Die Friedhofsvilla - Britta Bendixen - E-Book
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Die Friedhofsvilla E-Book

Britta Bendixen

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Beschreibung

WENN DIE HÖLLE AUF DEM FRIEDHOF BEGINNT …

Eine kopflose Leiche im Wald stellt Kommissar Carsten Andresen und sein Team vor eine Herausforderung. Kaum haben die Ermittlungen begonnen, verschwindet plötzlich die Tochter von Andresens Lebensgefährtin spurlos. Kurz darauf wird auch er vermisst. Für seine Kollegen Lutz Weichert und Mirja Sommer deutet alles auf eine Entführung hin, doch es gibt keine Lösegeldforderungen. Geht es hier nicht um Geld, sondern um Rache? Sind der Hauptkommissar und seine Ziehtochter in Lebensgefahr? Um das Rätsel ihres Verschwindens zu lösen, suchen Weichert und Sommer in Andresens Vergangenheit nach Hinweisen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Währenddessen durchlebt Andresen auf dem Dachboden einer stadtbekannten, alten Villa seine ganz persönliche Hölle …

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Seitenzahl: 583

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der Schwache kann nicht verzeihen. Verzeihen ist eine Eigenschaft des Starken.Mahatma Gandhi

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2025 Niemeyer Buchverlage GmbH, Osterstraße 19, 31785 [email protected] Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8724-6

Britta Bendixen

Die FriedhofsvillaFlensburg-Krimi

PROLOG

Der Tag, den er wie keinen anderen herbeigesehnt hatte, begann wie jeder andere während der vergangenen acht Jahre: aufstehen um sechs, Frühstück um halb sieben, anschließend in die Werkstatt. Acht Stunden arbeiten, nur unterbrochen von der Mittagspause, und nach Feierabend die Stunde Freigang im Hof, damit die Insassen auch genügend Frischluft abbekamen. Einige spielten Basketball oder Tischtennis, doch die meisten bildeten Grüppchen, unterhielten sich, wobei ihr Atem kleine Wölkchen bildete, und warteten auf der Stelle stampfend und die Hände aneinander reibend darauf, dass sie in ihre Zellen zurückkehren durften, um sich wieder aufzuwärmen.

Der Winter hielt sich hartnäckig. Es war Ende Februar und so kalt, als hätte der Januar gerade begonnen. Ihm selbst war das egal, doch viele der anderen murrten. Sie zogen den Kopf tief zwischen die Schultern und jammerten über ihre kalten Zehen. Aber außerhalb dieser Mauern spielten diese Weicheier die harten Kerle.

Sie benahmen sich lächerlich, fand er, doch diese Meinung behielt er für sich. Nicht aus Angst vor den Reaktionen, sondern weil ihm die anderen gleichgültig waren und er keine Lust hatte, seine Haftzeit mit nutzlosen Streitereien zu vergeuden.

Mit zügigen, gleichmäßigen Schritten marschierte er über den Gefängnishof, öffnete und schloss rhythmisch die Hände, um sie warm zu halten, und starrte zwischendurch in den Himmel, der sich hinter grau-weißen Wolken verbarg. Kein besonders schöner Anblick der Welt draußen, aber der einzige, den er ohne störende Gitterstäbe betrachten konnte.

Nachmittags um halb fünf kehrte er zurück in seine Zelle, lümmelte sich auf seine Pritsche und machte den Fernseher an. Gelangweilt zappte er sich durch die Programme. Um diese Tageszeit lief nur Müll. Quizshows, Kochshows, Talkshows, dazwischen Werbung oder blöde Reality-Formate mit Leuten, gegen die seine Mitinsassen die reinsten Sympathieträger waren. Und unter denen tummelten sich echt kaputte Typen. Drogendealer, Zuhälter, Räuber und Mörder, die häufig mehr Jahre ihres Lebens im Knast als in Freiheit verbracht hatten und bei denen oft schon ein falsches Wort ausreichte, damit sie ausrasteten.

Er gehörte nicht zu ihnen, jedenfalls nicht so richtig. Er war definitiv klüger als sie, was allerdings nicht schwierig war. Die meisten von ihnen waren dumm wie eine Scheibe Toast.

Er protzte auch nicht mit seinen „Heldentaten“, und seine Haut zierte nur ein einziges Tattoo. Viele andere im Lauerhof sahen aus wie lebende Bilderbücher, hatten sich neben Armen, Beinen und Brustkorb gar ihre Hälse oder Gesichter tätowieren lassen. Das fand er scheußlich. Wie konnte man sich freiwillig derart entstellen?

Seine Haut zierte nichts als ein Schriftzug auf dem Unterarm.

Ja, er war anders. Er rauchte nicht einmal. Seine Zelle war wohl die einzige, in der es nicht nach Qualm stank. Nach einem einmaligen Versuch mit sechzehn stand für ihn fest, dass Zigaretten nicht sein Ding waren.

Er war als Bücherwurm und Sonderling verpönt und wurde entweder gemieden oder blöd angequatscht, worauf er nicht reagierte. Er machte nicht wie die anderen alberne Witze, über die er selbst am lautesten lachte, hängte sich an keine Gruppe wie ein Geschwür an ein gesundes Organ, sondern blieb für sich. Das Gefühl, anders als die anderen zu sein, begleitete ihn bereits sein gesamtes Leben. Er hatte sich daran gewöhnt, und nicht selten war er froh darüber. Obwohl man es als Eigenbrötler nicht leicht hatte, in keiner Beziehung.

Aber man hatte zumindest seine Ruhe.

Es hatte gedauert, bis die anderen akzeptiert hatten, dass er für sich sein und nichts mit ihnen zu tun haben wollte. In den ersten Wochen in der JVA wies er mehr Veilchen auf als ein talentloser Boxer. Er wurde geschlagen, getreten und gewürgt, und ein Typ hätte ihn im Duschraum fast vergewaltigt.

Da er klein und recht wendig war, hatte er sich im letzten Moment aus dem glitschigen Griff des anderen befreien, ihm die Faust in den Schritt rammen und ihm die Warnung, „Noch einmal, und ich bring dich um!“, zuraunen können.

Er musste überzeugend gewesen sein; die perverse Sau hatte es nicht wieder versucht – und auch kein anderer. Man ging ihm seither aus dem Weg. Sie hielten ihn für einen Sonderling. Einen Psycho.

Hin und wieder gab es dennoch einen Idioten, der meinte, sich auf seine Kosten amüsieren zu müssen. Diesen Knastbrüdern zahlte er es auf die gleiche Weise heim wie den Drecksäcken, die ihm draußen dumm gekommen waren – durch kleine, aber wirkungsvolle Racheaktionen, die ihm niemand nachweisen konnte.

Gelangweilt zappte er weiter durch die Programme und blieb bei einer Quizshow hängen. Der Kandidat, ein dürrer Mann mit ebensolchem Haar und gemustertem Strickpullunder, hatte vor Aufregung eine feucht glänzende Stirn und tat sich schwer beim Beantworten der Fragen. Sein ganzer Körper arbeitete mit; wiederholt fuhr er sich mit beiden Händen über den Schädel und schüttelte fassungslos den Kopf, wenn er einen Fehler machte.

Er verfolgte diese Freak-Show mit Häme, doch als auf dem ansonsten ruhigen Gang feste Schritte erklangen, die von den hohen Wänden widerhallten, spitzte er die Ohren. Die Schritte wurden unterbrochen von kurzen, hingeworfenen Sätzen und metallischem Scheppern. Geräusche, die er gut kannte. Schließlich hörte er sie tagtäglich.

Als sie sich seiner Zelle näherten, war die Hoffnung wieder da. Tauchte auf wie ein alter Bekannter, über dessen unverhofften Besuch man sich freute. Diesmal verspürte er sie noch heftiger als sonst; er war angespannt bis in die Haarspitzen, fühlte, dass eine Gänsehaut seine Arme hinaufkroch.

Als wüsste er instinktiv, dass das elende Warten endlich ein Ende hatte.

Aufmerksam nach draußen lauschend, griff er nach der Fernbedienung und schaltete den Ton weg. Dann schwang er seine Beine von der Pritsche, wurschtelte die besockten Füße in seine braunen Latschen, erhob sich und ging auf die Tür zu. Vernahm mit angehaltenem Atem die Laute dahinter und stellte sich die Szenerie auf der anderen Seite vor.

Der Justizvollzugsbeamte musste inzwischen bei Juwelen-George in der Zelle nebenan sein. Der hieß eigentlich Gregori, kam aus Russland und hatte einen Juwelier überfallen und erschossen. Ein übler Typ.

Er sah den JVA-Beamten in seiner Uniform vor sich, erahnte den teilnahmslosen Gesichtsausdruck und die Gleichgültigkeit, die er ausstrahlte. Noch hatte er kein präzises Gesicht vor Augen, denn um welchen der JVA-Leute es sich handelte, wusste er nicht. Es konnte Wilbert sein, Maier, Frieling oder auch Pinzner. Ihm war es schnurz, er konnte keinen von ihnen leiden. Besonders Wilbert war ein Arschloch. Boshaft und korrupt. Eigentlich gehörte er auch in eine der Zellen. Dennoch hoffte er, dass der Beamte an seiner Tür anhalten würde, selbst wenn es sich um „Wilbert, den Wichser“ handelte, wie er unter den Häftlingen genannt wurde.

Seine Atmung beschleunigte sich. Es konnte nur noch Sekunden dauern.

Wie von selbst wanderte sein rechter Daumen zwischen seine Lippen. Mit den Schneidezähnen begann er, auf dem Nagel herumzukauen. So stand er da, ein Ohr an das kalte Metall haltend, ein wenig nach vorn gebeugt, an seinem linken Daumen nagend wie ein Kleinkind. Obwohl ihn niemand sehen konnte, hörte er auf, legte die Hand stattdessen flach an die Tür, deren Kälte durch seine Haut in sein Innerstes zu dringen schien.

