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ICH KANN AUCH ANDERS - Alles außer Krimi Auch ohne Mord und polizeiliche Ermittlungen kann viel passieren. Simon wird vor eine schreckliche Entscheidung gestellt, Allie verliebt sich in den falschen Mann, Michaela versucht, aus der DDR zu fliehen und der kleine Kalle will mit Hilfe einer Zeitmaschine endlich seinen Vater kennenlernen. Diese und andere Geschichten sorgen für spannende Unterhaltung und das eine oder andere Schmunzeln. Es geht nach Mexiko, auf einen Abenteuertrip durch einen kanadischen Nationalpark und mit dem Ballon über die Ostsee. Dieses Buch ist prall gefüllt mit historischen und humorvollen Geschichten, mit Lovestorys und Dramen. Nur Krimis sind diesmal keine dabei. Garantiert.
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Seitenzahl: 319
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Beim Lesen kann man in andere Welten eintauchen, spannende Abenteuer erleben oder frühere Zeiten entdecken. Und das alles, ohne vom Sofa aufzustehen.
Gibt es eine schönere Art des Reisens?
Vorwort
Watt mutt, dat mutt –
Einfach kann doch jeder
Wenn die Planken schwanken
Betriebsausflug
Zeitloses
Historische Landung
Pokowskis Villa
Gefängnissymphonie
Die Kräuterfrau
Fernweh & Sehnsucht
Blumen, Brot & Totenköpfe
Der Traum von Afrika
Ein unvergessliches Wochenende
Ein ungewöhnlicher Name
Herzklopfen
Wenn die Tür klemmt
Mit Sahne obendrauf
Chaos der Gefühle
Silberhochzeit
Geteiltes Land
Grenzerfahrung
Gut Holz
Der fremde Pass
Herzklopfen & Angst & Freiheit
Das Theater des Lebens
Federleichte Kampfansage
Die leise Endgültigkeit
Ein blühender Kaktus
Herbstbrüder
Nachwort & Danksagungen
Die Autorin
Alle Krimis im Überblick
Kurzgeschichten & Anekdoten
Weitere Kurzgeschichten
Wer mich und meine Bücher kennt, weiß, dass ich ein Faible für kriminelle Geschichten habe. Meine Kommissare Andresen, Weichert und Sommer haben bereits mehrere Fälle gelöst, ein Ende ist nicht in Sicht.
Doch nicht jeder Leser steht auf Verbrechen, Ermittlungen und allem, was dazugehört. Und ich selbst mag ebenfalls hin und wieder Geschichten, die nichts mit Mord und Totschlag zu tun haben. In den vergangenen Jahren sind daher viele Texte entstanden, die nicht in die Sparte „Krimi“ gehören. Dazu gehören Liebesgeschichten, Zeitreise-Storys, Dramen, Humorvolles oder auch Ausflüge in die nähere oder fernere Geschichte.
Mit diesem Buch hoffe ich diejenigen anzusprechen, die alles andere lieber mögen als Krimis oder die Abwechslung lieben.
Die meisten Texte sind recht neu, einige wenige erschienen bereits in einem meiner PatchWords-Bände, wurden aber für dieses Buch gründlich überarbeitet.
Ich möchte Sie diesmal gern mitnehmen auf abenteuerliche, spannende, emotionale und aufregende Reisen in andere Zeiten und an andere Orte.
Und nun bleibt mir nur noch, Ihnen eine gute Unterhaltung zu wünschen. Viel Vergnügen beim Lesen und beim Reisen in fremde Orte oder vergangene Zeiten!
Herzlichst
Ihre Britta Bendixen
Eine entspannte Reise im Heißluftballon über der Ostsee endet für zwei Paare völlig anders als erwartet ...
Das Thema des diesjährigen Betriebsausfluges kommt Mona seltsam vor. Aber watt mutt, datt mutt, wie man hier oben so gern sagt …
Als Lehrling hat man manches auszuhalten. Besonders dann, wenn man es mit gewieften Seebären zu tun bekommt …
Wiebke und Magnus stiegen in den morgenkalten Wagen.
Noch stand der Mond am Himmel und sorgte mit seinem geisterhaft blassem Licht dafür, dass die Wolken an einen Horrorfilm erinnerten.
»So eine Schnapsidee von Erik!«, murrte Wiebke beim Anschnallen.
»Es war nett gemeint von ihm«, entgegnete Magnus gähnend und fuhr los. »Nur, weil ich einmal erwähnt habe, dass ich das gern machen würde, schenkt er mir so eine Fahrt zum Geburtstag. Das war doch eine nette Geste von ihm.«
»Okay, das stimmt. Aber dass Svea und ich mitkommen müssen! Dabei leide ich doch unter Höhenangst.«
Magnus schaltete höher. „Du hast keine Höhenangst.«
»Hab ich wohl! Als wir letztes Jahr auf dem Eiffelturm waren, ist mir ganz kodderig geworden.«
»Was musstest du auch vorher zwei Crepès essen? Da wäre jedem schlecht geworden.« Er hielt an.
Wiebke blickte beleidigt durch die Windschutzscheibe. Das Rot der Ampel tauchte die gesamte Umgebung in diese Farbe. »Warum fährst du nicht?«, fragte sie.
»Na, wieso wohl? Vielleicht weil es noch nicht grün ist?«
»Es ist Samstagmorgen, halb fünf«, meinte Wiebke. „Um diese Zeit ist kein Schwein unterwegs, wir sind völlig allein auf weiter Flur. Also kannst du ruhig mal auf den angeborenen deutschen Gehorsam pfeifen und Gas geben.«
»Wieso hast du es denn plötzlich so eilig?«, fragte Magnus amüsiert.
»Ich hab’s nicht eilig«, widersprach Wiebke, »ich will es nur hinter mir haben. Also fahr schon.«
In dem Moment sprang die Ampel um.
»Sie sind noch nicht da«, stellte Magnus fest, als sie fünf Minuten später den kleinen Flugplatz erreichten.
»Svea ist doch immer zu spät«, erinnerte ihn Wiebke.
Magnus schloss den Wagen ab, schaute Richtung Einfahrt und bemerkte: »Da sind sie ja.«
Erik hatte kaum den Motor ausgestellt, als Svea auch schon aus dem Auto sprang. »Ich hätte fast den Wecker nicht gehört«, rief sie zur Begrüßung, »kein Wunder bei der Uhrzeit. Dabei habe ich mich die ganze Woche total auf die Fahrt gefreut. Seid ihr auch so aufgeregt?«
»Aber sicher«, sagte Magnus lächelnd.
