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Ermittlungen zwischen Vorzelt und Ostseestrand Die Flensburger Kommissare Andresen und Weichert haben einen neuen Fall. Auf dem Campingplatz in Holnis wurde der Wiener Junggeselle Marlon Schubert tot aufgefunden und beraubt. Hat einer seiner Pokerfreunde die Tat begangen? Oder war es der eifersüchtige Steffen Hornhuber, dem es missfiel, wie gut sich der charmante Wiener mit seiner Frau Juliane verstand? Ausgerechnet Kommissar Weichert wird dazu verdonnert, undercover auf dem Campingplatz Nachforschungen anzustellen. Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, der Krimi-Autorin Verena, zieht der Schöngeist mit der empfindlichen Haut in einen der Mietwohnwagen. Dort macht ihm nicht nur die Hitze des Rekordsommers schwer zu schaffen. Und dann ist plötzlich Alexandra, die älteste Tochter der Hornhubers, spurlos verschwunden …
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Seitenzahl: 496
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Britta BendixenDer Tote im Camper
Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2020 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8371-2
Britta BendixenDer Toteim Camper
Britta Bendixen wurde im Juli 1968 in der Fördestadt Flensburg geboren. Bis 2007 arbeitete sie in ihrem Beruf als Rechtsanwaltsfachangestellte. Seitdem unterstützt sie ihren Ehemann in seinem Architekturbüro. Britta Bendixen hat weder bereits mit sieben Jahren ihre ersten Geschichten geschrieben noch Dutzende von Notizbüchern mit Gedichten gefüllt. Ihre Leidenschaft für Literatur beschränkte sich in den ersten 44 Lebensjahren fast ausschließlich aufs Lesen.Erst 2012 begann sie mit dem Schreiben – verursacht durch den Umstand, dass sie ein 20 Jahre altes Manuskript wiederfand, das sie während ihrer Ausbildungszeit verbrochen hatte. Die gründliche Überarbeitung dieses „Werkes“ löste den Schreibvirus mit voller Wucht aus.2014 veröffentlichte sie im Boyens Buchverlag ihren ersten Regional-Krimi „Höllisch heiß“. 2017 folgte „Der Kuss des Panthers“. Schon ein Jahr zuvor – 2016 – erschien im Wartberg-Verlag ihr Buch „Flensburg – Um drei bei Eduscho“ mit Anekdoten über die Fördestadt. Seit 2013 ist Britta Bendixen Mitglied im Rindlerwahn-Autorenforum und erreichte sowohl 2016 als auch 2018 im dortigen Schreibwettbewerb jeweils den 1. Platz. Seit einigen Jahren veranstaltet sie mit dem Flensburger Autorentreff e. V. Lesungen in ihrer Heimatstadt und gehört mittlerweile zum Vorstand des Vereins.Zudem schrieb sie mehrere Artikel für das Magazin „Friesenanzeiger“, ist in 14 Anthologien vertreten und veröffentlichte drei Bände mit Kurzgeschichten.Britta Bendixen reist gern, interessiert sich für englische Geschichte und ist seit fast dreißig Jahren Fan des Handball-Bundesligisten SG Flensburg-Handewitt. Sie lebt mit ihrem Mann, zwei Töchtern und zwei Katzen in Handewitt bei Flensburg.
Meiner lieben Freundin Angela.Danke für die Inspiration!
PROLOG
Er saß in einem Restaurant, als er etwas im Rücken spürte. Als stieße jemand eine Nadel zwischen seine Schulterblätter. Im nächsten Moment war es schon wieder vorbei.
Er ignorierte den Stich. Konzentrierte sich auf seine Begleitung, auf das Kerzenlicht und die leise Musik. Die Blondine ihm gegenüber strahlte ihn an, ihre hinreißenden Augen funkelten.
Er lächelte und hob sein Glas mit Rotwein.
„Ich bringe dich ganz groß raus“, versprach er. „Du bist das größte Talent im Verein. Wir sollten in Zukunft viel Zeit miteinander verbringen.“
„Ich hoffe, ich werde dich nicht enttäuschen“, säuselte sie und beugte sich leicht vor.
Sanft legte er seine Hand auf ihre. „Das wirst du nicht.“
Dieses Mädchen war genau seine Kragenweite. Er stierte in ihren glatten, üppigen Ausschnitt. Stellte sich vor, wie sie im Bett sein würde. Ob sie es schon einmal getan hatte? Schließlich war sie erst sechzehn. Bei dem Gedanken daran, dass er derjenige sein könnte, der sie entjungferte, spürte er seine Hose eng werden.
Just in diesem Moment stach ihn erneut etwas in den Rücken. Nur ganz leicht, es war nicht mehr als ein kleiner Piks, dennoch hatte er etwas Beängstigendes. Bedrohliches. Seine Handflächen begannen unangenehm zu kribbeln. Sein Puls beschleunigte sich.
Irgendetwas stimmte nicht. Von einer Sekunde zur anderen schwitzte er, als säße er mit Wintermantel in der Sauna. Sein Blick fiel auf die Kerzen. Sie schienen heller und heißer zu brennen als zuvor. Die Flammen taten in seinen Augen weh.
„Uh, ist dir auch so warm?“, fragte Blondie und begann, verführerisch langsam ihre Bluse aufzuknöpfen. Er riss sich zusammen. So ein leichter Temperaturanstieg würde ihn doch nicht davon abhalten, sich auf die Kleine und ihren Striptease zu konzentrieren. Als sie den seidigen Stoff von ihren Schultern schob und einen weißen Spitzen-BH enthüllte, verschwamm das Bild und verblasste schließlich.
Es war ihm gleich, denn vom Rücken aus breitete sich ein Schmerz in seinem Körper aus, dessen Heftigkeit ihm den Atem raubte. Seinen Kopf traf es am meisten, er schien explodieren zu wollen. Jemand musste ihn in einen Schraubstock gesteckt haben. Er kniff die Augen zusammen und umklammerte seine hämmernden Schläfen. Mühsame Atemzüge dröhnten in seinen Ohren. Es klang, als säße Darth Vader in seinem Schädel. Das würde auch den Metallgeschmack in seinem Mund erklären.
Als er zaghaft die Lider hob, stachen neongrüne Zahlen in seine Netzhaut. Zunächst tanzten sie vor seinen Augen, doch schließlich konnte er sie erkennen. Null, Drei, Eins, Zwei.
Vorbei.
Er befand sich keineswegs mit einer hübschen Blondine in einem Restaurant. Es war Nacht, zwölf Minuten nach drei, und er lag bäuchlings in seinem Bett. Allein.
Seine nackte Haut war nass vom Schweiß, klebte am Laken. Als er versuchte, sich umzudrehen, schoss erneut eine Welle des Schmerzes durch seinen Leib. Er stöhnte und sank wieder zurück. Spürte, dass sein Hals und seine Zunge anschwollen.
„Endlich ist der Tag der Abrechnung gekommen, du verdammtes Arschloch!“
Wer war das?
Er blinzelte verwirrt in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, versuchte angestrengt, etwas zu erkennen. Vergeblich, es war zu dunkel. Seine bebenden Finger suchten nach dem Schalter der Nachttischlampe. Fanden ihn. Er drückte die Taste und vor seinen Augen explodierte die Sonne. Rasch kniff er die Lider zu. Konnte neben Darth Vaders rasselndem Atem hören, dass die Schlafzimmertür geschlossen wurde.
Von wem, verdammt?
Er grübelte nicht länger darüber nach. Sein Denken kreiste einzig darum, Luft zu holen, ohne dabei vor Schmerz verrückt zu werden. Auch Schlucken wurde zur Anstrengung. Seine Kehle wurde immer enger.
Er versuchte, sich auf den Rücken zu drehen, um freier atmen zu können. Es dauerte quälend lange. Jede Bewegung tat so weh, als lägen sämtliche Nerven bloß. Schließlich gelang es, doch hinterher war er erschöpft wie nach einem zweistündigen Intensiv-Training.
Eine Hand auf die wogende Brust gepresst öffnete er ein weiteres Mal blinzelnd die Augen. Zunächst erkannte er nur verschwommene Umrisse, registrierte aber, als er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, dass sich außer ihm niemand im Zimmer befand. Er war allein. Die Stimme hatte er wohl ebenso geträumt wie das Dinner mit der sexy Blondine.
Doch nun drang ein sehr realistisches Brummen an seine Ohren. Es klang wie ein Mini-Motor. Wurde leiser, dann wieder lauter. Er konzentrierte sich, hörte genauer hin. Zwei Mini-Motoren. Oder drei?
Und dann erkannte er, was diese Geräusche zu bedeuten hatten. Eine eiskalte Welle der Angst überrollte ihn. Die Stiche in seinem Rücken. Die Kurzatmigkeit, das Herzrasen. Die Übelkeit erregenden Schmerzen und das merkwürdige Brummen.
Bienen! Verflucht, ich muss sofort hier raus!
In der Kommodenschublade im Flur lag sein Notfallset. Von Schmerzen gepeinigt schlug er die Decke zur Seite, kämpfte sich auf die Füße und schleppte sich mühsam zur Tür, während ihm der Schweiß von der Stirn in die Augen lief. Die paar Schritte konnte er schaffen. Musste er schaffen! Dann würde alles wieder gut werden.
Er drückte die Klinke nach unten.
Die Tür blieb zu. Ungläubig rüttelte er an dem Griff. Verdammt! Wieso …?
War es doch kein Traum gewesen, dass jemand neben seinem Bett gestanden hatte? Das Geräusch der sich schließenden Tür fiel ihm ein.
„Hallo? Mach auf!“, rief er undeutlich und mit schwacher Stimme. „Schnell! Bitte, ich …“
Seine Knie wollten nachgeben. Er klammerte sich an den Türgriff und rang röchelnd nach Luft. Seine schweißnasse Hand rutschte von der Klinke.