Die Schritte auf dem Flur näherten sich, hatten seine Zelle fast erreicht.

„Komm schon, du Wichser, bleib stehen“, murmelte er gegen die Tür.

Sein Atem wurde vom Metall gestoppt und wich seitlich weg, während sich seine Linke zur Faust ballte. Acht Fingernägel, die er mal wieder kürzen musste, gruben sich tief in seine Handballen, wie Spaten in Muttererde.

Die Schrittgeräusche verstummten. Direkt vor seiner Zelle. Er hielt die Luft an, rührte sich nicht. Auf der anderen Seite der Tür herrschte eine so vollkommene Stille, als hätte er sich die Anwesenheit des Vollzugsbeamten nur eingebildet. Doch dem war nicht so. Nein, der Beamte war an seiner Zelle stehen geblieben und befand sich nur Zentimeter entfernt, lediglich das Metall der verschlossenen Tür trennte sie voneinander.

In seinen Ohren begann es zu rauschen. Seine Kopfhaut prickelte, als hätte jemand Brausepulver draufgestreut. Dieser Moment, der vermutlich nur wenige Wimpernschläge andauerte, ihm aber wie eine kleine Ewigkeit vorkam, wurde von einem vernehmlichen Quietschen abgelöst, als sich die Revisionsklappe öffnete.

Um ein Haar hätte er laut gejubelt, hielt sich jedoch zurück und beschränkte sich auf ein triumphierendes Grinsen. Seine Vorahnung hatte ihn nicht getrogen.

Eine blasse, haarige Hand mit ungepflegten Fingernägeln schob einen Briefumschlag durch die Luke. Er glaubte, die Hand zu erkennen. Das war die von Pinzner, einem pockennarbigen, wortkargen Kerl mit Halbglatze und einem Blick, in dem stets Verachtung mitschwang.

„Post für Sie!“

Drei Worte, von Pinzner – er hatte nun auch die Stimme erkannt – gelangweilt ausgesprochen. Abgenutzt von zu vielen Wiederholungen.

Er nahm das Schreiben so ehrfürchtig entgegen, als wäre es zerbrechlich, und wünschte sich mehr als alles andere, dass es das enthielt, worauf er während der letzten Wochen so sehnlichst gewartet hatte.

Natürlich ist es das, redete er sich zu und spürte, dass sich sein Puls beschleunigte.

Was sollte es sonst sein? Sein Mund war noch trockener als das Brot, das er und die übrigen Häftlinge morgens und abends serviert bekamen und zu dem es stets zu wenig Aufschnitt gab.

Schon schloss sich die Klappe mit dem typischen harten Scheppern. Pinzners Schritte entfernten sich. Hielten an der nächsten Tür. Erneutes Klappern, die Ankündigung: „Post für Sie“, dann wieder Schritte. Immer dasselbe.

So eintönig wie das Leben hier.

Er blendete die Geräusche aus und betrachtete den Brief in seiner Hand. Es gab keine mit der Hand geschriebene Adresse auf dem Umschlag oder eine aufgeklebte Briefmarke. Es handelte sich um ein amtliches Schreiben mit Sichtfenster für die Empfängeranschrift und dem Aufdruck einer Portomaschine, doch er freute sich mehr darüber als über einen handschriftlichen Liebesbrief. Von wem hätte er solche Post auch erhalten sollen? Jasmin war tot und ohnehin nie eine Briefeschreiberin gewesen. Seine Mutter hatte ihm, seit er hier war, nie auch nur eine Zeile zukommen lassen, und auch sonst gab es niemanden, der ihm schrieb.

Wie alle Briefe war auch dieser unverschlossen. Jede Post wurde gelesen, jedes Päckchen geöffnet und auf Drogen, Waffen und anderes verbotenes Zeug überprüft.

Er zog den Inhalt aus dem Umschlag, entfaltete das einzelne Blatt und überflog den Text, in dem auf das geführte Gespräch ‚zum Zwecke der Eingliederung‘ eingegangen wurde.

Er erinnerte sich deutlich an diese Unterhaltung. Man bedauerte es, dass seinem Antrag auf Ausgang nicht stattgegeben werden konnte. „Natürlich haben Sie das Recht auf begleiteten Ausgang, um sich auf die Entlassung vorzubereiten, doch wie Sie selbst wissen, fehlt uns an allen Ecken und Enden Personal.“

Und ob er das wusste. Am Wochenende mussten alle Insassen neuerdings in ihren Zellen bleiben, bis auf die eine Stunde Hofgang. Es gab schlicht nicht genug Beamte, die die Häftlinge im Kraftraum oder bei anderen Freizeitaktivitäten beaufsichtigen konnten. Einige waren immer krankgeschrieben, andere mussten Wache im Krankenhaus schieben, wenn dort ein Häftling oder gar mehrere eingewiesen worden waren. Zwei Wärter für jeden Kranken. Das summierte sich, denn viele Insassen waren über fünfzig oder sechzig und benötigten aus den verschiedensten Gründen ärztliche Versorgung.

„Ich komme schon klar“, hatte er beruhigend erwidert. Den Musterhäftling zu spielen hatte er längst verinnerlicht. „Mein ehemaliger Chef hat mir angeboten, wieder bei ihm anzufangen. Ich war sein bester Mitarbeiter. Und erst einmal kann ich bei meiner Mutter unterkommen, bis ich was Eigenes finde. Sie wartet schon sehnsüchtig auf mich. Wissen Sie, sie ist nicht mehr die Jüngste und kann Hilfe gut gebrauchen.“

Ja, wenn das so sei, stehe einer baldigen Entlassung nichts im Wege, hatte der Justizvollzugsbeamte erleichtert gemeint und ihm eine Visitenkarte gereicht. „Das ist Ihr Bewährungshelfer, die Adresse steht auf der Karte. Sie haben die Auflage, sich monatlich bei ihm zu melden. Fangen Sie damit an, sobald Sie draußen sind.“

Er hatte mit ernster Miene versichert, dass er das selbstverständlich tun würde, und die Karte eingesteckt.

Und nun hielt er das Schreiben in der Hand, das sein Ticket in die Freiheit war.

Er überflog den Text bis hin zu einem fett gedruckten Datum, an dem sein Blick hängen blieb wie ein Hering am Haken eines Anglers.

15. März. Das waren nur noch knapp drei Wochen.

Er atmete lang aus, ließ den Brief sinken und drehte sich mit einem verklärten Lächeln um. Drei Wochen! Dann war er frei und konnte seinen lang gehegten Plan verwirklichen. Endlich!

Beinahe trunken vor Freude legte er den Brief auf den Tisch und ließ seinen Blick durch die Zelle wandern, die seit einer gefühlten Ewigkeit sein Zuhause war. Knapp zehn Quadratmeter, weiße Wände und ein kalter, matschbrauner Linoleumboden. Er betrachtete das schmale, unordentliche Bett an der linken Seite, den quadratischen Tisch samt Stuhl gegenüber. Daneben stand ein niedriger Schrank für seinen persönlichen Krempel. Darüber hing der Fernseher, der noch immer ohne Ton lief. Ein neuer Kandidat stand dem Quizmaster Rede und Antwort. Ein distinguiert aussehender Herr mit weißem Haar, gepflegtem Schnurrbart und randloser Brille. Ein Professor oder so was, der deutlich gelassener wirkte als sein Vorgänger.

Sein Blick schweifte weiter durch die Zelle. In einer Zimmerecke stand sein Spind, den er mit Fotos dekoriert hatte, denn an die Wände durften sie nichts kleben. Fast alle Bilder zeigten sich sexy rekelnde junge Frauen, genau wie in den anderen Zellen. Sein Lieblingsfoto sah man jedoch nicht. Und das war auch gut so.

Mehr gab es hier nicht, wenn man von der kleinen Waschecke absah, die nur durch eine Faltwand vom Rest der Zelle abgetrennt war. Ein kleines Waschbecken mit Ablage sowie die Toilette. Durchschnittlich einmal am Tag stank es deshalb in seiner Zelle wie früher auf dem Schulklo, sodass er das Fenster öffnen musste, selbst wenn es draußen fror.

Er wandte sich um und schaute sehnsüchtig durch die Gitterstäbe nach oben zum Himmel. Weg von den Mauern und dem Stacheldraht. Die Abenddämmerung hatte eingesetzt, und die Wolkendecke vom Mittag wirkte nun düster und mottenzerfressen.

Er wandte sich ab und ließ sich auf seine Pritsche fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke. Bald war Frühling, und dann kam er hier raus. Nichts in dieser erbärmlichen Zelle würde er vermissen, im Gegenteil. Er würde froh sein, wenn er diesen vier engen Wänden endlich den Rücken kehren und ein größeres Stück des Himmels sehen konnte. Eines, das nicht von Metallstäben geteilt oder von steinernen Wänden begrenzt wurde.

Schon sah er sich am Flensburger Hafen stehen. Vor ihm im Wasser würden Schiffe dümpeln, unter ihnen die gute alte Alexandra, der historische Salondampfer, der stets eine dicke schwarze Qualmwolke hinter sich herzog, wenn er tuckernd über die Förde schipperte.

Er hörte über sich eine Möwe kreischen und spürte salzige Luft seine Nase hinaufkriechen. Eine herrliche Vorstellung. Wenn er dort stünde, den rauschenden Verkehr im Rücken, die sich zum Himmel streckenden Schiffsmasten im Blick, würde er IHM ganz nah sein. Dann endlich war die Zeit der Rache gekommen.

Der Tag, auf den er so lange gewartet hatte.

Bedächtig erhob er sich und ging die wenigen Schritte bis zum Spind. Seine linke Hand näherte sich dem Foto einer barbusigen Blondine mit weißen Strapsen, die ihn lasziv ansah, die vollen, rot glänzenden Lippen verheißungsvoll geöffnet.

