PatchWords - Britta Bendixen - E-Book

PatchWords E-Book

Britta Bendixen

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Beschreibung

25 Kurzgeschichten aus den verschiedensten Genres - da ist für jeden was dabei. Ein Serienmörder treibt sein Unwesen, eine Ballonfahrt fällt buchstäblich ins Wasser, Rotkäppchen nervt es, dass Großmama kein W-LAN hat, ein Baumarktverkäufer will unbedingt seine Traumfrau wiedersehen und ein Horoskop bewahrheitet sich auf schreckliche Weise. Diese und viele andere Geschichten sorgen für kurzweilige Unterhaltung.

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Britta Bendixen

PatchWords

25 Kurzgeschichten

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Kurioses

Paradies

Blütengeflüster

Kiwi

Einfach kann doch jeder

Quid pro quo

Kriminelles

Ein hochprozentiger Fall

Nur das Mondlicht war Zeuge

Der Geheimgriff

Der gekaufte Mord

Eine Minute zuviel

Herzliches

Der Trick mit dem X-5000

Im Zweifel für die Liebe

Gruseliges

Der Teufel soll dich holen!

Die Prophezeiung

Feenaugen und Elfenflügel

Märchenhaftes

Meine Suche nach Dornröschen

Die drei kleinen Schweinchen

Mein rotes Käppi, der Wolf und ich

Dramatisches

Der erste Schritt

Scherbenwelten

Historisches

Die Kräuterfrau

Die Frau des Kreuzritters

Ein später Gast

Die Sterne lügen nicht

Die letzten Zehntausend

Danksagung

Impressum neobooks

Vorwort

Lieber Leser,

seit ich mich mit dem Schreibvirus infiziert habe, das war im Mai 2012, habe ich nicht nur Romane geschrieben, sondern auch eine erstaunliche Anzahl an Kurzgeschichten ‚verzapft‘.

Eine Auswahl davon – nämlich die, die bei Wettbewerben gewonnen haben und / oder zu meinen persönlichen Favoriten gehören - sind in diesem Buch versammelt. Ich habe sie unterteilt, in Krimi, Historisches usw. So kannst du immer das lesen, wonach dir gerade der Sinn steht. Manchmal möchte man ja lieber eine Liebesschnulze lesen, an anderen Tagen ist man sozusagen in „Horror“-Stimmung.

Ich denke, dass für jeden Geschmack etwas dabei ist. Und ich hoffe, dass der Krimi-Leser auch mal einen Blick auf die historischen Geschichten wirft bzw. der Liebesschnulzen-Liebhaber sich an die Horror-Storys wagt.

Auf jeden Fall wünsche ich viel Spaß und spannende Unterhaltung – bei allen Geschichten!!

Britta Bendixen

Handewitt, im Sommer 2015

Kurioses

Eine Frage raubt mir den Verstand:

Bin ich verrückt, oder alle anderen im Land?

Albert Einstein

Paradies

„Name? Alter? Herkunftsland?“

„Frank Fischer. 54 Jahre. Deutschland.“

„Todesursache?“

„Ich … äh, ja also, Herzinfarkt.“

Der Empfangsengel überreicht ihm ein Schild und Frank ver­sucht, es an sein Jackett zu heften.

„Dauert das noch lange?“, brummt jemand hinter ihm.

„Bin ja schon fertig.“

„Das wird auch Zeit, verdammt! Ich warte hier seit … He! Wieso zum Teufel hat meine Uhr keine Zeiger mehr?“

„Meine Herren!“ Der Empfangsengel ist ungehalten. „Uhren brauchen Sie nicht mehr. Und noch etwas …“ Er sieht den Herrn mit den verschwundenen Zeigern an. „Fluchen ist an diesem Ort nicht erwünscht. Wenn Sie aber Wert darauf legen, können Sie der Entscheidung gerne vorgreifen.“

Der Mann ohne Zeiger erstarrt.

„Und was passiert jetzt mit mir?“, fragt Frank.

„Sie werden in Kürze aufgerufen.“

Frank nickt dem Engel zu und sieht sich um. Alles hier ist hell, weich und friedlich. Leise Musik schwingt in der Luft.

Ein Engel winkt ihn zu sich. Er kommt Frank vage bekannt vor. Zögernd geht er auf ihn zu.

„Hallo, Frank!“

„Hi. Kennen wir uns?“

„Allerdings.“ Der Engel runzelt die Stirn. „Du weißt es nicht mehr, stimmt‘s?“

Frank denkt kurz nach. „Tut mir leid“, sagt er. „Ich kann mich nicht erinnern.“

„Sommer 1977. Campingurlaub auf Sylt?“

Frank sieht ihn ratlos an und der Engel seufzt. „Die Nacht, in der die Imbissbude abgebrannt ist. Na, klingelt es?“

Franks Augen weiten sich. Sein Gesicht wird puterrot. „Tim?“

„Tom!“

„Entschuldige! Natürlich, Tom.“

„Was ist, soll ich dich ein bisschen herumführen?“

Frank zuckt mit den Achseln. „Warum nicht.“

Sie gehen ein paar Schritte.

„Wir haben drei Bereiche. Dies ist der größte.“

Tom weist nach rechts, wo Börsenberichte und Nachrichten über Bild­schirme flimmern und Leute vor Computern sitzen.

Augen flackern, Finger huschen über Tastaturen, Smartphones und Tablets.

Frank staunt. „Sag bloß, es gibt auf virtuellem Weg noch Kontakt zur Erde.“

Tom lächelt. „Oh nein. Es ist nur eine Art Placebo. Aber sehr beliebt.“

Sie gehen weiter. Ab und zu erklingt eine Durchsage wie auf einem Bahnhof, nur lieblicher.

„Warum hast du nie angerufen?“, fragt Tom leise. „Ich hab echt gelitten, weißt du? Ich dachte, das mit uns wäre was Be­sonderes.“

Frank hüstelt. „Das war es auch.“

„Unsinn. Du wusstest ja nicht einmal mehr meinen Namen.“

„Entschuldige. Aber nach dem Urlaub damals begann meine Ausbildung“, versucht er zu erklären. „Ich hatte kaum noch Privatleben.“

„Ja, du warst sehr erfolgreich, ich weiß. Ich hab dich mal ge­googelt. So, hier ist der nächste Bereich.“

Er wirkt wie ein riesiges Wohnzimmer, mit Sitzecken und Sesseln aus knautschig-weißen Wolken. Es gibt Grünpflanzen, Spiele und nur wenige Fernsehgeräte, auf denen sich zufrie­dene Menschen Serien und Spielshows von früher ansehen.

„Hier sind all die, die ihr Leben lang hart gearbeitet, aber keine Ahnung von Computern haben. Die Generationen unserer Eltern und Großeltern. Es kommen nur noch selten Neue.“

„Bist du … schon lange hier?“

„Ja, eine Weile. Ein Porsche hat mich umgenietet.“ Tom führt ihn um eine Ecke. „Hattest du nicht auch einen?“

Frank schweigt.