Wiebke fummelte schweigend einen Fussel von ihrer Jacke.
Gemeinsam umrundeten die vier Freunde ein Gebäude und Erik präsentierte stolz seine neue Videokamera. Schließlich erreichten sie den Flugplatz. Dort waren ein paar Männer mit den Vorbereitungen beschäftigt. Der Älteste von ihnen, ein Hüne mit breitem Kreuz und wettergegerbtem Gesicht, kam ihnen entgegen. Auf dem grauen Haar trug er eine Helmut-Schmidt-Gedächtnis-Mütze.
»Moin, ich bin Fiete«, sagte er und streckte zunächst Wiebke eine Hand entgegen. Ihre schmale Rechte verschwand in der schwieligen Pranke und wurde herzlich zerdrückt.
»Tscha, denn kann dat glicks losgehen«, verkündete Fiete, nachdem er auch die anderen begrüßt hatte, und wies auf die arbeitenden Männer. »Die Jungs richten das gute Stück noch auf. Dat is ne figgeliensche Sache. Ihr könnt aber schon ma reinkrabbeln.«
»Ich wünschte, der Korb hätte eine Tür«, seufzte Wiebke in Magnus‘ Richtung. »Der Rand ist so hoch, da komm ich ja nie drüber. «
»Stell dich nicht so an«, meinte ihr herzloser Gatte nur. »Außerdem gibt es einen Hocker, siehst du?«
Sie sah es, doch sie ahnte, dass ihre Kletterversuche auch mit Hocker für die anderen ein Anlass zur Heiterkeit werden würden. Und tatsächlich hörte sie Magnus und Svea kichern, während sie sich krampfhaft bemühte, das Hindernis zu überwinden. Zudem hielt Erik alles mit seiner Videokamera fest.
Wiebkes Wangen brannten vor Scham.
Schließlich waren sie alle vier an Bord. Vom Korb aus beobachteten sie, wie sich der bunt gestreifte, dünne Stoff zu wölben begann. Erstaunlich behände gesellte sich Fiete zu ihnen. Er rieb sich die Hände. »Na, denn woll’n wir mal. So in ein, zwei Stunden landen wir wieder. Mein Kollege kommt mit‘m Auto hinterher, sammelt euch nach der Landung ein und fährt euch hierher zurück. Dann wird jeder getauft, ihr kriegt ne Urkunde und einen Ballonfahrernamen. Ich heiße übrigens Luftgraf Fiete von der Förde, Herrscher über den Wolken. Na, is dat wat?«
»Wow!«, sagte Erik.
Der Luftgraf schien die Ironie nicht zu bemerken. Er betätigte den Brenner, woraufhin eine Flamme die Luft im Ballon weiter erwärmte. Wiebke hielt sich die Ohren zu und erntete einen missbilligenden Blick von Magnus.
»Das ist so laut!«, verteidigte sie sich.
»Noch!«, brüllte Fiete gegen den Lärm an. »Aber wart ma ab, wenn wir erst ma oben sind, ist es so ruhig, dass du eine Möwe furzen hören kannst.«
Svea und Magnus prusteten los und Erik hob indigniert eine Augenbraue.
Als sich mit einem Schaukeln der Korbboden vom Rasen löste, quiekte Svea vergnügt und Wiebkes Kehle entschlüpfte ein Schreckensschrei. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?
Fiete schloss das Ventil, der Lärm verstummte, und langsam stiegen sie in den blauen Himmel hinauf. Svea, Erik und Magnus beugten sich über den Rand und freuten sich darüber, wie klein alles von oben wirkte.
Fiete trat zu Wiebke und legte ihr fürsorglich einen Arm um die Schultern. »Willst du nicht auch ma gucken? Musst keine Angst haben, mien Deern. Ich versprech dir, ich bring dich heil wieder runter. Noch is keiner oben geblieben.«
»Gut zu wissen«, murmelte sie und atmete erleichtert auf, als Fiete sie wieder losließ.
»Ist das nicht schön?«, schwärmte Magnus. »Da vorn ist schon Harrislee.«
»Ich sehe den Marktplatz«, bestätigte Erik eifrig. »Und da unten, da rechts, in dem weißen Haus, da wohnte meine erste Freundin.«
Svea lächelte säuerlich. »Etwa die, die wir neulich getroffen haben? Die mit dem dunklen Haaransatz und den drei Scheidungen?“
»Nein, eine andere«, erwiderte Erik knapp. »Kennst du nicht.«
Eine Zeitlang umhüllte sie atemlose Stille. Die aufgehende Sonne tauchte den Horizont in so leuchtende Farben, dass sogar Wiebke ergriffen war. Zudem konnte sie erfreulicherweise nirgends eine Möwe mit Verdauungsschwierigkeiten entdecken.
»Herrlich!« Magnus strahlte.
Fiete stupste Wiebke mit dem Ellenbogen an. »Ist das nich ne tolle Aussicht? Nu guck doch ma runter!«
»Lieber nicht. Ich leide nämlich unter Höhenangst.«
Magnus hatte das natürlich gehört und musste seinen Senf dazugeben. »Tut sie nicht. Keine Bange.«
»Seht nur! Das Meer!« Erik hob seine Videokamera hoch.
Gemächlich schwebten sie auf die Ostsee zu.
»Da hinten is Dänemark«, erklärte Fiete.
Svea nickte begeistert. »Und da - die Ochseninseln!«
Vorsichtig warf nun auch Wiebke einen Blick nach unten und erkannte ein winziges Spiegelbild des Ballons auf der wie geriffelt wirkenden Wasseroberfläche.
Als Fiete nach einer ganzen Weile wieder das Ventil öffnete, blieb der Lärm zu Wiebkes Erleichterung aus. Fiete dagegen schien besorgt. Er brummelte vor sich hin und versuchte es erneut.
Erik ließ seine Kamera sinken. »Was ist los?«
Fiete lüftete seine Mütze und kratzte sich den Scheitel.