Er löste den locker sitzenden Klebestreifen an der unteren Kante der Abbildung. Unter diesem Bild hing ein anderes, das dank Blondie weiteren Betrachtern verborgen blieb. Das nur ihm allein gehörte.

Zum gefühlt tausendsten Mal betrachtete er das Foto, das er kurz nach seiner Ankunft hier in einer älteren Zeitung gefunden hatte, die im Aufenthaltsraum lag. Die Schlagzeile darüber hatte seine Aufmerksamkeit erregt.

Scheren standen ihnen nicht ohne Weiteres zur Verfügung, und so hatte er die Aufnahme behutsam herausgerissen und zusammengefaltet in seinem Strumpf verborgen.

Das dünne Papier war inzwischen gelber als die Zähne seines anderen Zellennachbarn Rudi. Auf der Aufnahme waren weder nackte Brüste noch lange Beine zu sehen, doch jedes Mal, wenn er es betrachtete, verspürte er eine erregende Vorfreude. Es zeigte einen großen, kräftigen Mann vor dem Gebäude der Polizeidienststelle an den Norderhofenden in Flensburg, nicht weit von der Hafenspitze entfernt. Schütteres helles Haar, breite Schultern, ein unrasiertes Durchschnittsgesicht mit gefurchter Stirn, das ernst und konzentriert dreinschaute.

Jede Kleinigkeit dieses Gesichts war ihm so vertraut wie sein eigenes.

Die Schlagzeile hatte er nicht mit ausgerissen. Er brauchte sie nicht, sie war ohnehin in sein Gedächtnis eingebrannt, war so allgegenwärtig wie das Tattoo auf seinem Unterarm.

Die Zeile lautete: Urteil im Mordfall Jasmin A., und darunter hatte in etwas kleinerer Schrift gestanden: 12 Jahre Haft für Ex-Freund.

Nein, diese Worte und den dazugehörigen Artikel hatte er nicht täglich vor sich sehen wollen, bezeichnete beides doch seine schlimmste Niederlage. Er wollte nichts weiter als dieses Gesicht. Diese hassenswerte Visage, die er seit so langer Zeit kannte und in die seine Faust unbedingt hineinkrachen wollte. Im Kraftraum tat sie das, denn er sah das Antlitz immer vor sich, wenn er auf den Sandsack einprügelte. Es spornte ihn an.

„Bald ist es so weit“, flüsterte er dem Mann auf dem Foto zu. „Dann wirst du büßen. Für alles, was du mir angetan hast. Eines verspreche ich dir: Du wirst dir wünschen, wir wären uns niemals begegnet. Und weißt du auch, warum, hm? Nein? Dann will ich es dir verraten: Weil du unser Wiedersehen nicht überleben wirst, alter Freund.“

Sein Blick wanderte von dem Foto zu dem Schriftzug auf seinem linken Arm.

Vindicta stand dort.

Das lateinische Wort für Rache.

KAPITEL 1

„Carsten, wo ist Mama?“

Carsten Andresen schaute über seine Schulter zur Tür des Wohnzimmers. Im Rahmen stand Antonia, die fünfzehnjährige Tochter seiner Lebensgefährtin, und blickte ihn ungeduldig an.

„Sie hat eine Hausbesichtigung“, antwortete er. Diese fanden häufig an einem Samstag statt, weil Berufstätige dann Zeit für so was hatten.

„Und wann kommt sie wieder?“

„Keine Ahnung. In ein oder zwei Stunden, schätze ich.“

Es klingelte an der Tür.

„Ich geh‘ schon!“, rief Antonia.

Wenig später hörte Carsten sie und ein weiteres Mädchen verschwörerisch kichern. Er erhob sich aus seinem Sessel, von wo aus er eine TV-Doku über das Leben in der früheren DDR verfolgt hatte, und steuerte auf die beiden Kichererbsen zu.

„Die Luft ist rein“, flüsterte Antonia ihrer Freundin gerade zu.

„Die Luft ist rein für was?“, erkundigte er sich freundlich und schaute sich die Besucherin genauer an. Es handelte sich um eine von Antonias Freundinnen aus der Nachbarschaft, ihr Name fiel ihm gerade nicht ein. Aber er hatte durchaus registriert, dass sie bei seinem Erscheinen hastig etwas hinter ihrem Rücken versteckt hatte.

Er sah sie aufmerksam an. „Moin.“

„Hallo“, erwiderte sie leise und senkte verlegen den Blick.

Andresen lehnte sich an den Türrahmen und verschränkte die Arme. Demonstrierte Lässigkeit. „Na, was habt ihr denn vor?“, erkundigte er sich, obwohl es ihn nicht sonderlich interessierte, doch als Vertretung von Daniela musste er wohl zumindest fragen, denn sie täte es garantiert.

„Nichts Besonderes“, antwortete Antonia abwinkend. „Wir gehen rauf in mein Zimmer. Komm, Zoey.“

Richtig, fiel Andresen wieder ein. Zoey heißt sie. Die Tochter von Silke. Eine alleinerziehende Mutter, die bei einer Versicherung arbeitete und nur wenige Gehminuten entfernt wohnte.

Antonia schob ihre Freundin Richtung Treppe, sichtlich bemüht, das Mitbringsel in deren Händen verborgen zu halten. Doch mit so einer Aktion weckte sie erst recht Andresens Argwohn. Er war nicht umsonst Hauptkommissar bei der Flensburger Kripo.

„Zeig doch mal, was du da hast“, sagte er zu Zoey in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Darin hatte er Übung.

Antonia blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und stöhnte genervt auf.

„Na los, her damit.“ Carsten streckte die Rechte aus und wedelte ungeduldig mit der Hand.

Die beiden Mädchen tauschten einen Blick, dann hielt Zoey ihm zögernd eine Schachtel entgegen. Er nahm sie und betrachtete sie eingehend. Von dem kleinen Hochglanzkarton lächelte eine junge Frau mit Haaren, deren Farbe Andresen stark an das Krümelmonster erinnerte.

Entgeistert sah er Antonia an. „Du willst dir die Haare knallblau färben? Spinnst du?“

Prompt verschloss sich das Gesicht seiner Ziehtochter. Sie ging auf ihn zu und riss ihm die Schachtel aus der Hand. „Das geht dich gar nichts an.“

„Na hör mal! Deine Mutter würde das garantiert nicht erlauben.“

„Sie ist aber nicht da, oder?“

„Stimmt. Aber ich bin hier, und als autorisierte Vertretung sage ich Nein.“

„Du bist nicht mein Vater“, konterte Antonia mit erhobenem Kinn. „Du hast mir gar nichts zu sagen. Komm, Zoey, wir verschwinden.“

Damit wandte sie sich wieder um und erklomm die ersten Stufen.

„Toni, gib mir die verdammte Schachtel!“, verlangte Andresen wütend, „und zwar sofort!“

Antonia schnaubte nur und flitzte in einem Affenzahn hinauf ins Obergeschoss. Zoey warf ihm zwar einen verschüchterten Blick zu, folgte ihrer Freundin jedoch eilig nach oben.

Carsten stand da wie ein Idiot, und so was hasste er wie die Pest. Natürlich hatte Antonia recht. Er war nicht ihr Vater, obwohl er das Mädchen liebte wie ein eigenes Kind. Immerhin kannte er sie bereits seit dem Grundschulalter. Doch in der letzten Zeit machte der Teenager ihn wahnsinnig. Nicht nur mit der rotzigen Art, die sie immer häufiger an den Tag legte. Ihr Zimmer sah aus wie eine Messie-Unterkunft, ständig aß sie seinen Lieblingsjoghurt auf, ehe er einen davon essen konnte, und behielt noch dazu die leeren Becher samt Löffel oben bei sich, sodass er hin und wieder gezwungen war, seinen Kaffee mit einer Kuchengabel umzurühren, weil sämtliche Löffel fehlten.

Manchmal wagten Daniela und er sich, mit Tabletts bewaffnet, in die Höhle ihres kleinen Pubertiers, wenn es nicht da war, und holten alles an Besteck und Geschirr, was sie finden konnten, um Schublade und Küchenschränke wieder aufzufüllen. Es erstaunte beide immer wieder, wie viel sie zum Vorschein brachten. Sie fanden Teller unter dem Bett, Schüsseln im Kleiderschrank und Gläser auf der Fensterbank, dezent hinter dem Vorhang verborgen. Und nicht selten klebten schimmelige oder verkrustete Essensreste daran.

Kam Toni dann nach Hause, gab es meist einen handfesten Krach zwischen Mutter und Tochter, bei dem strenge Regeln aufgestellt wurden, die Antonia ohnehin nicht einhielt. Als unmittelbare Konsequenz wurde der Teenie regelmäßig dazu verdonnert, die verdreckten Fundstücke zu säubern und wegzustellen. Was sie auch tat. Diese ungeliebte Arbeit hinderte sie jedoch nicht daran, wenig später eine neue Sammlung zu starten, sodass das Spiel von Neuem begann.

Ja, auch die resolute Daniela stieß momentan an ihre Grenzen. Ihre heranwachsende Tochter machte, was sie wollte, wusste alles besser, und für die Frechheiten, die sie von sich gab, hätte Carsten in dem Alter saftige Ohrfeigen kassiert. Das war inzwischen verpönt, was er im Prinzip auch guthieß. Aber manchmal …

Er knirschte mit den Zähnen. Die Pubertätsphase war eine echte Herausforderung ans Nervenkostüm, stellte er nicht zum ersten Mal fest.

Als seine eigene Tochter Desirée in dem Alter gewesen war, hatte sie sich ebenfalls ohne Erlaubnis die Haare gefärbt, erinnerte er sich. Einmal hatte sie anschließend wie Pumuckl ausgesehen, und die Handtücher, die sie benutzt hatte, musste er wegwerfen, weil die grellen Farbflecken auch nach der Wäsche in voller Pracht leuchteten.