Stolz zeigt Tom den letzten Bereich. Hier leben Mensch und Tier friedlich Seite an Seite, Löwen und Schafe, Katzen und Spatzen. Alle wirken glücklich und entspannt. Es gibt keine elektronische Unterhaltung, dafür Natur, Musik und Tanz. Und fröhliches Ge­lächter.

„Das ist aber schön hier!“ Frank ist begeistert. „Warum ist dies die kleinste Abteilung?“

Eine melodische Stimme ertönt, bevor Tom antworten kann.

„Frank Fischer bitte an Schalter 2.“

Franks Lächeln gefriert. „Oje, das bin ich.“ Unsicher schaut er sich um.

„Schalter 2 ist dort. Wir sehen uns später.“

„Warte! Was ist das für ein Aufzug daneben?“

Tom lächelt geheimnisvoll. „Den dürfen nur ganz spezielle Men­schen benutzen. Hoffen wir, dass du nicht zu ihnen gehörst.“

Schon ist er verschwunden. Hat sich einfach in Luft aufgelöst.

Frank sieht wieder zum Fahrstuhl. Davor steht ein Mann mit pani­schem Blick. Franks Augen werden schmal. Er kennt ihn. Das ist Karl Abel, der Makler! Von ihm hat er damals den Tipp mit dem Konto bekommen.

Ein Engel hält Karls kräftigen Arm und drückt einen Knopf. Die Tür geht auf.

Abel versucht sich loszureißen und brüllt: „Nein, ich will nicht! Lass mich los, du Miststück!“

Mühelos schiebt der Engel den Makler in die Kabine und drückt einen roten Knopf. Die Tür schließt sich und ein greller gespen­stischer Schrei erfüllt die Luft.

Auf Franks Armen bildet sich Gänsehaut. Zögernd tritt er an Schalter 2.

Was hat Abel bloß angestellt, dass er in diesen Aufzug … ?

„Willkommen, Herr Fischer. Ich habe hier Ihre Statistik“, unterbricht der Engel am Schalter seine Gedanken.

„Hier steht: 17 gebrochene Herzen, 56.243 Lügen, 378.500 Euro an hinterzogenen Steuern und 13 Feinde.“ Der Engel hebt eine Augenbraue. „Einige waren auf Ihrer Beerdigung, um sicherzugehen, dass Sie auch wirklich tot sind.“

„Wie nett, dass Sie mir das erzählen.“ Frank lächelt gequält und schielt hinüber zu dem Fahrstuhl, der ihm vertraulich zuzuzwinkern scheint.

So als wolle er sagen „Ich warte auf dich …“

Sein Kragen ist viel zu eng. Er kriegt keine Luft.

Auf einmal ist Tom neben ihm und Frank zuckt zusammen. Wo kam der so plötzlich her?

„Und?“, will Tom von dem Engel wissen. „Welche Abtei­lung?“

Der Engel gibt ihm einen Zettel und Tom wirft einen Blick darauf. „Das dachte ich mir“, sagt er mit einem leisen Seufzer und nimmt Franks Arm.

Frank wird heiß. Sehr heiß. Er zerrt an seinem Krawattenkno­ten und keucht.

Tom steuert ihn in Richtung Aufzug.

Frank wird übel. Kann einem Toten schlecht werden? Kann sein Herz rasen? Dieses verdammte Schweizer Konto!

Der Aufzug. Er will da nicht rein! Hilfesuchend sieht er zu Tom. Der achtet nicht auf ihn und geht langsam weiter, an dem Fahrstuhl vorbei.

Franks Beine drohen vor Erleichterung nachzugeben.

Als sie die große Computer-Abteilung erreichen, fällt ihm etwas ein.

„Du hast vorhin meine Frage nicht beantwortet. Warum ist der schönste Bereich hier gleichzeitig der kleinste?“

Tom weist in den Raum, in dem die Menschen statt zu kom­munizieren auf Bildschirme starren.

„Hier kannst du es googeln. Gib einfach ‚Himmelpe­dia.gott/Paradies‘ ein. Alles Gute, Frank. “

ENDE

Blütengeflüster

„Marie! Hier bin ich.“

Marie wandte den Kopf und sah ihre beste Freundin winkend an einem Tisch am Fenster sitzen.

„Hier war ich noch nie“, gestand sie, nachdem sie Eva begrüßt und sich hingesetzt hatte.

„Der Laden ist klasse“, sagte Eva. „Ich war schon oft hier. Tolles Essen, netter Service.“

Marie sah sich um. Das Restaurant war gemütlich eingerichtet und gut besucht.

Eva beugte sich vor. „Jetzt erzähl. Wie war der Mallorca-Ur­laub?“

„Sehr schön, obwohl Daniel nicht mitfahren konnte. Aber vielleicht können wir die Flitterwochen dort verbringen.“

Ein Kellner trat an ihren Tisch. Er hatte strohblonde, verwu­schelte Haare und blitzende blaue Augen. „Hallo. Haben Sie sich schon entschieden?“

„Ich nehme den Blütensalat mit Putenbruststreifen“, sagte Eva. „Und ein Mineralwasser.“

„Blütensalat?“, wunderte sich Marie und überflog die Speise­karte. „Was ist das denn?“

„Oh, der ist köstlich, du musst ihn unbedingt probieren. Ess­bare Blüten sind der letzte Schrei.“

„Wenn du meinst …. Also gut, warum nicht.“

Marie klappte die Karte zu und wandte sich an den Kellner. „Das nehme ich auch.“

„Gute Wahl“, nickte er und lächelte ihr zu.

Zwanzig Minuten später wurde das Essen serviert. Nach einem prüfenden Blick auf den bunten Teller spießte Marie eine orangefarbene Blüte auf.

„Sieh mal, Eva, so eine hast du gar nicht.“

„Sicher schmeckt sie trotzdem“, beruhigte ihre Freundin sie.

Gespannt schob sich Marie die Blüte in den Mund und begann vorsichtig zu kauen. Sie schmeckte wirklich gut.

Eva trank einen Schluck Mineralwasser. „Hat Daniel dich denn gestern angemessen empfangen?“

Marie nickte langsam. „Er schien sich zu freuen und hat Spag­hetti für uns gekocht.“

Eva hob verwundert eine ihrer perfekt geschwungenen Augen­brauen. „Er schien sich zu freuen?“

Marie nickte ernst. „Na ja, er war mit seinen Gedanken oft woanders. Bestimmt bei der Arbeit. Diese Kampagne hat es in sich, schließlich konnte er deswegen nicht mal seinen Urlaub antreten. Sicher gibt es Probleme, mit denen er mich nicht belasten will.“

Eva senkte den Blick auf ihren Teller und stocherte im Salat herum. „Gut möglich.“ Wie naiv sie doch ist. Was wird sie wohl sagen, wenn sie erfährt, dass Daniel, statt mit ihr nach Mallorca zu fliegen, mit mir nach Sylt gefahren ist?