Scheiße! Ich brauche mein Notfallset. Sofort. Sonst …
Er kniff die Augen zusammen und weigerte sich, den Gedanken weiterzuspinnen. Wer auch immer in seiner Wohnung war, er erlaubte sich einen Scherz und würde ihn gewiss gleich befreien.
Vorsichtig lehnte er den Kopf gegen das kühle Holz der Tür. Horchte auf Geräusche, doch von der anderen Seite kam nichts als tödliche Stille.
Er wollte klopfen, um Hilfe rufen, konnte jedoch weder Arm noch Stimme heben. Er, das sportliche Kraftpaket, war von einer Sekunde zur anderen hilflos wie ein Neugeborenes.
Wenn sein nächtlicher Gast ihn in Panik versetzen wollte, war ihm das prächtig gelungen. Aber irgendwann war es genug. Es reicht, wollte er rufen, du hast gewonnen. Mach die Tür auf! Doch aus seinem Mund kam nur ein unartikuliertes Gurgeln.
Sein Herz donnerte gegen den Brustkorb, als wolle es ihn sprengen. Er bekam kaum noch Luft. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, das spürte er.
Seine Rettung lag in einer Schublade, nur wenige Schritte entfernt, und war doch unerreichbar. Es sei denn, der Fremde mit dem seltsamen Humor hatte sich endlich genug amüsiert und machte die Tür auf. Sonst war es gleich vorbei mit ihm, und der Gedanke war verrückt. Er war jung, gesund, attraktiv – er wollte leben!
Tag der Abrechnung, dröhnte es plötzlich in seinem Kopf. Tag der Abrechnung …
Ihm wurde speiübel, als der Sinn dieser Worte sein Gehirn erreichte. Dies hier war kein schlechter Scherz, sondern eine ernste Sache. Alle Puzzlestücke ergaben auf einmal ein Bild. Ein Bild des Grauens, bestehend aus drei Teilen: Einer unbekannten Stimme, so kalt, als wäre sie mit Eiswasser getränkt, Bienen in seinem Schlafzimmer, obwohl er stets bei geschlossenem Fenster schlief, und einer Schlafzimmertür, die sich nicht öffnen ließ.
Jemand war hier und dieser Jemand wollte ihn töten. Tränen der Verzweiflung rannen ungehindert über seine Wangen, weil er nicht einmal einen Arm heben konnte.
Warum? Wer bist du? Wieso ich?
Eine weitere Schmerzwelle jagte durch seinen Körper, malträtierte seinen Kopf. Seine Beine zitterten, wurden kraftlos wie zuvor die Arme. Knickten plötzlich ein wie Streichhölzer. Vergeblich japste er nach Luft, ihm schwindelte. Das Muster des Teppichs raste auf ihn zu, wurde immer größer.
Dann wurde es mit einem Mal dunkel und er spürte nichts mehr.
KAPITEL 1
Lutz Weichert verspürte eine Euphorie wie schon lange nicht mehr. Als er den Raum betrat, sah sein Kollege, Hauptkommissar Carsten Andresen, von den Unterlagen auf seinem Schreibtisch hoch.
„Sie grinsen wie ein Honigkuchenpferd“, stellte er fest. „Dann ist es jetzt offiziell?“
„Allerdings.“ Lutz Weichert nippte zufrieden an dem Ingwertee, den er sich auf dem Rückweg ins Büro besorgt hatte. „Nach Ihnen durfte nun auch ich eine Stufe in der Hierarchie aufsteigen.“ Er ließ sich auf der Kante seines Schreibtischs nieder. „Kriminaloberkommissar“, murmelte er, die mittleren Silben besonders betonend. Der Klang dieses Wortes verströmte eine noch angenehmere Wärme als der heiße Becher in seinen Händen.
Andresen erhob sich schwungvoll aus seinem Bürosessel, was angesichts seiner Größe von knapp zwei Metern keine geringe Leistung war, und hielt ihm seine Hand entgegen. „Ich gratuliere Ihnen. Verdient ist verdient.“
Weicherts Finger verschwanden fast in der kräftigen Pranke seines Kollegen. Er zuckte zusammen und presste ein „Danke sehr“ hervor.
„Darauf müssten wir eigentlich anstoßen“, meinte Andresen, Weicherts Hand loslassend, der sie vorsichtig zur Faust ballte und wieder öffnete. Nichts gebrochen, stellte er fest. „Anstoßen? Ach, wissen Sie, ich …“
„Aber nicht mit diesem ekligen Gesöff.“ Andresen warf einen abschätzigen Blick auf den Becher, den Weichert in der linken Hand hielt.
„Was haben Sie bloß gegen Ingwertee?“, fragte er. „Er ist bekömmlich, ausgesprochen gesund und …“
„… stinkt gotterbärmlich“, vollendete Andresen naserümpfend den Satz. „Nee, nee, ich will ein schönes, dem Anlass angemessenes Feierabendbier. Sie dürfen mich also in die Hansens Brauerei einladen.“
„Nun ja, ich verdiene jetzt zwar ein kleines bisschen mehr, aber andererseits …“
„Was ist denn hier los?“
Die beiden Kommissare wandten die Köpfe zur Tür. Mirja Sommer, die junge Kommissarsanwärterin, stand im Rahmen und schaute neugierig von einem zum anderen. Wie immer trug sie eine knallenge Jeans, diesmal in Weiß, mit kunstvoll eingearbeiteten Schlitzen, die bei Lutz Weichert den Eindruck erweckten, das gute Stück sei einem durchgeknallten Schneider auf Speed in die Hände gefallen. Unversehrt dagegen war das T-Shirt in verwaschenem Dunkelgrau, auf dem die berühmte Rolling-Stones-Zunge prangte, garniert mit Glitzersteinchen. Mirjas kurzes schwarzes Haar, das am Scheitel frech in die Höhe stand, passte perfekt zu ihrem schmalen Gesicht mit den hohen Wangenknochen – und zu dem kleinen silbernen Ring in ihrer Nase, an den Weichert sich wohl nie gewöhnen würde.
„Unser lieber Kollege trägt ab Juli – also schon in zwei Tagen – offiziell den Titel Kriminaloberkommissar und darauf wollen wir anstoßen“, erklärte Andresen und rieb sich voller Vorfreude die Hände. „Begleiten Sie uns?“
Lutz versuchte noch einmal, zu intervenieren. „Äh … Was ich eben sagen wollte, ich denke nicht, dass …“
„Herzlichen Glückwunsch, Herr Oberkommissar“, schnitt Mirja ihm das Wort ab und schüttelte mit einem breiten Strahlen seine Hand, ehe sie Andresens Frage beantwortete. „Tja, eigentlich würde ich gerne, aber Philipp holt mich jeden Moment ab. Darf er denn auch mit?“
Andresen nickte. „Klar, wieso nicht? Ich rufe gleich mal Daniela an. Sie hat neulich erst gesagt, dass sie schon so lange nicht mehr in der Hansens Brauerei war, dabei mag sie das Bier dort so gern. Außerdem ist Antonia an diesem Wochenende bei ihrem Vater.“ Er griff nach dem Telefonhörer und wählte.
Lutz Weichert stand stumm daneben. Aus einem erzwungenen Feierabendbier mit seinem Kollegen war innerhalb von dreißig Sekunden eine Großveranstaltung geworden, die er finanzieren sollte. Dabei hasste er überflüssige Geldausgaben wie die Pest. Und wie er seinen Kollegen kannte, würde es nicht bei einem Bier bleiben.
Er spürte jedoch instinktiv, dass ein Veto an Andresen abprallen würde wie ein frisch aufgepumpter Handball an einer Backsteinmauer. Also fügte er sich leise seufzend in sein Schicksal.
Wenn jedoch seine Kollegen ihre Partner mitnahmen, wollte er nicht allein daneben sitzen. Auf eine Person mehr oder weniger kam es nun auch nicht mehr an. Während also Andresen seine Lebensgefährtin Daniela Mücke anrief, wählte Weichert die Mobilnummer seiner Freundin Verena. Sie war vermutlich im Stall, wie fast jeden Tag um diese Zeit.
Es dauerte eine Weile, bis sie sich meldete, und als sie es tat, spürte Weichert sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie klang, als würde sie weinen.
„Verena?“, fragte er vorsichtig. „Was ist los?“
„Es ist Tessa“, schniefte Verena. „Sie hat Koliken. Der Arzt ist hier, aber er … er kann nichts mehr für sie tun, sagt er.“
Weichert ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Das waren üble Nachrichten. Verena hing sehr an ihrer Stute, verbrachte seit Jahren so viel Zeit wie möglich mit ihr. Tessa war für sie nicht nur eine Möglichkeit, sich sportlich zu betätigen. Sie war Freundin, Geheimnishüterin und Therapeutin in einem.
„Das tut mir wahnsinnig leid, mein Schatz“, sagte er.
„Lutz, kannst du herkommen? Bitte, ich brauche dich jetzt.“
„Natürlich. In einer halben Stunde bin ich bei dir. Halt durch, ja?“
„Okay“, antwortete sie bedrückt. „Beeil dich.“
Er versprach es und legte auf. „Schlechte Nachrichten“, sagte er zu seinen Kollegen. „Wir müssen die Feier verschieben.“
„Warte, Dany“, sagte Andresen in den Hörer, deckte ihn mit einer Hand ab und wandte sich an Weichert. „Was ist passiert?“
„Verena braucht mich. Ihr Pferd liegt im Sterben.“
„Ach du dickes Ei.“ Andresen schnalzte mit der Zunge. „Das müssen wir als Entschuldigung wohl oder übel akzeptieren. Ich weiß, wie viel Ihrer Freundin das Tier bedeutet. Richten Sie ihr mein Beileid aus.“
„Meins auch“, bat Mirja.
