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Die 27-jährige Nora ist am Ende: Sie hat kein Geld, keine Wohnung und auch keine Freunde mehr. Als sie dann noch ihren Job verliert, bricht sie auf der Straße zusammen. Und findet sich in den Armen von Estelle Le Bloch wieder. Die ältere Dame macht ihr überraschend ein Angebot: Nora soll als Empfangsdame in einem Zürcher Luxushotel neu beginnen. Alles scheint sich zum Guten zu wenden, bis plötzlich der Hotelbesitzer, Estelles Mann, ermordet aufgefunden wird. Der Grund für das Verbrechen soll angeblich eine goldene Muschel aus der Römerzeit sein. Gemeinsam mit dem charismatischen Journalisten David Preston beginnt Nora eher unfreiwillig zu ermitteln und kommt dabei einem alten Familiengeheimnis der Le Blochs auf die Spur. Während Nora herauszufinden versucht, was vor vielen Jahren in der Bretagne wirklich geschah, holen sie die düsteren Ereignisse aus ihrer eigenen Vergangenheit wieder ein …
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Veröffentlichungsjahr: 2016
Die AutorinChristine Jaeggi, geboren 1982, lebt mit ihrem Partner in der schönen Schweizer Stadt Luzern. Die gelernte Kauffrau treibt in ihrer Freizeit gerne Sport, liest viel und – schreibt! Schon als kleines Mädchen hat sie es geliebt, Geschichten zu erfinden und brachte diese damals in Form von Comics aufs Papier. Als Teenager gründete sie eine Jugendzeitschrift, für die sie viele Stunden an ihrer uralten Schreibmaschine saß. Eine Diskussion über Wundercremes inspirierte sie zu ihrem Debütroman Fatale Schönheit, der 2015 mit dem ersten e-ditio Independent Publishing Award ausgezeichnet wurde.
Das BuchDie 27-jährige Nora ist am Ende: Sie hat kein Geld, keine Wohnung und auch keine Freunde mehr. Als sie dann noch ihren Job verliert, bricht sie auf der Straße zusammen. Und findet sich in den Armen von Estelle Le Bloch wieder. Die ältere Dame macht ihr überraschend ein Angebot: Nora soll als Empfangsdame in einem Zürcher Luxushotel neu beginnen. Alles scheint sich zum Guten zu wenden, bis plötzlich der Hotelbesitzer, Estelles Mann, ermordet aufgefunden wird. Der Grund für das Verbrechen soll angeblich eine goldene Muschel aus der Römerzeit sein. Gemeinsam mit dem charismatischen Journalisten David Preston beginnt Nora eher unfreiwillig zu ermitteln und kommt dabei einem alten Familiengeheimnis der Le Blochs auf die Spur. Während Nora herauszufinden versucht, was vor vielen Jahren in der Bretagne wirklich geschah, holen sie die düsteren Ereignisse aus ihrer eigenen Vergangenheit wieder ein …
Christine Jaeggi
Das Geheimnis der Muschelprinzessin
Roman
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
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BretagneFreitag, 10. Juli 2015
Philippe keuchte und hustete. Ein Regentropfen rann ihm über die Wange, und er blickte hoch in den von dunklen Wolken verhangenen Himmel. Schon bald würde das Unwetter in all seiner Stärke über den Strand ziehen. Er hustete wieder und erinnerte sich an die Weisung des Arztes, jegliche Anstrengung zu meiden. Aber zum Teufel mit dem Arzt! Energisch setzte er seinen Gehstock in den Sand und ging weiter, kam an einem durch die Ebbe freigelegten Felsenmeer vorbei und grüßte ein paar Gezeitenfischer, die in Gummistiefeln und Regenjacken eifrig nach Krebsen und Muscheln suchten. Auch er war auf der Suche. Würde er die goldene Muschel heute finden? Obwohl ihn alle für verrückt hielten, gab er die Hoffnung nicht auf. Niemals. Seine Muschelprinzessin hatte er für immer verloren, fände er aber die goldene Muschel, könnte er abschließen und in Frieden ruhen.
Philippe blieb stehen. Genau hier an diesem Strandabschnitt, vor 52 Jahren, hatte er seine Muschelprinzessin zum ersten Mal gesehen. Wo sie jetzt wohl war? Denk nicht an sie! Konzentriere dich lieber auf die Muschel! Aber zuerst musste er etwas essen, er fühlte sich schwach. Er zog einen Apfel aus der Jackentasche und jonglierte damit. Eine Angewohnheit, die er wohl nie mehr loswerden würde, dachte er schmunzelnd.
Er nahm einen großen Bissen und beobachtete eine Schwimmkrabbe, die sich blitzschnell ein Loch buddelte und darin verschwand. Und dort! Ein Krebs! Er schaute ihm nach, bis er ihn nur noch verschwommen sah. Da spürte er einen heftigen Druck auf seiner Brust, als läge ein Stein darauf, der immer schwerer wurde und ihn zu erdrücken schien. Er ließ den Apfel fallen, sank in den feuchten Sand. Bevor er bewusstlos wurde, galt sein Gedanke ihr. Seiner Muschelprinzessin.
ZürichSamstag, 11. Juli 2015
Nie hätte Nora gedacht, dass er so viel Kraft besäße. Schließlich war er dünn wie eine Bohnenstange und mindestens einen Kopf kleiner als sie. Aber er packte sie mit einer solchen Grobheit am Arm und zerrte sie mit einer Wucht nach draußen, dass sie vor Schmerzen aufschrie. Vor der Tür gab er ihr einen kräftigen Stoß. »Verschwinde, du verdammte Schlampe!«
Nora schlug hart mit dem rechten Knie auf dem Asphalt auf. Langsam hob sie den Kopf und blickte zu ihrem Boss. Sein kahl geschorener Kopf glänzte im Lichte der Sonne. »Du kannst froh sein, wenn wir dich nicht verklagen«, brüllte er. »Und jetzt hau endlich ab!«
Nora griff nach ihrer Handtasche und stand vorsichtig auf. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihr verletztes Knie. Sie wischte das Blut weg, zog ihre hochhackigen Sandaletten aus und humpelte davon. Mit ihrem kurzen schwarzen Rock und dem roten Glitzertop hob sie sich glücklicherweise nicht allzu sehr von den anderen weiblichen Passanten ab, die an diesem warmen Juliabend in dem beliebten Partyviertel unterwegs waren. Auch die Tatsache, dass sie mit blutendem Knie durch die Gegend humpelte, schien niemanden zu interessieren. Bloß ein paar vorbeitorkelnde Männer riefen ihr obszöne Wörter zu. Nora ignorierte sie und ging weiter, bis ihr Blick auf einen Pizzastand fiel, vor dem sich eine lange Schlange gebildet hatte. Der verlockende Duft nach Tomaten und Käse erinnerte sie daran, dass sie heute noch nichts gegessen hatte. Sie seufzte. Den Luxus einer Pizza konnte sie sich nicht leisten. Was jetzt? Sie hatte nichts mehr. Keinen Job, keine eigene Wohnung, kein Geld, keine Familie. Nichts. Ihr Vater hatte recht. Sie war eine Versagerin und hatte ihr Leben nicht im Griff.
Schrilles Gelächter riss sie aus ihren Gedanken, und sie drehte sich abrupt um. Drei pubertierende Mädchen versuchten, ein Selfie zu schießen, und dabei war es ihnen besonders wichtig, dass man ihre T-Shirts auf dem Foto sehen konnte. Immerhin war der zurzeit angesagteste Popsänger der Welt darauf abgebildet: Berry Lee Thompson. Nora schmunzelte. Früher war sie auch so gewesen, hatte Konzerte besucht und … Sie stutzte. Konzerte! Wie in Trance drehte sie sich um. Da stand sie, die imposante Konzerthalle mit der anthrazitfarbenen Glasfassade. Nur wenige Meter von ihr entfernt. Noras Herz schlug immer schneller, und sie spürte, wie der Schweiß aus ihren Poren drang. Wie hatte sie nur hierher gelangen können, wo sie diesen Platz schon seit Jahren mied? Um sie herum drehte sich alles, und dann wurde es schwarz.
»Ah! Was ist …« Ruckartig hob Nora den Kopf und rieb sich die Lider. Wasser! Jemand hatte ihr tatsächlich Wasser ins Gesicht gespritzt. »Was soll das?«, rief sie und schaute verwirrt in die von zahlreichen Fältchen umgebenen hellblauen Augen einer Frau.
»Sie erlitten einen Kreislaufkollaps, meine Liebe. Wir wollten soeben die Ambulanz rufen.«
Nora dachte an die Arztkosten, setzte sich schnell auf und schüttelte den Kopf. »Nein, keine Ambulanz. Mir geht es schon besser. Ich war nur geschwächt wegen der Hitze.«
»Und was ist mit Ihrem Knie?«
»Ist bloß eine Schürfung, nicht schlimm. Und die Blutung hat bereits aufgehört. Tut auch gar nicht weh.«
Die Dame beäugte Nora misstrauisch und schien ihr diese Aussage nicht so recht abzunehmen. Aber sie schwieg und reichte ihr eine Wasserflasche. »Hier, trinken Sie.« Den herumstehenden Passanten erklärte sie, dass es der jungen Frau gut gehe, woraufhin sie zögernd weiterzogen.
Nora nahm die Flasche dankend entgegen und trank sie in einem Zug leer. Sie musterte die Frau mit dem hellblonden Haar aufmerksam. Obwohl sie durch die Jeans, Turnschuhe und den blauen Rucksack einen legeren Eindruck machte, verrieten die cremefarbene Seidenbluse, die Perlohrringe und nicht zuletzt ihre gehobene Ausdrucksweise, dass sie wohlhabend sein musste. Und nur schon aufgrund ihres Alters, Nora schätzte sie auf sechzig, passte sie nicht in diese Gegend.
