Weihnachtsanektötchen – Spannende Geschichten aus Flensburg - Britta Bendixen - E-Book

Weihnachtsanektötchen – Spannende Geschichten aus Flensburg E-Book

Britta Bendixen

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Beschreibung

Besinnliche Weihnachten? Nicht überall, denn während einem an der Flensburger Förde von überall her Weihnachtslieder ins Ohr dudeln, wird die Jagd nach Geschenken zur Nebensache. Etliche Täter müssen gefasst werden, weil im Geheimen entführt, gemordet und ermittelt wird. Ein Serienkiller hinterlässt seltsame Zeichen, ein junges Mädchen will den Mörder ihrer Schwester überführen, dann sorgt eine Bombendrohung für Aufregung, und am Heiligabend wird ein Anwalt erschlagen. Grund genug für eine spannende Adventszeit!

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Diese Kurzgeschichten spielen hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Die Figuren dieser Kurzgeschichten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2024 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von: 123rf.com EPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8728-4

Weihnachtsanektötchen Spannende Geschichten aus Flensburgvon Britta Bendixen

Gefallene Engel

„Guten Morgen, Frau Kollegin“, sagte jemand hinter Antjes Rücken, als sie gerade aus ihrem hellblauen Nissan stieg. Sie drehte sich um und schob, als sie erkannte, wer vor ihr stand, nervös eine blonde Strähne hinter ihr rechtes Ohr. „Mathis, was machst du denn hier?“

Hauptkommissar Mathis Niemann, ihr attraktivster Kollege bei der Kripo, machte drei Schritte auf sie zu und reichte ihr mit einem unbekümmerten Grinsen die Hand. „Wir bearbeiten gemeinsam diesen Fall. Dein Partner ist doch genau wie meiner und die meisten anderen im Weihnachtsurlaub.“

„Der größte Nachteil, wenn man keine Familie hat“, bemerkte Antje. „Man muss dann arbeiten, wenn alle anderen frei haben.“

„Du sagst es.“ Mathis nickte und wies mit dem Kinn zur imposanten Eingangstür der Villa vor ihnen. Es war eine von mehreren in diesem Teil Flensburgs. Eine ruhige Wohngegend in Waldnähe und dennoch relativ zentral gelegen. Das Gebäude vor ihnen war bestimmt über hundert Jahre alt, schätzte Antje. Ein halbrunder Erker dominierte die Vorderfront, mehrere Giebel gaben der Villa etwas von einem Schlösschen. Als Kind war Antje hin und wieder hier vorbeigekommen und hatte sich vorgestellt, wie es wohl wäre, in so einem Haus zu wohnen …

„Ich sehe schon die Schlagzeile morgen“, holte Mathis sie in die Gegenwart zurück und malte mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft. „Stadtbekannter Anwalt brutal ermordet.“

„Kanntest du diesen Karl-Friedrich Engel?“, wollte Antje von ihm wissen.

Er schüttelte den Kopf. „Nur dem Namen nach.“

„Genau wie ich.“

„Na, dann wollen wir mal.“ Mathis öffnete die niedrige Gartenpforte und ging vor ihr den gepflasterten Weg entlang. An dessen Ende stieg er die drei Stufen zur Haustür hinauf und klingelte.

Antje blieb hinter ihm stehen und dankte dem Schicksal. Was für eine unverhoffte Weihnachtsüberraschung, dass sie statt mit dem langweiligen Sönke Jacobs diesmal mit dem schnuckeligen Mathis Niemann zusammenarbeiten sollte.

Ein uniformierter Polizeibeamter öffnete die Tür, ließ sie nach einer kurzen Begrüßung eintreten und ging vor ihnen her durch die protzige Eingangshalle. Interessiert sah Antje sich um. Das kleine Mädchen in ihr freute sich darüber, dass sie endlich Gelegenheit hatte, hinter die Fassade dieser Villa blicken zu dürfen. Die Kripobeamtin dagegen sah die Umgebung mit anderen Augen. Die dunkle Wandtäfelung, eine breite Wendeltreppe und große Ölgemälde wurden von einem gigantischen Kristalllüster in warmes Licht getaucht. Es roch nach Antiquitäten und uraltem Staub. Zumindest kam es ihr so vor. Die ganze Umgebung erinnerte Antje an ein Museum. Im Nachhinein zog sie die wohnliche Gemütlichkeit der Mietwohnung ihrer Kindheit vor. Hier jedenfalls würde sie nicht leben wollen.

