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Eine alte Villa im Tessin, eine junge Erbin und ein dramatisches Familiengeheimnis Die 32-jährige Felicia hat eine schwere Zeit hinter sich. Nach einem Überfall auf das Juweliergeschäft, in dem sie arbeitet, leidet sie unter Angstzuständen und ist nicht mehr in der Lage, ihren Beruf als Schmuckdesignerin auszuüben. Als ihre Großmutter überraschend verstirbt, erbt sie deren Anteil an einer Villa im Tessin. Kurzentschlossen reist sie nach Brissago, in die sogenannte Magnolienvilla, um ihr Erbe zu regeln. Dort wird sie eher frostig willkommen geheißen. Doch im Magnoliengarten – der jetzt im Frühling blüht – findet Fee Ruhe und Zeit zum Nachdenken. Überraschend stößt sie auf einen ungeöffneten Brief von ihrer Urgroßmutter. Dank der Hilfe ihres freundlichen neuen Nachbarn Nando erfährt Fee, dass ihrer Familie in der Vergangenheit großes Unrecht widerfahren ist. Nando und Fee kommen sich näher, während sie gemeinsam versuchen, das Geheimnis der Familie zu lüften ...
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Die Magnolienfrauen
CHRISTINE JAEGGI, geboren 1982, lebt mit ihrem Partner in der Schweizer Stadt Luzern. In ihrer Freizeit treibt sie gerne Sport, liest viel und – schreibt! Für ihren Debütroman Fatale Schönheit wurde sie 2015 mit dem ersten e-ditio Independent Publishing Award ausgezeichnet. Sie schreibt spannende Liebesgeschichten, in denen familiäre Beziehungen eine große Rolle spielen, und lässt gerne historische Begebenheiten einfließen.
Christine Jaeggi
Roman
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch 1. Auflage Oktober 2021 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021 Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München Titelabbildung: © Magdalena Russocka / Trevillion Images (Frau);© www.buerosued.de (Landschaft)© Autorenfoto: Nadine GerberE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com Alle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-8437-2576-7
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Titelei
Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Teil 1
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Teil 2
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Anhang
Nachwort
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Teil 1
Vergebung ist nicht etwas, das man für andere tut, sondern das beste Geschenk, das man sich selbst machen kann.
Fee Strasser, 1986Violetta Strasser, 1941: geb. Ferrazzini, Fees Großmutter
Nando Silvestri, 1981: Tommasos Enkel
Pippa Ferrazzini, 1933: Fees Großtante
Aurelia Toschini, 1933: ehemalige Haushälterin der Ferrazzinis
Christian, 1979: Fees Verlobter
Alice Ferrazzini, 1922: geb. EhrlerMaurizio Ferrazzini, 1909: Alices MannUndine Ferrazzini, 1913–1936: Maurizios verstorbene FrauPippa Ferrazzini, 1933: Maurizios und Undines TochterMatteo Ferrazzini, 1936: Maurizios und Undines SohnLucilla Ferrazzini, 1890: Maurizios MutterCarlos Ferrazzini, 1888: Maurizios VaterCarmina Ferrazzini, 1911: Maurizios Schwester
Filomena Toschini, 1892: HaushälterinAurelia Toschini, 1933: Filomenas Tochter
Henriette Silvestri, 1901: NachbarinTommaso Silvestri, 1922: Henriettes Sohn
Franca, 1922: Kindermädchen
Geraldo, 1888: Hausmeister
Tonia Balossi, 1915: Undines ehemalige Zofe
Behutsam schritt Undine auf das Geländer zu, ihr seidener Morgenmantel flatterte im Wind. Die Steinplatten waren noch feucht von der Kühle der Nacht, der Morgensonne fehlte es jetzt im Frühling an Kraft, um sie aufzuwärmen. Undine spürte, wie die Kälte durch die dünnen Sohlen ihrer Satinpantoffeln drang. Ihre Beine drohten einzuknicken und verrieten ihre Schwäche, aber sie durfte nicht aufgeben. Sie wollte die Magnolien sehen. Mehrere Wochen war sie nicht in der Lage gewesen, das Bett zu verlassen, hatte sich erschöpft und schwermütig gefühlt, als wäre sie permanent in eine kalte und dicke Decke eingewickelt gewesen. Alles war ihr sinnlos und dunkel erschienen.