Als könnte sie Noras Gedanken lesen, wies die Dame auf die Konzerthalle. »Ich besuche mit meiner Enkelin das Konzert und habe uns noch etwas zu essen geholt. Dies sollen angeblich die besten Pizzen der Stadt sein.« Sie zeigte auf die Pizzaschachtel neben sich, und Noras Magen fing unmittelbar an zu knurren.
»Wissen Sie«, fuhr die Dame fort, »das Konzert interessiert mich ehrlich gesagt nicht, aber meine Enkelin bestand darauf, dass ich sie begleite.«
Nora sah sich um. »Und wo ist Ihre Enkelin?«
»Sie hat so eine Art Pass erhalten und darf den Sänger vor dem Konzert treffen.«
»Einen Backstage-Pass?«
»Genau! So heißt das Ding! Ich kann mir diese ganzen englischen Ausdrücke nie merken … Ach, ich bin übrigens Estelle. Und Sie sind?«
»Nora.«
»Nora. Also, Nora, Sie haben bestimmt Hunger?« Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach sie unbekümmert weiter und zeigte auf eine Bank unter einem Kastanienbaum. »Kommen Sie, wir setzen uns dort drüben in den Schatten, essen Pizza, und dann erzählen Sie in aller Ruhe, weshalb Sie verletzt sind und einen Kreislaufkollaps hatten.« Sie hob spielerisch mahnend den Zeigefinger. »Und geben Sie nicht wieder der Hitze die Schuld. Das nehme ich Ihnen nicht ab.«
Nora genoss jeden Bissen der mit Schinken und Rucola belegten Pizza und musste sich beherrschen, die Stücke nicht gierig zu verschlingen. Estelle, die selbst nichts aß, schaute ihr belustigt zu und erzählte von ihrer Enkelin. »Louisa ist 19 und besucht andauernd irgendeine Party oder ein Konzert … Und Sie? Gehen Sie auch gerne zu Konzerten?«
»Nein«, entfuhr es Nora blitzschnell.
»Oh, warum nicht?«
Nora schloss kurz die Augen. Sie wollte nicht darüber reden. »Zu viele Leute«, sagte sie nur, und Estelle gab sich mit der Antwort zufrieden.
»Wie alt sind Sie eigentlich?«, fragte Estelle nach einer Weile.
Nora schluckte den letzten Bissen der Pizza runter. »Ich werde nächsten Monat 27.« Sie warf Estelle einen Seitenblick zu. »Sie denken bestimmt, in diesem Alter sollte man nicht mehr in kurzem Rock, weit ausgeschnittenem Top und aufgeschürftem Knie irgendwo auf der Straße liegen. Nein, mit 27 sollte man sein Leben im Griff haben. Aber bei mir ist das nicht der Fall. Ich bin eine Versagerin.«
»Ach was!«, erwiderte Estelle und rückte ein Stück näher. »Sie sind bestimmt keine Versagerin.«
»Das können Sie doch gar nicht wissen. Sie kennen mich nicht!«
»Sie haben recht, ich kenne Sie nicht. Trotzdem bin ich sicher, dass Sie keine Versagerin sind. Aber jetzt erzählen Sie, was vorhin geschehen ist!«
»Und was ist mit dem Konzert?«
Estelle schaute auf ihre mit kleinen Diamanten besetzte Armbanduhr. »Das beginnt erst um acht. Also, ich höre.«
Nora haderte mit sich. Sie konnte sich unmöglich dieser völlig Fremden anvertrauen. Andererseits sehnte sie sich danach, mit jemandem zu sprechen, und da sie sich ohnehin schon blamiert hatte, kam es auf eine weitere Peinlichkeit nicht mehr an. Sie holte tief Luft. »Ich habe heute meinen Job verloren. Aber es war eigentlich kein richtiger Job. Ich war … Tänzerin in einer Bar für Männer.«
Estelle horchte auf. »Sie arbeiteten in einer Striptease-Bar?«
Nora seufzte. Genau so hatte sie es nicht ausdrücken wollen. »So kann man es auch sagen«, murmelte sie. »Jedenfalls hat mich heute ein Gast bedrängt. Er wollte mehr. Als ich ihm höflich sagte, dass ich kein Interesse habe, fing er an, mich zu begrapschen. Da verpasste ich ihm eine Ohrfeige.«
»Das hätte ich an Ihrer Stelle auch gemacht.«
»Ja, aber mein Boss sah das anders. Er warf mich raus.« Sie zeigte auf ihr Knie. »Deshalb die Verletzung. Und jetzt habe ich keinen Job mehr. Dazu kommt, dass ich seit Wochen bei einer Freundin wohne, die mich am liebsten so schnell wie möglich loshaben möchte. Und pleite bin ich auch.«
»Was ist mit Ihrer Familie? Kann die nicht helfen?«
»Meine Familie!« Nora lachte bitter auf. »Mein Vater hält mich für eine Versagerin. Von ihm kann ich ganz sicher keine Hilfe erwarten. Er hasst mich.«
»Er hasst sie«, wiederholte Estelle leise und presste dann angespannt die Lippen zusammen. Ein dunkler Schleier legte sich über ihr Gesicht.
Nora sah sie irritiert an. »Alles okay?«
»Ja, ich musste nur an …« Sie stockte und verschluckte den Rest des Satzes, straffte die Schultern und blickte Nora direkt ins Gesicht. »Nora, das wird schon wieder. Sie finden bestimmt bald einen Job. Sie scheinen ein kluges Mädchen zu sein.«
»Klug? Nein, ich bin nicht klug! Ich habe keinen Schulabschluss und schlug mich all die Jahre nur mit irgendwelchen Gelegenheitsjobs durch.«
»Haben Sie nie etwas gelernt?«
»Nein. Einmal sah es ganz gut aus, ich bekam eine Praktikumsstelle als Empfangsdame in einem Hotel. Tja, aber ich hab’s vermasselt. Kam dauernd zu spät, schlief mit einem Gast und …«
Estelle hob eine Hand. »Gut, das reicht. Mehr müssen Sie nicht sagen.« Sie hob den Kopf und schaute einem Flugzeug nach, das weiße Kondensstreifen am Himmel hinterließ. Gleichzeitig strich sie sich das Haar hinter die Ohren, und Nora fand, dass sie mit den leicht abstehenden, ziemlich großen Ohren einer Elfenkönigin glich.
Estelle richtete den Blick wieder auf sie. »Sie haben also an einem Hotelempfang gearbeitet und wissen, wie man Check-ins und Check-outs durchführt?«
»Äh, ja.«
»Welche Hotelsoftware haben Sie verwendet?«
»Protel.«
»Sehr gut.«
Nora runzelte die Stirn. »Warum wollen Sie das wissen?«
»Angenommen, ich hätte eine Stelle für Sie, versprechen Sie mir dann, den Job ernst zu nehmen? Und dass Sie darin eine Chance sehen, Ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen?«
»Sie … Sie wollen mir einen Job anbieten?«
»Jetzt schauen Sie nicht so misstrauisch und beantworten Sie meine Frage!«
»Ja«, sagte Nora schnell. »Natürlich würde ich den Job ernst nehmen und die Chance nutzen.«
»Gut, dann können Sie am Montag im Grand Beaulieu beginnen.«
Freitag, 17. Juli 2015
Nora lockerte ihr kratziges orangefarbenes Foulard. Wie sehr sie diese Uniform hasste! In dem dunkelgrauen, viel zu weiten Kostüm, bestehend aus Rock und Blazer, fühlte sie sich nicht nur unförmig, sondern schwitzte auch noch wie ein Bär. Unauffällig strich sie mit ihren feuchten Händen über den Rock. Warum konnte der Empfangsbereich nicht klimatisiert sein? Aber sie durfte nicht klagen. Estelle hatte ihr eine Chance gegeben, und sie war ihr zutiefst dankbar dafür. Sie hatte sich fest vorgenommen, diesmal alles richtig zu machen. Heute war bereits ihr fünfter Arbeitstag im Grand Beaulieu, einem 1890 gegründeten Fünfsternehotel an der Bahnhofstrasse in Zürich, der teuersten Shoppingmeile der Schweiz.
Estelle, Hoteldirektorin des Grand Beaulieu, hatte ihr ein Zimmer im Personalhaus des Hotels organisiert, und Nora war froh, nicht mehr auf der Couch ihrer Bekannten schlafen zu müssen. Ja, sie hatte wirklich Glück gehabt. Vielleicht konnte sie ihrem Vater schon bald einen Teil der Schulden zurückzahlen und sich dadurch wieder etwas Anerkennung verschaffen. Seit einem Streit vor fünf Monaten hatte sie keinen Kontakt mehr zu ihm. Damals war sie aus einem Callcenter entlassen worden, und gleichzeitig hatte ihr Exfreund sie aus der Wohnung geworfen, weil sie einen seiner besten Kumpels beleidigt hatte. Verzweifelt hatte sie ihren Vater um Geld gebeten, wie schon einige Male zuvor. Aber er hatte sie bloß als Versagerin betitelt und gemeint, dass sie diesmal selbst schauen müsse und er ihr nichts mehr gebe. Sie solle zuerst ihre Schulden begleichen. Eine Freundin hatte ihr daraufhin ihre Schlafcouch zur Verfügung gestellt, die Suche nach einer neuen Stelle fiel Nora aber schwerer als gedacht. Ungelernte Arbeitskräfte mit schlechten Zeugnissen mochte man nirgends gerne, besonders wenn die Wirtschaft ohnehin nicht rosig aussah. Kurz darauf hatte eine Bekannte über ihren Job in einer Striptease-Bar berichtet und dass dort Tänzerinnen gesucht wurden. Nora hatte ihre Zweifel überwunden und sich immer wieder eingeredet, wie harmlos der Job sei. Sie musste ja nur tanzen. Dass sie dies halb nackt unter den gierigen Blicken der Männer tat, wurde irgendwann zur Gewohnheit. Dennoch hatte sie sich geschämt und ihrem Vater die Tätigkeit verschwiegen. Aber jetzt hatte sie einen richtigen Job, und diesmal würde sie ihn behalten!