Sie durchquerten auf knarrendem Parkett einen etwas wohnlicher eingerichteten Raum mit einem Weihnachtsbaum wie aus einem Hollywoodfilm. Ausladend und bis zur Stuckdecke reichend, üppig geschmückt und mit unzähligen kleinen Lichtern ausgestattet. Unter dem Baum lagen diverse ausgepackte Geschenke. Auf die Schnelle erkannte Antje einige Kleidungsstücke, verschieden große Schmucketuis sowie einige Bücher.

Sie erreichten schließlich ein lang gezogenes Arbeitszimmer, in dem wiederum dunkles Holz und diesmal auch Leder die Vorherrschaft hielten.

Rechtsanwalt Karl-Friedrich Engel saß im gestreiften Pyjama unter einem roten Morgenmantel an seinem Schreibtisch, den Kopf nach hinten geneigt, das leblose Gesicht voller Blut. Sein Mund stand leicht offen.

„Er wurde offenbar mit einem schweren Gegenstand erschlagen“, erklärte der Beamte. „Der Notarzt meinte, er wäre seit sechs bis acht Stunden tot.“

Antje schaute auf ihre Armbanduhr. Die Tatzeit lag also etwa zwischen elf Uhr am Vorabend und ein Uhr nachts. „Gibt es Einbruchsspuren?“, wollte sie wissen.

Der Polizist schüttelte den Kopf. „Das haben wir als Erstes überprüft, konnten aber nichts entdecken.“

„Wer hat den Toten gefunden?“

„Seine Frau, heute früh gegen acht. Sie und die anderen warten im sogenannten Salon.“ Der Beamte zeigte vage in die Richtung.

„Wer sind denn ‚die anderen‘?“, wollte Antje wissen.

„Die Familie des Toten. Insgesamt sechs Personen.“

Mathis zog Einweghandschuhe an und betrachtete aufmerksam die Leiche und die nähere Umgebung. Vorsichtig nahm er eine Figur von dem wuchtigen Schreibtisch, wog sie prüfend in der Hand.

„Justitia“, bemerkte Antje beim Anblick der weiblichen Gestalt, die ein Schwert in der einen und eine Waage in der anderen Hand hielt.

Mathis nickte. „Ein Briefbeschwerer – oder vielmehr eine Briefbeschwererin“, fügte er schmunzelnd hinzu.

Antje grinste. Er hat also nicht nur ein umwerfendes Lächeln, sondern auch Sinn für Humor, konstatierte sie, zwang sich jedoch, auf den Fall zurückzukommen.

„Sind Blutspuren dran?“, erkundigte sie sich.

Er musterte den Sockel, auf dem Justitia stand, und unterzog auch den Rest der Figur einer genauen Betrachtung. Dann schüttelte er den Kopf. „Wenn dies die Waffe war, wurde sie vermutlich nach der Tat gereinigt.“ Er zog eine Plastiktüte aus seiner Jackentasche, steckte Justitia hinein und reichte sie dem Beamten. „Bitte an die KTU.“ Dann wandte er sich an Antje. „Wollen wir uns jetzt mit der Familie unterhalten?“

„Einverstanden.“

Er ging vor, und so hatte Antje Muße, unauffällig seinen kleinen und in der Jeans verdammt knackigen Hintern zu betrachten. Der Anblick gefiel ihr ausnehmend gut.

Sie betraten den Salon, einen großen Raum mit bodentiefen Fenstern, die dem parkähnlichen Garten zugewandt waren. Eine große, sehr schmale Frau in den späten Fünfzigern mit blonder Hochsteckfrisur erhob sich von einem Lehnsessel und trat ihnen entgegen. Sie wirkte wie aus einem englischen Adelshaus. Mit ernster Miene reichte sie erst Antje und dann Mathis die Hand, deren Adern unter der hellen Haut bläulich schimmerten. Ihr Händedruck war fest und unangenehm knochig, fand Antje.

„Anna-Maria Engel“, sagte sie leicht näselnd und zog den Ausschnitt ihres seidenen Morgenmantels enger zusammen. „Dies ist meine Tochter Elisabeth mit ihrem Mann, Dr. Joachim Holz, und ihre Tochter Paulina.“ Sie wies auf eine Frau in Jeans und Rüschenbluse, die – ebenfalls hellhäutig und zierlich – eine jüngere Ausgabe ihrer selbst war. Neben Elisabeth standen ein breitschultriger Mann im Designer-Polohemd und ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen, das ebenfalls bleich und zart wirkte. Alle drei nickten Antje und Mathis zu und murmelten etwas.