»Tscha, ich sach ma so: Der Wind will nich so wie ich will, und die Gasflaschen sind leer.«
Magnus runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?«
»Das soll heißen, die Natur is unberechenbar. Manchmal macht der Wind so ‘n Schlenker, mit dem kein Schwein gerechnet hat.«
»Und was bedeutet das in diesem Fall konkret?«, wollte Erik wissen.
Fietes Blick wurde düster. »Das bedeutet, wir könnten in der Ostsee landen, wenn der Wind nicht bald aus der richtigen Ecke pustet.«
Wiebke sah nervös zu Magnus, der wiederum mit Erik einen Blick tauschte. Fiete besprach sich per Handy mit dem Kollegen, der ihnen im Auto gefolgt war. Er klang ernst.
»Guckt mal!“ Sveas Stimme klang dünn. Sie wies nach unten. Die anderen folgten ihrem Beispiel, auch Wiebke wagte es erneut, einen Blick über den Rand zu werfen. Das Spiegelbild des Ballons war deutlich größer als vorher.
Sie wich zurück. »Magnus, ich hab Angst.«
»OGottogott!« Svea zerrte am Ärmel ihres Mannes. »Erik, tu doch was!«
Der wandte sich drohend an Fiete. »Ich sag Ihnen mal was:
Wenn uns etwas passiert, dann sollten Sie sich warm anziehen. Mein Nachbar ist Anwalt. Eine gesalzene Schadensersatzklage ist Ihnen sowas von sicher, wenn -«
»Erik, hör auf!«, bat Magnus.
Fiete blieb ruhig. »Lass man, mien Jung! Is doch klar, dass dein Kollege nich begeistert ist. Kann schon sein, dass wir nasse Füße kriegen.«
»Nasse Füße?«, echote Erik. »Hier ist das Wasser ein paar Meter tief. Und bis zum Ufer sind es gut und gerne zweihundert Meter. Bei einer Wassertemperatur von höchstens 14 Grad -«
»Erik!« Svea schrie nun fast. So ängstlich hatte Wiebke die Freundin noch nie erlebt. »Ich kann nicht gut schwimmen, das weißt du. Und meine teuren neuen Lederschuhe …«
»Scheiß auf deine Schuhe!“, rief Erik so laut, dass alle zusammenzuckten. »Denk lieber an die Kamera. Die hat fast tausend Euro gekostet!«
Svea schaute wieder hinab auf die glitzernde Oberfläche.
»Wir werden gleich alle ertrinken«, hauchte sie. Ihr Kinn zitterte.
Wiebke wurde flau vor Furcht.
»Seid ihr nu fertich mit lamentieren?« Fiete klang sauer.
»Hätt ich gewusst, dass ich es mit vier Bangbüxen zu tun krieg, wär ich gar nich losgefahr’n. Nu reißt euch ma ‘n büschen am Riemen!«
Sie schwiegen verdattert.
»Tatsache is«, fuhr Fiete etwas freundlicher fort, »mein Kumpel weiß, wo wir sind, aber bis er ein Boot hat, dauert es noch ne Ecke. Das Wichtigste ist jetzt, Ruhe zu bewahren.«
Wiebke glaubte, weit entfernt etwas auf dem Wasser zu erkennen. Sie hob die flache Hand an die Stirn, um besser sehen zu können. »Was ist das da hinten?«, fragte sie.
Erik schielte durch seine Kamera, stellte daran herum und sah erneut hindurch. »Eine Segeljolle!«, rief er erfreut. »Gut erkannt, Wiebke.«
Fiete schaute mit schmalen Augen in die Ferne. »Die ist aber noch bannig weit weg.«
Magnus begann dennoch zu winken. »HAL-LO! HIER-HER!«
Nichts geschah. »Sie hören mich nicht«, seufzte er.
»Wir müssen alle gemeinsam rufen«, schlug Erik vor. »Luftgraf Fiete von der Förde, Sie auch.«
Und so brüllten und winkten die fünf, so laut und heftig sie konnten. Ihre Bemühungen waren erfolgreich, die zwei Männer auf der Jolle winkten freundlich zurück.
»Na klasse!« Erik verzog das Gesicht. »Sie sind zwar höflich, aber leider nicht sehr hilfreich.«
Schließlich schienen die Segler doch zu kapieren, dass die Lage ernst war. Sie steuerten langsam auf den Ballon zu.
»Warum fahren die nicht schneller?« fragte Wiebke. In dem Tempo würden die Segler niemals bei ihnen sein, ehe der Ballon im Wasser aufkam.
»Weil der Wind das Tempo diktiert«, erklärte Fiete. »Ein Segelboot hat kein Gaspedal.«
Eine Zeitlang sprach niemand. Alle Blicke waren auf die Jolle gerichtet. Dann ruckte es plötzlich und Wiebke schrie erschrocken auf.
Alle starrten zum Boden. Wasser sickerte herein, erst wenig, doch es wurde schnell mehr. Die Feuchtigkeit drang durch Sohlen und Socken. Wiebke spürte, dass ihr vor Angst die Tränen kamen.
»Verdammt kalt, die Brühe«, murmelte Magnus.
»Meine schönen Schuhe«, jammerte Svea leise, den Blick nach unten gerichtet. Sie schien den Tränen nahe zu sein.
»Die kann ich nur noch wegschmeißen.«
Auch Wiebke war zum Heulen zumute. Sie klammerte sich fest an die Bordwand, so dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Fietes Arm legte sich erneut um ihre Schultern.
»Mach dir man nich gleich in die Büx, mien Deern. Ich pass schon auf, dass du nich untergehst. Meine Ausbildung zum Rettungsschwimmer is zwar lange her, aber sowas verlernt man nich. Is wie Radfahren.«
Wiebke schwieg und beobachtete den Ballon. Er sah aus, als hätte er eine Blitzdiät gemacht. Schlaff und dünn sank er immer weiter, bis er sich auf der Wasseroberfläche ausbreitete wie ein bunter Teppich.
Das Wasser umspielte bereits ihre Knie. Sie zitterte vor Furcht und Kälte. Wenn sich die Segler doch nur beeilen würden!
Als die Ostsee um ihre Hüften schwappte und Erik die Kamera schützend über seinen Kopf hielt, war die Jolle endlich so nah, dass sie die Männer darauf erkennen konnten. Einer war blondgelockt, der andere rothaarig.
»Was macht ihr denn für Sachen?«, fragte der Blonde und grinste frech.