Marie runzelte die Stirn. „Was hast du gesagt?“

Eva hob den Kopf. „Ich sagte: Gut möglich, dass er dich nicht mit seinen Problemen belasten will.“

„Hast du nicht noch etwas mehr gesagt? Irgendwas mit Mal­lorca und … Sylt?“

Eva schüttelte nachdenklich den Kopf. „Nein. Bestimmt nicht.“

Hab ich etwa laut gedacht? Hoppla, ich muss besser aufpas­sen!

Marie starrte ihre Freundin mit offenem Mund an.

Eva legte ihre Gabel hin und ergriff die Hand ihrer Freundin. „Marie, Liebes, was ist denn auf einmal mit dir? Du bist ja ganz bleich.“ Besonders braun ist sie im Urlaub sowieso nicht geworden. Hat sich wahrscheinlich nur im Schatten aufgehal­ten. Na ja, empfindlich war sie ja schon immer.

Marie entzog Eva ihre Hand und stand auf. „Ich glaube, ich – muss mal zur Toilette.“

„Tu das.“ Eva lehnte sich zurück. Hoffentlich hat sie keinen Virus aus Spanien mitgebracht. Ich muss mir gleich mal die Hände waschen gehen.

Marie sah Eva an wie eine Fremde.

„Entschuldige mich“, murmelte sie und ging mit weichen Knien auf die Waschräume zu.

Sie schloss sich in eine der Kabinen ein, ließ sich auf den Toi­lettendeckel sinken und versuchte herauszufinden, was gerade geschehen war. War das ein kosmischer Scherz? Wieso konnte sie hören, was Eva dachte? Und was sollte der Unsinn, dass Daniel mit ihr auf Sylt gewesen sei? Er mochte sie doch nicht einmal und nannte sie immer nur ‚die zickige Eva‘.

Marie massierte sich die Schläfen. Gedankenlesen! Das war doch verrückt. Hatte sie sich irgendwann den Kopf angeschla­gen und diese akustischen Halluzinationen waren die Folge einer nicht auskurierten Gehirnerschütterung?

Hoffentlich war es so. Die Dinge, die sie zu hören geglaubt hatte, waren erniedrigend und boshaft gewesen.

Eva war doch seit vielen Jahren ihre beste Freundin. Hatte sie sich all die Jahre in ihr getäuscht?

Das konnte nicht sein. Sicher war das eben nur Einbildung gewesen. Das war die einzige vernünftige Erklärung für dieses … diesen … was auch immer das war.

Sie wollte gerade aufstehen, als sich die Tür zu den Wasch­räumen öffnete. Jemand näherte sich und verschwand in der Nebenkabine. Marie rührte sich nicht, ohne zu wissen, warum. Sie hörte, wie die Tür verriegelt wurde, dann das Rascheln von Kleidungsstücken und ein leises Seufzen.

Gleich werde ich es ihm sagen. Oh Gott, ich wünschte, ich wüsste, wie er reagiert. Wenn er mich zu einer Abtreibung überreden will, drehe ich ihm den Hals um.

Marie starrte mir aufgerissenen Augen an die Kabinenwand. Offenbar konnte sie doch Gedanken lesen, nicht nur Evas, sondern auch die von anderen. Das war zuviel! Mit zitternden Fingern betätigte sie die Spülung und verließ eilig den Wasch­raum.

Der blonde Kellner kam ihr entgegen. Ah, da ist die hübsche Dunkle ja wieder. Aber warum sieht sie so verstört aus?

„Geht es Ihnen gut?“, fragte er besorgt. „Ist der Salat nicht in Ordnung?“

Marie starrte ihn an. „Doch, er ist … danke. Alles gut“, stam­melte sie und ging weiter.

Alles gut!? Nichts war gut, absolut gar nichts!

Eva sah ihr mitleidig entgegen. „Geht’s dir besser?“ Was hat sie denn nur? Sie sieht ja furchtbar aus.

„Danke“, murmelte Marie verärgert und ließ sich auf ihren Stuhl sinken. „Mir ist wohl was auf den Magen geschlagen.“ Vermutlich deine hinterhältige Verlogenheit!

Sie widmete sich wieder ihrem Salat und beobachtete aus den Augenwinkeln ihre Freundin, die genüsslich ihren Salat ver­speiste. Dabei hielt Marie die Ohren gespitzt. Sie brauchte nicht lange zu warten.

Hoffentlich sagt Daniel ihr bald die Wahrheit. Ich halte diese Heuchelei nicht mehr lange aus. Nach Feierabend werde ich ihn anrufen und … ach, Mist, dann ist Marie ja zu Hause und wir können nicht reden. So geht es nicht weiter, ich …

„Was hat sich denn bei dir in der letzten Woche so getan?“, fragte Marie und rang sich ein Lächeln ab. Sie hatte Evas Ge­danken einfach unterbrechen müssen. Noch eine Unver­schämtheit mehr und sie wäre ihrer ‚besten Freundin‘ an die Kehle gesprungen!

„Oh, nicht viel. Alles wie immer.“ Eva sah auf ihre Armband­uhr, trank ihr Glas leer und tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab. „Du, tut mir leid, aber ich muss los, meine Mit­tagspause ist gleich vorbei.“ Sie stand auf und gab Marie einen Kuss auf die Wange.

Genau wie Judas, dachte Marie angewidert.

Erst am späten Nachmittag kam sie zu Hause an. Sie war noch im Stadtpark spazieren gegangen, und wenn jemand an ihr vorbei gekommen war, hatte sie auch dessen Gedanken gehört. Wo kam diese plötzliche Fähigkeit her, zum Kuckuck?

Sie sah wieder den netten Kellner vor sich, hörte ihn fragen, ob der Salat nicht in Ordnung sei. Der Salat! Lag es daran, an diesen Blüten? Vielleicht an der einen, die Eva nicht gehabt hatte?

Sie hörte Daniels Schlüssel im Schloss. Langsam stand sie auf und ging ihm entgegen. Ihr Herz raste.

„Hi, Schatz“, sagte er fröhlich, schloss die Tür und gab ihr einen Kuss.

Noch ein Judas, schoss es Marie durch den Kopf.

„Wie war dein letzter Urlaubstag?“ Sie sieht aus, als hätte sie schlechte Laune. Das kann ich jetzt echt nicht brauchen.

„Sehr interessant“, sagte Marie langsam. „Ich habe mit Eva zu Mittag gegessen.“

Er legte seinen Schlüssel auf die Kommode und stellte seine Aktentasche daneben. „Wie geht‘s ihr?“ ‚Interessant‘ hat sie gesagt. Das klingt nicht gut. Hat Eva etwa gebeichtet? Hof­fentlich nicht!

Marie verschränkte die Arme, um sich davon abzuhalten, auf ihn loszugehen.

Es stimmte also. Ein kleiner Teil von ihr hatte noch immer gehofft, dass alles nur ein schrecklicher Irrtum war.

Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht vor Wut und Enttäu­schung aufzuschreien.