Nora blickte zu Louisa, die neben ihr am schwarzen Marmortresen stand und jammerte. Estelles Enkelin absolvierte derzeit ein Praktikum am Empfang, doch viel Motivation brachte sie nicht mit. Auf das Praktikum hatte sie sich bloß auf Wunsch ihres Vaters eingelassen, der gemeint hatte, ein wenig Berufserfahrung könne vor der Hotelfachschule nicht schaden. Louisa strich ihren Blazer zurecht. Als einzige Empfangsmitarbeiterin durfte sie ein schickes schwarzes Businesskostüm tragen, das ihren kurvigen Körper perfekt betonte.
»Ich verstehe echt nicht, warum ich heute hier sein muss«, maulte sie. »Ich gehöre zur Familie und sollte bei einem so wichtigen Ereignis dabei sein.« Sie wies mit dem Kopf Richtung Restaurant Coquille dʼOr, aus dem Violinenmusik und Gelächter drangen. Eine Dame in dunkelblauem Abendkleid und silberfarbener Clutch kam ihnen entgegen und fragte den Concierge nach dem Weg zur Toilette.
»Louisa«, beruhigte Nora sie, »sobald Oliver vom Essen zurück ist, hast du Feierabend.«
Louisa blickte auf die Uhr. »Wo bleibt er eigentlich? Als Chef muss er bei einem so wichtigen Ereignis hier sein!« Sie stampfte auf. »Ich will endlich die goldene Muschel sehen!«
Die goldene Muschel. Nora hatte kürzlich einen Artikel darüber gelesen. Von dem aus der Römerzeit stammenden Relikt existierten auf der ganzen Welt nur zwei, eines thronte seit Jahren im Pariser Louvre und war sogar beliebter als die Mona Lisa. Den Grund dafür kannte Nora nicht, sie wusste bloß, dass es um eine Geschichte ging, die von einem Muschelfischer, dessen Tochter und einem Mönch handelte. Doch aus mangelndem Interesse hatte sie den Artikel nicht zu Ende gelesen.
Sie wusste aber, dass die zweite Muschel nie gefunden wurde. Bis jetzt. Estelles Mann, Eric Le Bloch, Inhaber und Direktor des Grand Beaulieu, war es offenbar gelungen, in den Besitz der zweiten Muschel zu gelangen, und er wollte sie heute Abend anlässlich der 125-jährigen Jubiläumsfeier im Coquille d’Or präsentieren. Seit Tagen schon pries er die Neuigkeit in den Medien an, aber viele glaubten ihm nicht und hielten die Geschichte für einen Marketingtrick.
»Nora? Nora! Ich habe dich etwas gefragt«, rief Louisa.
»Was denn?«
»Bist du auch gespannt auf die goldene Muschel?«
»Ja, sicher«, flunkerte sie. So toll fand sie diese Muschel auch wieder nicht.
Gelangweilt ließ sie den Blick über die volle Hotelhalle schweifen. Bei den meisten Leuten handelte es sich um Gäste der Jubiläumsfeier, gut erkennbar an ihren eleganten Abendroben und den Champagnergläsern in den Händen. Aber auch Hotelgäste schwirrten umher oder saßen auf den beigefarbenen Barocksofas. Ein junger Inder fotografierte seine Frau, die vor einer silbernen Stehlampe posierte. Die ganze Lobby war gut ausgestattet mit erlesenen Kunstobjekten und Antiquitäten, da Eric Le Bloch als Kunstliebhaber großen Wert darauf legte und selbst ein kleines Museum in der Stadt besaß. Nora interessierte sich nicht für Kunst, nahm sich aber fest vor, den Eintrittsgutschein, den sie an ihrem ersten Arbeitstag erhalten hatte, demnächst einzulösen.
Sie bemerkte einen gut aussehenden Typen mit hellbraunem Haar, der angeregt in ein Gespräch mit einem Paar mittleren Alters vertieft war. Nora überlegte fieberhaft, wo sie ihn schon mal gesehen hatte. Da fiel es ihr wieder ein, und sie wandte den Kopf schnell ab. Oh nein! Vor ein paar Wochen war er in der Striptease-Bar gewesen und hatte zusammen mit anderen Typen den Junggesellenabschied eines Freundes gefeiert. Sie waren eine angenehme Gruppe gewesen und hatten am Ende ein großzügiges Trinkgeld hinterlassen.
Verstohlen sah sie wieder zu ihm, und da trafen sich ihre Blicke. Er legte den Kopf leicht schräg und musterte sie eindringlich, bis etwas in seinen Augen aufflackerte und ein Lächeln seine Lippen umspielte. Er hatte sie erkannt.
Louisa stemmte die Hände in die Hüfte. »Wow! Maximilian von Bergen starrt dich gerade an!«
Nora klickte nervös mit dem Kugelschreiber. »Na und, muss man den kennen?«
»Hast du echt noch nie von ihm gehört, Noralein? Der Besitzer der von Bergen Privatbank!«
»Banken interessieren mich nicht.« Ich habe ohnehin kein Geld, hätte sie beinahe hinzugefügt. »Wer sind die zwei anderen Leute?«
»Keine Ahnung. Aber die Frau sieht aus wie ein fetter Papagei. Oh, und jetzt tanzt sie sogar!«
Nora schaute fasziniert zu, wie sich die exotische Dame mit ausgestreckten Armen im Kreis drehte und dabei den Kronleuchter in der Hotelhalle fixierte. Ihr bunt gemustertes Chiffonkleid flog dabei in alle Richtungen. Plötzlich geriet sie ins Schwanken, kollidierte mit dem fotografierenden Inder und plumpste auf den Boden. Sie lachte laut und ließ sich von ihren Begleitern wieder auf die Beine helfen. Dann begann sie, zusammen mit dem Inder und dessen Frau Selfies zu schießen.
Louisa kicherte. »Echt schräg … Oh, siehst du die Alte dort in dem öden schwarzen Chanel-Outfit, die gerade auf Maximilian zugeht? Das ist seine Großmutter. Gwendolyn von Bergen.« Sie streckte stolz die Brust raus. »Meine Mutter gehört zu ihren Best Friends, und Gwendolyns Pferde stehen in unserem Gestüt.«
Nora nickte. Louisa hatte ihr bereits mehr als einmal erzählt, dass ihre Mutter ein Gestüt besaß.
Louisa stibitzte ein Bonbon aus der Silberschale auf dem Tresen, wickelte es aus dem Papier und schob es in den Mund. Sie lutschte die Süßigkeit laut schmatzend und blickte wieder zu Maximilian. »Max ist echt so was von hot! Aber viel zu alt für mich! Schon 34!« Sie verdrehte ihre runden blauen Augen. »Trotzdem ist er ein guter Fang. Hat Kohle ohne Ende, und seit dem Tod seines Großvaters leitet er das Familienunternehmen ganz alleine.«
»Ach so.« Nora beobachtete, wie Maximilian sich mit seiner Großmutter unterhielt, den Blick aber immer wieder zu ihr wandern ließ. Sie sah schnell zu Louisa, deren Augen schelmisch blitzten. Nora war dieser Ausdruck inzwischen wohlbekannt. Gleich würde eine von Louisas Tratschattacken folgen.
Louisa näherte sich und schob das Bonbon im Mund hin und her. Nora konnte den Melonengeschmack deutlich riechen. »Weißt du, Max hat echt ’ne traurige Vergangenheit. Seine Eltern starben, als er noch ein Baby war! Er wuchs bei seinen Großeltern auf.«
»Oh.« Nora wusste nur zu gut, wie es war, wenn man einen Elternteil nicht mehr hatte, aber gleich ohne beide aufzuwachsen? Unvorstellbar. »Was genau geschah mit seinen Eltern?«
»Seine Mutter war ein Junkie und starb an einer Überdosis … Oh!« Louisas Mund zuckte, und Nora folgte ihrem Blick zu einem bärtigen Mann, der ein wandhohes Gemälde der Familie Le Bloch bestaunte.
»Dieser Fabrice Leclerc ist immer noch hier!« Sie drehte sich zu Nora. »Wusstest du, dass er meinem Großvater die goldene Muschel abknöpfen will?«
»Nein, warum?«
»Er ist vom Louvre in Paris. Die denken tatsächlich, dass sie Anspruch auf die zweite Muschel haben, nur weil sie bereits eine besitzen. Aber mein Großvater wird sie ihnen niemals überlassen!«
»Woher hat dein Großvater die Muschel eigentlich?«
»Keine Ahnung. Das wollte er nicht verraten.«
»Und er hat sie wirklich? In den Medien wird gemunkelt, dass …« Nora brach ab, als sie Louisas entsetzten Gesichtsausdruck bemerkte.
»Natürlich hat er sie! Denkst du etwa, mein Großvater ist ein Lügner?«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Nora rasch.