Erik sah aus, als wolle er ihm ins Gesicht springen, doch Fiete stellte sich rasch vor ihn. »Moin! Seid ma so nett und bringt die Landratten ans Ufer.«
»Das wird nix«, beschied der Rothaarige. »Die Jolle ist zu klein für so viele.«
»Dann eben in zwei Etappen«, bestimmte Magnus. »Die Frauen zuerst.«
Etwas später beobachteten Wiebke und Svea vom Strand aus, wie die Jolle mit ihren Männern näherkam. Mit leisem Rauschen rollten kleine Wellen an den Strand, die Luft roch würzig nach Salz und Seetang.
»Wie spät ist es?«, fragte Wiebke und rieb die Gänsehaut an ihren Armen glatt.
Svea schielte auf ihre Uhr. »Gleich halb acht. Wieso?«
Wiebke begann zu kichern.
»Was ist denn daran so witzig?«, fragte Svea gereizt. »Wir sind völlig durchnässt, kriegen eine Erkältung, meine Schuhe sind ruiniert - und du lachst!«
»Das mit deinen Schuhen tut mir ehrlich leid. Aber überleg doch mal«, sagte Wiebke, »es ist Samstagmorgen, halb acht. Alle schlafen noch, und wir haben schon so ein verrücktes Abenteuer hinter uns.«
»Das war es wirklich«, gab Svea zu. »Und zumindest Eriks Kamera ist trocken geblieben. Aber eine Ballontaufe«, fügte sie nachdenklich hinzu, »habe ich mir ein bisschen anders vorgestellt. Vor allem trockener.«
»Ach, weißt du«, meinte Wiebke schmunzelnd. „Einfach kann doch jeder.«
ENDE
Wenn ein Handelsschiff einen Hafen ansteuert oder verlässt, kommt der Schiffsmakler zum Einsatz. Er kümmert sich um die Abfertigung der Schiffe gegenüber den Behörden und um einiges mehr.
In den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts hatten die Lehrlinge der Maklerei Schäfer & Dietrich die ehrenvolle Aufgabe, abwechselnd am heiligen Sonntag die Papiere der ankommenden Schiffe zu kontrollieren. Eines frostigen Sonntagmorgens war Kai-Uwe zum ersten Mal dran. Begeistert war er nicht, denn am Abend zuvor war er zum Tanzen aus gewesen und nun entsprechend müde.
Als er sich anzog, dachte er an das, was ein älterer Kollege ihm am Freitag kurz vor Feierabend erzählt hatte.
»Ach, das ist eigentlich ganz entspannt. Rauf auf die Dampfer, Papiere fertig machen und wieder runter. In einer halben Stunde bist du fertig und kannst nach Hause.«
Die Augen des Kollegen hatten vergnügt gefunkelt, erinnerte sich Kai-Uwe, doch das schob er auf die Freude über das bevorstehende Wochenende. Nicht unbedingt gut gelaunt, aber doch mit der Hoffnung, die vor ihm liegende Aufgabe rasch hinter sich bringen zu können, schwang er sich früh um sechs auf sein Fahrrad und radelte hinunter zum Hafen.
Als er ankam und seinen Drahtesel abstellte, war seine Nase rot von der Kälte und die Finger trotz der Handschuhe steifgefroren. Zuversichtlich, bald wieder nach Hause fahren zu können, erkletterte er das erste von mehreren am vergangenen Abend eingetrudelten Handelsschiffen.
Der Käpt’n, ein korpulenter Mann mit weißem Vollbart, nahm den Siebzehnjährigen auf burschikose Weise in Empfang.
»Moin Moin, mien Jung. Dich kenn ich noch gar nich.«
»Moin«, grüßte Kai-Uwe schüchtern. »Ich bin Lehrling bei der Schiffsmaklerfirma Schäfer & Dietrich. Würden Sie mir bitte die Papiere zeigen?«
»Dascha kein Problem nich!«, sagte der Käpt’n zu Kai-Uwes Erleichterung. »Denn komma mit, mien Jung.«
Durch eine niedrige und schmale Tür ging es eine enge Treppe hinab. Kai-Uwe beobachtete, wie das Wasser der Förde gegen die Bullaugen klatschte. Wenig später saßen er und der Käpt’n sich in der Kapitänskajüte gegenüber.
Über den schlichten und mit allerlei Zeugs vollgestellten Schreibtisch schob der Käpt’n nun die Papiere, die Kai-Uwe sogleich überprüfte, so, wie er es gelernt hatte.
Als das Geschäftliche erledigt war, stand der Käpt’n auf.
Kai-Uwe erhob sich ebenfalls, froh, dass alles so unkompliziert abgelaufen war. Er hatte weniger als zehn Minuten benötigt.
Nun konnte er sich das nächste Schiff vornehmen. Wenn es weiterhin so zügig ging, war er bald daheim.
Er wollte sich gerade höflich verabschieden, als der Käpt’n um den Schreibtisch herumkam, dem schmächtigen Blondschopf seinen Arm um die Schultern legte und leutselig verkündete: »So, denn soll’n wir ma ein’ ham.«
Kai-Uwe warf einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr, wagte jedoch trotz der frühen Stunde nicht zu widersprechen, obwohl ihm wahrlich noch nicht der Sinn nach Hochprozentigem stand. Der Käpt’n zwinkerte ihm zu und fischte eine halbvolle Flasche aus einer Schublade.
Korn, registrierte Kai-Uwe mit Unbehagen. Nicht einmal bei einer Feier trank er gerne Korn. Aber etwas anderes stand wohl nicht zur Auswahl. Die wasserhelle Flüssigkeit fand gluckernd den Weg in zwei mäßig saubere Gläser.
»Na, denn man Prost!«, rief der Käpt’n und hob das Glas.
Kai-Uwe tat es ihm nach und stürzte den Inhalt todesmutig seine Kehle hinunter. Der Korn schien sich bis in seine Eingeweide zu brennen.
»Aaah!«, freute sich der Käpt’n und schmatzte genießerisch.
Kai-Uwe dagegen zog eine Grimasse und bemühte sich, trotz des heißen Kratzens in seinem Hals nicht zu husten.
»Ich ... ich muss denn mal weiter«, krächzte er und legte die Hand auf die Türklinke. »Danke für den Schnaps.