„Es geht ihr prima“, brachte sie mühsam hervor. „Sie ist offen­sichtlich frisch verliebt.“

„Aha. Soso.“ Daniel sah an ihr vorbei in die Küche und rieb sich die Hände. „Was gibt es zu essen?“

Marie hätte ihn am liebsten erwürgt.

„Wie wäre es mit knusprigem Lumpbraten und zarten Be­schissböhnchen?“, grollte sie.

Irritiert drehte er sich um. „Wie bitte?“

Sie fixierte ihn kühl. „Was bist du nur für ein feiger Schuft. Ich weiß es, Daniel.“

Ich hab’s geahnt. Verdammt, Eva! Wir hatten doch abgemacht, dass ich mit Marie rede. Ich bin noch nicht soweit!

Unschuldig sah er sie an. „Wovon redest du, zum Teufel?“

„Das weißt du genau. Von dir und meiner besten Freundin.“

„Du glaubst, dass Eva und ich …?“ Daniel schnaubte entrüstet. „Wie kommst du nur auf so eine schwachsinnige Idee?“

Er war wirklich überzeugend. Unter anderen Umständen wäre sie ihm glatt auf den Leim gegangen.

„Ich weiß, dass ihr auf Sylt gewesen seid, als ich weg war.“

Er tippte sich an die Stirn. „Das ist albern, Marie. Ich konnte nicht mit in den Urlaub, weil ich arbeiten musste. Das weißt du doch. Warum sollte ich also mit Zicken-Eva nach Sylt fah­ren?“

Ach ja, Sylt. Evas nackter Körper im Meer, die heißen Nächte im Hotel …

„Heiße Nächte im Hotel, ja?“, fauchte Marie. „Du kotzt mich an, Daniel.“

Er starrte sie an wie einen Geist. „Was hast du da gesagt?“

„Du hast mich schon verstanden.“

Sie musterte ihn voller Verachtung. „Ich muss hier raus. Wenn ich wiederkomme, bist du verschwunden. Für immer.“

Es dämmerte bereits, als sie das Restaurant betrat. Der Kellner mit den blonden Wuschelhaaren saß am Tresen und trank ein Bier. Marie trat auf ihn zu. „Hallo. Schon Feierabend?“

„‘Schon‘ ist gut.“ Er drehte sich um, erkannte sie und strahlte. „Oh, hallo! Haben Sie etwas vergessen heute Mittag?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich würde nur gern mehr über die Blüten erfahren, die in dem Salat waren.“

Er ließ sich seine Verwunderung nicht anmerken. „Ach so. Warten Sie, ich hole den Koch.“

Komischer Grund. Egal. Hauptsache, sie ist hier.

Er rutschte vom Hocker und ging in die Küche.

Der Barkeeper sah ihm nach. Andys Hintern ist zum Anbeißen. Zu schade, dass er hetero ist.

„Möchten Sie was trinken?“, fragte er Marie. Ich wette sie trinkt Weinschorle.

„Ich mag Weinschorle, doch im Moment ist mir nach etwas Stärkerem“, sagte sie matt. „Einen doppelten Whisky bitte.“

„Äh …“ Der Barkeeper blinzelte. „Kommt sofort.“

Als er ein Glas vor Marie abstellte, trat Andy trat mit einem unwirsch dreinblickenden Mann aus der Küche. „Sie wollten mich sprechen?“

„Ja.“ Sie trank einen Schluck. Ah, tat das gut! „Würden Sie mir verraten, welche Blüten Sie für ihren Salat verwenden?“

„Das ist kein Geheimnis. Kornblumen, Kapuzinerkresse, Zitronenbaumblüten und Ringelblumen.“

„Könnte da auch noch eine andere Blüte dabei gewesen sein, eine ähnliche?“

„Unwahrscheinlich.“

„Aber möglich ist es?“

„Möglich ist alles.“

„Was für eine Blüte könnte das gewesen sein? Wissen Sie das?“

Mann, die kann nerven! „Keine Ahnung. War das alles? Ich hab Steaks in der Pfanne.“

„Ja, das war alles, danke.“ So ein Widerling!

Er brummte etwas und verschwand. Andy setzte sich zu Marie.

„Es geht mich ja nichts an, aber warum wollten Sie das wis­sen?“

„Das ist eine lange und verrückte Geschichte.“ Sie trank noch einen Schluck. „Ich hatte einen grässlichen Tag und vielleicht hatten die Blüten damit etwas zu tun.“

„Sie sind Ihnen nicht bekommen? Das tut mir leid.“

„Nein, das ist es nicht. Körperlich geht es mir gut.“

Sie … ein wenig durcheinander … sein. Und … sieht … aus.

Marie sah ihn prüfend an. Andys Gedanken klangen wie eine gestörte Telefonverbindung. Ließ die Wirkung der Blüten nach? Auch gut. Für einen Tag hatte sie wahrlich mehr als genug gehört.

„Kann ich Ihnen helfen?“, erkundigte er sich.

„Kaum“ seufzte sie. „Mein Verlobter schläft mit meiner Freundin.“

Andy schnalzte mit der Zunge. „Das tut mir leid!“

„Danke. Und wie sieht nun Ihre Hilfe aus?“

Er dachte einen Augenblick lang nach. „Wir könnten uns unter­halten“, schlug er schließlich vor und lächelte charmant. „Ich kann gut zuhören.“

„Tatsächlich?“

„Oh ja. Ich studiere nämlich Psychologie. Hier arbeite ich nur nebenbei. Also, wie wäre es? Lust auf Herz ausschütten? Wie wäre es beim Chinesen?“

„Sie können wohl Gedanken lesen“, schmunzelte sie. „Ich liebe chinesisches Essen.“

ENDE

Kiwi

Noch zwei Wochen bis zu meinem 50. Geburtstag. Eine gute Gelegenheit, über die vergangenen Jahre zu resümieren und über die Zukunft nachzudenken.

Das Resümieren geht schnell: Unverheiratet, keine Kinder. Briefkastentante bei einer Frauenzeitschrift.

Die ewig gleichen Fragen der Leserinnen ermüden mich; Soll ich mich trennen? Was kann ich gegen den aufmüpfigen Nachwuchs tun? Kann ich meiner Freundin noch vertrauen?Und am Ende kommt regelmäßig die dringende Bitte: Helfen Sie mir! Ich bin verzweifelt!

Tja, meine Damen, das bin ich auch. Denn wenn ich mich nicht um Ihre Probleme kümmere, dann um die Frau, die mir das Leben geschenkt hat.

Das ist mein Leben.

Klingt nicht aufregend, was? Ist es auch nicht. Ganz im Gegenteil – es ist bodenlos langweilig und äußerst frustrierend.Meine Mutter ist herzkrank solange ich denken kann. Mit den Jahren wurde ihr Herz immer schwächer, wie die Batterie in einer Taschenlampe.