»Heute wird er allen beweisen, dass er im Besitz der goldenen Muschel ist.« Louisa betrachtete sich in dem goldumrandeten Spiegel am Empfang und zupfte an ihrem kurzen, schwarz gefärbten Haar. »Ich muss mal aufs Klo.«
Wenig später füllte sich die Hotelhalle mit einer russischen Reisegruppe. Nora begrüßte die rotwangige Reiseleiterin, die ihre Gruppe in lautem Russisch bat, in der Halle Platz zu nehmen. Während sie die Zimmerliste überprüfte, trat ein weißhaariger Mann an den Empfang und warf kommentarlos seinen Pass auf den Tresen. Die Reiseleiterin sah ihn empört an und murmelte etwas auf Russisch.
Nora wurde von Minute zu Minute nervöser. Immer mehr Gäste der Jubiläumsfeier fragten nach Toilette und Garderobe, während das Telefon ununterbrochen klingelte. Sie blickte verzweifelt zu den Concierges, die aber beide mit Gästen beschäftigt waren. Wo blieb Louisa? Die Reiseleiterin klopfte genervt auf den Tresen, und der alte Mann starrte sie grimmig an.
Da kam die Telefonistin auf sie zu. »Nora, ich rufe Oliver in der Kantine an. Du schaffst das nicht alleine. Aber bitte nimm endlich den Anruf entgegen, den ich seit einer Ewigkeit durchstellen will. Ist eine Reservierung.«
Nora griff zögernd zum Hörer. Eine Reservierung! Auch das noch! Gewöhnlich war die Reservierungsabteilung dafür zuständig, aber nach 18 Uhr musste sich der Empfang darum kümmern. Vergeblich versuchte sie dem Mann, der in schnellem Englisch auf sie einredete, zu folgen. Ihre Englischkenntnisse ließen zu wünschen übrig, und besonders Telefongespräche bereiteten ihr große Mühe. Sie nahm sich fest vor, endlich die Lernkarten anzuschauen, die sie von Estelle erhalten hatte.
»Sorry, Sir«, unterbrach sie den Gast. »Please, can you …«Oh je, wie sagte man noch mal wiederholen? Repair? Nein. Oder etwa doch?
»Can you repair again?«, fragte sie.
Stille. Nora schluckte. Hatte sie ihn jetzt vergrault? Da erklang ein lautes Lachen am anderen Ende der Leitung. »Sie meinten wohl repeat?«, bemerkte der Anrufer in ziemlich gutem Deutsch. »Repair bedeutet reparieren.«
Nora schlug sich mit dem Hörer leicht gegen den Kopf. Wie peinlich!
Mit ernster Stimme fuhr der Anrufer fort: »Mein Name ist David Preston. Ich brauche vom 10. bis 24. August ein Einzelzimmer.«
Nora klemmte den Hörer zwischen Kopf und Schulter, wandte sich dem Computer zu und überprüfte die Verfügbarkeit. Sie erinnerte sich, zuerst immer eine höhere Kategorie anzubieten. »Herr Preston, ich kann Ihnen ein Deluxezimmer zum Preis …«
»Haben Sie auch Standardzimmer?«, unterbrach er sie.
»Ja. Unser Standardzimmer kostet 420 Franken und …«
»Können Sie einen Spezialpreis anbieten? Die Hälfte?«
Die Hälfte? Nora wechselte von einem Bein auf das andere, während sie zu den wartenden Gästen am Tresen spähte. »Ich kann Ihnen leider keinen Spezialpreis anbieten, dazu bin ich nicht befugt.«
»Dann fragen Sie jemanden.«
»Äh, ja. Einen Moment.« Sie drückte die Wartetaste. Wen konnte sie fragen? Oliver war noch nicht zurück, und der ganze Kader nahm an der Jubiläumsfeier teil.
Die russische Reiseleiterin klopfte schon wieder ungeduldig mit den Fingerspitzen auf den Tresen. »Können Sie jetzt bitte unser Check-in durchführen? Wir müssen in einer halben Stunde wieder los zum Dinner, aber meine Gäste wollen vorher noch die Zimmer beziehen.«
»Ja, gleich.« Verdammter Mist! Wo blieben nur Oliver und Louisa?
Da trat Eric Le Bloch an den Tresen. Er schien ihre missliche Lage erkannt zu haben und sah sie fragend an. »Gibt es ein Problem?«
Sie schilderte ihm die Situation, und er schaute konzentriert auf den Belegungsplan. Nora fand, dass Le Bloch mit seinen 69 Jahren noch immer ein attraktiver Mann war. Groß, schlank, volles, grau meliertes Haar und leuchtend blaue Augen.
Er blickte sie an, und Nora hoffte, dass er ihre Gedanken nicht lesen konnte. »Offerieren Sie ihm das Zimmer für 210.«
»In Ordnung, danke, Herr Le Bloch.«
Sie erwartete, dass er gleich wieder gehen würde, aber er empfing freundlich die russische Reiseführerin und begann, das Gruppen-Check-in durchzuführen.
Erleichtert widmete sich Nora dem Anrufer.
Kurze Zeit später trudelten die Russen nach dem Zimmerbezug bereits wieder in der Halle ein. Viele wechselten bei Nora und Oliver, der inzwischen auch aufgetaucht war, ihre Rubel in Schweizerfranken. Die Reiseleiterin stand ungeduldig da und schaute immer wieder auf die Uhr. »Davaite, poshli. My uze opazdyvaem!«, rief sie in lautem Russisch zu ihren Gästen.
Als die Gruppe weg war, informierte Nora ihren Chef über die neue Reservierung. Er schnappte nach Luft und rückte seine Nickelbrille zurecht. »210!« Ungläubig betrachtete er das Reservierungsformular. »Der alte Le Bloch ist mal wieder großzügig. Wenn das sein Sohn erfährt!« Er legte das Formular weg und sah sich um. »Wo ist eigentlich Louisa?«
In dem Moment bog diese lächelnd um die Ecke.
»Wo warst du?«, fragte Oliver streng.
»Auf der Toilette. Und dann bin ich noch diesem süßen Typen begegnet. Ist Aushilfskellner … Oliver, jetzt, wo du zurück bist, kann ich bestimmt Feierabend machen? Ich will endlich ins Restaurant. Gleich wird mein Großvater die goldene Muschel präsentieren.«
Oliver hatte es offenbar die Sprache verschlagen, und er schaute Louisa an, als käme sie von einem anderen Stern. Ehe er etwas erwidern konnte, wurde seine Aufmerksamkeit auf ein verheult aussehendes Zimmermädchen gelenkt, das die Treppe runtergerannt kam. »Kiku! Was ist los?«
Kiku war völlig außer Atem, und ihre runden Wangen waren flammend rot. Nora ging auf sie zu und strich ihr vorsichtig über den Rücken. Obwohl sie das japanische Zimmermädchen erst seit ein paar Tagen kannte, hatte sie sich bereits mit ihr angefreundet. Kiku war zwei Jahre jünger als sie und arbeitete neben ihrem Medizinstudium im Grand Beaulieu als Teilzeitkraft. Jetzt, während der Semesterferien, war sie fast täglich hier.
Die beiden Concierges hatten sich inzwischen auch genähert und sahen Kiku fragend an.
»Kiku, was ist passiert?«, fragte Nora sanft.
Kiku wischte eine Träne von der Wange. »Herr Le Bloch … er … er ist tot! Er liegt in seinem Büro auf dem Boden und hat eine große, blutende Wunde am Hinterkopf! Ich glaube, er wurde ermordet! Das Büro ist ganz durchwühlt!«
Antonio, der Chefconcierge, griff zum Telefon und winkte gleichzeitig einen Sicherheitsmann und zwei Portiers herbei, die am Eingang standen.
Oliver und Nora sahen schockiert zu Kiku, Louisa schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das kann nicht sein!«, schrie sie. »Du irrst dich!« Sie rannte davon Richtung Treppe, da erschien Estelle in Begleitung ihres Sohnes. Louisa fiel ihrem Vater in die Arme. »Oh Papa!«
»Louisa! Was ist los?«
»Kiku behauptet, dass Großvater ermordet wurde!«
Estelle und ihr Sohn rissen die Augen auf. »Ermordet?«
»Sie muss sich irren!«, schrie Louisa und rannte die Stufen hoch, dicht gefolgt von ihrem Vater, Estelle und Oliver.
Nora blieb verdutzt zurück und schaute zu Antonio, der noch immer telefonierte und inzwischen umringt war von den Portiers und dem Sicherheitsmann.
»Ich bin mir ganz sicher, dass er tot ist«, sagte Kiku zu Nora. »Ich studiere Medizin! Er atmet nicht und …« Sie sah zu Antonio, der den Hörer aufgelegt hatte und seinen strengen Blick über die Anwesenden wandern ließ.
»So, die Ambulanz ist auf dem Weg. Die Polizei auch. Wenn Le Bloch wirklich ermordet wurde, müssen wir schauen, dass niemand das Hotel verlässt! Keine Hotelgäste, keine Restaurantgäste, keine Mitarbeiter, niemand!« Er strich mit dem Zeigefinger über seinen dicken schwarzen Schnurrbart und blickte finster unter den buschigen Brauen hervor. »Sollte hier irgendwo ein Mörder sein, darf er auf keinen Fall entkommen.«
Die gediegene Hotelhalle verwandelte sich in den kommenden Stunden in einen regelrechten Zirkus, und Nora fühlte sich wie im falschen Film. Es wimmelte nur so von Polizisten, welche die Gäste und Mitarbeiter befragten und beruhigten. Die meisten Gäste wirkten ängstlich, traurig oder nervös. Es gab aber auch Neugierige und Sensationslustige unter ihnen, die trotz Verbot der Polizei immer wieder Fotos schossen und sogar versuchten, in die erste Etage zu gelangen. Und dann gab es die Aufgebrachten, wie der kleine Amerikaner, der die ganze Zeit rumschrie, weil er das Hotel nicht verlassen durfte.