Tschüss!«
Der Käpt’n grinste breit. »Tschüss, mien Jung! Man sieht sich.«
Aufatmend verließ Kai-Uwe das Schiff und steuerte das nächste an.
Dort wartete der Käpt’n bereits am Bug. Argwöhnisch betrachtete Kai-Uwe den großen, kräftigen Kerl, der seine Pranke gut gelaunt auf die schmale Lehrlingsschulter krachen ließ. Kai-Uwe sagte sein Sprüchlein auf, der Käpt’n führte ihn in seine Kajüte, reichte ihm die Papiere und als der Lehrling sich wenig später erleichtert verabschieden wollte, dröhnte der Ältere: »Man nich so eilig, mien Jung.
Woll’n wir zwei nich ein‘ haben zur Feier des Tages?«
Nach einem Blick in die übermütig funkelnden und dennoch Autorität ausstrahlenden kleinen Augen wusste Kai-Uwe, dass es sich hierbei um keine Frage, sondern um ein Angebot handelte, dass nicht ausgeschlagen werden durfte. Also nickte er schweigend und unterdrückte einen tiefen Seufzer, als ihm erneut ein Schnapsglas in die Hand gedrückt wurde. Der Inhalt war diesmal goldbraun.
»Nich lang schnacken, Kopp in‹ Nacken«, befahl der Käpt’n mit tiefer Stimme, und ging sogleich mit gutem Beispiel voran.
Kai-Uwe schloss die Augen, setzte mit leichtem Unbehagen das Glas an seine Lippen und kippte das Zeug hinunter. Gleich darauf schnappte er keuchend nach Luft. Das Gebräu war ja noch schlimmer als der Korn von eben!
Der Käpt’n lachte vergnügt. »Der macht einen wach, watt?«
Kai-Uwe nickte mit einem schwachen Lächeln, reichte das Glas mit einem heiseren »Danke« zurück und dachte mit Schaudern an die Schiffe, die er noch abklappern musste.
Aber wie hieß es so schön? Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Hier fiel nun beides zusammen.
Warum aber hatte sein Kollege dieses Trinkgelage, das typisch zu sein schien, mit keiner Silbe erwähnt?
Nach dem vierten Schiff respektive Schnaps war Kai-Uwes Gang bereits etwas unsicher, als er die Gangway zu Käpt’n Nr. 5 hinaufstieg, eine Hand am Geländer, das aus einem dicken, nachgiebigen Seil bestand.
»Moin«, grüßte er, als er glücklich an Bord angekommen war, und verkniff sich einen Rülpser. »Ich ... hier, von der Makelei, äh, Malkerei Schäfer & Dings. Wo sind die ...« Er schlug sich gegen die Stirn. »Na! Die Pa ... Pa … die Papiere?«
Die Überprüfung endete mit einem Schnaps und der Feststellung des Kapitäns, dass man so jung nie wieder zusammenkäme. Einen weiteren begründete er mit der Behauptung, dass man auf einem Bein schließlich nicht stehen könne.
Auch mit zwei Beinen fiel Kai-Uwe das Stehen mittlerweile etwas schwer. Doch bei Schiff Nr. 6 wollte er sich selbst beweisen, dass er noch Herr seiner Sinne war.
»Moin! Ich bin der Wai-Kuwe und komm von Däfer un Schittich ...« Er stutzte kurz und kicherte dann albern. »Na, Sie wissen schon - die Fischmakler.«
Der Kapitän, diesmal ein kleiner drahtiger mit großem, blondem Schnauzer und vielen Fältchen um die Augen, lachte. »Na, du bist mir ja ‘n Bagalut. Grüß mir man den Herrn Schäfer, das is’n alter Kumpel von mir.«
»Klar grüß ich den Dings ..., äh, na, Sie wissen schon.« Kai-Uwe grinste. Ein Kumpel vom Chef würde ihn sicher nicht zum Trinken verführen. Beruhigt lehnte er sich an die Reling. Von nun an kein Schnaps mehr, er hatte endgültig genug. »Wenn ich denn nu die Papiere ...«, bat er und bemühte sich, seine Augen, die immer wieder zufallen wollten, offen zu halten.
Als der Kaptein ihm nach getaner Arbeit zuzwinkerte und heiter ankündigte, nun wolle man aber einen haben, hob Kai-Uwe abwehrend die Hand.
»Ich ... nein, danke. Nicht für mich.«
Die gerade noch so fröhlich funkelnden Augen des Seemannes wurden schmal. »Watt?«, knurrte er. »Ich hatte schon ein paar ... Hicks! Und nun ...« Kai-Uwe brach ab und hielt sich eine Hand vor den Mund. Mit der anderen klammerte er sich an der Reling fest, um nicht umzukippen.
Der Boden unter ihm schwankte bedenklich. Dabei war die See inzwischen vollkommen ruhig, wie er mit einem prüfenden Blick über das Schiffsgeländer feststellte. Das Wasser plätscherte sacht und beinahe gemütlich gegen die Bordwand. Merkwürdig.
Der Käpt’n hob das Kinn und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Stirn war faltig wie ein Schifferklavier.
»Dascha interessant«, brummte er verschnupft und wies mit dem Kinn zu dem Nachbarschiff hinüber, von wo Kai-Uwe gekommen war. »Mit dem trinkst du - und mit mir nicht.«
Ungläubig starrte der junge Lehrling den Käpt’n an. Den Kumpel des Chefs.
Und er hatte doch gehofft ...
Nichts Gutes ahnend warf er einen Blick hinüber zu den Schiffen, auf denen er gewesen war und dann zu den beiden, die noch auf ihn warteten. Auf jedem Deck stand der zuständige Kapitän. Alle beobachteten aufmerksam, was auf Schiff Numero sechs vorging. Dabei grinsten sie zufrieden.
Nun ergaben die funkelnden Augen von Kai Uwes Kollegen einen Sinn.
Die schwielige Hand des Käpt’n reichte ihm ein Schnapsglas. »Du bist doch wohl ‘n richtiger Kerl, oder etwa nicht?«, fragte er und hob sein Glas. »Prost!«
Dem jungen Lehrling wurde schwindelig.