Inzwischen ist sie permanent bettlägerig. Und anstrengend. Sie hasst es, wenn ich einkaufe oder meinem Job nachgehe. Sie hasst es, allein zu sein. Sie hasst das Pflegepersonal, das nachmittags vorbeikommt. Sie hasst das Fernsehprogramm und Bücher, deren Schrift für ihre Augen zu klein ist. Sie hasst das Essen, das ich für sie koche.

Und ich hasse sie.

Ja, sie hat mir das Leben geschenkt. Doch was für ein Leben ist das? Ich habe keine Freunde, weil ich sowieso keine Zeit für sie hätte.

Ich habe keinen Partner, weil – siehe oben. Abgesehen davon sieht mich auch schon lange kein Mann mehr an. Ich bin zu dünn, zu grau, zu nichtssagend.

Ich wünschte, ich hätte ein Leben, das sich zu leben lohnt.

Ich wünschte, ich hätte Kinder, die mich brauchen, einen Mann, der mich liebt.

Für Kinder ist es zu spät. Und für einen Mann?

Die Fünfzig hängt über mir wie ein Damoklesschwert. Wenn ich jetzt nicht etwas ändere, wann dann?

In den nächsten Tagen gebe ich meiner Mutter ein leichtes Schlafmittel in den Morgentee und nutze die gewonnene Zeit für den Friseur und den Kosmetiksalon. Außerdem klappere ich mehrere Boutiquen ab. Geld habe ich genug, seit Jahren habe ich mir nicht mehr gegönnt als hin und wieder ein Paar Schuhe. Mittags, wenn Mutter aufwacht, wundert sie sich über meine neue Frisur, das ungewohnte Make-up und darüber, dass sie immer so müde ist. Ich beruhige sie und lese ihr aus den neuesten Klatschzeitschriften vor. Das mag sie und es stimmt sie milde.

Noch eine Woche bis zu meinem Geburtstag. Die Vorbereitungen sind so gut wie abgeschlossen und wenn Mutter schläft, stehe ich vor meinem Schrank und freue mich: Über die vielen neuen Sachen und über mein Spiegelbild. Langsam sehe ich wieder wie ein Mensch aus, nicht wie eine leblose, graue Hülle. Bald wird man mich wieder ansehen, sehr bald. Und zwar anerkennend. Ich kann es kaum erwarten.

Mein Geburtstag. Mutter schenkt mir einen wunderschönen Brillantring, der bereits ihrer Großmutter gehörte. Ich habe ihn noch nie an ihr gesehen.

Artig bedanke ich mich und probiere den Ring an. Er passt. Gerührt küsse ich die pergamentartige Haut von Mutters Stirn und nehme langsam eines der Kissen, die auf ihrem Bett liegen.Es dauert nicht lange. Sie ist schwach, alt und zart. Ich dagegen bin gesund, deutlich jünger und obendrein fest entschlossen. Als sie sich nicht mehr rührt, wähle ich die Nummer ihres Hausarztes. Er kommt sofort und stellt ohne zu zögern den Totenschein aus. Wie ich gehofft hatte ist er nicht überrascht, sondern kondoliert mir nur betroffen.

Dann kümmert er sich darum, dass alles seinen Gang geht.

Die Kirche ist fast leer. Ich trage ein neues schwarzes Kleid und fühle mich leicht und befreit. Ja, meine Mutter hat mir das Leben geschenkt. Doch sie hat es mir auch wieder ausgesaugt. Bis auf einen kläglichen Rest.

Eine Woche nach meinem Geburtstag besteige ich das riesige Schiff, auf dem ich per Internet eine Kabine gebucht habe. Ich schenke mir zu meinem Fünfzigsten die Möglichkeit, mir die Welt anzusehen. Bisher bestand sie nur aus unserer Wohnung und deren näherer Umgebung.

Beim Abendessen trage ich ein neues, farbenfrohes Kleid. Ich sitze an einem Tisch mit einem älteren Ehepaar und einem allein reisenden, sympathischen Herrn.

Ich gefalle ihm. Er lächelt mir zu, macht mir ein Kompliment und hebt sein Glas in meine Richtung. Ich stoße mit ihm an. Der Ring funkelt an meiner Hand.

Auf ein schönes, neues Leben, denke ich und genieße den köstlichen fruchtigen Aperitif, der meine Kehle hinunterläuft.

Plötzlich kann ich nicht mehr atmen, bekomme keine Luft. Ich spüre, dass mich jemand hinlegt, höre aufgeregte Stimmen und das Wort ‚Kiwi‘.

Meine Allergie! denke ich noch. Diese verfluchte Allergie macht mir meine Träume kaputt.

Dann denke ich nichts mehr.

ENDE

Einfach kann doch jeder

Herbert seufzte. „Nu mach schon, Inge! Was tüdelst du denn so lange rum? Wir sind spät dran!“

Inge schlüpfte in ihre bequemen Segelschuhe und schnappte sich ihre Handtasche.

„Hetz mich nicht, ich bin ja schon fertig.“

Endlich fiel die Haustür hinter ihnen ins Schloss.

Auf dem Weg zum Flugplatz fing sie an, ihrem Ärger über den geplanten Ausflug Luft zu machen.

„So eine Schnapsidee! Zu nachtschlafender Zeit müssen wir uns Flensburg von oben angucken. Wie kam Jochen bloß auf diesen tumpigen Gedanken?“

Herbert schaltete höher. „Ich hab ihm mal erzählt, dass ich das noch nie gemacht hab. Er wollte mir eine Freude machen.“

„Und Barbara und ich müssen auch noch mit! Dabei leide ich doch unter Höhenangst.“

„Du hast keine Höhenangst.“

„Hab ich wohl! Als wir auf dem Eiffelturm waren, ist mir ganz kodderig geworden.“

„Was musstest du auch vorher zwei Crepès essen? Da wär ja nu wirklich jedem schlecht geworden.“

Inge schwieg beleidigt.

Barbara strahlte. „Ich freue mich schon so! Das wird bestimmt toll.“

„Ja, sicher.“

Jochen war abgelenkt. Er ärgerte sich über den angeborenen oder anerzogenen deutschen Gehorsam, der ihn dazu brachte, an der roten Ampel stehen zu bleiben, obwohl weit und breit kein Auto zu sehen war. Wer war auch schon an einem Samstagmorgen um halb fünf unterwegs?

Sollte er vielleicht doch …

Die Ampel sprang auf gelb und entließ ihn damit aus seinem Gewissenskonflikt.

Kurz darauf erreichten sie den Flugplatz Schäferhaus.

„Sie sind noch nicht da“, stellte Barbara beim Aussteigen fest.

„Da kommen sie schon.“ Jochen schloss den Wagen ab und winkte den Freunden zu.

Kurz darauf umrundeten sie zu viert das Flughafengebäude und erblickten auf der Wiese den noch ziemlich schlaffen Heißluftballon, mit dem sie sich in die Höhe begeben wollten.

Ein paar Männer waren mit den Vorbereitungen beschäftigt. Der Älteste von ihnen, ein Hüne mit breitem Kreuz und wettergegerbtem Gesicht, kam ihnen entgegen. Auf dem grauen Haar trug er eine Helmut-Schmidt-Gedächtnis-Mütze.