Weichert stand auf und schlüpfte in seinen grasgrünen Blazer. „Mach ich, danke.“
Fünfunddreißig Minuten später erreichte er Glücksburg. Dort ließ er das bekannte Wasserschloss links liegen, das an schönen Tagen wie diesem strahlend weiß leuchtete. Der Siebenschläfer hielt in diesem Jahr offenbar, was er versprach. Schon seit Tagen war es herrlich warm und sonnig.
Endlich hielt Weichert auf dem kleinen Parkplatz vor dem Reitstall, der einige Fahrminuten vom Ortskern entfernt lag. Oft war er nicht hier gewesen in den letzten Jahren, doch er kannte sich gut genug aus.
Zielstrebig steuerte er das lang gestreckte Gebäude an, in dem die Pferde untergebracht waren. Er entriegelte die große Tür und trat ein. Der typische Stallgeruch nach Heu, Leder und Pferdemist drang in seine empfindliche Nase, die sich wie von selbst rümpfte. Die Hitze draußen sorgte dafür, dass es hier drinnen furchtbar stickig war. Lutz wünschte, er hätte sein Sakko im Wagen gelassen.
Er hörte leises Schnauben, das Rascheln von Stroh unter aufstampfenden Pferdehufen und etwas entfernt Verenas Schluchzen. Langsam ging er die Stallgasse entlang, an Schimmeln, Braunen und Rappen vorbei, die zum Teil neugierig ihre Nüstern über das Gatter streckten, was Weichert den einen oder anderen Ausfallschritt machen ließ. Schließlich erreichte er die offene Tür von Tessas Box.
Der kräftige Kopf der Stute lag in Verenas Schoß. Die großen Augen waren stumpf vom Fieber. Sie atmete schwer, ihr Leib war aufgetrieben. Sogar Lutz, der von Pferden nur wenig Ahnung hatte, konnte mühelos erkennen, dass sie litt.
Seine Freundin streichelte mit einer Hand das feucht glänzende Fell, mit der anderen wischte sie sich die Tränen von den Wangen. Neben Tessa stand ein Mann und bereitete eine Spritze vor.
„Hey“, sagte Lutz mit gedämpfter Stimme. Verena sah auf. Ihre Augen waren rot vom Weinen und ihr Kinn zitterte. Aus ihrem Pferdeschwanz hatten sich einige der rotblonden Strähnen gelöst. „Da bist du ja endlich“, sagte sie hörbar erleichtert.
„Okay, ich wäre so weit“, sagte der Tierarzt.
„Gibt es denn keine andere Möglichkeit?“, fragte Lutz leise.
Der Arzt, ein breitschultriger Mann mit Stirnglatze, wandte sich ihm zu und schüttelte bedauernd den Kopf. „Leider nein. Der Bauchraum ist voller Flüssigkeit und die Blutwerte sind extrem schlecht. Es tut mir leid, aber eine Operation würde auch nicht mehr helfen. Immerhin können wir die Leidenszeit verkürzen.“
Verena schluchzte erneut auf.
„Darf ich reinkommen?“, fragte Lutz den Arzt.
Das Schulterzucken genügte ihm als Antwort. Mit vorsichtigen Schritten näherte er sich dem todgeweihten Tier und kniete sich hinter Verena ins Stroh. Sie lehnte sich dankbar an ihn, ohne jedoch das tröstende Streicheln zu unterbrechen.
„Gleich tut’s nicht mehr weh, meine Süße“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. „Oh Gott, ich werde dich so vermissen.“ Ihre Schultern bebten.
Lutz hielt seine verzweifelte Freundin fest, als die Nadel langsam in den Pferdeleib eindrang.
Einige Herzschläge lang geschah nichts. Die Luft war erfüllt von den Geräuschen der anderen Pferde und Verenas leisem Weinen. Plötzlich lief ein Zittern durch Tessas angeschwollenen Leib. Sie schnaubte leise, als wolle sie Verena noch etwas mitteilen, dann schloss sie die Augen.
Mit Verenas Haltung war es nun endgültig vorbei. Sie brach über dem Kopf der Stute zusammen und schluchzte herzergreifend.
Lutz beobachtete, wie der Arzt seine Sachen zusammenpackte. Für ihn war Tessas Tod nichts Besonderes. Er würde seine Rechnung schreiben und damit hatte es sich.
Verena würde länger daran zu knabbern haben. Doch Lutz nahm sich vor, ihr in der nächsten Zeit noch mehr als sonst zur Seite zu stehen und ihr so gut wie möglich zu helfen, über diesen Verlust hinwegzukommen.
***
„Ja, da hört sich doch wohl alles auf!“, polterte jemand.
Juliane Hornhuber, die gerade auf dem Weg zum Strand war und in Gedanken versunken auf den gepflasterten Weg geschaut hatte, hob den Kopf. Ungefähr zehn Meter vor ihr stand ein älterer Herr mit Schlapphut und einem Mops an der Leine. Beide, Herrchen und Hund, kamen ihr bekannt vor.
„Man sollte Sie schnurstracks vom Platz jagen“, empörte sich der Schlapphutträger. Sein Unmut galt offenbar zwei jungen Männern, die auf Gartenstühlen vor ihrem Wohnwagen saßen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen ließen.
„Wieso?“, fragte einer von ihnen zurück, ein kräftig gebauter Blondschopf. „Isses verboten, sich zu sonnen und dabei ’n Bierchen zu schlürfen?“
„Sie wissen ganz genau, was ich meine.“
„Nee, ich hab echt keinen Schimmer. Du?“ Der Blonde drehte sich zu seinem dunkelhaarigen Freund um. Der schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.
„Sie können sich doch nicht in aller Öffentlichkeit betatschen“, geiferte der Mopsbesitzer weiter. „Kinder könnten das sehen, Sie rücksichtslosen …“ Er brach ab, offenbar unschlüssig, welches Schimpfwort hier angemessen war.
Julianes Schritte wurden langsamer.
„Ja? Was wollten Sie sagen?“, fragte der Blonde angriffslustig. Er stand auf und kam näher. Das schien den Hund anzustacheln. Er zerrte kläffend an der Leine. Sein Herrchen zog ihn zurück. „Aus, Bobby!“
„Reden Sie ruhig weiter“, rief der junge Mann gegen das wütende Bellen an. Er war offenbar auf Krawall gebürstet, stand nun sehr dicht vor dem Rentner und funkelte ihn an, worauf der einen vorsichtigen Schritt nach hinten machte.
„Also? Wir rücksichtslosen … was? Urlauber? Oder wollten Sie sagen, ,Sie rücksichtslosen homosexuell veranlagten Mitmenschen‘?“
Juliane blieb in einigem Abstand stehen.
„Ich werde mich über Sie beschweren!“, schimpfte der Ältere, wobei ihm kleine Spucketröpfchen aus dem Mund schossen. „Sie können schon Ihre Sachen packen, denn ich werde dafür sorgen, dass Sie noch heute hier verschwinden.“
Der Blonde tippte sich an die Stirn. „Sie haben ja nicht alle Gurken im Glas!“
„Eine Frechheit ist das!“ Der Rentner schaute sich um, als suche er Zeugen des Gesprächs, und entdeckte Juliane. „Juliane, hast du gehört, was der unverschämte Kerl zu mir gesagt hat?“
„Servus, Emil!“, sagte Juliane und kam zögernd näher. „Wie geht’s?“
„Wie soll es einem schon gehen, wenn sie jetzt schon solche Leute auf den Platz lassen. Und dann auch noch direkt vor unserer Parzelle!“ Der schlohweiße Schnurrbart von Emil Krause sträubte sich vor Zorn. „Solche Leute gehören nicht auf einen Campingplatz. Die sollten lieber ein Zelt im Wald aufschlagen, da belästigen sie jedenfalls niemanden.“
Bobby kläffte zustimmend.
„Meine Hand lag auf Moritz’ Bein, das ist alles. Der Alte soll sich nicht so anstellen.“
Der Blondschopf musterte Juliane misstrauisch. Er fürchtete wohl, sie würde ihren Bekannten unterstützen. Die Absicht hatte sie allerdings nicht. Sie war in den Achtzigerjahren im Münchner Glockenbachviertel aufgewachsen. Der Anblick gleichgeschlechtlicher Paare war für sie etwas völlig Normales. Sie ging in die Hocke, streichelte Bobby und zwinkerte dem Blonden unauffällig zu, worauf sich dessen Gesichtszüge wieder entspannten.
„Ich wollt grade bei dir und der Anne vorbeischauen“, behauptete Juliane. Das war gelogen. Eigentlich hatte sie sich auf die erste Begegnung mit dem Meer in diesem Jahr gefreut, auf einen Spaziergang mit nackten Füßen im warmen, feuchten Sand, auf kühles Wasser bis zu den Knöcheln und den Geruch von Seetang in der Nase. Der nach Harmonie strebende Teil von ihr hielt es allerdings für besser, dass sich vorerst die Gemüter abkühlten.
„Emilchen, was ist denn los?“ Von der anderen Seite des Weges näherte sich eilig eine ältere Frau in einem mit bunten Riesenblumen gemusterten Hängerkleid. An den Füßen trug sie kackbraune Gesundheitssandalen. „Was schimpfst du denn schon wieder … Nanu, Juliane. Das ist ja eine Überraschung.“
Juliane erhob sich und lächelte bemüht. „Servus, Anne! Ihr seid’s auch wieder da?“
„Ja, natüüürlich“, bestätigte Anne Krause in breitestem norddeutsch. „Schon seit zwei Wochen. Komm rein, ich hab frischen Kaffee aufgebrüht. Emilchen, lass doch die jungen Leute in Ruhe.“
„Ja, hör auf deine Frau“, riet der Blonde.
