dass es sich dabei um jenes handelt, welches Sie vor einigen Tagen verloren haben.«

Bei dem Wort ›verloren‹ malte er mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft.

»Es wird gerade auf Blutspuren untersucht«, fügte er hinzu.

Ulla beugte sich vor und sah Malte Schuster in die schmalen dunklen Augen.

»Warum haben Sie Julian Sommer erdolcht?«

Schuster lehnte sich zurück, starrte aggressiv zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich hab nie verstanden, was Beatrice an diesem Hänfling von einem Pinselschwinger fand«, knurrte er. »Angeblich passte dieses Würstchen besser zu ihr, war nicht so besitzergreifend, wie sie behauptet hat. Pah! Ein eingebildeter Fatzke war das, mehr nicht! Ich hätte ihm damals, als er mir mein Mädchen ausspannte, liebend gern die Fresse poliert, aber ich riss mich zusammen. Ich wollte Bea einfach vergessen und neu anfangen.«

Er atmete tief durch und senkte den Kopf. Bertram und Ulla warteten schweigend.

»Es hat echt lange gedauert, bis ich über die ganze Sache hinweg war«, fuhr er etwas ruhiger fort und sah zu Ulla. Seine Mundwinkel zuckten.

»Doch dann stand dieser kleine Schmierfink heute Morgen auf einmal vor mir. Als er mich erkannte und so richtig arrogant das Gesicht verzog, kam die ganze Demütigung wieder hoch. Und dann, na ja, dann hatte ich plötzlich mein Messer in der Hand …«

18.50 Uhr

»Also hat Birgit Todsen die Wahrheit gesagt«, meinte Ulla und gähnte verstohlen. »Zufälle gibt’s, die gibt’s gar nicht.« Zum zweiten Mal an diesem Tag hielt Bertram ihr die Jacke hin.

»Müssen Sie heute noch zum Zimbo oder wie das heißt?«

Ulla lachte leise und schlüpfte in die Ärmel.

»Nein, erst morgen.«

Er griff nach seinem Jackett.

»Haben Sie auch so einen Bärenhunger, wie ich?«

»Wonach steht Ihnen denn der Sinn?«

»Italienisch vielleicht? Eine Mafiatorte wäre jetzt genau das Richtige.«

Ulla ging zur Tür. »Eine was?«

»Pizza natürlich. Also, was ist. Kommen Sie mit?«

»Zu einem Mann, der mir heute zweimal in die Jacke geholfen hat, kann ich wohl schlecht Nein sagen«, grinste sie und öffnete die Tür weit.

Er trat vor ihr in den Flur.

»Verraten Sie mir dann, warum Sie, statt Kunstgeschichte zu studieren, Polizistin geworden sind?«

Sie zögerte. »Vielleicht. Doch vorher erzählen Sie mir ganz genau, wie Sie heute diesen Goliath umgenietet haben.«

»Das ist ein ganz einfacher Trick, Frau Kollegin«, sagte Bertram leicht gönnerhaft, während sie durch eine Glastür ins Treppenhaus traten. »Sie müssen nur diese beiden Finger ganz fest gegen den Daumen drücken und …«

Hinter ihnen fiel sanft die Glastür ins Schloss.

Britta Bendixen wuchs in Flensburg nahe der dänischen Grenze auf. Im Jahr 2014 veröffentlichte die Rechtsanwalts-Fachangestellte ihren ersten Regionalkrimi »Höllisch heiß«, der in ihrer Heimat spielt. 2017 erscheint ein weiterer Kriminalroman.

Mehrere ihrer Kurzgeschichten wurden in Anthologien veröffentlicht. Außerdem erschien im September 2016 ihr Buch »Um drei bei Eduscho – Geschichten & Anekdoten über Flensburg«.

Homepage: www.brittabendixen.de

Studie in Karmoisinrot – Klaus Peter Walter

Frau Schmerker, die Vermieterin der Toten, las laut den Namen auf dem Dienstausweis unter ihrer Nase vor: »Ragnhild Schenkin zu Erbach-Rodenstein« und »Hauptkommissarin«. Und »Neue Polizeidirektion Erbach!«

Die untersetzte blonde Frau vor der Tür sah weder wie eine Polizistin aus noch wie eine Adlige. Eher wie Frau Schmerkers eigene Töchter: Turnschuhe, Jeans, ein Fetzen von T-Shirt und eine schwarze Motorradlederjacke. Wenigstens hatte sie einen BH an! Aber die Frisur! Wie mit der Heckenschere selber gemacht!

»Ich arbeite in Erbach, aber ich wohne in Rodenstein«, sagte die Polizistin, so sanft sie konnte. »Sagen Sie einfach Frau Rodenstein zu mir.« Dass sie vor allem auf den Namen Raxx hörte, sagte sie nicht. So durften sie nur Freunde nennen. Von denen sie verdammt wenige besaß.

»Rodenstein? Wie der Rodensteiner?«, fragte Frau Schmerker nun. »Der immer wenn Krieg iss mit seinem wilden Heer durch die Lüfte reitet?«

»Ein entfernter Vorfahre von mir. Aber das mit dem Ritt durch die Lüfte hat er mir leider nicht vererbt. Würde sicher eine Menge Benzin sparen.«

Kleine Scherze lockern immer auf.