„Moin, ich bin Fiete.“

Er streckte eine schwielige Pranke aus und ließ als erstes Inges zarte Finger darin verschwinden. Sie lächelte gequält. Fiete hatte einen recht kräftigen Händedruck. Auch Barbara zuckte zusammen, als er sie begrüßte.

„Ich hoff ma, da is keen Drönbüdel und keene Bangbüx unter euch.“

Alle vier schüttelten den Kopf.

„Tscha, denn kann dat glicks losgehen. Man gut, wir ham kein Schietwetter. Die Jungs richten das gute Stück noch auf. Das is ne figgeliensche Sache. Ihr könnt schon ma reinkrabbeln.“

„Das hat er anscheinend wörtlich gemeint“, flüsterte Inge ihrem Mann zu. „Ich sehe gar keine Tür.“

„Da steht ein Hocker“, grinste Herbert. „Na, denn man los.“

Inge schnappte nach Luft. „Das ist doch wohl ein Scherz!“

Es war keiner. Und obendrein hielt Jochen ihre ungeschickten Kletterversuche mit seiner Videokamera fest.

In Inge brodelte es wie in einem heißen Fonduetopf.

Vom Korb aus beobachteten sie, wie sich der bunt gestreifte, dünne Stoff zu wölben begann. Erstaunlich behände gesellte sich Fiete zu ihnen.

„Na, denn woll’n wir mal. So in ein, zwei Stunden landen wir wieder. Wo genau, entscheiden wir spontan. Mein Kollege fährt uns mit‘m Auto hinterher und sammelt euch denn ein.“

Fiete zwinkerte Inge zu. „Zum Schluss wird jeder getauft und kriegt ne Urkunde und einen schicken Ballonfahrernamen. Ich heiße übrigens Luftgraf Fiete von der Förde, Herrscher über den Wolken. Na, is dat wat?“

Fiete betätigte den Brenner, woraufhin eine Flamme die Luft im Ballon weiter erwärmte. Inge hielt sich die Ohren zu und Herbert warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Das ist so laut!“, rief sie entschuldigend.

Als sich der Korbboden vom Rasen löste, quiekte Barbara vergnügt und Inges Kehle entschlüpfte ein leiser Schreckensschrei.

Fiete schloss das Ventil, der Lärm verstummte abrupt und langsam stiegen sie in den blauen Himmel hinauf. Barbara, Jochen und Herbert sahen nach unten. Nur Inge traute sich nicht so recht.

Fiete trat zu ihr. „Ganz ruhig, mien Deern. Ich versprech dir, ich bring dich heil wieder runter. Noch is keiner oben geblieben.“

„Ist das nicht schön?“, schwärmte Barbara. „Da vorn ist schon Harrislee.“

„Ich sehe den Marktplatz“, bestätigte Jochen eifrig. „Und da unten, da rechts, in dem weißen Haus, da wohnte meine erste Freundin.“

Barbara lächelte säuerlich. „Etwa die, die wir neulich getroffen haben? Die mit dem dunklen Haaransatz und den drei Scheidungen?“

„Nein, eine andere“, erwiderte Jochen knapp. „Kennst du nicht.“

In den nächsten Minuten herrschte atemlose Stille. Die Sonne stieg höher und tauchte den Horizont in leuchtende Farben.

„Herrlich!“ Herbert konnte sich gar nicht sattsehen.

Fiete zog Inge am Ärmel. „Ist das nich ne tolle Aussicht? Nu guck doch ma!“

„Lieber nicht. Ich leide nämlich unter Höhenangst.“

Herbert drehte sich zu Fiete um und rollte vielsagend mit den Augen. „Tut sie nicht. Keine Bange.“

„Da! Das Meer!“ Jochen hob seine Videokamera hoch. Sie schwebten langsam auf die Ostsee zu.

„Da hinten is Dänemark“, erklärte Fiete.

Barbara nickte begeistert. „Und da - die Ochseninseln!“

Wenig später sahen sie ein kleines Spiegelbild von sich und dem Ballon auf der Wasseroberfläche.

Sie waren bereits über eine Stunde unterwegs, als Fiete das Ventil öffnete und der Lärm ausblieb. Besorgt brummelte er vor sich hin und versuchte es erneut.

Jochen ließ seine Kamera sinken und drehte sich zu ihm um. „Was ist los?“

Fiete lüftete seine Mütze und kratzte sich den Scheitel. „Tscha, ich sach ma so: Der Wind will nich so wie ich will und die Gasflaschen sind leer.“

„Was soll das heißen?“ Inge musterte Fiete misstrauisch.

„Das soll heißen, die Natur is unberechenbar. Ab und zu macht der Wind so ‘n lütten Schlenker, mit dem kein Schwein gerechnet hat.“

„Nu ma Butter bei die Fische“, forderte Jochen. „Was bedeutet das?“

„Das bedeutet, wir könnten in der Ostsee landen, wenn der Wind nicht bald aus der richtigen Ecke pustet.“

Inge sah nervös zu Herbert, der wiederum mit Jochen einen Blick tauschte.

Fiete besprach sich per Handy mit seinem Kollegen, der ihnen im Auto gefolgt war. Er klang ernst.

„Guckt mal!“

Barbaras Stimme klang dünn. Sie hatte sich über die Kante des Korbs gebeugt und sah nach unten. Die anderen folgten ihrem Beispiel, sogar Inge wagte nach kurzem Zögern, einen Blick über den Rand zu werfen. Das Spiegelbild des Ballons war deutlich größer als vorher.

Inge wich zurück. „Herbert, ich hab Angst“, presste sie hervor.

Barbaras Kinn zitterte. „OGottogott!! Jochen, tu doch was!“

Jochen wandte sich an Fiete. „Ich sag Ihnen mal was: Wenn uns was passiert, dann sollten Sie sich warm anziehen. Mein Nachbar ist Anwalt. Eine gesalzene Schadensersatzklage ist Ihnen sowas von sicher, wenn -“

„Jochen, hör auf!“ Herbert zog seinen Freund am Ärmel zurück.

Fiete blieb gelassen. „Lass man, mien Jung! Is doch klar, dass dein Kollege nich begeistert ist. Wenn die Berechnungen nich stimmen, dafür kann ich nix. Kann schon sein, dass wir nasse Füße kriegen.“

„Nasse Füße?!“ Herbert schüttelte zweifelnd den Kopf. „Hier ist das Wasser ein paar Meter tief. Und bis zum Ufer sind es gut und gerne zweihundert Meter. Bei einer Wassertemperatur von höchstens 14 Grad …“

„Jochen!“ Barbara schrie nun fast. „Ich kann nicht so gut schwimmen, das weißt du. In kaltem Wasser schon gar nicht. Und meine neuen Lederschuhe …“

„Scheiß auf deine Schuhe!“, brüllte Jochen. „Denk lieber an die Kamera. Die hat fast tausend Euro gekostet!“ Er drehte sich zornig zu Fiete um. „Ihre Firma wird sich dumm und dusselig zahlen, das verspreche ich Ihnen.“

Barbara sah wieder über die Kante auf die stille Oberfläche, die im Licht der aufgehenden Sonne glitzerte. Das Spiegelbild war noch größer geworden.