Als Kai-Uwe am nächsten Freitag von einem jüngeren Lehrling gefragt wurde, wie das am Sonntag sei, diesmal sei er ja dran, antwortete er freundlich: »Ach, mach dir keinen Kopp. Das geht ganz fix. Rauf aufs Schiff, Papiere fertig machen und wieder runter. Nach einer halben Stunde bist du fertig.«
Er sah die Erleichterung im Gesicht des Jüngeren, zwinkerte ihm zu und fuhr fröhlich pfeifend in sein freies Wochenende.
ENDE
»Jetzt hat sie völlig den Verstand verloren«, murmele ich, den Blick auf die E-Mail geheftet, die ich eben bekommen und überflogen habe, bis ich an einem Wort hängenblieb.
»Wer?«, fragt Beate.
Obwohl ich gar nicht mit ihr, sondern mit mir selbst gesprochen habe, antworte ich meiner Mitbewohnerin, denn sie ist nicht nur meine beste Freundin, sondern auch der neugierigste Mensch nördlich des Nord-Ostsee-Kanals. Mit einer Antwort wie: »Ach, uninteressant!« oder Ähnlichem würde sie sich ohnehin nicht abfinden.
»Meine Kollegin Suse«, berichte ich. »Sie ist mit der Organisation unseres jährlichen Betriebsausfluges betraut worden und hat sich einen Nude-Lauf ausgedacht.«
Beate gab einen kleinen Grunzton von sich. »Einen was?«
»Ein Wettrennen, offenbar nur in hautfarbener Kleidung, wenn ich das richtig verstehe. Auf die Fotos davon bin ich jetzt schon gespannt.«
»Klingt ja ganz schön abgefahren. Und wann findet dieser Lauf statt?«
Ich seufze. »Morgen schon.«
Weil wir wegen technischer Arbeiten im Haus zwei Tage lang kein Internet hatten und ich bis einschließlich heute wegen einer fiesen Erkältung krankgeschrieben war, konnte ich die Mail erst an diesem Morgen lesen.
Beate steht auf und schaut mir über die Schulter. »Wieso denn ‚Lauflauf‘?«, fragt sie.
Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung, vielleicht ein Schreibfehler. Suse haut gern mal daneben. Oder sie hat die Idee vom ‚Film-Film‘ bei SAT1.«
»Machst du da etwa mit?«, will meine Freundin wissen.
Sie weiß, dass ich Hemmungen habe, mich allzu freizügig zu präsentieren.
»Mir bleibt nichts anderes übrig«, antworte ich missgestimmt. »Die Teilnahme ist Pflicht. Anweisung von oben.«
Beate betrachtet mich mit einer Mischung aus Mitleid und Schadenfreude. »Wie blöd, dass du nur einschließlich heute krankgeschrieben bist.«
»Ich weiß dein Mitgefühl zu schätzen«, erwidere ich gallig, doch wir wissen beide, dass ich im umgekehrten Fall genauso reagieren würde.
»Na, dann such dir mal die passenden Klamotten aus«, meint Beate grinsend und geht zurück zu ihrem Laptop auf dem Couchtisch, um weiter bei Vinted nach Schnäppchen zu suchen. »Du kannst auch gern in meinem Schrank stöbern, ich glaube, ich habe irgendwo noch so ein fleischfarbenes Bauch-weg-Ding.«
Das Ding finde ich glücklicherweise, und aus meinem eigenen Fundus wird eine glänzende Strumpfhose zum Einsatz kommen. Als ich die Sachen am nächsten Morgen anziehe und mich anschließend im Spiegel betrachte, schüttele ich den Kopf. Was für eine Schnapsidee, in so einem Aufzug durch die Marienhölzung zu joggen!
Ich überlege ernsthaft, eine der übriggebliebenen Corona-Schutzmasken mitzunehmen, um zumindest einen Teil meines Gesichts zu verbergen.
Ich meine, schließlich spazieren viele Leute da herum, und ich möchte wirklich nicht, dass mich abgesehen von meinen Kollegen jemand so sieht. Den anderen aus meiner Firma in diesem Outfit gegenüberzutreten ist schon schlimm genug.
Aber die werden zumindest ähnlich bescheuert aussehen.
Ich freue mich jetzt schon auf den Anblick von Frau Siebert. Gegen diese blöde Schnepfe werde sogar ich wie ein Topmodel aussehen, dem Bauch-weg-Ding sei Dank!
Ehe ich das Haus verlasse, ziehe ich trotz des schönen Sommerwetters – warum kann es heute nicht endlich mal wieder regnen? – meinen langen Trenchcoat über und knote ihn fest zu. Turnschuhe sehen dazu zwar ein bisschen doof aus, aber ich kann schlecht in Stöckelschuhen durch den Wald rennen.
»Tschüss, Mona! Und viel Spaß«, ruft mir Beate beim Hinausgehen zu.
»Ja, du mich auch!«, erwidere ich verärgert, weil sie schon wieder von einem Ohr zum anderen grinst.
»Am liebsten würde ich mitkommen. Mit einer Videokamera«, höre ich sie noch lachend sagen, dann schlage ich zähneknirschend die Tür hinter mir zu.
Die Fahrt zur Marienhölzung dauert eine Viertelstunde.
Als ich beim Parkplatz ankomme, erkenne ich bereits viele der Wagen meiner lieben Kollegen. Hoffentlich ist niemand von der Zeitung zufällig hier, schießt es mir durch den Kopf. Die Vorstellung von zwanzig Leuten, die in peinlicher Nude-Kleidung auf einem Waldweg um die Wette laufen wäre dem Tageblatt garantiert einen Artikel wert, der ganz Flensburg nebst Umland amüsieren würde.
Ich seufze laut, als ich den Motor abstelle. Dann nehme ich all meinen Mut zusammen und steige aus. Gerade will ich mich auf den Weg machen, als mir einfällt, dass ich meinen Trenchcoat besser im Wagen lassen sollte. Schließlich will ich das gute Stück nicht einfach an einen Ast hängen oder auf einem Baumstumpf ablegen. Nachher klaut ihn noch jemand.
Während ich also ungern aus meinem Mantel schlüpfe, schaue ich mich um. Auf dem Kinderspielplatz in ungefähr dreißig Meter Entfernung toben sich einige Kids aus, ansonsten ist niemand zu sehen.