Doch dann war sie wie aus einem traumlosen Schlaf erwacht und spürte zum ersten Mal seit Langem einen winzigen Keim Hoffnung in sich. Ob diese Veränderung bereits Carminas Kräutertinktur zuzuschreiben war, die sie seit zwei Wochen regelmäßig einnahm?
Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Den anfänglichen Schwindel hatte sie überwunden, aber ihre Beine zitterten noch immer wie Götterspeise.
Du schaffst das, ermutigte sie sich. Du bist eine della Torre und lässt dich nicht unterkriegen!
Gestärkt durch den inneren Monolog, gewann sie mit jedem Schritt an Sicherheit, bis sie das eiserne Balkongeländer erreichte und sich mit den Händen darauf abstützen konnte. Tau haftete daran.
Undine hob den Kopf und fühlte sich sogleich überwältigt bei dem Anblick, der sich ihr vom ersten Stock aus bot. Üppige weiß-rosa Blüten schmückten die Äste der Magnolien im Garten, dahinter glitzerte der See. Kein Wölkchen am fahlblauen Himmel. Ein samtig-süßer Duft, der an Honig und Pfirsiche erinnerte, hüllte Undine ein, und Glück durchströmte ihren Körper. Wie sehr sie die Bäume liebte. Es handelte sich um zwei elfjährige Tulpenmagnolien – eine vor dem Haus, die andere unten am Seeufer –, die mit ihren über vier Metern schon eine beachtliche Höhe aufwiesen. In den kommenden Jahrzehnten würden sie zu kräftigen Bäumen heranwachsen und noch hier sein, wenn Undine längst nicht mehr lebte. Die Tulpenmagnolie – Magnolia soulangeana – konnte unter optimalen klimatischen Bedingungen über hundert Jahre alt werden, hatte ihr der Gärtner erklärt. Undine gefiel der Gedanke, dass sich auch ihre Nachfahren noch an den alten Bäumen erfreuen würden. Sie blickte zu der Purpurmagnolie in der Mitte des Gartens, die erst etwa einen Meter hoch war und eher wie ein Strauch aussah. Undine hatte sie vor einem Jahr pflanzen lassen, damit auch im Mai noch etwas blühte. Dazu ein Palmen-Trio und Oleandersträucher.
Der Wind peitschte die Zweige gegen das Geländer, und eine Blüte fiel zu Boden. Undine erschauerte und zog den Morgenmantel fester um sich. Sie kniete nieder und hob die Blüte auf, die wie eine dickfleischige Tulpe aussah. Die Blätter waren weiß mit einer hellrosa Färbung. Undine atmete den berauschenden Duft tief ein und spürte, wie längst vergessene Kraft ihren Körper erfüllte.
Plötzlich fegte ein weiterer Windstoß durch die Bäume, Blütenstaub wirbelte durch die Luft. Kurz darauf schlug die Balkontür mit einem heftigen Knall zu, nur um in der nächsten Sekunde wieder aufzuschwingen. Undine drehte sich um und starrte wie gebannt auf die klappernde Tür. Sie ahnte, was jetzt gleich folgen würde. Das Geräusch hatte die Zwillinge bestimmt aus dem Schlaf gerissen. Kaum hatte sie zu Ende gedacht, drangen die anklagenden Schreie auch schon in ihre Ohren. Zuerst ganz leise, dann immer lauter.