„Und das ist mein Sohn Anton mit seiner Frau Natalie“, fügte Anna-Maria Engel hinzu. Diesmal klang ihr Tonfall ein wenig herablassend.

Antje sah hinüber zu der aparten Dunkelhaarigen und ihrem blonden Mann, dessen Gesichtszüge ein bisschen aufgedunsen wirkten.

„Sagen Sie Toni zu mir“, bat Anton Engel mit einem charmanten Lächeln. „Außer meiner Mutter nennt mich kein Schwein Anton.“

Anna-Maria Engel schüttelte konsterniert den Kopf. „Deine Wortwahl, Junge“, tadelte sie.

„Unser herzlichstes Beileid“, sagte Mathis. „Ist es in Ordnung, wenn wir Ihnen ein paar Fragen stellen?“

Die Hausherrin ließ sich schwach zurück in ihren Sessel sinken. „Wenn es sein muss.“

„Es wäre hilfreich“, sagte Antje. „Sie wollen doch sicher auch, dass wir denjenigen finden, der für den Tod Ihres Mannes und Vaters verantwortlich ist.“

„Natürlich“, kam es näselnd zurück.

„Sind Sie über die Feiertage zu Besuch hier?“, fragte Mathis und ließ seinen Blick über die Verwandtschaft des Toten gleiten.

„Nein, wir wohnen hier“, antwortete Dr. Holz, auf den ersten Blick ein eleganter und angenehmer Mann, doch Antje gefiel das Verschlagene in seinem Blick nicht. „Jede Familie hat im Obergeschoss ihren eigenen Wohnbereich.“

„Sind Sie ebenfalls Anwalt?“, wollte sie wissen.

Er nickte und fuhr sich über das sandfarbene, gescheitelte Haar. „Betty und ich lernten uns während des Jurastudiums kennen.“

„Ja“, stimmte Anton Engel zu und breitete die Arme aus. „Sie sind hier sozusagen von Anwälten umzingelt.“

Seinem Verhalten nach nimmt ihn der Tod seines Vaters nicht sonderlich mit, fuhr es Antje durch den Kopf.

„Ach, Sie sind ebenfalls Jurist?“, hakte Mathis nach.

„Wirtschafts- und Strafrecht“, bestätigte Anton mit einer angedeuteten Verbeugung.

Mathis nickte ihm zu. „Interessant. Wir würden jetzt gern einzeln mit Ihnen reden. Frau Engel, wo können wir uns ungestört unterhalten?“

„Am besten wäre es wohl, wir blieben hier und die anderen warten draußen“, schlug die Hausherrin vor. „Im Salon ist es derzeit am ruhigsten. Im übrigen Untergeschoss haben sich ja Ihre Kollegen ausgebreitet. Vermutlich bringen sie alles durcheinander.“

„Na los, Leute, raus mit euch!“, rief Anton Engel, zwinkerte Antje zu und hielt den anderen die Tür auf.

Wenig später waren sie mit der Witwe allein.

„Nehmen Sie Platz“, forderte Frau Engel sie halbherzig auf. „Möchten Sie einen Kaffee?“

Das Angebot nahmen sie beide dankend an. Frau Engel griff zum Telefon, das neben ihrem Sessel auf einem zierlichen Tischchen bereitstand. „Frau Jensen, bitte drei Kaffee in den Salon.“

Antje und Mathis tauschten einen amüsierten Blick. Natürlich gab es hier eine Haushälterin. Bestimmt auch einen Gärtner, einen Chauffeur und einen Koch. Jeder von ihnen konnte ein wertvoller Zeuge sein, denn Angestellte bekamen oft mehr mit, als ihre Arbeitgeber ahnten.

Frau Engel setzte sich wieder und zog erneut den Ausschnitt ihres Morgenmantels enger. „Was möchten Sie wissen?“

„Nun, zunächst einmal alles über den gestrigen Abend“, sagte Mathis und beugte sich leicht vor. „Gab es Streit?“

„Nein. Es war Heiligabend, wie Sie wissen. Wir waren in der Kirche, haben gemeinsam gegessen, anschließend war die Bescherung. Gegen halb elf bin ich schlafen gegangen. Ich hatte Kopfschmerzen.“

„Alle anderen blieben noch zusammen? Wo? Im Wohnzimmer?“

Sie nickte. „Elisabeth und Paulina sind mit mir gemeinsam hinaufgegangen. Die anderen haben sich einen Film angesehen.“

Das hieß, dass Karl-Friedrich Engel, sein Sohn Anton, dessen Frau Natalie und Dr. Joachim Holz noch unten geblieben waren. Antje hielt diese Information in ihrem Schreibblock fest.