Als Juliane sah, dass der Rentner erneut aufbrausen wollte, nahm sie seinen Arm. „Passt schon, Emil“, sagte sie und zog ihn sanft von seinen Nachbarn fort. „Oh, hast du neue Gartenzwerge?“
Sie schaute noch einmal über die Schulter. Der Blonde grinste breit und hob dankbar einen Daumen in die Höhe. Juliane nickte ihm zu, während sie mit Emil und Anne auf deren Parzelle zuging. Hinter sich hörte sie noch, wie der Blonde seinen Freund anfuhr, dass der ruhig auch mal etwas sagen könne.
Das kleine Areal, das dem Rentnerpaar zur Verfügung stand, war wie ein Schrebergarten ausstaffiert, inklusive steinernen Schildkröten, Blumenkübeln und putzigen Gartenzwergen. Die Krauses aus dem nahen Flensburg waren Dauercamper und verbrachten viele Wochen des Jahres in ihrem Wohnwagen. Das hatte Anne Krause im letzten Jahr erzählt, als Juliane die beiden kennengelernt hatte.
Sie betraten das von der Sonne aufgewärmte Vorzelt. Es roch nach Insektenspray, Hundefutter und frischem Kaffee. Emil löste die Leine von Bobbys Halsband, setzte den Schlapphut ab und sich selbst auf einen Gartenstuhl. Eine Sekunde später war seine finstere Miene hinter der Tageszeitung verschwunden, deren Titelzeile der derzeit laufenden Fußball-Weltmeisterschaft gewidmet war.
Juliane sah sich um. An der Rückseite des Zelts stand nicht mehr der in die Jahre gekommene Wohnanhänger, den sie vom letzten Urlaub kannte, sondern ein blütenweißes neues Modell, deutlich größer als sein vergilbter Vorgänger.
„Ihr habt einen neuen Wagen? Schön ist der.“
Anne nickte stolz. „Nich wahr? Der alte war ja nu wirklich kein Schmuckstück mehr nach fast dreiundzwanzig Jahren. Und damals hatten wir ihn schon gebraucht gekauft. Es hat ’n büschen gedauert, bis ich meinen Emil überzeugen konnte, einen neuen zu kaufen, doch schließlich musste er zugeben, dass ich recht hatte, nich, Emilchen?“
Die Zeitung raschelte, als Emil sie umschlug und dabei gegen den Schlageroldie anbrummte, der aus einem Radio kam, welches vermutlich genauso alt war wie das Lied. Rex Gildo feierte seine Fiesta Mexicana. Das Lied passte perfekt zu dem Artikel auf der jetzt zu sehenden Zeitungsseite. Proteste gegen Trumps Einwanderungspolitik.
Hossa, schmetterte Rex gut gelaunt. Hossa, Hossa!
Anne Krause stellte einen weiteren Becher, einen mit lila Kringeln, auf den Tisch und goss dampfenden Kaffee aus einer Thermoskanne hinein. „Nu hock dich hin, ein paar Minuten wirst du doch haben, nich?“
Juliane setzte sich neben Emil. „Freilich, ich bin ja ab sofort im Urlaub. Nach der langen Fahrt wollte ich mir zwar ein wenig die Beine am Strand vertreten, aber das kann ich später immer noch tun.“
„Da sachst du wat. Sahne? Zucker?“
„Nein, schwarz, danke.“
Anne ließ sich in ihren Polsterstuhl sinken und schob einen Teller mit Butterkeksen zu ihrem Gast hinüber. „Hier, greif zu. Eigentlich mag ich ja lieber Kekse mit Schokolade, doch bei der Wärme schmilzt die sowieso gleich. Wie lange bleibt ihr diesmal? Wieder drei Wochen?“
„Ja, wenn das Wetter weiter so super mitspielt.“ Juliane nahm sich einen Keks. Erst jetzt merkte sie, wie hungrig sie war. Seit dem Frühstück hatte sie nur einen Apfel und eine Laugenbrezel gegessen und inzwischen war es Nachmittag. Sie hatten eine gefühlte Ewigkeit auf der A7 verbracht. Der Ferienbeginn in Hamburg sorgte für einige Staus in Richtung Norden. Dazu kamen die vielen Baustellen. Steffen hatte eine Laune zum Davonlaufen gehabt. Doch nun waren sie ja endlich am Ziel.
„Und jetzt erzählt“, sagte Juliane kauend und griff nach dem Kaffeebecher, „was gibt’s Neues auf dem Platz?“
Emil brummte etwas und Anne übersetzte mit vielsagendem Blick. „Er regt sich andauernd über die beiden jungen Männer auf.“
Juliane nippte an dem laschen Kaffee und verkniff sich ein Seufzen.
„Rotzbengel sind das“, knurrte der Rentner. Sein buschiger Schnauzbart bebte und die grauen Augenbrauen kräuselten sich unheilverkündend. „Die legen es doch darauf an, zu provozieren.“
„Emilchen, bleib ruhig“, riet Anne. „Denk an deinen Blutdruck. Die zwei sind gewiss ganz harmlos.“
Emil schnaubte. „Also, ich behalte die lieber im Auge. Man kann schließlich nie wissen.“ Sein Blick streifte ein Fernglas, das griffbereit neben dem Radio stand.
Der Kerl bespitzelte seine Campingnachbarn! Juliane konnte es nicht fassen und wollte lieber gar nicht wissen, womit Emil sonst noch seine großzügige Freizeit verbrachte. Am liebsten würde sie sich verabschieden. Das wäre allerdings reichlich unhöflich, sie hatte sich ja gerade erst hingesetzt. Andererseits wollte sie unbedingt aus dem Dunstkreis von Emil Krause verschwinden.
Sie wies auf den Wohnwagen. „Darf ich mir den einmal von innen anschauen?“, fragte sie.
„Aber ja!“ Anne war über Julianes Bitte sichtlich erfreut. „Weißt du, ich schlafe jetzt viel besser, die Matratzen sind ja auch neu und nicht so durchgelegen wie die in dem alten Wagen und außerdem …“
Während sie weiterplapperte, folgte Juliane ihr, betrachtete die Innenausstattung, die in ihrem spießigen Erscheinungsbild hervorragend zu den Krauses passte, und verglich deren Wohnwagen mit ihrem eigenen, der sehr viel schöner war. Er hatte weder grün-braun gemusterte Polsterbänke noch dunkle, rustikale Holzschränke im Bauernlook.
Der Wagen, den Steffen gemietet hatte, konnte sich wirklich sehen lassen. Hell, luftig und groß genug für sie und ihre drei Töchter. Ein bisschen Luxus bot er auch. Hier drin dagegen würde sie Platzangst und eine Holzallergie kriegen. Dennoch fand sie ein paar Details, über die sie sich lobend äußern und damit Anne Krause glücklich machen konnte. Die bequeme Sitzbank mit den selbst genähten Kissen und Vorhängen, die praktischen Einbauschränke und die Spüle, die einen Tick größer als ihre eigene war. Anne strahlte.
Als eine Männerstimme aus dem Vorzelt zu hören war, die eindeutig nicht Emil Krause gehörte, wich das Strahlen in dem runden, von der Sonne der letzten Tage leicht geröteten Gesicht der Rentnerin einem Ausdruck von Neugier.
„Wer mag das sein?“, fragte sie und fügte mit einem auffordernden Handwedeln hinzu: „Komm, lass uns zurückgehen. Der Kaffee wird ja kalt.“
Hinter Anne trat Juliane aus dem Wohnwagen. Am Eingang zum Vorzelt stand ein Mann, vielleicht Mitte Dreißig, drahtig und mit einem offenen Lächeln. Als der Blick des Mannes auf sie fiel, schob Juliane sich verlegen eine widerspenstige Haarsträhne hinter ihr rechtes Ohr.
Sein Lächeln wurde breiter. Er trat näher, nickte Juliane zu, schüttelte jedoch zunächst Anne die Hand. „Servus, ich bin der Marlon.“ Ein warmer Wiener Dialekt schwang in seiner dunklen Stimme mit.
„Moin. Mein Name ist Krause“, sagte Anne, „Annegret Krause.“
Der Mann ergriff nun Julianes Hand. „Marlon“, wiederholte er. „Und wer bist du?“
„Juliane“, antwortete sie. „Juliane Hornhuber.“
„Na so was, eine Nachbarin aus Bayern.“
„Ursprünglich, ja“, bestätigte sie. „Jetzt leben wir aber in Hamburg.“
„Dann haben wir etwas gemeinsam; mich hat es auch in den Norden gezogen“, erwiderte er schmunzelnd, „von Wien nach Hannover.“
Dieser Marlon hatte Augen so blau wie die Ostsee an einem sonnigen Tag. Sie leuchteten richtig, als würden sie von innen angestrahlt. Vielleicht lag es auch daran, dass sie so einen starken Kontrast zu seinen dunklen Haaren und dem kurzen Bart bildeten.
Er hielt ihre Hand noch immer fest. Hatte er ihr gerade zugezwinkert? Sie war nicht sicher, ob ihr Gehirn ihr nicht vielleicht einen Streich spielte.
„Juliane. So ein schöner Name“, sagte er. „Weiblich und zeitlos.“
„Zeitlos? Ein anderes Wort für altmodisch“, sagte sie lächelnd und bedauerte, dass er ihre Hand losließ.
„Nein, so hab ich das nicht gemeint“, versicherte Marlon. „Ich find, das ist ein bezaubernder Name, der sehr gut zu einer so schönen Frau wie dir passt.“
„D-d-danke“, stotterte sie verlegen. Ihr war plötzlich ziemlich warm und das lag nicht an den sommerlichen Temperaturen.