»Das ist übrigens mein Kollege Exl.«

»Einfach Exl«, ergänzte dieser. Frau Schmerker vermerkte wohlgefällig, dass Exl ein ordentliches dunkelblaues Jackett mit passendem Unterziehpulli, Jeans und farblich passende lederne Budapester trug. Nur der Schnurrbart mit den lang heruntergezogenen Enden gefiel ihr nicht.

»Sie haben also eine Tote gefunden?«unterbrach die Kommissarin die Inspektion ihres Kollegen.

»Ja, unsere Mieterin, die Uli«, antwortete Frau Schmerker. »Also Ulrike Fleischhauer. Unten, in der Einliegerwohnung. Ich mach' einmal die Woche sauber, auch wenn die Uli nedd da ist. Sie iss nämlich Schauspielerin. Nix Festes leider, sie macht immer nur so zeitweilige Projekte. Unn dann iss wieder wochenlang nix. Aber sie zahlt immer die Miete. Sie schafft an der Uni in Darmstadt und bei so einem Übersetzungsbüro, alles Mögliche. Die iss sich für nichts zu schade. Ich putz' gern für sie, weil sie so ordentlich iss. Hat auch keinen Freund oder so. Das arme Mädchen, wo sie es doch gerade geschafft hatt'! Eine Hauptrolle in so einer Telenovela, ›Meer der Liebe‹. Im Ersten, stellen sie sich das vor! Es hat sogar in der ›Goldenen Woche‹ gestanden! Innen, mit einem kleinen Bild. Ich hol' ihnen das Heft nachher.«

Sie verschliff und verschluckte natürlich beim Sprechen die Silben und sagte ›gestanne‹ und ›middenem klaane Bild‹, wie es einer praktizierenden Südhessin zukommt. Exl, der aus Detmold stammte, würde sich nie daran gewöhnen.

»Ja, gerne, tun Sie das.« Die Kommissarin begann, sich Latexhandschuhe überzustreifen. »Nachher geben Sie das alles den Kollegen zu Protokoll. Ich würde jetzt gerne erst einmal die Tote sehen.«

Frau Schmerker nahm ein Schlüsselmäppchen aus blauem Leder vom Schlüsselbrett neben der Haustür.

»Sie hat ihren eigenen Eingang«, erklärte sie und ging voraus, ums Haus herum und eine Treppe an der Seite hinunter.

»Aber wir haben einen Schlüssel, weil, da unten ist ja auch noch der Heizungsraum.«

Auf dem Klingelschild neben der Tür stand nur ›Fleischhauer‹.

»Klar, alleinstehende Frau«, dachte Raxx. »Genau wie bei mir.«

Exl folgte in gebührendem Abstand. Sein Garten daheim war nicht so gepflegt wie Schmerkers, und erst der von den Nachbarn! Zum Heulen ordentlich!

»Danke«, sagte die Kommissarin, als Frau Schmerker aufgeschlossen hatte. »Wir möchten gerne vorgehen.«

»Hier links im Flürchen iss die Heizung. Ich hab' aber nichts angefasst. Ich seh die Uli nur liegen und bin gleich wieder 'rauf. Ich kenn' doch mein' ›Tatort‹.«

»Prima, Frau Schmerker. Warten Sie bitte oben.«

Kampflos ergab sich die Frau nicht. »Hinten links«, rief sie noch, als sich Exl an ihr vorbeidrängte. »Gradeaus ist das Bad, rechts das Wohnzimmer.«

Das Wohnzimmer – »Rechte Tür!« – ging nach Südwesten, eine Landhaustür führte zu einer kleinen Rasenfläche mit Gartenliege darauf. Der Platz war von außen schwer einsehbar. An zwei Seiten war ein Hang, die dritte Seite begrenzte eine Tuja-Hecke. Die Terrassentür war lediglich beigezogen, nicht verriegelt. Die gesamte Wandfläche gegenüber der Terrassentür nahm ein Bücherregal ein. Die Kommissarin erkannte einen rororo-Schauspielführer, wie sie ihn selber besaß, viele Reclam-Hefte und sogar ›Kindlers Neues Literaturlexikon‹ in Halbleinen. – Nicht schlecht für eine Schauspielerin ohne Engagement!

Alles ließ die ordnende Hand einer Frau spüren. Nur die Feldblumen in einer Vase neben dem Laptop auf dem Schreibtisch waren leicht angewelkt.

Die beiden betraten – »Hinten links!« – das Schlafzimmer. Raxx machte Licht, denn der Rollladen war heruntergelassen. Auch in diesem Raum war alles ordentlich. Keine herausgerissenen Schubladen, keine zerknüllte Wäsche auf dem Boden.

Ulrike Fleischhauer lag auf dem Bauch, den Kopf zur Wand gedreht, auf dem Bett. Ihr knielanges T-Shirt, das wohl als Nachthemd diente, bedeckte ordentlich, was es bedecken sollte. Die Decke war zurückgeschlagen, wahrscheinlich war ihr zu warm gewesen. Als sich die Kommissarin über das Bett beugte, konnte sie das dünne Strangulationsmal um den Hals erkennen. Die Zunge hing hässlich blau aus dem Mund. Eine Margerite, offenbar aus der Vase im Wohnzimmer, lag neben ihr auf dem Kopfkissen.

»Ein astreiner Zwohundertelfer. Ruf die Spurensicherung. Die volle Dröhnung.«