Doch am schlimmsten empfand Nora das andauernde Klingeln des Telefons. Es machte sie so rasend, dass sie ernsthaft erwog, den Stecker rauszuziehen. Oliver beruhigte sie, und Nora war froh, dass er im Gegensatz zu den anderen gelassen blieb und die ganze Situation recht gut unter Kontrolle hatte. Durch ihn erfuhr sie auch, dass Kiku mit ihrer Annahme richtiggelegen hatte: Eric Le Bloch war tatsächlich ermordet worden. Erschlagen mit einem harten Gegenstand, den die Polizei noch immer suchte.
Nora beobachtete einen Polizeihund, der in einer Ecke herumschnüffelte, da trat plötzlich Maximilian von Bergen auf sie zu und beäugte sie mit seinen stahlblauen Augen prüfend.
Nora schluckte. Was wollte der denn ausgerechnet jetzt?
Drei Wochen späterMontag, 10. August 2015
Herrn Kohlmüllers Gesicht war gerötet, und auf seiner Stirn hatten sich kleine Schweißperlen gebildet. Er beugte sich leicht über den Marmortresen des Empfangs, und Nora stellte fest, dass sein rechtes Unterlid zuckte. Seit fünf Minuten diskutierte er mit ihr und verlangte einen Preisnachlass, weil Louisa ihn am Vortag aus Versehen in ein belegtes Zimmer eingecheckt hatte. Dadurch war ein Zwergpudel auf ihn losgegangen und hatte ihn angebellt.
Herr Kohlmüller klopfte mit seinen Wurstfingern auf den Tresen. »Wissen Sie eigentlich, welcher Gefahr ich ausgesetzt war? Diese Bestie hätte mich beinahe gebissen! Ich will jetzt sofort eine Reduktion auf den Zimmerpreis! Ansonsten sehe ich mich gezwungen, das Grand Beaulieu auf sämtlichen Bewertungsseiten schlecht zu beurteilen.«
Nora warf verzweifelt einen Blick zum Concierge, doch dieser informierte gerade ein arabisches Pärchen über die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Und andere Personen, die ihr hätten helfen können, waren um halb acht Uhr morgens noch nicht da. Auch Louisa nicht, obwohl sie mit ihr zusammen Dienst gehabt hätte.
Eigentlich sollte es ein ruhiger Morgen werden, aber eine asiatische Reisegruppe war zu früh angereist und belegte die ganze Lobby. Hinter Herrn Kohlmüller hatte sich inzwischen eine lange Schlange gebildet. Drei Geschäftsmänner schüttelten genervt den Kopf und blickten immer wieder auf die Uhr.
Panik stieg in Nora hoch. Wo blieb nur Louisa? Weitere Gäste reihten sich in die Schlange ein, unter ihnen auch ein attraktiver Typ mit rabenschwarzen Haaren, die ihm tief in die Stirn fielen. Mit verschränkten Armen stand er da und beobachtete die Situation aufmerksam.
Nora straffte die Schultern und sah Herrn Kohlmüller direkt in die kleinen Augen. Wie gerne hätte sie ihm gesagt, dass er sich seinen blöden Preisnachlass sonst wo hinstecken konnte, aber sie musste sich beherrschen. Sie durfte diesen Job nicht verlieren. »Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich keinen Preisnachlass geben kann. Ich bin nicht dazu ermächtigt. Es tut mir leid, dass Ihr Aufenthalt nicht zu Ihrer Zufriedenheit verlief, aber darf ich Sie daran erinnern, dass Sie als Wiedergutmachung eine Juniorsuite erhielten?«
Er atmete laut und schnell. »Das tut jetzt nichts zur Sache! Ich will eine Reduktion. Und wenn Sie nicht in der Lage sind, mir diese zu geben, dann rufen Sie endlich den Direktor an.«
»Der Direktor.« Nora geriet ins Stocken. »Er … er wurde … äh, er starb leider vor drei Wochen, deshalb geht es hier etwas chaotisch zu. Und der neue Direktor, Eric Le Blochs Sohn, ist noch nicht hier.«
»Dann rufen Sie ihn gefälligst an! Oder sonst jemanden, ist mir egal. Es muss doch hier einen Empfangschef geben.«
»Unser Empfangschef kommt in einer halben Stunde.«
»Ja, ist das denn zu fassen! Und so etwas nennt sich Fünfsternehotel!«
Nora hob die Schultern und wollte sich gerade entschuldigen, da näherte sich der schwarzhaarige Typ und wandte sich an Herrn Kohlmüller. »Hören Sie«, sagte er mit englischem Akzent, »ich will mich ja nicht einmischen, aber haben Sie nicht gehört, was die junge Dame gesagt hat? Sie kann im Moment nichts tun.« Er zeigte auf die wartenden Hotelgäste. »Hier sind einige Leute, die dringend einen Flug erwischen müssen. Sie etwa auch?«
»Nein, aber …«
Er ließ ihn nicht ausreden. »Gut, dann setzen Sie sich bitte in die Lobby und warten, bis jemand hier ist, der sich um Ihr Problem kümmern kann.«
Herr Kohlmüller wollte etwas erwidern, aber als er in die genervten Gesichter der wartenden Gäste schaute, griff er nach seinem Rollkoffer und begab sich mürrisch zu einer Sitzecke.
Nora warf dem Schwarzhaarigen, der sich brav wieder in die Warteschlange stellte, einen dankbaren Blick zu. Als sie sämtliche Gäste ausgecheckt hatte und er an der Reihe war, lächelte sie ihn charmant an. »Vielen Dank wegen vorhin. Sie haben mich gerettet.«
»Keine Ursache. Ich wollte nur nicht so lange warten.«
»Ja, klar«, meinte sie schnell. »Sie möchten auschecken?«
Er legte seinen Pass auf den Tresen. »Nein, einchecken. David Preston.«
»Ah, Herr Preston. Ich nahm Ihre Reservierung entgegen.«
Er hob leicht den Kopf. »Das waren Sie? Danke nochmals für den Spezialpreis.«
»Schon gut.« Nora gab seinen Namen in den Computer ein und legte einen Meldeschein auf den Tresen. »Sie bleiben bis zum 24. August, ist das korrekt?«
»Eventuell reise ich früher ab, aber das kann ich im Moment noch nicht sagen.«
»Kein Problem, geben Sie einfach Bescheid, sobald Sie mehr wissen … Das Zimmer ist leider noch nicht bereit. Der Gast hat aber schon ausgecheckt, und ich werde das Zimmermädchen informieren. In der Zwischenzeit können Sie gerne in der Lobby warten oder im Restaurant frühstücken.«
»Gut.« Er reichte ihr seine Kreditkarte und musterte sie mit seinen dunklen Augen. »Sie sagten dem Gast vorhin, dass der Hoteldirektor kürzlich verstarb. Ich las darüber in der Zeitung. Er wurde in seinem Büro umgebracht.«
Nora zog die Karte durch den Schlitz und gab sie zurück. »Ja, eine Tragödie. Er wurde während der Jubiläumsfeier vor drei Wochen ermordet.«
»Kannten Sie ihn gut?«
»Nein, ich arbeite erst seit einem Monat hier, und die Tat geschah in meiner ersten Arbeitswoche.«
»Toller Start.« Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen, dabei bildete sich ein Grübchen in der stoppeligen Wange. Sein Blick wurde wieder ernst. »Soweit ich weiß, hat die Polizei den Mörder noch nicht gefunden, oder?«
Nora sah sich um. Ihr war nicht wohl dabei, mit dem unbekannten Gast über Le Blochs Tod zu sprechen, zumal der zuständige Kriminalbeamte dem Hotelpersonal ausdrücklich verboten hatte, sich mit der Presse oder neugierigen Gästen zu unterhalten. Leise sagte sie: »Die Polizei tappt noch im Dunkeln … Herr Preston, ich darf eigentlich nicht darüber reden.«
»Sorry. Ich war nur neugierig. Wissen Sie, ich war bereits als Kind in diesem Hotel und kann mich gut an Eric Le Bloch erinnern. Er schenkte mir damals ein Spielzeugauto. Kinder vergessen solche Gesten nie.«
»Ja, Sie haben recht.« Sie schwieg kurz und wies dann zur Lobby. »Sobald Ihr Zimmer bereit ist, bringen wir Ihnen den Schlüssel.«
Er schaute auf ihr Namensschild. »Danke, Frau Winter.« Er griff nach seinem Koffer und ging davon.
»Wer war denn das?«
Nora fuhr zusammen und drehte sich zur Seite. »Kiku!«
»Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Du warst wohl ganz konzentriert auf den tollen Typen.« Sie blickte verstohlen zu David Preston, der in dem Moment zu ihnen herübersah. »Upsi.« Sie schaute schnell weg.