Was stimmt nicht mit diesen Kindern, überlegte er auf dem Weg zurück zu seinem Fernsehsessel, dass sie an der Grenze zum Erwachsenwerden unbedingt aussehen wollen wie die Helden ihrer frühen Kindheit?

Er ließ sich kopfschüttelnd in seinen Sessel fallen und nahm sein Smartphone auf, das griffbereit auf dem Wohnzimmertisch lag. Er würde Daniela nicht anrufen, weil sie das hasste, wenn sie arbeitete, doch er konnte ihr eine WhatsApp-Nachricht schicken.

Antonia will sich ihre Haare blau färben, lässt sich von mir aber nicht davon abbringen, weil ich nicht ihr biologischer Erzeuger bin. Mach dich also auf eine Überraschung gefasst, wenn du nach Hause kommst. C.

Dahinter fügte er einen Kuss-Smiley ein, um die schlechte Botschaft ein wenig abzumildern.

Er hatte getan, was er konnte, fand er und legte das Handy zurück auf den Tisch. Dennoch machte sich ein ungutes Gefühl in seiner Magengegend breit, während er die Doku weiterverfolgte und sich fragte, ob es in der früheren DDR wohl blaue Farbe für die Haare gegeben hatte. Er bezweifelte es.

Montag

„Moin, Chef“, begrüßte Kriminalkommissarin Mirja Sommer ihn am Montagmorgen, als er ihr gemeinsames Büro betrat. „Gute Nachrichten: Letzte Nacht wurde der Kerl, der ständig auf der westlichen Höhe einbricht, auf frischer Tat ertappt. Und das Beste ist, er hat sämtliche Taten gestanden.“

Sein „Großartig“ fiel knapp aus. Mürrisch entledigte er sich seines Parkas und hängte ihn an den spillerigen Garderobenständer.

Die junge Kommissarin sah auf. „Welche Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?“

„Wieso?“, fragte er gereizt. „Ich bin prächtiger Stimmung!“

„Davon hat Ihr Gesicht offenbar noch nichts mitbekommen. Ärger zu Hause?“

„Aber woher denn?“ Er blitzte Mirja auf dem Weg zu seinem Schreibtisch an. „Nur weil die kleine Rotzgöre, die bei uns wohnt, plötzlich eine Haarfarbe hat, die an einen Karibik-Cocktail erinnert, und Daniela mir die Schuld dafür gibt? Ich bitte Sie!“

Als seine Lebensgefährtin am Samstagnachmittag nach Hause gekommen war, hatte Carsten sofort gesehen, dass es in ihr brodelte wie in einem Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Ihm hatte sie lediglich einen finsteren Blick zugeworfen und war – ohne sich vorher die Jacke oder die Schuhe auszuziehen, was immer ein schlechtes Zeichen war – sofort und zwei Stufen auf einmal nehmend ins Obergeschoss geeilt.

Sekunden später wurde er unfreiwillig Zeuge einer weiteren lautstarken Mutter-Tochter-Auseinandersetzung, inklusive Türenknallen und lautem Geheule vonseiten Antonias.

Die mütterliche Ansage kam natürlich zu spät, das Haar ihres Nachwuchses leuchtete bereits wie ein Blaulicht im Einsatz.

Später bekam auch er sein Fett weg, weil er sich gegen Toni nicht durchgesetzt und die „völlig idiotische Aktion“ nicht verhindert hatte. Natürlich hatte er versucht, sich zu verteidigen, doch ohne Erfolg.

Seitdem war Daniela ungefähr so zugänglich wie ein Kaktus, und Antonia schmollte schweigend vor sich hin. Da der Auslöser der ganzen Angelegenheit – die blauen Haare – allgegenwärtig war, änderte sich daran auch nichts. Die Stimmung im Haus war daher mit frostig noch schmeichelhaft umschrieben.

„Welcher Cocktail?“, fragte Mirja nun und riss ihn damit aus seinen unschönen Gedanken.

Stirnrunzelnd sah er zu ihr hinüber. „Wie bitte?“

„Wie welcher Cocktail sieht Antonias Haar aus?“

„Na, dieser giftig blaue, ich weiß nicht, wie der heißt.“

„Ah, Sie meinen wohl einen ‚Swimmingpool.‘“ Mirja grinste. Doch der fröhliche Ausdruck verschwand sofort wieder, als sie Andresens finsteren Blick auffing. Sie räusperte sich. „Ich hoffe, es war nur eine Tönung.“

Er zog sein Handy aus der Hosentasche und legte es wie jeden Morgen auf seinen Schreibtisch. „Wieso?“

„Na, weil sich eine Tönung nach einigen Haarwäschen wieder verflüchtigt. Wenn Antonia sie aber richtig gefärbt hat, muss das Haar erst wieder rauswachsen. Das dauert. Und meistens sieht es ziemlich schei…, äh, unvorteilhaft aus, wenn die Originalfarbe sich langsam durchsetzt. Dann ist man zweifarbig sozusagen. Oben normal, unten – in diesem Falle – blau.“

Andresen ließ sich stöhnend in seinen Bürosessel fallen, der schnaufend gegen diese Behandlung protestierte. „Ich habe keine Ahnung, ob sie gefärbt oder getönt hat, und im Moment ist es mir auch egal. Von mir aus kann sie gerne herumlaufen wie eine schlechte Comiczeichnung. Lassen wir jetzt diese nervtötenden Haarspaltereien und widmen uns unserer Arbeit, okay?“

„Von mir aus.“ Mirja stand auf und reichte ihm einen Aktenhefter. „Hier, die Unterlagen zur Einbruchsserie.“

„Danke.“

„Guten Morgen!“, ertönte es fröhlich von der Tür. Die Köpfe von Andresen und Mirja drehten sich herum.

„Morgen, Lutz“, sagte Mirja lächelnd.

„Moinsen“, grummelte Andresen.

Lutz Weichert, seines Zeichens Oberkommissar, zog seine knallrote Jacke aus und hängte sie über die Lehne seines Bürosessels. „Sind Sie noch genervt wegen der Köln-Pleite?“, erkundigte er sich bei seinem Chef. „Das Spiel gegen Lemgo war doch in Ordnung.“

Andresen zog die Stirn kraus. Die Leistungen der SG Flensburg-Handewitt im Final Four des DHB-Pokals, die ebenfalls dazu beigetragen hatten, sein Wochenende zu versauen, hatte er schon wieder verdrängt.

„Das Debakel am Samstag hat mich tatsächlich genervt“, gab er zu, „doch darum geht es hier nicht.“

„Worum denn dann?“

„Der Einbrecher, der uns zuletzt so intensiv beschäftigt hat, wurde endlich geschnappt“, berichtete Mirja, „und Antonia hat neuerdings blaue Haare.“

Lutz Weichert stutzte. „Blaue Haare? Wieso denn das?“

„Verdammt gute Frage“, murmelte Andresen. „Vermutlich, weil der gesunde Menschenverstand bei Teenagern erst noch heranreifen muss, der schlechte Geschmack dagegen bereits sehr ausgeprägt ist.“

Das Telefon klingelte, und Mirja hob ab.

Auf Weicherts Gesicht erschien ein verträumtes Lächeln, sein Blick schweifte in die Ferne. „Ich habe mir mit sechzehn die Haare mal rostrot gefärbt. Meine Eltern sind auch ausgeflippt, aber ich fand es cool.“

„Ich bin nicht ausgeflippt“, stellte Andresen klar. „Mir ist im Grunde wurscht, wie Antonia herumläuft. Daniela allerdings war alles andere als begeistert.“

„Und hat Sie das spüren lassen“, ahnte Weichert.

Mirja legte den Hörer auf. „Chef, es gibt Arbeit. An dem See in der Marienhölzung wurde eine Leiche gefunden.“

Andresen horchte auf. „Am Schwanenteich?“

„Nee, an dem anderen. Dem Wolfsmoor.“

„Wolfsmoor?“, wiederholte Weichert. „Klingt gruselig.“

„Als Junge bin ich dort Schlittschuh gelaufen“, erinnerte sich Andresen.

Das waren herrliche Wintertage gewesen. Er sah wieder Petra vor sich, die so tolle Pirouetten drehen konnte, und ihm zulächelte, wenn er ...

„Die Leiche wurde nackt und ohne Kopf geborgen“, berichtete Mirja und ließ damit die Bilder aus Andresens Vergangenheit wie Seifenblasen platzen. „Der Täter hat sie in einer Mülltüte regelrecht entsorgt. Bisher steht lediglich fest, dass es sich um eine ältere Frau handelt.“

„Na, dann sollten wir uns die mal ansehen“, meinte Carsten lustlos und erhob sich. „Kommen Sie, Weichert, ziehen Sie Ihr Clownsjackett wieder an, wenn Sie glauben, dass Sie dem Anblick einer Leiche ohne Kopf gewachsen sind.“

Weichert nickte mit heroischer Miene. „Das schaffe ich schon. Hoffe ich. Aber vorher muss ich noch rasch zur Toi­lette.“ Er wartete keine Reaktion ab, sondern verließ den Raum.

„Was ist mit mir?“, wollte Mirja von Andresen wissen.

„Sie überprüfen schon mal sämtliche aktuellen Vermisstenanzeigen und suchen alle Fälle zusammen, die mit einer Enthauptung zu tun hatten.“ Er zog seinen Parka an, während aus dem Radio die Stimme von Udo Lindenberg erklang.

Mitten in der Bewegung hielt er inne und musste unwillkürlich lächeln.

„Chef?“, fragte Mirja in fast besorgtem Tonfall. „Ist alles in Ordnung?“

Er schlüpfte in den zweiten Ärmel. „Ach, es ist nichts weiter. Nur dieses Lied.“ Er wies mit dem Kinn zum Radio.