„Wir werden gleich alle ertrinken“, hauchte sie.

Inge schlug sich die Hände vors Gesicht.

„Seid ihr nu fertich mit lamentieren?“ Fiete verschränkte die Arme. „Hätt ich gewusst, dass ich es mit vier Bangbüxen zu tun krieg, wär ich gar nich losgefahr’n. Nu reißt euch ma ‘n büschen am Riemen!“

Die Frauen sahen eingeschüchtert aus, die Männer wirkten beschämt und gleichzeitig entrüstet. Was sich dieser Kerl herausnahm …

„Tatsache is“, fuhr Fiete fort, „wir können nich viel machen. Mein Kumpel weiß, wo wir sind, aber bis er ein Boot hat, dauert es noch ne Ecke. Also: Ruhe bewahr’n. Panik bringt uns nich weiter, klar?“

Vier betretene Köpfe nickten stumm.

Jochen ließ die Kamera schweifen und plötzlich erhellte sich sein Gesicht. „Da hinten ist eine kleine Jolle!“, rief er.

„Oh, Gott sei Dank!“ Barbara schloss erleichtert die Augen.

Fiete schirmte seine Augen mit der flachen Hand ab. „Die ist aber noch bannig weit weg.“

Jochen begann dennoch zu winken. „HAL-LO! HIER-HER!“

Nichts geschah.

„Sie hören mich nicht“, kapierte Jochen. „Wir sind zu weit weg.“

„Wir müssen alle zusammen rufen“, schlug Herbert vor. „Luftgraf Fiete von der Förde, Sie auch.“

Alle fünf schrien und winkten, so laut und heftig sie konnten. Ihre Bemühungen waren erfolgreich, die zwei Männer auf der Jolle winkten freundlich zurück.

„Na klasse!“ Jochen verzog das Gesicht. „Sie sind zwar höflich, aber nicht sehr hilfreich.“

Schließlich schienen die Segler zu kapieren, dass es doch um mehr ging als um den Austausch von Höflichkeiten. Sie steuerten auf den Ballon zu, allerdings im Schneckentempo.

Es ruckte und Inge schrie auf. „Oh Gott! Wir gehen unter!“

Jochen verstaute eilig seine Kamera. Herbert sah zu Boden. Wasser sickerte herein, anfangs wenig, doch es wurde schnell mehr. Die Feuchtigkeit drang durch Sohlen und Socken.

„Verdammt kalt, die Brühe“, murmelte er.

„Meine Schuhe sind schon ganz nass“, jammerte Barbara. „Die kann ich nur noch wegschmeißen.“

Fiete stellte sich neben die bleich gewordene Inge. „Mach dir man nich ins Hemd, mien Deern. Ich pass schon auf, dass du nich untergehst. Meine Rettungsschwimmer-Ausbildung is zwar dreißig Jahre her, aber sowas verlernt man nich. Is wie Fahrradfahren.“

Inge rang sich ein Mini-Lächeln ab.

Der Ballon neigte sich zur Seite. Er sah aus, als hätte er eine Blitzdiät gemacht. Schlapp und dünn sank er immer weiter, bis er sich auf der Wasseroberfläche ausbreitete wie ein großer bunter Teppich.

Inge schloss die Augen. Das Wasser stand nun kniehoch. Sie zitterte vor Furcht und vor Kälte. Ihre Finger krallten sich an die Bordwand.

Als die Ostsee um ihre Hüften schwappte, war die Jolle so nah, dass sie die Segler erkennen konnten.

„Siehste.“ Fiete lächelte in Inges Richtung. „Nu wird alles gut. Wasser hat manchmal eben doch Balken.“

Inge sah zu ihm hoch. „J-j-j-ja, jetzt glaube ich d-d-d-das auch“, bibberte sie und erwiderte fröstelnd aber dankbar sein Lächeln.

Endlich war die Jolle da.

„Was macht ihr denn für Sachen?“

Einer der beiden Segler, ein blondgelockter Mittzwanziger, grinste frech. Jochen sah aus, als wolle er ihm ins Gesicht springen, doch Fiete stellte sich rasch vor ihn.

„Moin! Seid ma so nett und bringt die Landratten ans Ufer.“

„Das wird nix“, beschied der Lockenkopf. „Die Jolle ist zu klein für so viele.“

„Dann eben in zwei Etappen. Die Frauen zuerst“, bestimmte Herbert.

Inge und Barbara standen am Strand und beobachteten, wie die Jolle mit ihren frierenden Männern näher kam.

„Wie spät ist es?“, fragte Barbara und rieb die Gänsehaut an ihren Armen glatt.

„Gleich halb acht. Wieso?“

Barbara fing an zu kichern.

„Was ist denn daran so witzig?“, fragte Inge gereizt. „Wir sind völlig durchnässt, kriegen eine Erkältung, deine Schuhe sind ruiniert - und du lachst!“

„Überleg doch mal“, gluckste Barbara. „Es ist Samstagmorgen, halb acht. Alle schlafen noch, aber wir haben schon das Abenteuer unseres Lebens hinter uns.“

Nun musste auch Inge grinsen. „Stimmt. Das glaubt uns kein Mensch.“

Mit leisem Rauschen schlugen kleine Wellen an den Strand, die Luft roch würzig nach Salz und Seetang.

„Ist ja glücklicherweise alles gut gegangen“, resümierte Barbara, während die Männer aus der Jolle krabbelten. „Sogar Jochens Kamera hat alles heil überstanden.“

Inge nickte nachdenklich. „Eine Ballontaufe habe ich mir aber anders vorgestellt.“

„Ach Inge, lass man.“ Barbara winkte ab. „Einfach kann doch jeder.“

ENDE

Quid pro quo

Paul hasste den Typ. Wenn Mark Glaser morgens mit seiner Angeberkarre auf den Parkplatz fuhr und kurz darauf mit Ak­tentasche und maßgeschneidertem Anzug an ihm vorbei schlenderte, hätte er ihm am liebsten eine Faust in sein süffi­santes Grinsen geschmettert.

Auch an diesem Morgen lächelte er so herablassend wie immer. „Schicker Overall, Paul.“

Er sagte nichts dazu. Was sollte er auch erwidern? Vielleicht: „Schicke Krawatte, Arschloch. Dieselbe Farbe hat die Kotze, die gleich deine Schuhe schmückt“?

Paul schnitt gerade die Hecke, als SIE ankam. Rechtsanwältin Victoria Hoffmann arbeitete erst seit wenigen Wochen hier. Sie hatte kurze schwarze Haare, eine Stupsnase und eine Figur wie eine Leinwandgöttin aus den Fünfziger Jahren.