„Er braucht ’ne Rolle Klopapier“, verkündete Emil laut und mit der ihm eigenen Sensibilität.
„Ja, das stimmt“, bestätigte Marlon und kratzte sich an der etwas zu großen Nase. „Ich hab völlig vergessen, welches zu kaufen. Kann mir eine der reizenden Damen womöglich aushelfen?“ Er sah Juliane an.
„Aber natürlich!“, rief Anne. „Einen Momang, ich bin gleich wieder da.“ Sie verschwand im Inneren des neuen Wohnwagens.
„Sie sind grad erst angekommen?“, fragte Juliane.
Er nickte. „Vor circa einer halben Stunde.“
„Wir sind auch erst eine knappe Stunde da, obwohl wir bereits vormittags losgefahren sind. Die Autobahn war heillos verstopft.“
„Wirklich wahr? Bei mir auch.“
„Wie lang wollen Sie bleiben?“
„Drei Wochen.“
„Wir auch“, lächelte sie.
Er schaute sie schelmisch an. „Sag einmal, ist es auf Campingplätzen nicht üblich, sich zu duzen?“
„Also, ich duze nicht jeden!“, kam es grantig hinter der Zeitung hervor. „Das macht nur das Jungvolk. Wahrscheinlich, um Zeit zu sparen. Ich lege noch Wert auf Etikette und gute Manieren.“
Juliane blickte unwillkürlich zu dem Fernglas hinüber und tauschte einen kurzen Blick mit Marlon. Genau wie sie musste er sich offenbar ein Grinsen verkneifen.
„Stimmt schon, die meisten hier sagen Du zueinander“, beantwortete sie seine Frage.
„Na, dann sollten wir uns der Mehrheit anschließen, was meinst? Wir haben zwar Urlaub und damit Zeit genug, aber ich glaub, wir gehören noch zum sogenannten Jungvolk. Gell?“
Dabei taxierte er sie lächelnd von oben bis unten, ohne dass es unverschämt oder aufdringlich wirkte. Juliane hob instinktiv das Kinn ein wenig an und zog den Bauch ein. Zwar wusste sie, dass man ihrem Körper die drei Geburten, die er hinter sich hatte, dank viel Sport und eiserner Disziplin nicht ansah. Darauf war sie stolz. Aber sie war keine fünfundzwanzig mehr und vermutlich sogar ein paar Jahre älter als dieser attraktive Mann, der sie nun so eingehend musterte.
Ihre Augen trafen sich, hielten sich fest. Was sie in seinem Blick las, war überaus verwirrend. Sie glaubte, Neugierde zu erkennen, Anerkennung und … Interesse. So war sie schon lange nicht mehr angesehen worden. Juliane hatte Schwierigkeiten, in ihrem gewohnten Rhythmus weiterzuatmen.
„Eine Rolle Klopapier, bitte schön.“ Anne Krause war zurück und hielt Marlon Toilettenpapier mit aufgedruckten Entchen entgegen. Er nahm es, bedankte sich höflich und verabschiedete sich. Beim Hinausgehen zwinkerte er Juliane zu. „Bis bald“, sagte er.
Es klang wie ein Versprechen.
Nachdenklich und mit einem ungewohnten Kribbeln im Bauch schaute sie ihm hinterher, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war. Sie hatte nun nicht länger die Muße, mit den Krauses dünnen Kaffee zu trinken und Kekse zu knabbern. Die Anekdoten über ihre Enkel und diverse Krankheiten – Lieblingsthemen von Anne – mussten warten.
„Danke für den Kaffee, aber ich fürchte, ich muss zurück und nach dem Rechten schauen“, sagte sie mit gespieltem Bedauern in der Stimme. „Ist noch ziemlich viel auszupacken.“
„Man schleppt immer viel zu viel mit, nich?“, meinte Anne verständnisvoll und nickte Juliane zu. „Grüß Steffen und die Mädchen von uns.“
„Mach ich. Servus!“
Eilig verließ sie das Vorzelt. Auf dem Weg schaute sie sich unauffällig um, doch Marlon war nirgends zu sehen. In Gedanken versunken steuerte sie ihren Stellplatz im Drosselweg an. Auch viele andere Wege auf dem Platz waren nach Vögeln benannt. Lerchenweg, Kuckucksweg, Möwenweg. Gerade hatte Juliane das Gefühl, all diese Tiere flatterten aufgeregt in ihrem Magen herum. Sie lächelte verträumt. Es war nicht so, dass sie auf der Suche nach einem anderen Mann war, Gott bewahre! Sie war seit siebzehn Jahren mit Steffen verheiratet. Es tat aber ohne Zweifel gut, von einem so attraktiven Mann wie Marlon Komplimente zu hören.
Steffen war sein Charme schon bald nach ihrer Hochzeit abhandengekommen und tauchte höchstens dann auf, wenn er sich mit einer anderen Frau unterhielt. Sein Verhalten ihr gegenüber war in den letzten paar Jahren bestenfalls als gleichgültig zu bezeichnen. Oft hatte es auch etwas Geringschätziges an sich. Es schien ihm direkt Freude zu bereiten, sie zu verletzen und ihr ihre zahlreichen Unzulänglichkeiten unter die Nase zu reiben.
Juliane wischte die Gedanken an ihren Ehemann beiseite und sah stattdessen das freundliche Gesicht von Marlon vor sich. Hoffentlich begegnete sie ihm bald wieder.
KAPITEL 2
Am nächsten Vormittag mietete Steffen einen Strandkorb, in dem Juliane es sich mit einer Klatschzeitung gemütlich machte. Er selbst setzte sich auf ein Badetuch davor und cremte sich mit Sonnenmilch ein.
Nach einigen Minuten sah sie von ihrer Zeitschrift hoch und seufzte zufrieden. Was für ein perfekter Urlaubstag. Ihre Töchter vergnügten sich am Ufer damit, eine Sandburg zu bauen. Die sechsjährige Leonie und die neunjährige Charlotte häuften Sand auf, während Alexandra, die Älteste, nach hübschen Steinen und Muscheln suchte, um das Bauwerk anschließend zu verschönern. Sie war längst im Teenie-Alter und hielt es für „oberpeinlich“, mit ihren kleinen Schwestern im Sand zu buddeln. Das Sammeln von Deko war gerade noch okay.
Die Sonne schien ungehindert von einem strahlend blauen Himmel und ließ dabei das Meer verführerisch glitzern. Die Wellen rauschten, Möwen kreischten und der Strand wurde von immer mehr Urlaubern bevölkert, die ihre bunten Decken ausbreiteten und sich sonnenhungrig auf ihrem soeben erwählten Privatgrundstück für einen Tag niederließen.
Im Strandkorb schräg neben dem von Juliane saß ein Paar, etwas älter als sie selbst. Juliane schätzte die zwei auf Mitte bis Ende Vierzig. Die Frau hatte ihr blondes Haar zu einem strengen Zopf gebunden. In ihren Händen hielt sie ein Buch, doch sie las nicht, sondern unterhielt sich mit ihrem Begleiter. Ihr Lachen war fröhlich und passte damit, wie Juliane fand, überhaupt nicht zu den hohen geschwungenen Augenbrauen, die ihrem Gesichtsausdruck etwas Spöttisches gaben.
Juliane beugte sich vor und lächelte die Frau an. „Entschuldigung, darf ich fragen, was das für ein Buch ist, das Sie grad lesen?“
„Suchen Sie noch Lesestoff für Ihren Urlaub?“, fragte die Frau und reichte ihr lächelnd den Roman.
„Ja, vielleicht. Ich fürchte, ich hab viel zu wenig Bücher dabei.“ Juliane las den Titel: „Ein Sommer in Mailand“ von Christa Reusch. „Ist es gut?“, erkundigte sie sich und überflog den Klappentext.
„Mir gefällt’s. Es ist eine unterhaltsame Liebesgeschichte, die in Italien spielt.“ Die Frau sprach mit leichtem Pfälzer Dialekt. „Ich mag Italien gern und war selbst schon einmal in Mailand. Das Buch erinnert mich daran.“
„Klingt interessant“, meinte Juliane und gab es zurück.
„Ich bin übrigens die Sabine. Sabine Steigerwald“, sagte die Pfälzerin. „Das ist Jochen, meine bessere Hälfte.“ Sie zeigte auf den Mann neben sich, der in einer Sport-Zeitung geblättert hatte und diese nun sinken ließ. Sein haarloser Kopf und sein muskulöser Körper glänzten von frisch aufgetragener Sonnencreme. Er lächelte freundlich und nickte Juliane zu. Sie stellte sich und Steffen vor.
„Ihr kommt aus Bayern“, stellte Jochen Steigerwald fest.
„Aus München“, bestätigte Juliane. „Aber da wohnen wir nicht mehr. Meinen Mann haben’s nach Hamburg versetzt.“
Es entwickelte sich eine angeregte Unterhaltung. Die Steigerwalds hatten, wie sich herausstellte, ebenfalls einen Stellplatz auf dem Campingplatz gemietet. Sie waren vor zwei Tagen mit ihrem Sohn Levin angereist.
„Na ja, mit fünfzehn ist er eigentlich schon zu erwachsen für Campingurlaub mit Mama und Papa“, sagte Sabine schmunzelnd. „Nächstes Jahr will er lieber mit einem Freund nach Schweden.“ Sie sah hinüber zu ihrem Sprössling, einem schlaksigen Blondschopf mit Hipster-Brille, der mit Kopfhörern in den Ohren und im Takt wippenden Füßen auf einem Strandtuch saß und zwei jungen Mädchen hinterherschaute, die vorsichtig durch das flache Wasser wateten.