„Was ist heute Morgen geschehen?“, fragte Mathis.

Ein erneuter Griff in den Ausschnittstoff, das schmale Gesicht von Frau Engel wurde noch eine Spur abweisender. „Gegen acht Uhr kam ich in den Salon, um wie jeden Morgen mit meinem Mann zu frühstücken. Er war aber nicht da, also ging ich auf die Suche und fand ihn in seinem Arbeitszimmer. Es war alles andere als ein erbaulicher Anblick.“

Noch dazu vor dem ersten Kaffee, dachte Antje sarkastisch.

In diesem Moment öffnete sich die Tür und eine kleine, rundliche Frau mit Mireille-Mathieu-Haarschnitt trug ein Tablett herein. Sie stellte Tassen, eine Porzellankanne, Zuckertöpfchen und Milchkännchen auf den Tisch, nickte Frau Engel zu und verschwand wieder.

„Bitte, bedienen Sie sich.“ Frau Engel machte eine müde Geste mit der Hand.

Mathis nahm die Kanne und schenkte alle drei Tassen voll.

„Wie würden Sie Ihre Ehe beschreiben?“, fragte Antje und rührte einen Löffel Zucker in ihren Kaffee.

Frau Engels lächelte maliziös. „Ich verstehe. Sie wollen wissen, ob ich ein Motiv gehabt hätte, meinen Mann zu erschlagen. Um ehrlich zu sein, hat er mir viele Gründe geliefert, doch mir ist Gewalt zuwider. Ansonsten hätte ich diese Tat schon kurz nach unserer Hochzeit begehen können. Und ich gebe zu, manches Mal wünschte ich mir, ich hätte es getan.“

„Was für Gründe waren das?“, hakte Mathis nach. Antje beobachtete, wie er die Tasse mit dampfendem Kaffee an seine Lippen führte, und ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie gern diese Tasse wäre.

Konzentriere dich, rief sie sich streng zur Ordnung, scheuchte den Gedanken fort und fokussierte sich auf die frisch gebackene Witwe.

„Karl-Friedrich war cholerisch, streitsüchtig, herrisch und hat mich so häufig betrogen, dass ich irgendwann aufgehört habe, es überhaupt zur Kenntnis zu nehmen“, berichtete diese gerade.

„Entschuldigen Sie meine Neugier, aber weshalb haben Sie ihn überhaupt geheiratet?“

Frau Engel zuckte mit den schmalen Schultern. „Er war vermögend und benahm sich wie ein Gentleman. Letzteres änderte sich unmittelbar nach der Hochzeit, und zwar mit einer rekordverdächtigen Geschwindigkeit.“

„Das heißt, sein Tod …“

„… ist für mich kein Weltuntergang, nein“, bestätigte die Witwe kühl.

Die weiteren Vernehmungen bestätigten die Aussage von Frau Engel, neue Erkenntnisse gab es nicht sehr viele. Nach dem Film – sinnigerweise dem ersten Teil der Stirb langsam-Reihe – waren alle zum Schlafen nach oben gegangen. Bis auf Anton Engel, der bereits gegen Mitte des Films nach zu viel Whisky auf der Couch eingeschlafen war. Seine Verwandten hatten ihn dort gelassen.

„So was kommt bei ihm häufiger vor“, erläuterte sein Schwager Dr. Holz, der eine teure Rolex am Handgelenk spazieren führte.

„Ich habe ihn mit einer Wolldecke zugedeckt und bin ebenfalls schlafen gegangen“, berichtete Antons Frau Natalie, als Antje und Mathis sie unter vier Augen auf ihren Mann ansprachen.

„Das war sehr fürsorglich von Ihnen“, konnte sich Antje nicht verkneifen anzumerken. „Ich meine das mit der Decke.“

Natalie Engel lächelte milde. Sie war eine ausgesprochen attraktive Frau. Antje ging jedoch davon aus, dass ein Schönheitschirurg nachgeholfen hatte. Es erschien ihr unwahrscheinlich, dass Natalie von Haus aus so einen üppigen Busen, so volle Lippen und so eine schmale Nase hatte. Auch die Wangenknochen wirkten zu perfekt, um wahr zu sein. Natalie Engel hatte etwas von einer Barbiepuppe. Und sie flirtete subtil mit Mathis. Lächelte ihm zu, klimperte mit den falschen Wimpern und schlug aufreizend die wohlgeformten Beine übereinander.