»Das ist der Gast von Zimmer 115«, erklärte Nora. »Er ist vorhin angereist. Das Zimmer muss noch geputzt werden.«
»Ich bin heute auf der ersten Etage. Also, 115.« Kiku blätterte ihre Ankunftsliste durch. »Preston. Oh, der bleibt ja zwei Wochen.«
»Mhm.« Nora sah sie ernst an. »Und, wie geht es dir?«
Kiku verschränkte die Arme. »Mir geht es gut. Warum fragt mich andauernd jeder, wie es mir geht?«
»Du hast den ermordeten Le Bloch aufgefunden und warst danach ziemlich verstört.«
»Ja, aber es ist mittlerweile drei Wochen her, und ich habe mich von dem Schock erholt. Es nervt mich gewaltig, dass man mich immer wieder darauf anspricht.« Sie erschrak, und innerhalb kürzester Zeit war ihr Gesicht knallrot. »Das war jetzt nicht gegen dich gerichtet, Nora. Vielmehr gegen die sensationslustigen Geier, die hier überall lauern. Die interessiert es doch gar nicht, wie ich mich fühle. Die brennen nur darauf, etwas über den Mord zu erfahren. Du kennst doch Simone aus der Personalabteilung?«
»Ja.«
»Die wollte ernsthaft wissen, wie groß und blutig Le Blochs Verletzung war! Ist das nicht schlimm?«
Nora nickte und dachte an den chaotischen Abend vor drei Wochen zurück. Eric Le Bloch. Erschlagen in seinem eigenen Büro. Den Mörder hatte man bisher noch nicht gefasst. Nur Fabrice Leclerc, den Mitarbeiter des Louvre, hatte man kurzzeitig festgenommen, weil er sich gemäß Kikus Aussage kurz vor dem Mord mit Eric Le Bloch in dessen Büro gestritten hatte. Da man ihm aber nichts hatte nachweisen können, war er wieder freigelassen worden.
Die goldene Muschel, die noch immer im Tresor gewesen war, hatte sich als Fälschung herausgestellt. Eine der simplen vergoldeten Muscheln, die normalerweise als Dekoration auf den Tischen im Restaurant lagen. Aber es gab ein paar Leute, die fest davon überzeugt waren, Eric Le Bloch sei tatsächlich im Besitz der echten Muschel gewesen und habe sie einfach an einem anderen Ort aufbewahrt. Auch Fabrice Leclerc, der immer noch im Hotel wohnte, war ein Verfechter dieser Theorie. Dies hatte er dem Concierge gegenüber neulich erwähnt, und Nora hatte es mitbekommen.
Kiku fächerte sich mit ihrer Liste frische Luft ins Gesicht. »Verdammt, ist das heiß hier! Die Hitzewelle nimmt kein Ende. Morgen werden wieder 35 Grad erwartet.« Sie schaltete den Ventilator neben sich eine Stufe höher und hielt das Gesicht direkt hinein, sodass ihre Kleopatra-Frisur in alle Richtungen flog. »Gehst du nach der Arbeit wieder schwimmen?«
»Nein, ich gehe mit Max zum Gartenfest seiner Großmutter.« Nora lächelte versonnen. Maximilian von Bergen. Einfach angesprochen hatte er sie damals inmitten des Getümmels. Und gefragt, wann wohl endlich Inspektor Columbo käme. Gut für ihn, dass sie die alte TV-Serie tatsächlich kannte und vor vielen Jahren oft geschaut hatte. Nachdem sie sich eine Weile unterhalten hatten, fragte Max sie nach ihrer Nummer und ob er sie zum Essen ausführen dürfe. Sie war zuerst misstrauisch gewesen, hatte sich gefragt, warum sich ein so erfolgreicher Mann wie er ausgerechnet für eine ehemalige Stripperin interessierte. Sah er in ihr nur ein schnelles Abenteuer? Bei ihrem ersten Date in einem romantischen Seerestaurant hatte er aber jegliche Zweifel beiseitegeräumt und ihr versichert, dass sein Interesse nichts mit ihrer Vergangenheit zu tun habe und sie ihm einfach gefalle. Seither trafen sie sich regelmäßig.
»Eine Gartenparty bei Gwendolyn von Bergen!«, rief Kiku aufgeregt. »Was ziehst du an?«
»Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Jeans-Shorts und T-Shirt bei dieser Hitze?«
»Jeans-Shorts und T-Shirt? Nora, wenn du zu einem Gartenfest bei Gwendolyn von Bergen gehst, kannst du unmöglich in Shorts und T-Shirt dort auftauchen. Ein Kleid wäre angemessen.«
»Ein Kleid, oh je.« Nora ließ sich den Inhalt ihres Kleiderschranks durch den Kopf gehen. Viele Kleider besaß sie nicht, da sie Shorts und Hosen bevorzugte. Und die kurzen Röcke, die sie von einer Bekannten für ihren Job in der Striptease-Bar erhalten hatte, waren definitiv nicht für einen solchen Anlass geeignet.
Kiku wollte gerade etwas sagen, da bog Louisa um die Ecke. »Hallöchen zusammen«, flötete sie und warf ihre Handtasche auf den Schreibtisch. Sie musterte Kiku von oben bis unten. »Solltest du nicht Zimmer putzen, Kikulein?«
Kiku errötete. »Ja … Klar.« In Windeseile lief sie davon.
Louisa blickte ihr kopfschüttelnd nach und stellte sich neben Nora an den Tresen. »Ts, ts. Dieses Putzpersonal wieder, schnattert hier am Empfang rum, anstatt zu arbeiten.«
Nora trat einen Schritt auf sie zu und sah ihr direkt in das stark geschminkte Gesicht. »Kiku ist wenigstens pünktlich. Was man von dir nicht behaupten kann. Du hättest vor über einer Stunde hier sein müssen!«
Louisa zuckte mit den Schultern und begann, David Prestons Meldeschein in den Computer einzutragen. »Du hattest bereits ein Check-in?«, fragte sie erstaunt. »Ah, der lebt in London. Cool, ich liebe London. Du auch?«
»Ich war noch nie dort. Louisa, die Mehrheit der Gäste hat bereits ausgecheckt. Sogar die Reisegruppe ist angereist. Hier war die Hölle los!«
»Ja, ja, sorry. Ich war gestern auf einer Party, und es wurde eben ein wenig später.« Louisa legte den Meldeschein weg und lächelte. »Komm schon, Noralein, du warst doch auch mal jung und hast bestimmt gerne gefeiert?«
Nora gab es ungern zu, aber Louisa hatte recht. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie selbst bloß ans Feiern gedacht. Und leider einige Fehler begangen. Hätte sie die Chance, würde sie alles anders machen. »Du solltest dich lieber auf die Arbeit konzentrieren, glaube mir.«
»Du solltest dich lieber auf die Arbeit konzentrieren«, äffte Louisa sie nach. »Echt jetzt, du klingst wie meine Eltern. Was ist so falsch daran, wenn ich mein Leben genieße? Außerdem …«, Sie blickte Nora mit großen Augen an, »darf man nicht vergessen, dass mein Großvater kürzlich ermordet wurde. Das war ein echter Schock. Du solltest nachsichtig sein.« Sie legte den Kopf leicht schräg. »Also, Noralein, du sagst doch Oliver nicht, dass ich zu spät war?«
Nora gab nach. »Nein, aber bitte versprich, dass es nicht wieder vorkommt. Ich arbeite erst seit einem Monat hier und war heute Morgen ziemlich überfordert.« Sie berichtete von Herrn Kohlmüllers Beschwerde, aber Louisa nahm die Aussage nur mit leichtem Schulterzucken zur Kenntnis.
»Papa wird das schon regeln«, sagte sie leichthin, und damit war das Thema für sie erledigt. Sie ließ den Blick über die Hotelhalle schweifen, bis sie an David Preston hängen blieb, der eingepfercht zwischen zwei alten asiatischen Damen saß und konzentriert auf sein Notebook starrte. Sie pfiff leise durch ihren hellrot geschminkten Schmollmund. »Wer ist der heiße Typ dort drüben?«
»Das ist David Preston.« Nora zeigte auf ein Heftchen, in dem eine Schlüsselkarte steckte. »Sobald das Housekeeping anruft und sein Zimmer freigibt, kannst du ihm den Schlüssel bringen.«
Louisa grinste. »Oh ja. In solchen Momenten liebe ich diesen Job!«
Louisas Vater, Raphael Le Bloch, erschien um halb zehn Uhr in Begleitung von Estelle, die in ihrem schwarzen Kleid sehr zerbrechlich und blass wirkte. Nora hatte Estelle seit dem Vorfall nicht mehr gesehen und spürte einen Anflug von Nervosität. Wie verhielt man sich gegenüber jemandem, dessen Mann kürzlich ermordet worden war?
Louisa begrüßte ihren Vater und ihre Großmutter mit einem Küsschen, ehe sie sich David Prestons Zimmerschlüssel schnappte und sich mit weitem Hüftschwung in die Hotelhalle begab.
Während sich Raphael Le Bloch mit dem Concierge unterhielt, trat Estelle einen Schritt auf Nora zu. »Nora, meine Liebe, wir konnten uns lange nicht unterhalten. Haben Sie sich gut eingearbeitet?«
»Ja, danke.« Nora zögerte kurz. »Mein herzliches Beileid übrigens. Wie geht es Ihnen?«
Estelle schloss die Lider. »Den Umständen entsprechend. Ich vermisse meinen Mann sehr und hoffe, man findet den Mörder bald. Einfach schrecklich, dass ihn jemand in seinem Büro ermordet hat.«
»Wenn ich etwas für Sie tun kann …«
»Das ist lieb, aber es geht schon.« Sie neigte sich leicht vor und flüsterte: »Louisa erwähnte, dass Sie sich seit Kurzem mit Maximilian von Bergen treffen? Sie haben ihn am Abend der Jubiläumsfeier kennengelernt?«
»Ja.« Nora fluchte innerlich. Louisa war ein richtiges Plappermaul. Vor ein paar Tagen hatte sie gesehen, wie Max sie von der Arbeit abgeholt hatte, und sie tags darauf eifrig ausgefragt. Das störte Nora nicht weiter, aber dass Louisa gleich zu Estelle ging, wurmte sie. Obwohl es dem Hotelpersonal nicht untersagt war, sich in der Freizeit mit Gästen zu treffen, und Max ohnehin nur ein Restaurantgast war, empfand sie es als peinlich. Was musste Estelle jetzt von ihr denken? Doch zu Noras Erleichterung blitzten ihre Augen vergnügt. »Und, ist es etwas Ernstes?«
»Wir sind noch ganz am Anfang«, erklärte Nora. »Aber heute Abend lerne ich seine Großmutter kennen.«
»Dann scheint es meiner Meinung nach ernst zu sein.« Sie neigte sich noch näher zu Nora. »Weiß er von Ihrem letzten Job?«, fragte sie leise.