Mirja drehte die Lautstärke etwas höher und lauschte. „Das ist doch der Song von Apache Irgendwas und Udo Lindenberg“, sagte sie. „Den spielen sie gerade rauf und runter.“

„Komet, ja. Ich weiß.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass Sie ein Fan davon sind.“

„Bin ich auch nicht. Bei Lindenberg krieg ich normalerweise Ausschlag. Aber ich musste an etwas denken.“

„Und an was?“

„Antonia mit den Cocktailhaaren. Sie liebt diesen Song. Neulich, noch vor dem Haar-Debakel, saßen wir in der Küche beim Frühstück, und sie war der totale Morgenmuffel. Wie immer, sozusagen. Doch dann kam dieser Song im Radio, und sie war wie ausgewechselt. Begann zu strahlen und summte die Melodie mit.“

„Das ist doch schön“, meinte Mirja.

Andresen zog seinen Reißverschluss zu. „Find ich auch. Sie meinte, dass sie sich den Song immer anhört, wenn sie gute Laune hat oder bekommen will. ‚Wenn ich den höre‘, sagte sie, ‚dann geht es mir gut‘. Und daran habe ich eben denken müssen.“

„Ich wäre dann so weit“, sagte der zurückgekehrte Weichert und zog schwungvoll seine Jacke vom Bürostuhl, sodass der eine halbe Drehung machte.

„Na endlich!“ Andresen warf Mirja noch ein: „Bis später“, zu und trat auf den Flur hinaus.

Weichert folgte ihm, seine Arme in die roten Ärmel wurschtelnd. „Antonia hat also wirklich blaue Haare? So wie Grobi?“, fragte er auf der Treppe nach unten.

„Etwas heller, eher wie das Krümelmonster. Und Daniela ist seitdem so grantig wie Oskar aus der Mülltonne. Man könnte also sagen, ich wohne derzeit in einer unschönen Version der Sesamstraße. Aber nun Schluss mit diesem haarigen Thema. Auf uns wartet eine kopflose alte Dame.“

Weichert stöhnte. „Und so was vor meinem zweiten Becher Tee.“

Andresen grüßte einen entgegenkommenden Kollegen und betrachtete Weichert von der Seite. Tatsächlich war mit ihm, wie Andresen aus Erfahrung wusste, erst etwas anzufangen, wenn er nach seiner Ankunft im Büro seinen müffelnden Ingwertee geschlürft hatte.

„Ich frage mich wirklich, wie Sie bei der Kripo landen konnten“, meinte er, als sie die breite Treppe zum Hauptausgang hinunterstiegen. „In unserem Beruf werden wir doch ständig mit unschönen Anblicken oder scheußlichen Gerüchen konfrontiert. Und Sie reagieren sowohl bei dem einen als auch bei dem anderen wie ein kleines Mädchen, ob mit oder ohne den ekligen Tee im Magen.“

„Dass ich manchmal einen Hauch empfindlicher reagiere als Sie, macht mich nicht zu einem schlechteren Polizisten“, stellte Weichert beleidigt klar, „es bedeutet lediglich, dass –“

„Sogar Mirja, die nicht so viele Dienstjahre wie Sie auf dem Buckel hat, steckt vieles besser weg“, unterbrach ihn Andresen kopfschüttelnd und schob die schwere grüne Tür auf. Weichert trat schweigend an ihm vorbei nach draußen.

„Sie sagt immer: ,Mein Vater ist Metzger, mich haut so schnell nichts um‘“, zitierte Andresen die junge Kollegin. „Und das stimmt tatsächlich.“

„Mein Vater ist Juwelier“, entgegnete Weichert und klang dabei sowohl stolz als auch trotzig.

Andresen fischte bereits seine Autoschlüssel aus der Jackentasche. „Das erklärt einiges.“

„Ich kann doch nichts dafür, dass ich nicht zwischen Schweinehälften aufgewachsen bin.“

Andresen sparte es sich, etwas zu erwidern. Er war in Gedanken bereits beim Wolfsmoor und hoffte inständig, dass sein Kollege beim Anblick einer enthaupteten Leiche sein Frühstück bei sich behalten würde. Erbrochenes stand nämlich bei ihm selbst weit oben auf der Liste der Dinge, gegen die er partout nicht ankam.

Im Frühling war es in der Marienhölzung am schönsten, fand Andresen, und er merkte, dass die natürliche und friedliche Umgebung seine Stimmung ein wenig hob, auch wenn es ein ungewohntes Gefühl war, mit dem Wagen durch den Wald zu fahren. Doch für einen gemütlichen Spaziergang fehlte ihnen die Zeit. Bei Mord – und darum schien es sich zu handeln – zählte jede Minute. Rasen konnte er nicht über die Waldwege, schon wegen der Spaziergänger, es war eher ein Schleichen. Dennoch hätten sie zu Fuß länger gebraucht.

Ein schöner Ort wie dieser, dachte Andresen, der seinen Blick kurz über das frische, hellgrüne Blätterdach über ihnen wandern ließ, dürfte eigentlich nicht durch eine Leiche entweiht werden. Schon gar nicht durch eine ohne Kopf.

Manche Menschen schreckten aber auch vor gar nichts zurück.

Es war ein sonniger Tag, eigentlich der erste, der tatsächlich Frühlingsgefühle aufkommen ließ, auch wenn die Temperaturen noch zu wünschen übrig ließen, wie Andresen mit einem Blick auf die Anzeige am Armaturenbrett feststellte. Gerade einmal zehn Grad Celsius. Und das Mitte April!

Dieses Frühjahr verlangte einiges an Geduld von Menschen wie ihm, die die wärmere Jahreszeit herbeisehnten. Immerhin hatte der Winter sich wohl endgültig verabschiedet, und die Sonne schickte ein paar helle Strahlen durch die Zweige, die als Lichtflecken auf dem Boden ankamen. Hier und da blühten lilafarbene und gelbe Krokusse am Wegesrand, und Spaziergänger, Hundebesitzer und Jogger kamen ihnen entgegen. Sie warfen dem Mercedes neugierige oder irritierte Blicke zu. Ein Auto im Wald war nun mal ein seltener Anblick.

Andresen ignorierte sie geflissentlich und fuhr langsam weiter.

Als sie sich dem See näherten, erkannte er bereits aus einiger Entfernung die Absperrbänder, die den Fundort weiträumig vor Unbefugten sicherten, sowie mehrere parkende Einsatzfahrzeuge.

Schaulustige hatten sich an der Grenze des abgesperrten Bereichs versammelt. Sie tuschelten und reckten die Hälse, obwohl von den Geschehnissen am Ufer von hier aus kaum etwas zu sehen sein konnte. Zum See hinab führte ein etwa dreißig Meter langer Waldweg, und Bäume und Büsche sowie die Beamten vor Ort sorgten zusätzlich dafür, dass Neugierigen die Sicht auf Details verwehrt blieb.

Ein Hund kläffte, als Andresen und Weichert ausstiegen und näher kamen. Der Mischling, unter dessen Ahnen sich vermutlich unter anderem Boxer und Schäferhunde tummelten, wurde von seinem Frauchen barsch zum Stillsein aufgefordert, jedoch ohne hörbaren Erfolg.

Weichert und Andresen stülpten Plastikhüllen über ihre Schuhe und Einweghandschuhe über ihre Finger, ehe sie über das Absperrband stiegen. Der Hund hatte sich endlich ausgebellt und saß aufgeregt hechelnd neben seinem Frauchen.

Sie näherten sich achtsam dem Ufer des Sees, wo Beamte der Spurensicherung in weißen Anzügen sowie einige uniformierte Kollegen bei der Arbeit waren. Blitzlichter flammten auf.

Das Wolfsmoor wurde fast vollständig von Bahngleisen umsäumt. Lediglich die Seite, von der sie kamen, war bahngleisfrei. Die Wasseroberfläche – im Sommer fast vollständig von Seerosen bedeckt – zeigte sich heute von ihrer dunklen, spiegelglatten Seite. Bis die anmutigen Seerosen ihren Auftritt hatten, würden noch einige Wochen ins Land gehen.

Sie wandten sich nach rechts, denn dort entdeckte Andresen seinen alten Kumpel Dr. Karl-Heinz Schwarzhaupt, der – ebenfalls in Weiß – auf dem Waldweg neben der Leiche kniete. Eine Szene, die so gar nicht an diesen idyllischen Ort passte.

„Moinsen, Kalle“, rief Andresen. Er freute sich, seinen Freund wiederzusehen.

Schwarzhaupt drehte sich halb um und grinste Andresen hinter der Schutzmaske an, was unschwer an den sich vertiefenden Falten in den Augenwinkeln zu erkennen war. „Carsten, alter Schnüffler! Lange nicht gesehen.“

„Viel zu lange. Geht es deinem Rücken wieder gut?“

Schwarzhaupt richtete sich auf und stöhnte leise dabei. „Gut wäre übertrieben. Aber zumindest ist es besser geworden. Ich bin halt im knackigen Alter.“

„Du bist nicht der Einzige. Bei mir sind es die Knie, besonders das rechte.“

Andresen hatte in seiner Jugend von einer Karriere in der Handball-Bundesliga geträumt. Eine schwere Meniskusverletzung hatte diesen Traum platzen lassen.

Er trat näher, um einen genauen Blick auf die unbekleidete Frau zu werfen. Ein schöner Anblick würde es nicht sein, also wappnete er sich.

„Vorsicht!“, rief Kalle Schwarzhaupt und wies auf den Boden. „Dort hat sich jemand übergeben.“

„Was? Uäh!“ Andresen wich der erbrochenen Pfütze angewidert aus und sah schnell zur Seite. „Pfui Deibel. Wer war das?“

„Keine Ahnung. Aber deine Reaktion ist interessant, angesichts der Tatsache, dass nur zwei Meter daneben eine enthauptete Leiche liegt.“ Schwarzhaupts tiefblaue Augen blitzten amüsiert auf.

Andresen ignorierte die Bemerkung und betrachtete den leblosen Körper. Auch dieser Anblick war, wie er erwartet hatte, alles andere als angenehm. Es erstaunte ihn selbst, dass sein Magen hier weniger rebellierte als bei hervorgewürgten Essensresten, aber was sollte er machen? So war es nun einmal, und er beschloss, sich lieber den Kopf über das verübte Tötungsdelikt zu zerbrechen.