Der Treffpunkt ist hinter der ehemaligen Waldgaststätte, einem hübschen weißen Gebäude mit sechs Säulen vor dem Eingang. Früher beherbergte es ein Restaurant und war besonders in den Sommermonaten oft gut besucht. Das Gebäude zu umrunden, wird nicht lange dauern, und dort dürfte ich auch niemandem begegnen.
Hoffe ich jedenfalls.
Wie üblich bin ich spät dran, die anderen sind bestimmt alle schon dort. Augen zu und durch, denke ich, lege meinen Trenchcoat auf die Rückbank und schließe das Auto ab.
Den Wagenschlüssel klemme ich zwischen Glanzstrumpfhose und Bauch-Weg-Ding. Das Teil sitzt so eng, dass ich nicht fürchten muss, den Schlüssel zu verlieren. Die kleine unförmige Beule macht meinen Aufzug auch nicht besser, aber was soll’s.
Dann atme ich tief durch und mache mich mit raschen Schritten auf den Weg. Als ich mich dem ehemaligen Restaurant nähere, höre ich bereits fröhliche Stimmen und vereinzeltes Lachen.
Ich versuche, mir den Anblick, der sich mir gleich bieten wird, vorzustellen, und muss beinahe mitlachen. Aber nur beinahe, denn gerade kommt mir ein attraktiver Jogger entgegen, der mich entgeistert anstarrt und kopfschüttelnd weiterläuft. Mir wird heiß vor Unbehagen und ich spüre, dass meine Wangen vor Scham brennen.
Lieber rasch in der Nude-Menge untertauchen, denke ich mir, und trete mit forschen Schritten um die Ecke. Das Geplauder und Gelächter verebbt und macht einem kollektiven Schweigen Platz. Alle starren mich an.
Suse, die Siebert, unsere beiden Chefs und alle anderen.
Und kein einziger von ihnen sieht so nude-dämlich aus wie ich! Alle tragen normale Freizeitklamotten.
Ich würde am liebsten im Boden versinken, überlege schon, mich umzudrehen und wegzurennen, doch da kommt Suse schon auf mich zu.
»Mona?«, fragt sie, nur schwer ein Glucksen unterdrückend. »Wie siehst du denn aus?«
Mein Kopf muss inzwischen Ähnlichkeit mit einer überreifen Tomate haben. Ich wünsche mir meinen Trenchcoat zurück. Harry Potter hätte ihn sich mal eben herbeizaubern können, aber leider habe ich meinen Zauberstab zu Hause vergessen.
Was ist passiert? Ist heute der 1. April? Nein, definitiv nicht, wir haben Juni, das weiß ich genau. Unsicher schaue ich Suse an und blende alle weiteren Blicke, die auf mich gerichtet sind, aus, auch wenn es schwerfällt.
»Aber du hast doch … Ich dachte …«, stottere ich unbeholfen, »in der Mail stand, wir treffen uns zu einem Nude-Lauf.«
»Zu was? Einem Nude-Lauf?“ Suse runzelt verständnislos die Stirn. Dann fängt sie lauthals an zu lachen.
Im Grunde habe ich sie noch nie wirklich gemocht.
»Ich habe geschrieben, wir treffen uns in der Marienhölzung, und dass es später einen Nudelauflauf geben wird«, stellt sie klar, als sie wieder Luft bekommt. Auch die anderen kichern und lachen, werfen mir dabei zum Teil aber Blicke zu, die ihr Mitgefühl mit meiner Situation deutlich machen.
»Wahrscheinlich hat dein E-Mail-Programm das Wort an der falschen Stelle getrennt«, redet Suse weiter. »Nude-Lauflauf.« Sie prustet erneut los. »Wie genial ist das denn bitte? Dank dir werde das Wort nie wieder normal lesen können!“ Ein erneuter Lachanfall schüttelt sie. Mehrere Kollegen fallen ein, andere tuscheln leise miteinander, ehe sie ebenfalls zu kichern beginnen.
Mein Chef, der nette Herr Möller, wirft ihr und den anderen einen strengen Blick zu, und alle verstummen. Grinsen tut Suse aber noch immer, die blöde Kuh.
Langsam kommt mein Chef auf mich zu. »Ich schlage vor, sie fahren nach Hause und ziehen sich um. Wir warten hier auf Sie.«
Und macht euch in der Zwischenzeit über mich lustig, denke ich frustriert. So würdevoll wie möglich stimme ich zu, bitte aber um einen kleinen Gefallen.
»Aber natürlich«, sagt Herr Möller salbungsvoll. »Was möchten Sie denn, Mona?«
»Dass Sie sich alle umdrehen, bis ich um die Ecke bin.«
Die Vorstellung, dass alle auf meinen hautfarbenen Hintern in diesem Badeanzug-ähnlichem Teil starren, ist mehr, als ich ertragen kann.
»Ganz wie Sie wünschen.« Herr Möller wendet sich an die Belegschaft. Seine Mundwinkel zucken, das habe ich genau gesehen, aber er beherrscht sich vorbildlich.
»Jetzt schauen bitte alle mal in diese Richtung«, sagt er bestimmt und weist mit ausgestrecktem Arm dorthin, wo sich hinter vielen Bäumen das Wildgehege befindet.
»Danke«, hauche ich in seine Richtung, warte aber keine Reaktion ab, sondern renne mit brennenden Wangen los und halte erst an, als ich meinen Wagen erreicht habe.
Meine Finger zittern, als ich den Autoschlüssel aus seinem engen Versteck hervorhole und ernsthaft darüber nachdenke, ob ich kündigen soll. Denn mir ist völlig klar, dass diese Story noch jahrelang bei jeder Gelegenheit aufgewärmt werden wird.
Unterwegs verwerfe ich diese Möglichkeit wieder. Stattdessen nehme ich vor, zukünftig mit den anderen über diese Episode zu lachen. Denn das tue ich jetzt auch, weil ich vor meinem inneren Auge die Szene Revue passieren lasse. Ich in knallenger fleischfarbener Unterwäsche vor meinen verblüfften Kollegen.
Ich wundere mich selbst darüber, dass ich sogar laut kichern muss, doch zum Glück konnte ich mich schon immer gut über mich selbst amüsieren.
Im nächsten Moment allerdings vergeht mir das Lachen, denn ein blitzendes Licht glimmt auf.
Verflucht, eine Radarfalle!