»Ja.« Nora bemerkte Estelles perplexen Gesichtsausdruck. »Ich weiß, was Sie denken. Was findet ein Mann wie Maximilian von Bergen, Inhaber der größten und ältesten Privatbank des Landes, bloß an einer wie mir.«
»Ach, Nora, reden Sie nicht so! Ich muss zugeben, dass ich ein wenig erstaunt bin. Die von Bergens gehören zu den einflussreichsten und wohlhabendsten Familien. Gwendolyn, Maximilians Großmutter, ist …«
»Mutter!«
Estelle blickte über die Schulter zu ihrem Sohn, dessen Stirn in Falten gelegt war.
»Du lenkst Frau Winter von der Arbeit ab.« Er wandte sich an Nora. »Frau Winter, dort steht ein Gast und will auschecken. Na los. Und danach kommen Sie in mein Büro.« Er wandte sich ab und begrüßte David Preston, der zusammen mit Louisa durch die Halle schritt.
»Tut mir leid«, hauchte Estelle Nora nach, die auf den wartenden Gast zueilte.
Während die junge Empfangsdame jedes Detail in seinem Zimmer ausführlich erklärte, dachte David Preston über sein weiteres Vorgehen nach. Er musste sich unbedingt Zugang zu dem Büro des ehemaligen Direktors verschaffen. Nur wie?
»Und dies hier ist die Klimaanlage«, säuselte die Dame mit der schwarzen Kurzhaarfrisur. »Soll ich Ihnen zeigen, wie sie funktioniert?«
»Nein, das schaffe ich schon.« Ob sie ihm vielleicht bei seinen Plänen helfen konnte? Offensichtlich fand sie ja Gefallen an ihm, ansonsten würde sie ihn nicht die ganze Zeit so anschmachten.
»Der Zimmerrundgang ist somit beendet, Herr Preston. Haben Sie noch Fragen?«
»Nein, ich denke nicht, Frau …« Stirnrunzelnd las er ihr Namensschild und schaute sie erstaunt an. »Le Bloch? Sind Sie etwa verwandt mit dem verstorbenen Hoteldirektor, Eric Le Bloch?«
»Ja, er war mein Großvater. Ich bin Louisa Le Bloch.«
»Oh … Mein Beileid.«
»Danke.«
»Dann war der Mann vorhin, der sich als Hoteldirektor vorgestellt hat, Ihr Vater?«
»Richtig.«
David war enttäuscht. Sie konnte ihm also nicht helfen. Aber vielleicht die andere Empfangsdame, die ihn eingecheckt hatte. Die Dunkelhaarige mit den Rehaugen. Nora Winter. Sie hatte ihm leidgetan, als sie von dem scheußlichen Gast zusammengestaucht wurde. Und auch der Hoteldirektor war ihr gegenüber nicht sehr freundlich gesinnt gewesen. In sein Büro hatte er sie gebeten. Dem schroffen Klang seiner Stimme nach zu urteilen, verhieß das nichts Gutes. Aber vielleicht konnte es ihm ja von Nutzen sein?
»Kann ich noch etwas für Sie tun, Herr Preston?«
»Nein, danke.«
Als die junge Le Bloch weg war, öffnete David die Minibar, griff nach einer Cola und setzte sich auf das Bett mit der hellgrauen Tagesdecke und den cremefarbenen Zierkissen. Er sah sich im Zimmer um und nahm die mit Stuck verzierte Decke und den pompösen Kronleuchter wahr. Sehr lange würde er sich dieses Hotel nicht leisten können, deshalb durfte er keine Zeit verlieren.
Von einem unguten Gefühl durchdrungen, schritt Nora über den weichen, dunkelblauen Teppich der ersten Etage. Ihr graute vor dem Gespräch mit Raphael Le Bloch. Nie hätte sie gedacht, dass der Sohn einer so liebenswürdigen Frau wie Estelle ein solches Scheusal sein konnte. Natürlich war ihr bewusst, dass sie ihren Job Estelle zu verdanken hatte und Raphael Le Bloch eine unqualifizierte Person wie sie niemals eingestellt hätte. Dennoch war sie davon ausgegangen, dass er ihr zumindest mit Respekt begegnen würde. Aber andauernd hatte er etwas an ihr auszusetzen, und nie konnte sie es ihm recht machen. Gerade vor ein paar Tagen hatte er sie gerügt, weil sie die Haare nicht zusammengebunden hatte. Doch mit solchen Zurechtweisungen konnte sie umgehen, viel schlimmer fand sie, dass er immer unfreundlich war und sie niemals grüßte. Warum er jetzt mit ihr sprechen wollte, konnte sie sich ausmalen. Herr Kohlmüller hatte sich bestimmt beschwert. Sie holte tief Luft. Na dann, auf in die Höhle des Löwen.
Sie bog um die Ecke und lief geradewegs David Preston in die Arme. Ihr fiel auf, wie gut er roch. Nach Zitrone und frischem Holz. »Herr Preston, kann ich Ihnen helfen? Haben Sie sich verlaufen? Ihr Zimmer ist auf der anderen Seite.«
Er fuhr sich über die dunklen Bartstoppeln und schaute sich um. »Ich suche das Kopiergerät.« Er hielt eine schwarze Mappe hoch.
»Unser Concierge wird Ihnen bestimmt eine Kopie machen.«
»Ist was Vertrauliches. Ich will es lieber selbst tun.«
»Wie viele Seiten sind es?«
»Nur eine.«
»Gut, kommen Sie mit.«
Er folgte ihr den Flur entlang. »Befinden sich auf dieser Seite der Etage alle Büroräume der Administration und des Kaders?«, fragte er.
»Ja, außer denjenigen des Küchenchefs und der Einkaufsabteilung, die sind im Untergeschoss.«
Nora schoss ein Gedanke durch den Kopf. Der Ostflügel mit den Büroräumen war nur für das Hotelpersonal durch einen Personalaufzug oder das Personaltreppenhaus zugänglich. Hotelgästen, die den Westflügel im ersten Stock bewohnten, blieb der Büroteil durch eine Tür verwehrt, die bloß mit einem Personalbadge geöffnet werden konnte.
Sie drehte sich um. »Wie kamen Sie eigentlich hier rein?«
»Ich habe ein Zimmermädchen gefragt, und sie öffnete die Tür. Sie erklärte auch, wo der Kopierraum sei, aber hier ist es ja wie in einem Labyrinth.«
Nora nickte langsam. Merkwürdig. Dem Hotelpersonal war es strikt untersagt, Gäste in diesen Teil zu lassen. Und warum hatte das Zimmermädchen ihn mit der Kopie nicht zum Concierge geschickt? Zögernd ging sie weiter und hoffte inständig, dass ihnen niemand vom Hotelpersonal begegnen würde. Das gäbe garantiert wieder Ärger. Andererseits, einem Gast durfte man ja keinen Wunsch abschlagen.
Vor einer Tür blieb sie stehen. »Hier sind wir.«
Sie betraten den kleinen Raum, in dem sich ein Kopiergerät, eine Schneidemaschine und ein Papierlager befanden. David schloss schnell die Tür, und Nora schaute ihn überrascht an. »Was soll das? Warum schließen Sie die Tür?« Sie versuchte, ihn auf die Seite zu schieben, um die Tür zu öffnen, doch er hielt sie an den Händen fest. »Keine Angst, Frau Winter, ich will Ihnen nichts tun. Aber ich brauche Ihre Hilfe und will mich in Ruhe mit Ihnen unterhalten. Ich …«
»Ich will mich aber nicht mit Ihnen unterhalten. Jetzt lassen Sie mich los! Sonst schreie ich!«
Er hielt ihr blitzartig eine Hand vor den Mund und umfasste sie mit einem Arm. Erfolglos versuchte Nora, sich aus seinem Griff zu befreien.
»Frau Winter, jetzt beruhigen Sie sich und hören mir zu. Ich will Ihnen nichts tun. Ich bin Journalist.«
Nora wurde ruhiger, und David nahm vorsichtig die Hand von ihrem Mund.
»Was soll das?«, fauchte sie. »Warum greifen Sie mich an?«
»Ich habe Sie nicht angegriffen. Ich wollte nur, dass Sie endlich zuhören.«
»Was wollen Sie mir denn unbedingt sagen?«, fragte sie genervt.
»Vor einem Monat erfuhr ich, dass Herr Le Bloch angeblich im Besitz der verschollenen goldenen Muschel ist. Weil ich derzeit an einem Bericht über die Muschel schreibe, wollte ich herkommen, um mich persönlich mit Le Bloch darüber zu unterhalten. Und dann erfuhr ich aus der Zeitung von seinem Tod und von dem mysteriösen Umstand, dass anstelle der goldenen Muschel nur ein Dekorationsgegenstand im Tresor war. Jetzt will ich herausfinden, wer der Mörder ist und wo sich die Muschel befindet. Und Sie werden mir dabei helfen.«
»Nein, werde ich bestimmt nicht! Gehen Sie doch zur Polizei!«
»Klar, und die geben mir natürlich Auskunft«, entgegnete er sarkastisch.