Als Juliane seinem Blick folgte, entdeckte sie plötzlich Marlon, den Wiener Charmeur vom Vortag. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus und die Unterhaltung der drei anderen rauschte undeutlich an ihr vorbei.
Marlon kam gerade aus dem Wasser, sein drahtiger Körper und die schwarze Badehose glänzten vor Nässe. Schwer atmend fuhr er sich mit den Fingern durch das feuchte Haar. Seine hellen Augen leuchteten im braungebrannten Gesicht.
Juliane starrte ihn fasziniert an. Dieser Mann hatte eine ebenso positive wie erotische Ausstrahlung. Schon dieser Gedanke machte sie nervös, dennoch konnte sie den Blick nicht von ihm abwenden.
Sie setzte sich aufrechter hin. Womöglich bemerkte er sie, kam auf sie zu, um sie zu begrüßen oder sich sogar mit ihr zu unterhalten. Bei dem Gedanken wurde ihr mulmig zumute. Etwas in ihr wünschte sich, noch einmal seinem Wiener Schmäh zu lauschen und wie am Tag zuvor seinen anerkennenden Blick auf sich zu spüren. Gleichzeitig war die Vorstellung, dass er zu ihnen herüberkam, beunruhigend, schon weil sie nicht wusste, wie Steffen reagieren würde.
„Ja, mit so einem Wohnwagen ist man super unabhängig“, stimmte ihr Mann gerade den Steigerwalds zu und riss Juliane damit aus ihren Gedanken.
„Ist halt unkompliziert“, plauderte er weiter. „Im Urlaub mögen wir es lieber einfach, so ein Schickimicki-Hotel ist nicht unser Ding.“
Juliane verzog unmerklich das Gesicht. Ihr würde ein Zimmer oder gar ein Penthouse mit Dachterrasse in dem neuen Strandhotel gewiss besser gefallen, doch sie widersprach nicht. Angeblich waren einige Zimmer sogar mit Sauna ausgestattet. Einen solchen Luxus könnten sie sich von dem Gehalt, das Steffen nach Hause brachte, ohnehin niemals leisten.
Marlon, mit den Füßen im Wasser, kam in diesem Augenblick mit einer hübschen Blondine ins Gespräch. Sie war jung, höchstens Mitte zwanzig. Ihre sportliche Figur und die straffen Brüste ließen Juliane vor Neid erblassen. Obendrein besaß das Mädchen ein Gesicht wie ein Fotomodel. Ihre Finger spielten mit einem ihrer beiden geflochtenen Zöpfe, während sie an Marlons Lippen hing. Was er ihr wohl erzählte? Vielleicht, dass sie einen schönen Namen hatte, der gut zu ihr passte?
Hoffentlich nicht, dachte Juliane.
Worüber auch immer die zwei sich unterhielten, sie schienen sich großartig zu verstehen. Juliane fühlte sich im Gegensatz zu der Blondine altbacken und farblos. Bedrückt schaute sie weg und wandte sich wieder dem Gespräch der anderen zu. Jochen und Sabine berichteten, dass sie aus Albersweiler in der Pfalz kamen.
„Ei sischer, bei uns ist es auch sehr schön, unser Klima ist mild und schon im März blühen die Mandelbäume“, berichtete Sabine. „Aber man will auch mal was anderes sehen, gell?“ Sie stand auf. „So, jetzt möchte ich ins Wasser. Komm, Jochen.“
Widerspruchslos stand ihr Mann auf und wandte sich Steffen und Juliane zu. „Wollt ihr vielleicht auch baden?“
„Nein danke, jetzt nicht“, sagte Juliane. Auch Steffen winkte ab und wünschte den beiden viel Spaß. Gemeinsam sahen sie den Pfälzern hinterher.
„Bei denen hat ja wohl sie die Hosen an“, murmelte Steffen geringschätzig.
Juliane sagte nichts dazu. Sie beobachtete, dass die Pfälzer dicht an Marlon vorbeigingen, der noch immer angeregt mit der Blondine plauderte. Als er dabei seinen Blick schweifen ließ, entdeckte er plötzlich Juliane und winkte ihr zu. Ihr Puls schoss augenblicklich in die Höhe. Sie lächelte verlegen und hob unsicher die Hand. Winkte zurück.
„Wer ist das?“, fragte Steffen wachsam.
Juliane fühlte sich ertappt, als hätte sie etwas Verbotenes getan. „Nur ein Camper vom Platz“, antwortete sie. „Den hab ich gestern bei der Anne und dem Emil kennengelernt. Er hat sich Toilettenpapier geborgt.“
„Soso.“ Steffen musterte sie. „Der gefällt dir wohl. Du bist ganz rot geworden.“
„Schmarrn“, widersprach sie schnell. Zu schnell?
„Aber du bist eh nicht sein Typ“, meinte Steffen. „Der steht auf die feschen Madln mit straffer Haut, nicht auf Weiber im mittleren Alter mit Cellulitis und Schwangerschaftsstreifen. Also bild dir bloß nix ein.“
Juliane kämpfte mit den Tränen, presste die Lippen zusammen und schwieg. Was sollte sie auch erwidern? Im Grunde bestätigte er nur, was ihr ebenfalls durch den Kopf gegangen war. Dennoch tat es weh. Zumal es immer häufiger vorkam, dass Steffen sie mit seinen Bemerkungen verletzte. Und jedes Mal fühlte es sich an wie ein Schlag ins Gesicht.
Aus den Augenwinkeln schaute sie noch einmal zu der Stelle, wo Marlon und die Blondine eben noch gestanden hatten, doch beide waren verschwunden.
„Ach Gott, ist das kalt!“ Sabine kam zurück und wickelte sich eilig in ein knallrotes Badetuch. „Aber irgendwie auch schön, gell, Jochen?“
„Ja, total erfrischend.“ Er ließ sich in den Strandkorb fallen und schloss die Augen. Sein Brustkorb ging schnell auf und ab.
Als Sabines Blick auf Juliane fiel, hielt sie mitten in der Bewegung inne. „Ist irgendwas passiert, Juliane? Geht’s dir nicht gut?“
Juliane bemühte sich um ein Lächeln. „Doch, doch.“
„Sie ist nur ein bissl empfindlich“, sagte Steffen mit Hohn in der Stimme. „Eine kleine Kritik, und schon benimmt sie sich wie die sprichwörtliche Mimose.“
Sie sah betreten zu Boden. Weshalb musste er sie auch noch vor ihren neuen Bekannten demütigen? Sie wollte fort von hier, damit sie nicht vor Sabine und Jochen in Tränen ausbrach. Das wäre obendrein ein erneuter Anlass für Steffen gewesen, eine seiner Gemeinheiten loszuwerden.
„Entschuldigt mich“, brachte sie hervor, stand auf und ging mit weichen Knien und blind vor Tränen durch den Sand in Richtung Promenade. Sie wollte zum Wohnwagen. Dort konnte sie sich ausheulen, ungestört und sicher vor weiteren verbalen Attacken ihres Ehemannes.
Als sie bei dem Kiosk um die Ecke bog, stieß sie mit jemandem zusammen. „Hoppala!“, rief eine tiefe Stimme.
„Oh, Entschuldigung, ich … „ Sie sah auf und erstarrte vor Schreck.
Marlon lachte, seine blauen Augen blitzten. „Ja, Juliane, servus! Das ist aber schön, dass wir uns schon wieder sehen.“ Er musterte sie prüfend, sein Lächeln verschwand. „Ist alles in Ordnung?“
Dieses unverhoffte Zusammentreffen, gepaart mit der Besorgnis in Marlons Stimme, war in diesem Augenblick zu viel für Juliane. Sie stammelte etwas von Kopfschmerzen, entschuldigte sich nochmals und rannte an ihm vorbei, als wäre sie auf der Flucht.
Die Uhr behauptete mit der ihr eigenen Sturheit, dass seit Julianes Ankunft im Wohnwagen eine Dreiviertelstunde vergangen war. Ihr kam es so vor, als hätte der Minutenzeiger erst wenige Male seine Runde vollendet, als sich die Tür öffnete und Alexandra hereinkam.
„Ach, du schläfst?“, wunderte sie sich, als sie ihre Mutter auf dem Bett erblickte. „Der Papa hat mich geschickt, ich sollte schauen, wo du bleibst. Wir wollen beim Imbiss was essen. Ich soll dich holen.“
„Ich komm gleich“, versprach Juliane matt und legte den linken Unterarm auf ihre Augen. Dunkelheit war manchmal etwas Wunderbares. „Geht schon vor, ich treff euch dort.“
„Okay. Aber beeil dich.“
Juliane hörte die Tür klappen. Auch Alleinsein konnte sehr schön sein. Doch weder Dunkelheit noch Einsamkeit waren ihr vergönnt. Sie musste aufstehen.
„Na los, Juliane“, murmelte sie, „stell dich der Realität und dem alles offenbarenden Tageslicht. Sei fröhlich und ausgelassen, so wie die Welt es von dir erwartet. Du bist im Urlaub. Da muss man doch in einer guten Stimmung sein. Stell dich nicht so an, wenn dein reizender Ehemann ein bissl an dir herumkritisiert. Er hat schließlich recht. Also lass ihm seinen Spaß und lächle.“
Lustlos kämpfte sie sich hoch und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Traurig war das erste Wort, das ihr durch den Kopf schoss. Sie sah todtraurig aus. Wenn sie versuchte, die Mundwinkel zu einem Lächeln nach oben zu ziehen, wirkte sie wie ein depressiver Clown. Seufzend warf sie sich einige Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht und kämmte sich das Haar. Atmete tief durch und nahm sich fest vor, Steffens Spitzen ab sofort an sich abprallen zu lassen. Oder zumindest so zu tun. Vielleicht hörte er dann damit auf, sie von einer Verlegenheit in die nächste zu stürzen.