Unauffällig schielte Antje zu ihrem Kollegen hinüber, um zu sehen, ob die Reize von Natalie ihn irgendwie beeindruckten. Er blieb höflich, aber distanziert, was Antje freute.

„Wie war das Verhältnis zwischen Vater und Sohn aus Ihrer Sicht?“, wollte Mathis wissen.

„Angespannt“, antwortete Natalie nach kurzem Überlegen. „Die zwei waren wie Hund und Katze.“

„Haben Sie irgendetwas bemerkt, nachdem Sie das Wohnzimmer verlassen hatten?“, fragte Antje. „Schritte, Stimmen … einen Streit?“

Sichtlich ungern wandte Natalie den Blick von Mathis hinüber zu Antje. „Nein, nichts. Tut mir leid. Ich habe einen sehr festen Schlaf.“

„Wie kam Karl-Friedrich Engel hinter seinen Schreibtisch?“, fragte Antje, als sie auf der Dienststelle an den Norderhofenden alle Einzelheiten durchsprachen. „Was hatte er dort vor?“

Sie stand am Fenster und sah hinaus. Der Blick ging in den Hinterhof des Gebäudes, der auch unter dem Namen Dönitz-Hof bekannt war. Bilder von ihm waren um die Welt gegangen, als nach Kriegsende 1945 die festgenommenen Nazi-Größen Karl Dönitz, Albert Speer und Alfred Jodl hier der Weltpresse vorgeführt wurden. Dieses Gebäude war zudem während der NS-Zeit Sitz der Gestapo gewesen. Antje fand es faszinierend, an einem so geschichtsträchtigen Ort zu arbeiten, und manchmal schauderte es sie, wenn sie darüber nachdachte, welch grauenvolle Geschichten mit diesem Gebäude verbunden waren.

„Es lagen keinerlei Unterlagen vor ihm“, sagte Mathis.

Antje kehrte ins Hier und Jetzt zurück. Zu dem toten Anwalt hinter dem Schreibtisch. Sie musste aufhören, nahm sie sich vor, ständig mit den Gedanken abzuschweifen.

„Aber die wurden vielleicht auch entfernt“, fuhr Mathis fort. „Von Engels Mörder.“

Antje nickte. „Und für mich sieht es so aus, als wäre der Täter ein Familienmitglied.“

„Genau. Wie in einem Edgar-Wallace-Krimi.“

Antje ging zu ihrem Schreibtisch hinüber und legte die Hände um ihren Becher Kaffee, denn die nasse Kälte des Tages hing ihr noch in den Knochen. Mathis hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt und tippte mit einem Kugelschreiber gegen seine Nase. „Wer profitiert am meisten von Engels Tod?“, fragte er.

„Laut dem Testament, das wir in seinem Schreibtisch gefunden haben, seine Frau. Sie erbt die Hälfte des Vermögens, die beiden Kinder je ein Viertel. Gelohnt hat es sich bei der Höhe der Erbschaft definitiv für jeden von ihnen.“

„Wir müssen herausfinden, wie die persönliche Finanzlage aller Beteiligten aussieht“, sagte Mathis und nahm die Füße vom Schreibtisch.

„Das kannst du für heute vergessen. Außer uns sind doch alle zu Hause und genießen die freien Tage.“

Das Telefon klingelte und strafte Antjes Worte Lügen. Verdutzt angelte sie nach dem Hörer. Es war die Gerichtsmedizinerin Frau Dr. Wolter.

„Sie arbeiten heute?“, fragte Antje überrascht. „Mit einem Ergebnis von Ihnen haben wir ehrlich gesagt noch gar nicht gerechnet.“

„Ach, wissen Sie, meine Kinder sind heute bei meinem Ex-Mann. Und ehe ich allein die Wände anstarre, mache ich mich lieber nützlich. Ich bin auch noch nicht fertig mit der Obduktion, aber etwas weiß ich schon jetzt.“

Antje setzte sich gerade hin. „Und das wäre?“

„Das Opfer hat kurz vor dem tödlichen Schlag noch einen weiteren bekommen. Die Nase war gebrochen.“

„Wie kurz vorher, können Sie mir das sagen?“