Lediglich eine aufgeschnittene dunkelgrüne Plastikplane trennte den kopflosen, schon recht verwelkten Körper von dem festgetretenen dunklen Waldboden. Er ordnete das Alter der Frau irgendwo zwischen fünfundsiebzig und fünfundachtzig Jahren ein.

Am Hals der Leiche war ein blutroter Rand zu sehen. Er sah zu Kalle Schwarzhaupt. „Was kannst du uns bisher sagen?“

„Tja, nicht allzu viel, fürchte ich. Die Tüte lag zu großen Teilen im Wasser, das durch mehrere Schlitze eindrang. So war der Leichnam in Bewegung, es gibt also keine Leichenflecken, und auch eine Leichenstarre findet unter diesen Umständen nicht statt. Auf den ersten Blick würde ich vermuten, der Mord liegt nur wenige Tage zurück. Maximal zwei. Hätte sie eine Woche oder länger in dieser Tüte gelegen, würde sie anders aussehen.“

„Du nimmst aber nicht an, dass die Enthauptung die Todesursache war, oder?“

Schwarzhaupt schüttelte den Kopf. „Unwahrscheinlich. Die Abtrennung des Kopfes geschah ziemlich sicher postmortal, und zwar der Wunde nach zu urteilen vermutlich mit einer Axt.“

„Eine Hinrichtung wie im Mittelalter“, meinte Andresen angewidert.

„Wie gesagt, gestorben ist sie schon vorher.“

„Du weißt doch, was ich meine. Wahrscheinlich wurde sie erwürgt oder erschlagen, ehe ihr der Kopf abgetrennt wurde. Oder was meinst du?“

„Es ist durchaus möglich, dass sie erwürgt wurde, die Stauungsblutungen hier sprechen dafür.“ Schwarzhaupt wies auf eine Stelle am Hals. „Ein verletzter Kehlkopf würde diese Vermutung erhärten, den schaue ich mir an, wenn sie auf meinem Tisch liegt. Stichwunden, Einschusslöcher oder andere tödliche Verletzungen konnte ich nicht finden.“

„Vermutlich wurde der Kopf entfernt, um die Identifizierung zu erschweren“, meinte Andresen. „Wird ja nicht gerade einfacher, wenn man kein Gesicht des Opfers hat.“

„Und kein Gebiss“, fügte Schwarzhaupt hinzu.

„Du sagst es. Vielleicht können wir über die Fingerabdrücke des Opfers ihre Identität ermitteln. Meinst du, es finden sich Abdrücke des Täters, falls sie wirklich erwürgt wurde?“

Schwarzhaupt schnalzte mit der Zunge. „Schwer zu sagen, immerhin fehlt ein wichtiger Teil ihres Körpers, und dieser lag noch dazu im Wasser. Aber ich werde es natürlich versuchen.“

„Danke. Kannst du schon feststellen, ob zwischen ihrem Tod und dem Versenken im See viel Zeit lag?“

Schwarzhaupt betrachtete den leblosen Körper auf dem Boden und wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. „Ich tippe auf allerhöchstens ein paar Stunden. Genau lege ich mich da aber nicht fest, zumindest jetzt noch nicht. Dafür muss ich sie erst aufmachen.“ Er bückte sich zu seiner Tasche und verschloss sie.

„Du bist also fürs Erste hier fertig?“, fragte Andresen.

Der Arzt nickte. „Gut kombiniert, Herr Kommissar.“

„Danke für die Blumen, du Leichenfledderer“, konterte Andresen trocken, und Schwarzhaupt lachte.

Mit einer Geste gab Andresen den in der Nähe stehenden Beamten zu verstehen, dass die Leiche abtransportiert werden konnte.

Er wandte sich an seinen Kollegen, der stumm hinter ihm gestanden und vermutlich jeden Blick auf den nackten und verstümmelten Körper am Boden vermieden hatte.

„Weichert, kümmern Sie sich darum, dass eine Taucher­einheit den See nach einer Axt und dem Kopf des Opfers durchsucht. Vielleicht finden die Taucher sogar persönliche Gegenstände, zum Beispiel ihre Kleidung.“

„Wird erledigt“, sagte Weichert. „Aber schrauben Sie Ihre Erwartungen nicht zu hoch.“

„Wie meinen Sie das?

„Bei solchen Waldtümpeln ist der Boden meist extrem schlammig, das Wasser außerdem sehr trüb.“

„Ich bin sicher, unsere Taucher sind erfahren genug, um mit dieser Herausforderung fertig zu werden.“

„Könnte trotzdem schwer werden, dort etwas zu finden.“

„Watt mutt, dat mutt“, erwiderte Andresen trocken. „Aber keine Sorge, Herr Kollege, Sie müssen sich keine Schwimmflossen anziehen.“

Weichert zog bei der Vorstellung eine Schnute. „Darüber bin ich gar nicht traurig.“

Andresen drehte sich zu Kalle Schwarzhaupt um. „Danke für deine ersten Einschätzungen. Was meinst du, wann ich mit deinem Bericht rechnen kann?“

Der Gerichtsmediziner rieb sich nachdenklich über seinen kahlen Kopf. „Morgen Nachmittag, wenn nichts dazwischenkommt.“

„Klingt gut. Du, wollen wir uns nicht mal wieder treffen? Unser letztes Bierchen ist viel zu lange her.“

„Ich weiß, du meldest dich ja nie. Ach, da fällt mir ein: Hast du für morgen Abend schon Pläne?“

„Morgen Abend? Doch, da war irgendwas.“ Andresen musste nur kurz überlegen. „Jetzt weiß ich es wieder. Da spielt die SG gegen Granollers, ich habe also ein Date mit meinem Fernseher.“

„Ich habe mich unklar ausgedrückt. Würdest du das Spiel gern live in der Halle sehen?“

Andresen machte große Augen. „Du hast dir Karten geholt?“

Schwarzhaupt schüttelte den Kopf. „Nee, Beate hat sie mir zu Ostern geschenkt, kann aber selbst nicht mitkommen, weil sie sich gestern böse den Fuß verstaucht hat und ihn schonen muss.“

„Na, da springe ich doch gerne ein!“, freute sich Andresen. „Das Bier in der Pause geht natürlich auf mich. Meine Genesungswünsche an deine liebe Frau, nebst einem aufrichtigen Dankeschön.“

„Ich werde es ausrichten.“ Schwarzhaupt schaute hinauf zu dem kleinen Holzunterstand, in dem ein kräftig wirkender Mann und eine zierliche Dame saßen und die Szenerie um sich herum schweigend betrachteten. „Sag mal, weißt du, wer die beiden da oben sind?“

Andresen war seinem Blick gefolgt. „Nee, keine Ahnung.“ Er wandte sich um. „Weichert?“

Sein Kollege kam näher. „Ja?“

„Was ist das für ein Pärchen da drüben?“

„Die zwei haben die Leiche entdeckt“, antwortete Weichert. „POM Schnabel hat mir das gerade erzählt. Die Namen sind … Moment …“ Er suchte seine Taschen nach seinem Notizblock ab, fand ihn endlich in der linken hinteren Hosentasche und begann zu blättern. Andresen sah zu Schwarzhaupt und verdrehte die Augen. Der Arzt grinste nur.

Weicherts Gesicht hellte sich auf. „Ah, hier, jetzt hab ich’s! Der Zeuge heißt Siegfried Schwandtke, und die Frau daneben ist Telse Schneider.“

„Telse?“, wiederholte Andresen. Was für ein Name!

Schwarzhaupt warf einen Blick auf seine Uhr und hob verabschiedend die Rechte. „Ich hole dich um halb acht ab, das Spiel beginnt ungewöhnlich spät. Bis morgen, mein Lieber. Und viel Erfolg beim Knacken dieser Nuss. Das wird sicherlich nicht leicht.“

Andresen sah von Weichert zu den beiden Zeugen und kratzte sich seufzend den Hinterkopf. „Da könntest du recht haben.“

Er sah seinem Freund hinterher, dann winkte er seinem Kollegen, ihm zu folgen. Gemeinsam gingen sie auf den Holzunterstand zu. Es handelte sich um einen sehr schlichten Bau, dessen dunkelgrüne Farbe bereits abblätterte. An den Innenwänden hatten kreative Vandalen diverse Schmierereien hinterlassen. Auf dem einzelnen Brett, das als Sitzgelegenheit diente und auf Andresen keinen sehr vertrauenswürdigen Eindruck machte, saßen dieser Siegfried Schwandtke und seine Begleiterin Telse Schneider. Ihnen war der Schreck ihrer Entdeckung noch immer anzumerken. Besonders das Gesicht der Frau wies rund um die Nase eine deutliche Blässe auf.

Telse Schneider wirkte wie ein Vögelchen, das aus dem Nest gefallen war, insbesondere an der Seite eines Mannes, der wie ein gutmütiger Bär aussah. Sie war, so schätzte Andresen, um die vierzig Jahre alt. Das blonde, schulterlange Haar wurde an den Seiten mit Spangen zurückgehalten, was ihr einen braven, geradezu sittsamen Anstrich gab. Sie trug eine dunkelblaue Stoffhose, dünne Stiefeletten und eine halb geschlossene Softshelljacke in Grau, unter der ein rosafarbener Wollpullover zu sehen war.

Ihr Begleiter, Siegfried Schwandtke, überragte sie um Haupteslänge, hatte Schultern wie ein Schwergewichtsboxer und einen blonden Vollbart. Das Haar, das eine Nuance dunkler war, hatte er zu einem Zopf gebunden.

Im richtigen Kostüm, überlegte Andresen, wäre er der Prototyp eines Wikingers. Doch statt Ledertunika und eines Helms mit Hörnern trug Siegfried Schwandtke einen dunkelblauen Wollpulli zu Jeanshosen und schwarzen Sneakern. Andresen schätzte ihn auf Mitte bis Ende dreißig.