Eine lähmende Müdigkeit überwältigte Undine, und sie fühlte sich, als würde sämtliches Leben aus ihrem Körper weichen. Sie schob eine Hand unter den weiten Ärmel ihres Morgenmantels und kratzte sich am Arm, immer fester und tiefer, riss erst kürzlich verheilte Wunden wieder auf. Das Geschrei wurde lauter. Undines Magengrube bebte.
Ich will nicht rein!
Es lag nicht nur an den Säuglingen, sondern auch am Haus. Schon als Maurizio sie vor vier Jahren an diesen Ort gebracht hatte und sie zum ersten Mal die Villa betrat, überkam sie ein seltsames Gefühl, als würde in jeder Ecke des Hauses etwas Unheilvolles lauern. Später erfuhr sie von der Tragödie, die sich einst hier ereignet hatte, und sie begriff, weshalb die Villa und ihre Bewohner eine so düstere Aura ausstrahlten. Selbst der Garten vermochte daran nichts zu ändern. Undine hatte Maurizio oft angefleht, an einen anderen Ort zu ziehen, aber er wollte nicht weg.
Dann war da noch jene furchtbare Entdeckung, die sie unmittelbar vor der Geburt der Zwillinge gemacht hatte. Bisher war sie noch nicht in der Lage gewesen, mit jemandem darüber zu sprechen, aber das würde sie tun, sobald Maurizio übermorgen zurückkäme.
Die Zwillinge schrien immer intensiver. Ohrenbetäubend.
Undines Herz raste, sie hielt sich rücklings am Geländer fest. Schweiß drang aus sämtlichen Poren ihrer Haut. Sie starrte auf die Balkontür, sah drei Gestalten das Zimmer betreten. Während sich die kleinste – Franca – über die Wiege lehnte, betraten die anderen beiden den Balkon. Lucilla, dicht gefolgt von Carmina.
Undines Körper versteifte sich, und sie hatte das Gefühl, von einem Sog in die Tiefe gezogen zu werden. »Lucilla, ich …« Der lodernde, unbarmherzige Blick ihrer Schwiegermutter ließ sie verstummen.
»Undine! Was machst du hier draußen? Komm sofort rein!«
»Ich wollte nur die Magnolien sehen.« Sie kämpfte mit ihrer Stimme, die in ein Flüstern abzurutschen drohte.
Lucilla schritt auf sie zu, und ihr zu einem Turm hochgestecktes Haar wippte im Wind, ihre Mimik drückte geradezu verletzende Verachtung aus. Ein Wortschwall brach wie ein böser Geist aus ihr hervor, aber Undine hörte nicht hin. Ihr Herz schmerzte vor Angst und Hoffnungslosigkeit. Wimmernd ließ sie sich auf den Boden nieder, dabei fiel ihr Blick auf das ockerfarbene Gemäuer der Villa. Villa Magnolia stand dort in dunkelbrauner Farbe. Die Magnolienvilla. Undine erschauderte. Wäre sie bloß nie hierhergekommen!
Wie gelähmt stand Fee im Flur und starrte auf den Brief, dessen Zeilen vor ihren Augen verschwammen. Unbarmherzig fiel die Trauer über sie her und presste ihr wie ein Stahlband die Brust zusammen. Ein gekrächztes »Nein« entwich ihr, und sie ließ die Handtasche fallen.
Wie konnte er es wagen?
Langsam ließ sie sich auf dem Nussbaumparkett nieder. Es roch intensiv nach frischem Holz, da die Putzfrau es erst gestern mit einem Spezialmittel gereinigt hatte.
Mit angezogenen Beinen lehnte sie sich gegen den Einbauschrank. Sie trug noch immer ihren Mantel, aber das kümmerte sie nicht. Sie fühlte sich, als hätte jemand mit scharfen Krallen ihr Herz gepackt und drückte unerbittlich zu. Jede Faser ihres Körpers war von einer quälenden Schwermut erfüllt, genau wie vor acht Jahren. Dabei hatte sie damals ihr altes Leben komplett aufgegeben und alles daraus verbannt, was sie an Eva und den Überfall hätte erinnern können. Hauptsache, sie spürte keinen Schmerz mehr.