Sie traf ihre Familie nebst ihren neuen Pfälzer Bekannten an einem großen Tisch im Außenbereich der Imbissstube.
„Entschuldigt, ich hatte Kopfweh“, schwindelte sie. „Hab mich ein wenig ausgeruht.“
„Hauptsache, es geht dir besser“, sagte Sabine und lächelte ihr aufmunternd zu. Ihrem wissenden Blick nach zu urteilen ahnte sie, was wirklich in Juliane vorging.
Die schaute weg und setzte sich rasch hin.
„Wir haben schon bestellt“, sagte Steffen. „Du musst reingehen und sagen, was du willst.“
„Passt schon, ich hab keinen Hunger.“
Er hob ungerührt die Schultern. „Umso besser.“
„Mama, du musst dir unbedingt die Sandburg von uns anschauen“, rief Leonie, ehe sie in ein Hühnchenteil in Dinosaurierform biss.
„Ja, die ist richtig gut geworden“, fügte Charlotte hinzu und schob sich zwei Pommes frites mit Ketchup in den Mund.
Leonie nickte eifrig. „Und riesig ist sie. Sooo groß.“ Sie riss die Hände auseinander und stieß dabei ihren Becher mit Apfelschorle um. „Oh!“, machte sie erschrocken.
„Kruzifix!“, schimpfte Steffen. „So ein Dotscherl. Schau sie dir an, diese Sauerei.“
Leonie fing an zu weinen.
„Das ist doch nicht schlimm“, versuchte Sabine die Wogen zu glätten und stellte den Becher wieder hin. „Jochen, hol ein paar Servietten.“
Juliane sprang auf. „Lass nur, ich geh schon.“
Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Alexandra einen Arm um ihre weinende Schwester legte und sie tröstend an sich zog.
Juliane knirschte mit den Zähnen. Warum musste Steffen bei jedem kleinen Missgeschick so grob reagieren? Sie saßen schließlich nicht in einem feinen Restaurant, sondern an einem schlichten Holztisch an der frischen Luft. Ihre Kleine tat ihr leid und als sie zurückkam und die Bescherung aufwischte, lächelte sie Leonie aufmunternd zu.
„So, passt alles wieder, mein Schatz. Schau, es ist gar nichts passiert.“
„Aber ich hab nix mehr zum Trinken“, jammerte Leonie.
„Hier, du kannst die Fanta von mir haben“, sagte Alexandra und reichte ihr einen halb vollen Becher. „Ich brauch’s nicht mehr.“
Ihre kleine Schwester strahlte wieder. „Danke, Alex.“
„Nichts trocknet so schnell wie Kindertränen, gell?“, sagte Sabine lachend.
Sie aßen weiter. Juliane beobachtete ihre Älteste, die sich angeregt mit Levin Steigerwald unterhielt. Es ging um Blogger, aktuelle Musik, Internetseiten und Instagram. Lauter Themen, bei denen Juliane kaum mitreden konnte. Sie hatte zwar einen Facebook-Account, schaute jedoch fast nie dort vorbei. Sie war nicht der Typ, der alle Welt an ihrem Tagesablauf, ihren Unternehmungen oder Mahlzeiten teilhaben lassen wollte.
„Wir sind übrigens eingeladen für heut Abend, zum Grillen, bei der Sabine und dem Jochen“, sagte Steffen kauend.
Bitte nicht, dachte Juliane. Ihr war so gar nicht danach zumute, bis in den späten Abend hinein angeregt zu plaudern und so zu tun, als wäre sie fröhlich.
„Das ist wirklich nett,“, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln. „Wir kommen gern.“
Als sie gegen sieben Uhr abends mit frisch zubereitetem Nudelsalat sowie einer Tasche, prall gefüllt mit Wein, Bier und Saft, bei dem Stellplatz von Jochen und Sabine ankamen, blieb Juliane fast das Herz stehen. Vor dem Vorzelt standen ihre Gastgeber – gemeinsam mit Marlon, der eine Flasche mit Flensburger Bier in der Hand hielt.
Er lächelte breit, als er Juliane erblickte. „Da schau her, die Juliane. Geht es dir besser?“
„Äh, ja, danke.“ Ihre Wangen brannten vor Verlegenheit. Aus den Augenwinkeln registrierte sie, dass Steffen verstimmt die Stirn runzelte.
„Das ist Marlon“, stellte Sabine ihn vor und fügte hinzu: „Wir haben ihn vorhin bei den Tretbooten kennengelernt. Als er gesagt hat, dass er ganz allein hier Urlaub macht, da haben wir gesagt, er soll auch kommen. In großer Runde schmeckt es am besten, gell?“
„So ist es“, fügte Jochen hinzu. Er legte seiner Frau einen Arm um die Schultern. „Jetzt guck nicht so skeptisch, Steffen. Die Sabine hat mehr als genug Grillfleisch eingekauft. Grad so, als müsst sie eine ganze Fußballmannschaft versorgen.“
Er lachte und sowohl Sabine als auch Marlon stimmten mit ein. Steffens Lächeln wirkte eher gezwungen.
In Julianes Kopf klang noch nach, was Sabine gesagt hatte. Marlon verbrachte seinen Urlaub allein in Holnis. Die hübsche Blondine vom Strand war also nicht seine Freundin. Offenbar kannte er sie nicht einmal, hatte sich nur mit ihr unterhalten. Das war alles.
Julianes Herz schlug schneller. Einen ganzen Abend lang würde sie Marlon ansehen und ihm zuhören können. Nun war sie froh über die Einladung.
Sabine hatte für die Kinder im Wohnwagen gedeckt, die Erwachsenen aßen im Vorzelt. Jochen hatte nicht zu viel versprochen, die Auswahl an Fleisch war üppig. Von kleinen Bratwürsten über Putensteak und Rippchen bis hin zu Geflügelspießen, Hackröllchen und Bauchfleisch war alles da. Zusätzlich gab es warmes Knoblauchbrot, gemischten Salat mit Cocktailtomaten und Schafskäse sowie Julianes Nudelsalat.
Alle ließen es sich schmecken, die Stimmung war fröhlich. Juliane saß Marlon gegenüber und immer wieder wanderte sein aufmerksamer Blick zu ihr. Ja, er gab ihr das Gefühl, dass sie das einzige Wesen in der Runde sei, das ihn wirklich interessierte. Dennoch gelang es ihm spielerisch, den Männern und auch Sabine genügend Aufmerksamkeit zu schenken und sich an den Gesprächen zu beteiligen, die sich hauptsächlich um die noch laufende Fußball-Weltmeisterschaft, die neuesten Eskapaden des amerikanischen Präsidenten und diesen unglaublichen Jahrhundertsommer drehten.
„Ich habe heute eine Dänin und ihren Freund kennengelernt“, erzählte Marlon, während er mit der Gabel ein Stück Fleisch von einem Spieß zu lösen versuchte. „Die beiden leben in Flensburg und sagten, so viele Tage hintereinander war’s da heroben schon lang nicht mehr schön.“
„Das ist wirklich ein Glück“, freute sich Sabine. „Stoßen wir drauf an, dass es noch eine ganze Weile so bleibt.“
Sie hoben ihre Gläser und tranken. Über den Rand ihres Weinglases hinweg sah Juliane zu Marlon. Er erwiderte ihren Blick, hielt ihn fest. Sie hatte Mühe, ruhig weiterzuatmen. Warum flirtete er ausgerechnet mit ihr? Einer verheirateten Frau, die nichts Besonderes an sich hatte. Möglicherweise bildete sie sich sein Interesse nur ein und interpretierte etwas in sein Verhalten, das gar nicht existierte. Es war durchaus denkbar, dass das, was sie als Flirten empfand, für ihn nichts weiter als simple Freundlichkeit war.
Marlon stellte sein Glas ab, lächelte ihr noch einmal kurz zu und beantwortete dann eine Frage von Jochen.
Juliane lauschte dem Wiener Singsang, ohne zu verstehen, was Marlon sagte. Sie hätte stundenlang seine strahlenden blauen Augen, den lachbereiten Mund und die Muskeln, die sich unter dem weißen Designershirt abzeichneten, betrachten können. Seine Eigenart, sich am Ohrläppchen zu zupfen, wenn er über etwas nachdachte, fand sie besonders sympathisch. Gerade schob er sich eine Gabel voll Nudelsalat in den Mund.
„Der ist aber echt gut“, lobte er. „Wer hat ihn zubereitet?“
„Den hat die Juliane mitgebracht“, sagte Sabine und wandte sich an sie. „Gibst du mir das Rezept dafür? Er ist wirklich so lecker.“
Juliane nickte erfreut. „Freilich, gerne. Ich geb’s dir morgen.“
„Mir scheint, du bist eine fantastische Köchin.“ Marlon zwinkerte ihr zu.
Sie spürte, dass sie wieder einmal rot anlief. „Ich … ich mach’s halt gern, das Kochen.“
„Steffen, du hast eine richtige Traumfrau“, wandte sich Marlon an ihren Mann. „Sie ist klug, attraktiv und kochen kann sie auch noch. Mich frisst der Neid.“
Steffen hob eine Augenbraue. „Jede Medaille hat zwei Seiten“, murmelte er und musterte Juliane, als hätte sie etwas verbrochen.
Nervös griff sie nach ihrem Weinglas. Am Tisch breitete sich eine unangenehme Stille aus.
Sabine räusperte sich. „Also, ich bin satt“, sagte sie. „Was ist mit euch?“
Juliane und die anderen nickten und murmelten zustimmend.
„Es war köstlich“, sagte Marlon und tupfte sich den Mund mit einer Papierserviette ab.