Er stellte sich und Weichert vor. „Sie haben die Tote entdeckt?“, fügte er hinzu.

„Genau genommen war das Siggi“, sagte Telse Schneider und wies auf ihren Begleiter.

Schwandtke nickte bestätigend, sagte aber nichts.

„Wir sind beide noch ziemlich geschockt“, erklärte Telse Schneider die Schweigsamkeit ihres Begleiters. „Siggi noch mehr als ich, denn er hat in diesen Müllbeutel geschaut und einen Riesenschreck bekommen, wie Sie sich bestimmt vorstellen können.“

Andresen nickte.

„Mir wurde kotzübel, um es deutlich auszudrücken“, murmelte „Siggi“ Schwandtke verlegen.

„Ach, Sie haben da hinten bei dem Baum …“ Andresen wies zu der Stelle, an der er beinahe in Erbrochenes getreten wäre.

Schwandtke nickte und senkte den Blick. „Sorry. Das war wie ein Reflex.“

Lutz Weichert nickte. „Absolut verständlich. Mir wäre es bestimmt genauso gegangen.“

Andresen warf seinem Kollegen einen kurzen Blick zu und wandte sich dann wieder an Herrn Schwandtke und Frau Schneider. „Erzählen Sie doch mal“, bat er. „Was genau ist passiert?“

Weichert zückte seinen Notizblock und zog einen Stift hervor.

Die beiden Zeugen tauschten einen kurzen Blick, dann räusperte sich Telse Schneider. „Wir haben uns zufällig getroffen, bei dem Kinderspielplatz am Parkplatz“, begann sie.

Andresen runzelte die Stirn. „Ach, Sie sind nicht gemeinsam in die Marienhölzung gekommen?“

„Nein. Ich wollte nur ein wenig walken gehen.“ Sie wies auf die beiden dünnen Stöcke, die neben ihr an der Wand lehnten. „Als ich Siggi entdeckte, ging ich zu ihm, und wir beschlossen, gemeinsam ein Stück zu gehen. Wir hatten uns längere Zeit nicht gesehen und wollten uns ein wenig unterhalten.“

„Was haben Sie auf einem Kinderspielplatz gemacht, wenn ich fragen darf?“, erkundigte sich Weichert bei Herrn Schwandtke. Der erwiderte dessen Blick kühl, er hatte wohl ebenso wie Andresen den argwöhnischen Unterton vernommen.

„Ich bin Erzieher. Meine Kollegin und ich sind mit unserer Kindergartengruppe hier.“

„Und als Frau Schneider auftauchte, haben Sie Ihre Kollegin allein bei den Kindern gelassen?“, fragte Andresen.

„Natürlich erst nach Absprache. Ich wollte auch nur kurz wegbleiben. Dass sich die Sache so entwickelt, konnte ja niemand von uns ahnen. Ich habe sie inzwischen informiert.“ Er hob seine linke Hand, in der er ein Smartphone hielt. „Es wäre aber gut, wenn ich bald gehen könnte, denn ganz allein mit sechzehn Kindern zurück zum Kindergarten zu gehen ist kein Vergnügen, glauben Sie mir. Und die ersten werden um zwölf von den Eltern abgeholt.“

Andresen sah auf die Uhr. Es war noch nicht einmal halb elf. „Wir werden uns beeilen“, sagte er dennoch. „Sind Sie vom Spielplatz aus direkt hierher ans Wolfsmoor gekommen?“

Telse Schneider schüttelte den Kopf. „Wir sind ohne bestimmtes Ziel losgegangen, haben uns über dies und das unterhalten und waren plötzlich hier. Es war kein bewusster Entschluss.“

„Verstehe“, meinte Andresen, während Weichert eifrig kritzelte.

„Haben Sie jemanden in der unmittelbaren Umgebung der Leiche gesehen?“

Beide schüttelten den Kopf. „Nur oben auf dem Weg“, sagte Schwandtke. „Ein paar Radfahrer und Hundebesitzer.“

Die üblichen Waldbesucher. „Und weiter?“, fragte Andresen. „Was ist dann passiert?“

„Mein Blick fiel, während wir am Ufer standen, zufällig auf den Müllbeutel“, berichtete Siggi Schwandtke. „Ich hasse Umweltverschmutzung und zog ihn deshalb heraus, um ihn in einem Papierkorb zu entsorgen. Er war aber nicht nur überraschend groß, sondern auch noch verdammt schwer. Logischerweise hab ich mich gefragt, was dort entsorgt worden ist. Also öffnete ich den Knoten und sah in den Beutel.“ Er verzog gequält das Gesicht. „Mir wurde sofort schlecht, wie Sie sich vielleicht vorstellen können.“

„Durchaus“, bestätigte Weichert, wie immer voller Verständnis.

„Als ich wieder sprechen konnte, habe ich Telse gesagt, sie soll die Polizei anrufen“, fuhr Schwandtke fort. „Tja, und seitdem sitzen wir hier.“

„Können wir denn jetzt gehen?“, erkundigte sich Telse Schneider.

„Ihre Kontaktdaten haben Sie unserem Kollegen bereits gegeben?“, fragte Andresen.

Beide nickten.

„Dann ist das in Ordnung. Kommen Sie aber bitte beide heute oder spätestens morgen auf unserer Dienststelle vorbei, um Ihre Aussagen zu Protokoll zu geben.“ Er reichte Schwandtke und Telse Schneider jeweils eine seiner Visitenkarten.

Gemeinsam mit Weichert sah er den beiden nach. Ein Wikinger und eine zarte Elfe.

„Seltsames Pärchen“, meinte er.

Weichert nickte. „Stimmt. Aber ein richtiges Paar sind sie nicht, oder? Ich meine, sie haben sich zufällig im Wald getroffen, waren nicht verabredet oder so.“

„Das behaupten sie, Weichert. Aber ob es stimmt?“

„Ich denke schon. Auf mich machten die beiden jedenfalls nicht den Eindruck, als hätten sie eine innige oder körperliche Beziehung. Und dass sie mit dem Mord zu tun haben, glaube ich erst recht nicht.“

„Ich auch nicht, aber trotzdem: Wir werden die beiden auf jeden Fall überprüfen.“

KAPITEL 2

Dienstag

Kalle Schwarzhaupt hielt Wort. Pünktlich um halb acht am nächsten Abend klingelte er an der Tür. Andresen verabschiedete sich von Daniela, deren Zorn mittlerweile verraucht war, und wenig später steuerte der Gerichtsmediziner seinen Ford aus der Gartenstadt hinaus.

„Auf in die Campushalle!“, jubelte Andresen.

„Die heißt doch wieder Flens-Arena.“

„Wurscht“, erwiderte Andresen trocken. „Hauptsache, die Jungs spielen heute wie am Sonntag und nicht so grausam wie im Halbfinale gegen die Löwen.“

Dass die SG das Duell gegen die Rhein-Neckar Löwen so blamabel in den Sand gesetzt hatte, nagte noch immer an ihm. Der versöhnliche Auftritt am Tag darauf, als sich die Mannschaft noch die Bronzemedaille im DHB-Pokal gesichert hatte, stimmte ihn jedoch optimistisch.

„Konntet ihr schon herausfinden, wer unsere Leiche ist?“, fragte Schwarzhaupt.

Andresen schüttelte den Kopf. „Nee, leider nicht. Als vermisst ist sie definitiv nicht gemeldet. Und dein Bericht hat uns auch nicht weitergeholfen, mein Lieber. Viel mehr als die Tatsache, dass sie um die achtzig Jahre alt war und erwürgt wurde, wissen wir noch immer nicht.“

„Sorry, aber dafür kann ich nichts. Die Dame war für ihr Alter erstaunlich rüstig. Sie hat weder ein künstliches Gelenk noch einen Herzschrittmacher oder etwas anderes, anhand dessen man sie vielleicht identifizieren könnte. Und ohne Gebiss …“

„Ich weiß.“ Andresen seufzte. „Im Wolfsmoor wurde bisher auch nichts gefunden. Die Taucher waren gestern Nachmittag und heute den ganzen Tag dort, doch nichts, was sie an die Oberfläche holten, hat auch nur ansatzweise mit unserem Fall zu tun. Dafür lag das Zeug zu lange im Wasser.“

„Der Kopf ist also nach wie vor verschwunden?“

„Logisch, sonst hätte ich ihn sofort zu dir schicken lassen. Aber auch die Tatwaffe oder die Kleidung der Toten wurden bisher nicht entdeckt. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass der Täter die Enthauptung direkt am See vorgenommen haben muss. Auf dem Stamm eines umgekippten Baums haben wir Spuren eines Axthiebs entdeckt. Als hätte er die Enthauptung geübt.“

„Wahrscheinlich liegst du mit dieser Vermutung sogar richtig. Es ist nicht leicht, auf Anhieb richtig zu treffen.“

„Sprichst du aus Erfahrung?“, scherzte Andresen.

Schwarzhaupt grinste. „Schon, aber ich kenne das nur vom Holzhacken. Du sagst, es war ein einziger Probehieb?“

„Ja. Es sei denn, er hat bei den weiteren Versuchen exakt dieselbe Stelle getroffen.“

„Scheint ein Naturtalent zu sein, dein Axtmörder.“

„Ob man sich darauf was einbilden kann, halte ich für fraglich. Wie auch immer, die Ermittlungen sind ungefähr so, als würde man mit allen vier Reifen im Schlamm feststecken. Wir kommen nicht voran. Das nervt.“

„Gibt es Verbindungen zu ähnlich gelagerten Tötungsdelikten?“

„Du meinst wegen der Axt? Das haben wir gecheckt, aber ohne Ergebnis. Häufig hat man so was zwar nicht, aber bei den wenigen Fällen, die wir gefunden haben, handelte es sich immer um Beziehungstaten, und die Täter wurden schnell gefasst.“

Sie näherten sich dem Kreisverkehr nahe der Halle. Schwarzhaupt verringerte die Geschwindigkeit und schaltete in den zweiten Gang, als er in den Kreis einfuhr. „Und die Zeugen im Wald waren auch wenig hilfreich, nehme ich an?“

„Damit liegst du goldrichtig.“ Andresen schaute aus dem Fenster. Sie hatten einen der Parkplätze in der Nähe der Halle erreicht. Es würde schwierig werden, eine Lücke zwischen all den blechgefüllten bunten Reihen zu finden.