Er beobachtete sie bei jeder Gelegenheit, achtete aber darauf, dass sie ihn nicht wahrnahm. Sobald sie in seine Richtung sah, drehte er den Kopf weg oder bückte sich nach Unkraut. Er wollte nicht sofort als Hausmeister und damit als unter ihrer Würde eingestuft werden. Man konnte ja nie wissen, vielleicht begegneten sie sich irgendwann unter anderen Umständen.

Die Heizungsanlage war kaputt. Als Paul mit der Reparatur fertig war, zeigte die Uhr halb sieben. Er hatte längst Feier-abend. Auf dem Parkplatz waren nur noch zwei Wagen: Der rote Angeberschlitten von Glaser und der kleine silberfar­bene Japaner von Victoria Hoffmann. In seinen Träumen war sie Vicky, die Stripperin, die sich zu langsamer Musik gekonnt vor ihm entblätterte, sich nackt an einer Stange rekelte und schließlich vor ihm in die Knie ging ...

Gleich da vorn war ihr Büro. Er schlich zum Fenster, über­zeugte sich davon, dass niemand in der Nähe war und warf wie so oft einen Blick hinein. Doch diesmal war etwas anders. Heute beugte Vicky sich nicht über Akten, sondern weit über den Schreibtisch. Die Unterarme hatte sie aufgestützt und ihre nackten Brüste schwangen hin und her wie Kirchen­glocken, nur schneller. Zwei Hände hatten ihre Hüfte gepackt.

Die Hände gehörten Mark Glaser.

Eine eigentümliche Hitze stieg in Paul auf. Gedämpftes Keu­chen erreichte seine Ohren und verwandelte sich in ein Rau­schen, als wäre er unter Wasser.

Das Stöhnen wurde lauter, Glaser stieß schneller und härter zu, bis beide ihren finalen Schrei losließen. Laut und hemmungs­los. Waren sie doch sicher, allein und unbeobachtet zu sein.

Mit rasendem Herzen und feuchten Handflächen sah Paul zu, wie die zwei sich langsam voneinander lösten, Knöpfe schlos­sen und sich auf intime und vertraute Art anlachten. Dann trat er vom Fenster weg, drehte sich um und ging.

Eine Einladung zum fünfzehnjährigen Bestehen der Kanzlei verbesserte Pauls Laune erheblich. Das war die Chance, auf die er gewartet hatte.

Unauffällig mischte er sich unter die Gäste, die plaudernd Sekt tranken. In einer Glastür betrachtete er zufrieden sein Spiegel­bild. Der Anzug betonte seine sportliche Figur und stand ihm hervorragend.

Als Seniorchef Meyer eine Rede hielt, entdeckte Paul Rechts­anwältin Victoria Hoffmann. Sie trug ein Kostüm, meerblau, wie ihre Augen. Ihr Brustan­satz war zu sehen.

Paul atmete tief ein. Er kannte ihre Brüste, sah sie jede Nacht vor sich. Vergrub sein Gesicht darin.

Ihr Blick fiel auf ihn. Nur kurz. Dann noch einmal, verwun­dert, nachdenklich. Sie schien zu überlegen, woher sie ihn kannte. Er lächelte ihr zu.

Nach der Rede ging er zu ihr hinüber und streckte ihr die Hand entgegen. „Hallo. Ich bin Paul.“

Sie zögerte, erwiderte dann seinen Händedruck. „Victoria Hoffmann. Sie sind ein Mandant?“

Er lächelte. „Victoria, die Siegreiche. Was für ein passender Name für eine Anwältin.“

„Nur deshalb habe ich Jura studiert“, sagte sie trocken, mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln in den Mundwinkeln.

Ein kurzer Blick zur Seite zeigte Paul, dass Glaser auf sie zukam. Verdammt!

„Trinken wir etwas zusammen?“, fragte er.

Sie zuckte mit den Schultern. „Warum nicht?“

„Großartig! Laufen Sie nicht weg, ich bin sofort zurück.“

Er betrat den leeren Herrenwaschraum. Durch einen Spalt in der Tür sah er, dass Mark Glaser zu Victoria trat und ihr etwas zuflüsterte. Sie lachte und schüttelte den Kopf.

Paul runzelte die Stirn. Verschwinde, du Widerling. Jetzt bin ich dran!

Doch Glaser blieb.

Paul dachte eine Weile nach, dann zog er sein Handy hervor.

„Herr Glaser, Telefon.“

Mark Glasers Augenbrauen hoben sich unheilvoll. „Jetzt? Wer ist es denn?“

„Seinen Namen hat er nicht genannt. Er sagte nur, es sei drin­gend.“

Mark seufzte, ging zum Empfang und nahm den Hörer auf. „Glaser.“

„Fahren Sie einen blauen Mazda MX 5?“

„Ja, allerdings. Wer ist denn da?“

„Sie sollten mal nach dem Wagen sehen.“

„Wieso? Was ist mit meinem Auto? Hallo? Hallo!?“

Kaum hatte Glaser das Gebäude verlassen, holte Paul zwei Gläser mit Sekt vom Empfang und trat auf Victo­ria zu.

„So, da bin ich wieder. Haben Sie mich schon vermisst?“

Sie lächelte amüsiert. „Es geht so. Aber Sie hatten mir etwas zu Trinken versprochen.“

„Und ich pflege Versprechen zu halten.“ Er reichte ihr eines der Gläser. „Bitte sehr.“

„Danke.“

Als er ihr tief in die Augen schaute, bemerkte er zufrieden, dass sie seinen Blick erwiderte. Gut so. Durch die Glasfront sah er, dass Glaser auf den Eingang zu­kam.

Paul fluchte innerlich. Er hatte auf etwas mehr Zeit gehofft. Entwaffnend lächelte er Victoria an. „Welches ist Ihr Büro?“

Sie sah überrascht auf. „Das letzte auf der rechten Seite. Warum?“

„Weil ich, äh, ich glaube, dass ein Arbeitsplatz viel über einen Menschen verrät“, improvisierte er. „Würden Sie mir Ihren zeigen?“

Sie musterte ihn, stellte ihr Glas auf einem Bistrotisch ab und nickte. „Also gut. Aber nur kurz.“

„Danke. Ich bin neugierig, was ich über Sie herausfinde.“

„Ich auch, glauben Sie mir.“

Sie ging voran. Paul sah Glaser durch die Eingangstür kom­men. Rasch folgte er Victoria durch den Flur.

„Hier ist es.“ Sie hielt die Tür auf und ließ ihn eintreten.

Er drehte sich zu ihr um. „Warum kommen sie nicht rein? Haben Sie Angst vor mir?“

„Angst? Nein, das nicht. Ich würde es gesunde Vorsicht nen­nen.“

„Die ist völlig unbegründet. Ich bin harmlos, wirklich.“

Er ging auf sie zu, nahm ihre Hand und zog sie ins Zimmer. Die Tür fiel zu. Widerstrebend folgte sie ihm und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen an den Schreibtisch.

Paul musste unweigerlich an die Szene denken, die sich hier abgespielt hatte und sein Herzschlag beschleunigte sich.