»Mir egal.«
Er sah sie ungläubig an. »Interessiert es Sie nicht auch, wer Le Bloch ermordet hat und wo die Muschel jetzt ist?«
Sie verschränkte die Arme. »Nein, es interessiert mich nicht. Und bestimmt hat der Mörder die Muschel gestohlen und ist längst über alle Berge. Oder Le Bloch besaß die Muschel gar nie. Vielleicht war es bloß ein Marketingtrick, um das Restaurant Coquille dʼOr zu puschen. Es lief in den vergangenen Monaten nicht mehr so gut.«
»Aber warum sollte Le Bloch seinen Ruf riskieren? Soweit ich weiß, war er nicht nur ein großer Kunstliebhaber, sondern selbst Inhaber eines Museums. Hätte er den Leuten einen Dekorationsgegenstand anstelle der goldenen Muschel präsentiert, wäre das nicht nur äußerst peinlich gewesen für ihn, sondern auf Dauer auch schädlich für das Restaurant und das Museum. Nein, ich bin mir sicher, dass er die Muschel hatte.«
»Und warum bewahrte er zusätzlich eine Fälschung im Tresor auf?«
David schwieg, und Nora öffnete die Tür. »Sehen Sie! Ich kann Ihnen jedenfalls bei diesem Rätsel nicht helfen, ich wüsste nicht, wie.«
»Sie könnten mir Zugang zu dem Büro des Direktors verschaffen?«
Nora trat einen Schritt vor. »Sie sind verrückt! Was erhoffen Sie sich, dort zu finden? Die goldene Muschel, präsentiert auf einem Silbertablett? Herr Preston, denken Sie etwa nicht, dass die Polizei das Büro bereits gründlich durchsucht hat?« Ohne eine Antwort abzuwarten, redete sie weiter. »Hören Sie, dieser Job bedeutet mir viel. Es ist meine zweite Chance. Und die will ich nicht wieder verbocken. Lassen Sie mich einfach in Ruhe!« Sie ließ ihn stehen und rannte davon.
Es gelang Nora nicht, Raphael Le Bloch in die Augen zu sehen, und so fixierte sie das Diamantarmband, das Max ihr vor ein paar Tagen geschenkt hatte.
Sie dachte an ihre Begegnung mit David Preston zurück und was er von ihr verlangt hatte. Wie absurd! Vielleicht war er ja nicht ganz normal? Womöglich hatte er sogar etwas mit dem Mord zu tun? Nora erschrak über diesen Gedanken, rief sich aber in Erinnerung, dass David Preston erst heute, drei Wochen nach Eric Le Blochs Ermordung, angereist war und sie am Abend der Tat angerufen hatte, um sein Zimmer zu reservieren. Er kam als Täter demnach nicht infrage. Es sei denn, er hatte einen Komplizen? Aber wozu dann sein Interesse an Le Blochs Ermordung und der goldenen Muschel? Nein, David Preston war einfach ein verrückter Journalist auf der Suche nach einer guten Story. Ob sie Raphael Le Bloch informieren sollte?
»Hören Sie überhaupt zu, Frau Winter?«, rief Raphael Le Bloch und klopfte auf den Schreibtisch. Nora sah den Mann mit der Stirnglatze rasch an. Mit seiner spitzen Nase, dem eckigen Kinn und den kleinen, leicht schräg gestellten Augen kam er ihr vor wie ein listiger Fuchs. Wie konnte diese hässliche Person nur Estelles Sohn sein?
»Sie sind sich schon bewusst, dass Sie diesen Job nur meiner Mutter zu verdanken haben, oder? Eine unqualifizierte Person wie Sie hätte ich niemals eingestellt! Ich hatte meine Mutter gewarnt, aber sie wollte Ihnen unbedingt eine Chance geben. Und nun haben wir die Bescherung. Herr Kohlmüller hat vorhin berichtet, dass man ihn gestern in ein belegtes Zimmer eincheckte und ein Hund ihn deshalb angriff.«
»Es war nur ein harmloser Zwergpudel, der etwas bellte. Er hätte Herrn Kohlmüller bestimmt niemals gebissen. Das hat auch sein Besitzer gemeint.«
»Aber das können Sie nicht mit Sicherheit sagen! Warum überhaupt hat man Herrn Kohlmüller in das falsche Zimmer eingecheckt?«
»Es war nicht das falsche Zimmer. Der vorherige Gast hatte seine Rechnung bezahlt und war im System ausgecheckt. Das Zimmer hatte er aber noch nicht verlassen. Und Louisa vergaß, mit dem Housekeeping zu sprechen.«
Er hob eine Hand. »Lassen Sie meine Tochter da raus. Louisa ist Praktikantin!«, schrie er. »Oliver Richter war nicht hier, und deshalb trugen Sie die Verantwortung!«
»Es tut mir leid.«
»Das hoffe ich. Ich musste Herrn Kohlmüller einen Preisnachlass gewähren.«
»Aber er erhielt als Wiedergutmachung bereits eine viel bessere Zimmerkategorie, als er gebucht hatte. Eine Juniorsuite.«
»Ja, aber er drohte, unser Haus auf allen möglichen Reiseportalen schlecht zu bewerten. Und Sie wissen, was das bedeutet. In der heutigen Zeit lassen sich die Gäste bei der Wahl ihrer Unterkunft sehr durch solche Reiseportale beeinflussen. Hat ein Hotel oder Restaurant keine fünf volle Bewertungssterne, wird es kaum berücksichtigt.«
Nora nickte. In diesem Punkt musste sie Le Bloch recht geben. Sie lebten in einer Sternchen-Gesellschaft, wo es nur noch darum ging, alles zu bewerten, seien es Hotels, Restaurants, Kleider, Lebensmittel, Bücher oder andere Dinge. Wie angenehm musste es noch vor ein paar Jahren gewesen sein, als man unbeeinflusst etwas wählen und sich dann sein eigenes Urteil bilden konnte.
Le Bloch lehnte sich zurück und legte die Hände auf die gepolsterten Armlehnen des Sessels. »Außerdem kennt dieser Kohlmüller jemanden, der bei einem wichtigen Reisemagazin arbeitet und einen Artikel über uns schreiben würde. Frau Winter, wir dürfen uns zurzeit keinen weiteren Skandal erlauben. Seit mein Vater ermordet wurde, gingen die Logiernächte zurück, und es ist jetzt besonders wichtig, dass die Mitarbeiter ihr Bestes geben. Haben Sie das verstanden?«
»Ja, Herr Le Bloch.«
Er verengte die Augen zu Schlitzen. »Und glauben Sie ja nicht, dass Ihnen die Beziehung zu Maximilian von Bergen irgendwelche Sonderrechte einräumen würde. Meine Frau ist zwar gut mit Maximilians Großmutter befreundet, aber das ist mir vollkommen gleichgültig.«
»Ja, sicher.«
»Gut. Sie können jetzt gehen. Und vergessen Sie nicht, ich werde Sie im Auge behalten. Seit dem Tod meines Vaters habe ich das Sagen hier, und sollten Sie nochmals negativ auffallen, wird Ihnen auch meine Mutter nicht mehr helfen können.«
Nora nickte und stand langsam auf. Sie würde ihm nichts von David Preston sagen, sie hatte schon genug Ärger, und womöglich würde Raphael Le Bloch am Ende noch ihr die Schuld geben, dass sich dieser merkwürdige Journalist ins Hotel eingeschlichen hatte.
Obwohl den Mitarbeitern eine Kantine zur Verfügung stand, verbrachte Nora ihre Mittagspause bei schönem Wetter draußen. Sie verabscheute den dunklen, nach altem Frittieröl riechenden Aufenthaltsraum mit den geblümten Wachstuchtischdecken.
Wie immer um die Mittagszeit herrschte ordentlich Rummel auf der langen Einkaufs- und Geschäftsmeile neben dem Hotel. Gestresst aussehende Passanten mit verschwitzten Gesichtern kamen Nora entgegen, und sie stieß beinahe mit einer jungen Frau zusammen, die den Blick konzentriert auf ihr Handy gerichtet hielt. Eine herannahende Straßenbahn klingelte wie verrückt, als ein älterer Herr sorglos über die Schienen schritt.
Nora schälte ihre Arme aus dem Blazer, legte das grobe Foulard ab und rieb sich die juckenden Stellen am Hals. Sie eilte dem kleinen Park entgegen, der nur ein paar Gehminuten vom Hotel entfernt gegenüber einem Luxuskaufhaus lag. Ob ihre Lieblingsbank unter dem Lindenbaum noch frei war? Das schattige Plätzchen in der Nähe des Springbrunnens mochte sie besonders gerne.
Ein leichter Windstoß wehte ihr ins Gesicht. Sie blieb kurz stehen und sog die frische Luft tief ein, lauschte dem Plätschern des Brunnens und dem Vogelgezwitscher. Und der Musik. Eine tiefe Männerstimme sang einen Song von Tracy Chapman, begleitet von einer Gitarre. Nora schritt schneller über den Kiesweg, bis sie vor ihrer Lieblingsbank stehen blieb, die noch frei war. Doch gleich daneben saß ein bärtiger, breitschultriger Mann auf dem Boden, Nora schätzte ihn Mitte sechzig. Mit geschlossenen Augen sang er Bridges und spielte die Gitarre dabei mit einer Leichtigkeit, die Nora faszinierte. Neben ihm schlief ein Hund mit langem graubeigem Fell. Sie konnte ihn keiner bestimmten Rasse zuordnen, aber der Einfluss von Bergamasker war unverkennbar.