„Die zwei sind ein putziges Pärchen, das sage ich dir. Sie hört auf den extravaganten Namen Telse, ist eine fleißige Kirchgängerin und arbeitet als Sekretärin in einer Kirchengemeinde. Er dagegen passt auf Kindergartenkinder auf, wenn er nicht gerade in Kneipen Darts-Turniere spielt, Motorrad fährt oder Fußball schaut.“

„Wo haben die sich denn kennengelernt?“, fragte Karl-Heinz Schwarzhaupt amüsiert, während er im Schritttempo an den parkenden Autos entlangfuhr und vergeblich einen freien Platz suchte. „Im Kindergarten? Oder in der Kirche?“

„Weder noch. An einer Tankstelle. Ist ein paar Monate her. Dieser Siggi suchte eine Mitfahrgelegenheit, weil sein Motorrad den Geist aufgegeben hatte, und fand ausgerechnet in der biederen Telse seinen rettenden Engel. Offenbar haben sie sich, obwohl sie so unterschiedlich sind, im Laufe der nächsten Stunden angefreundet. Sie begleitete ihn sogar zu einem Darts-Turnier, das er gewann, während sie sich unbeabsichtigt einen Schwips antrank, sodass er sich anschließend um sie kümmern musste. Doch danach brach der Kontakt schnell wieder ab. Bis gestern, als sie sich zufällig begegneten.“

„Sachen gibt’s …“, schmunzelte Kalle Schwarzhaupt.

„Die Aussagen waren glaubhaft und wichen so gut wie gar nicht voneinander ab. Lediglich die Schwips-Sache kam in Telses Aussage nicht vor. War ihr wohl peinlich. Und da es mit der Sache nichts zu tun hatte …“

„Mit anderen Worten: Ihr könnt die zwei von eurer Liste der Verdächtigen streichen.“

„Du sagst es. Und damit ist selbige so leer wie die Flens-Arena an einem handballfreien Tag.“

„Tut mir leid für dich.“ Schwarzhaupts Augen suchten fieberhaft nach einem freien Parkplatz. „Aber ihr schafft das schon. Du liebst doch die Herausforderung.“

Andresen grunzte nur und verfolgte mit seinen Blicken die Fans, die, ausgestattet mit SG-Shirts oder -Schals, gut gelaunt an ihnen vorbeischlenderten, in lebhafte Unterhaltungen vertieft. Sie alle hatten offenbar bereits einen Parkplatz gefunden.

„Ich freue mich auf das Spiel, das wird mich ablenken“, sagte Andresen und wies im nächsten Moment auf eine Lücke. „Halt an, Kalle, neben dem VW da vorne ist noch ein Plätzchen frei!“

Das mit dem Ablenken funktionierte tatsächlich, wenn auch nicht so, wie Andresen es sich gewünscht hätte. Die SG agierte mindestens ebenso hilflos und konfus wie im Halbfinale wenige Tage zuvor in Köln. In der Pause lag die Mannschaft mit vier Toren hinten, und Andresens Laune war im Keller.

Kalle Schwarzhaupt nahm dankend das Bier entgegen, das sein Freund besorgt hatte. Sie standen inmitten von anderen plaudernden Fans in dem Raum, dessen breite Fensterfront zum Spielfeld ausgerichtet war. An den beiden Tresen links und rechts des Fensters wurden Getränke angeboten. Dort hatten sich Schlangen durstiger Fans gebildet, deren Mienen deutlich machten, dass sie mit dem Spielverlauf ähnlich unzufrieden waren wie er. Er betrachtete, an seinem Bier nippend, die übergroßen Schwarz-Weiß-Schnappschüsse gegenüber der Glasfront. Sie zeigten viele emotionale Momente aus vergangenen Zeiten, als noch Legenden wie Torhüter Jan Holpert, der schnelle Außen Anders Eggert oder Kreisläufer Matthias Hahn aktiv gewesen waren.

„Die Spanier sind echt gut“, lobte Kalle die Gastmannschaft und holte seinen Freund damit in die weniger glamouröse Gegenwart zurück. „Wieselflink und mit viel Spielwitz.“

„Und unsere Jungs stehen schon wieder neben sich und spielen, als hätten sie alles verlernt. Nicht einmal Golla trifft. Dabei ist er sonst immer eine Bank.“ Andresen nahm verärgert einen großen Schluck. Ausgerechnet von dem heute so enttäuschenden Kreisläufer war auf dem Becher ein Foto abgebildet. Er betrachtete es sinnend. „Ich frage mich echt, was mit der Mannschaft los ist. Hoffentlich reißen sie sich zusammen und steigern sich in der zweiten Halbzeit. Noch ist nichts verloren.“

Kalle Schwarzhaupt hob seinen Becher, auf dem das Antlitz von Jim Gottfridsson zu sehen war. „Gute Einstellung.“

Andresens Optimismus reichte leider nicht bis zum Spielfeld hinunter, wie sich schon Minuten nach dem Wiederanpfiff herausstellte. Die SG wurde von den Handballern aus Granollers regelrecht demontiert. Zwischenzeitlich lag das Team mit zehn Toren zurück.

Andresen starrte fassungslos aufs Spielfeld. „Das gibt es doch nicht“, stieß er hervor. „Was machen die denn da? Sinnlose Ballverluste, keine Ideen im Angriff …“

„So viel zum Europacup“, brummte Schwarzhaupt. „Da findet das Final Four einmal in Flensburg statt, und dann ohne die SG. Nicht zu glauben! Wie kann man eine solche Chance so leichtfertig wegwerfen?“

Auch die übrigen Zuschauer ließen ihrem Unmut freien Lauf. Es wurde laut geschimpft und wild gestikuliert. Mehrere warteten das Spielende nicht ab, sondern verließen bereits vor dem Schlusspfiff tief enttäuscht die Flens-Arena. Auch Andresen und Kalle Schwarzhaupt schlossen sich ihnen an.

Carsten war müde und frustriert.

„Das könnte das Aus für Machulla bedeuten“, unkte er. „In vier Tagen zwei Titelchancen zu vergeigen! Da muss der Verein reagieren. Dabei halte ich viel von ihm als Trainer.“

„Ich eigentlich auch. Am besten warten wir den Sonntag ab. Vorher wird sicherlich nichts passieren. Aber wenn wir auch gegen Kiel verlieren und damit jede Chance auf die Meisterschaft wegwerfen, wird die Luft dünn für Machulla, da gebe ich dir recht.“

„Da bist du ja wieder!“ Daniela schenkte Carsten, der soeben ins Wohnzimmer getreten war, ein Lächeln, doch ihre fröhliche Miene verschwand sogleich wieder. „Oje, haben sie heute etwa auch verloren?“

„Frag nicht, wie“, antwortete er, ermattet abwinkend, dann begrüßte er Hella und Achim Kessler, ihre Nachbarn. Sie hatten Daniela Gesellschaft geleistet und mit ihr Die Siedler von Catan gespielt. Neben dem bunten Spielfeld standen haufenweise Leckereien. Abgesehen von den obligatorischen Chips und Crackern gab es Käsewürfel mit Weintrauben, Gurkenscheiben, einen Paprika- und einen Kräuterdip sowie Toffifee und Merci-Schokolade als süßes Dessert.

Offenbar hatten die drei kräftig zugeschlagen; in sämtlichen Schalen war bereits der Boden sichtbar. Andresen stopfte sich zwei übrig gebliebene Käsewürfel in den Mund und schob einen Cracker hinterher.

„Umf? Fer gfinnt?“, fragte er mit vollem Mund, das Spielbrett betrachtend, das aus unterschiedlichen Landflächen sowie Meerfeldern bestand, durchzogen von bunten Straßen, Siedlungen und Schiffen.

„Ich natürlich“, antwortete Achim zufrieden. „Wollte eben den Sack zumachen.“ Er drehte zwei kleine Karten um, die verdeckt vor ihm gelegen hatten. „Zwei Siegpunkte. Damit hab ich gewonnen. Sorry, Ladys!“

Hella warf enttäuscht ihre Spielkarten auf den Tisch. „Oh Mann, fast hätte ich gewonnen. Mir fehlt nur noch ein Schaf, dann hätte ich dir die längste Handelsstraße abgenommen.“

Achim tätschelte liebevoll ihren Arm. „Hätte, hätte, Schmerztablette. Vielleicht klappt es nächstes Mal, mein Schatz.“

„Ganz sicher“, meinte Daniela tröstend zu Hella. „Dann machst du ihn fertig.“

Seit die Kesslers vor knapp einem Jahr in das Reihenhaus nebenan gezogen waren, kam es häufiger vor, dass sie zu viert einen gemütlichen Abend verbrachten. Achim und Hella waren sympathisch, im gleichen Alter wie Daniela und Carsten, und sie hatten Humor. Im Sommer grillten die vier gemeinsam, und in der kühleren Jahreszeit gab es hin und wieder Spieleabende. So auch an diesem Apriltag.

Daniela begann, das Spiel abzubauen, und Hella half ihr dabei, während sich Achim und Andresen über das Handballspiel unterhielten.

Als die Frauen fertig waren, schaute Daniela auf die Uhr. „Schon Viertel vor elf? Antonia sollte doch um halb elf wieder zu Hause sein.“ Unruhig sah sie zur Tür, schien zu lauschen, ob sich im Flur etwas tat, doch es blieb ruhig.