Bei dem nächsten Gedanken, der mich durchzuckt, wird mir ein bisschen schlecht, denn da mein Trenchcoat nach wie vor auf der Rückbank liegt, werde ich auf dem polizeilichen Schnappschuss zumindest auf den ersten Blick so aussehen, als säße ich nackt hinterm Steuer.
Mir schneit also bald das ins Haus, was ich am allerwenigsten wollte: Ein Foto, das mich für alle Zeit an diesen Tag erinnert.
ENDE
Piet springt mit dem Fallschirm aus seinem abstürzenden Flieger. Doch wo zum Kuckuck ist er gelandet …?
Der kleine Kalle hat seinen im Krieg gefallenen Vater nie kennengelernt. Als er von einer Zeitmaschine in der Nachbarschaft hört, gibt es für ihn nur noch ein Ziel …
John sitzt seit Jahren unschuldig im Gefängnis. Wird es Privatdetektiv D.C. Williams gelingen, ihn herauszuholen …?
Hebamme Jonata begegnet man mit Misstrauen. Als das Dorf überflutet wird, flüchtet sie wie alle anderen Bewohner in das hochgelegene Kloster. Plötzlich ist eines der Kinder verschwunden …
Das durfte doch nicht wahr sein! Piets panischer Blick glitt über die Kontrollanzeigen und landete erneut bei Thorben, der mit zurückgefallenem Kopf und geschlossenen Augen auf dem Pilotensitz zusammengesunken war.
Allein zu fliegen hätte Piet ja noch hinbekommen, doch kurz vor Thorbens Zusammenbruch war das eine und nun, vor wenigen Sekunden, auch noch das andere Triebwerk ausgefallen. Er war gründlich am Arsch, das stand fest. So viel Zufall auf einmal war echt nicht normal. Er hatte ganz offensichtlich ein Karma-Problem.
»Scheiße, Kumpel, wach auf!«, rief er flehend gegen den Fluglärm an, doch Thorben rührte sich noch immer nicht.
Ein weiteres Mal versuchte Piet, seinen Puls zu finden.
Doch egal, wie fest er auch das Handgelenk seines Freundes drückte, da war kein beschissener Puls. Null. Nicht mal eine Andeutung von Leben. In Piets Kehle steckte plötzlich ein dicker Kloß.
Thorben, sein Freund seit über zwanzig Jahren, der ihn vor wenigen Minuten mal wieder mit irgendwelchen historischen Infos genervt hatte, war tot. Vermutlich hatte er einen Herzinfarkt bekommen. Dabei war er doch erst Mitte Fünfzig.
Piet schaute nach draußen und wusste: Er selbst würde auch gleich draufgehen. In Gedanken sah er die Piper PA-28 bereits auf dem Boden zerschellen und explodieren.
Thorben und er würden dann als Konfetti auf die Erde zurückrieseln. Verdammter Mist, was sollte er nur tun?
Die Piper begann zu trudeln, er hatte sie nicht mehr unter Kontrolle. Piet wusste, ihm blieb nur wenig Zeit. Die Erde kam immer näher. Unter ihm befand sich eine grüne Landschaft mit Hügeln, einigen Bäumen und vereinzelten Schafherden und steinernen Mäuerchen.
»Sorry, Kumpel«, sagte Piet mit ehrlichem Bedauern zu seinem Freund, »aber ich fürchte, den Rest des Wegs musst du ohne mich gehen.«
Dann schnallte er sich ab, zog den Fallschirmrucksack unter seinem Sitz hervor und öffnete wenig später die Tür.
Jäh wurde es mörderisch laut, der Wind brüllte ihn an wie ein Offizier einen inkompetenten Untergebenen.
Piet sah ein letztes Mal zurück. Tränen verschleierten seine Sicht, doch er konnte nicht sagen, ob sie durch die Trauer oder durch den Wind entstanden waren.
»Irgendwann sehen wir uns wieder, mein Freund«, rief er dem leblosen Thorben zu.
Sein alter Kumpel würde ihm wirklich sehr fehlen. Er war ein Mann voller Leidenschaften gewesen. Für das Fliegen, für schöne Frauen, für die englische Geschichte, für seinen Lieblings-Fußballclub.
Er wandte sich ab, sah zur Erde hinab und erschrak darüber, wie tief die Piper bereits lag. Jetzt war ganz klar nicht der rechte Moment, um in Erinnerungen zu schwelgen. Es würde vielleicht noch zwanzig Sekunden dauern, ehe die Maschine auf die Erde aufschlug, schätzte er. Bis dahin musste er hier weg sein.
Piet betrachtete prüfend die Landschaft unter sich.
Felder und Äcker, Wiesen und Weiden. Keine Häuser in der unmittelbaren Umgebung, ein bisschen Glück hatte er also doch.
Er holte tief Luft und sprang.
Augenblicklich brachte der Wind seine Pilotenjacke und die Haut in seinem Gesicht zum Flattern. Wie ein Stein sauste Piet der Erde entgegen, hörte nur noch das laute Rauschen des Windes, und obwohl er schon häufig mit einem Fallschirm abgesprungen war, schraubte sich sein Puls auch diesmal wieder in rekordverdächtiger Höhen.
Die Erde kam rasch näher, er musste sich beeilen.
Hastig schlossen sich seine Finger um die Reißleine, und ihm fuhr der Gedanke durch den Kopf, dass es zum bisherigen Verlauf des Tages passen würde, wenn der Mechanismus zum ersten Mal nicht funktionierte.
Er schickte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel hinauf und zog an der Reißleine. Mit einem kräftigen Ruck öffnete sich zu seiner großen Erleichterung der Fallschirm.
Während er Richtung Erde schwebte, musste Piet beobachten, wie die Piper mit seinem Freund an Bord nicht weit von ihm entfernt zur Erde stürzte und auf einer Koppel zerschellte. Dann gab es eine Explosion wie in einem Bruce-Willis-Actionstreifen. Flammen schossen aus der Maschine und Metallteile flogen durch die Luft.
Piet war zum Heulen zumute, als er das brennende Wrack betrachtete. Er gönnte sich ein paar Momente, um an seinen Freund zu denken und um ihn zu trauern.
Gut, seine Vorträge über historische Ereignisse und sich bekriegende Könige würde er nicht vermissen. Aber vieles andere schon. Morgen Abend kam ein Fußballspiel im Fernsehen, dass sie sich gemeinsam hatten anschauen