Jochen schob den leeren Teller von sich und sah auf die Uhr. „Hey, gleich beginnt das Spiel Kroatien gegen Dänemark“, sagte er an Steffen und Marlon gewandt. „Wollt ihr das sehen?“
Steffen nickte, doch Marlon schüttelte den Kopf. „Nein danke, ich bin kein Fußballfan.“
„Nicht mal bei einer Weltmeisterschaft?“, fragte Jochen ungläubig.
Marlon lachte. „Nicht einmal dann. Geht’s nur. Ich helfe den Damen derweil beim Aufräumen.“
„Alla, schnell weg hier“, rief Jochen alarmiert Steffen zu und schnappte sich sein Bier. „Hast du gehört, dass heute Nachmittag die Russen Spanien besiegt haben …“ Schon waren die zwei im Wohnwagen verschwunden. Sekunden später kamen die Kinder herausgestolpert.
„Mama, dürfen wir bei uns im Wagen eine DVD anschauen?“, fragte Alexandra.
Juliane erlaubte es. Zufrieden zogen ihre Mädchen mit Levin ab und Sabine, Marlon und Juliane begannen, den Tisch abzuräumen.
„Biensche, wo sind die Kartoffelchips?“, rief Jochen von drinnen.
Sabine rollte mit den Augen. „Es ist doch nicht zu glauben, dass die zwei nach dem guten Essen schon wieder Appetit haben.“ Sie wandte sich zum Wagen und rief: „Über der Spüle!“
„Wo?“
Sie seufzte. „Ich komm ja schon!“
Julianes Herz begann wild zu hämmern, als sie beobachtete, dass Sabine das Vorzelt verließ. Nun waren sie und Marlon allein.
„Sag, was war eigentlich heute Vormittag mit dir los?“, fragte er, kaum dass Sabine verschwunden war. „Du hast so traurig dreingeschaut.“
Sie schwieg und stellte mit zitternden Händen die schmutzigen Teller zusammen. „Ich … ich hab nur Kopfweh gehabt“, log sie.
„Nein, das war nicht der Grund.“ Marlon trat zu ihr, nahm ihren Ellenbogen und drehte sie zu sich herum. „Du warst unglücklich. Aber so eine schöne Frau wie du sollte immer glücklich sein.“ Er hob eine Hand und legte sie sanft auf ihre Wange.
Sie hielt den Atem an. Im Hintergrund hörte sie verschwommen die Stimmen der drei anderen aus dem Wohnwagen, das Knistern einer Chipstüte, Gelächter und Fußballgeräusche aus dem Fernseher.
Marlons Blick hielt Juliane fest. Sie sog heimlich den herben Duft seines Aftershaves ein. Noch immer lag seine Hand auf ihrer Wange, verströmte eine Wärme, die ihr durch und durch ging. In ihrem Kopf rauschte es, als wäre sie unter Wasser.
Auf seinem Gesicht lag ein zärtliches Lächeln. Ihr Unterleib begann zu pulsieren, die Brust wurde ihr eng unter diesem Blick. Sie wünschte, Marlon würde sie an sich ziehen, sie umarmen. Sie vielleicht sogar küssen. Seit sie Steffen kannte, hatte sie keinen anderen Mann mehr geküsst, nicht einmal an so etwas gedacht. Doch in diesem Moment sehnte sie sich danach, Marlons Lippen auf ihren zu spüren und –
Die warme Hand verschwand von ihrer Wange. „Ich glaub, wir sollten lieber weiter zusammenräumen“, flüsterte Marlon. Seine Stimme klang heiser. Für einen Lidschlag hoben sich seine Mundwinkel, dann wandte er sich ab und angelte die Flaschen mit Grillsoße vom Tisch.
Juliane fühlte sich plötzlich haltlos. Ihre Hand tastete nach einer Stuhllehne, umklammerte sie. Noch ehe sich ihr Puls wieder beruhigt hatte, kam Sabine zurück und der Zauber des Augenblicks war endgültig verflogen.
KAPITEL 3
Juliane erwachte früh, nach unruhigen Träumen. Ihr erster wacher Gedanke galt Marlon und den wenigen Minuten, in denen sie allein gewesen waren. Sie hörte wieder seine leise Stimme, spürte seine Hand auf ihrer Wange, roch seinen Duft.
Die Kinder und Steffen schliefen noch. Vorsichtig stand sie auf und zog sich möglichst geräuschlos an. Dennoch grunzte Steffen, als sie in ihre Shorts stieg. Sie verharrte mitten in der Bewegung, hoffend, dass sie ihn nicht geweckt hatte.
Sein linkes Auge öffnete sich blinzelnd, schaute sie verschlafen an. „Wo willst du denn hin?“, murmelte er. „Ist doch noch mitten in der Nacht.“
„Es ist schon fast halb sieben. Ich kann nicht mehr schlafen und geh ein wenig spazieren. Den Sonnenaufgang anschauen.“
„Du bist ja deppert“, gähnte er, schloss das Auge wieder und rollte sich auf die andere Seite. „Wir haben Urlaub. Aber wenn du schon auf bist, dann kannst du auf dem Heimweg Semmeln holen.“
„Ist gut.“ Sie öffnete die schmale Tür zum Bad, wusch sich oberflächlich und bürstete ihr Haar. Anschließend schlüpfte sie in ein bequemes Paar Schuhe und verließ den Wohnwagen.
Draußen atmete sie tief durch. Tau auf dem Gras, ein Himmel ohne störende Wolken. Es war noch etwas kühl, doch das würde gewiss nicht so bleiben. Ein weiterer sonniger Tag lag vor ihnen, zumindest schien dieser Morgen das zu versprechen.
Die Luft roch wie frisch gewaschen. Juliane schloss die Augen und atmete tief durch die Nase ein. Lauschte dem einzigen Geräusch, das um diese Zeit zu hören war: dem Zwitschern der Vögel. Es war nicht das vereinzelte Piep-Piep, das sie von zu Hause kannte, sondern ein regelrechtes Vogelorchester. Verzückt stand sie da und genoss das Konzert als einzige Zuhörerin.
Der Campingplatz lag ansonsten noch in nächtlicher Stille. Wohnwagen, Autos mit den unterschiedlichsten Kennzeichen und Vorzelte säumten die Wege. Aus einem Camper drang plötzlich ein dröhnendes Schnarchen.
Der ist ja noch lauter als Steffen, dachte Juliane und bemitleidete die armen Menschen, die unter diesem Lärm leiden mussten.
Das knarzende Geräusch eines sich öffnenden Reißverschlusses drang an ihr Ohr und übertönte damit die Vogelsymphonie aus den Bäumen. Ein verschlafen aussehender dünner Mann trat gähnend aus einem Vorzelt links von Juliane. Seine Haare waren gleichzeitig platt gelegen und durcheinander. Er zündete sich eine Zigarette an, inhalierte mit geschlossenen Augen den Rauch. Als er sie wieder öffnete, fiel sein Blick auf Juliane. Er grinste schief und hob grüßend eine Hand. Juliane nickte ihm lächelnd zu und machte sich auf den Weg.
Wenig später betrachtete sie von der Promenade aus das neue Strandhotel, ein kastenförmiges, modernes Gebäude inmitten einer gepflegten Grünanlage. Liegestühle auf Balkonen und Terrassen luden zum Verweilen ein. Juliane stellte sich vor, wie schön es sein musste, dort neben Marlon zu liegen, mit ihm aufs ruhige Meer hinauszuschauen und den vereinzelten Schreien der Möwen zu lauschen.
Sie wandte den Blick ab, überquerte den gepflasterten Weg und steuerte den Strand an. Dort zog sie ihre Schuhe aus und ging barfuß weiter. Genoss neben der Einsamkeit das Gefühl des kühlen Sandes unter ihren Fußsohlen und den würzigen Meeresduft in der Nase. Kleine Wellen rollten schüchtern ans Ufer und zogen sich wieder zurück. Hinterließen angeschwemmte Algen, Muscheln und Quallen mit lilafarbenem Zentrum im transparenten Leib. Quallen faszinierten Juliane. Unter Wasser konnten diese Wesen mit einer fast überirdischen Schönheit und Eleganz aufwarten, doch sobald sie ans Ufer getrieben wurden und verendeten, mutierten sie zu durchsichtigen, glitschigen Ekelobjekten, mit denen sich herumalbernde Kinder bewarfen. Juliane passte auf, nicht versehentlich auf eins der Nesseltiere zu treten.
Das kalte Wasser, das in regelmäßigen Abständen ihre Knöchel umspielte, und der leichte Wind, der ihre Wangen küsste und durch ihr Haar fuhr, wirkten wunderbar belebend, die ersten Sonnenstrahlen des Tages fühlten sich bereits warm auf ihrer Haut an. Juliane beobachtete, wie eine Möwe pfeilschnell auf das Meer zusauste und eintauchte. Mit einem kleinen Fisch im Schnabel tauchte sie wieder auf, ließ sich zufrieden auf der Wasseroberfläche treiben und genoss sichtlich ihren kleinen Imbiss.
So quirlig und voller Leben dieser Flecken Erde am Tage war, so einsam und beruhigend wirkte er zu dieser frühen Stunde. Juliane hatte das Gefühl, als gäbe es auf der Welt sonst niemanden, nur sie und die Elemente.
Sie verließ den Strand hinter dem DLRG-Häuschen und ging auf dem Wanderweg weiter, der zur Spitze der Halbinsel Holnis führte. Sie war auch letztes Jahr gern hier spazieren gegangen und freute sich auf ein Wiedersehen mit den reetgedeckten Häusern, dem Fährhaus-Restaurant und der entfernten weißen Kirche des dänischen Örtchens Broager mit den spitzen Zwillings-Türmen, die man von der Holnisspitze aus recht gut erkennen konnte.