Natürlich gab es gelegentlich Momente, in denen sie von Traurigkeit ergriffen wurde, zum Beispiel, wenn sie auf ein Foto stieß oder jemand von Eva sprach. Aber durch das Malen war es ihr stets gelungen, eine sich anbahnende Melancholie aufzuhalten. Heute würde selbst das nichts bringen, das wusste sie.
Gefühle und Erinnerungen überschlugen sich, sie war machtlos dagegen. Sie sah Eva vor sich, wie sie in ihrem pinkfarbenen Sommerkleid das Juweliergeschäft betrat, das kastanienbraune Haar zu einem schwingenden Pferdeschwanz gebunden, die Rehaugen leuchtend und voller Vorfreude auf alles, was das Leben für sie bereithielt, angefangen mit Fees Entwurf für den Hochzeitsschmuck. Fee wusste noch genau, wie aufgeregt sie selbst gewesen war, ihrer besten Freundin die Entwürfe zeigen zu können, in die sie viel Liebe und Herzblut gesteckt hatte. Sie war davon ausgegangen, dass Eva überwältigt sein würde, denn der Schmuck – Ohrringe, Collier und Armband mit bunten Edelsteinen im Brillantschliff – passte perfekt zu ihr. Nur waren sie gar nicht erst so weit gekommen, sich die Entwürfe anzusehen. Kurz nach Evas Eintreffen, sie gingen gerade auf den Aufzug zu, stürmten die Diebe das Geschäft.
Die Erinnerung daran ließ Fee aufschluchzen. Tränen rannen über ihre Wangen und tropften auf den Brief. Es kam ihr vor, als würde ihr eine unsichtbare Kraft die Kehle zuschnüren, deshalb versuchte sie, tief und kontrolliert zu atmen, so wie sie es damals von der Therapeutin gelernt hatte.
Einatmen – ausatmen. Die Minuten vergingen. Nach und nach, während sie sich auf ihre Atmung konzentrierte, spürte sie, wie sich ihr Körper entspannte und die Tränen allmählich versiegten.
Plötzlich ging die Haustür auf, und im nächsten Moment stolperte Christian beinahe über ihre Handtasche.
»Was zum … Felicia!« Er gehörte zu den wenigen Personen, die Fee nicht mit ihrem Kosenamen ansprachen.
»Was machst du da auf dem Boden?« Er zog die Tür hinter sich zu. Sie sah schweigend hoch, und er zuckte bei ihrem Anblick kaum merklich zusammen.
»Hast du geweint?« Er stellte die Aktentasche hin, legte den Autoschlüssel auf das Sideboard und kniete sich zu ihr, umfasste ihre Schultern. Der Duft von Armani Code stieg ihr in die Nase.
»Hey, was ist los?«
Wortlos reichte sie ihm den Brief, und er betrachtete ihn stirnrunzelnd.
»Swiss RJ Forum«, las er. »Forum für Restaurative Justiz. Was wollen die von dir?«
»Lies selbst.«
Sie beobachtete ihn beim Lesen, erkannte aber keine Regung in seinem Gesicht.
Sein komplett rasierter Schädel – den gänzlichen Kahlschlag auf dem Kopf zog er einer Halbglatze vor – glänzte im Licht der Deckenspots.
Schließlich schnappte er nach Luft und faltete den Brief zusammen. »So eine Frechheit! Dieser Typ hat bei dem Überfall zwei Menschen getötet und dich angeschossen. Jetzt möchte er das tatsächlich wiedergutmachen, indem er sich mit dir zu einem Opfer-Täter-Dialog trifft? Um sich zu entschuldigen?« Er schnaubte und lockerte seine Krawatte.
»Es ist ja nur eine Anfrage«, erwiderte Fee ruhig. »Ich kann das ablehnen. Das Forum schreibt ganz klar, dass …«
»Selbstverständlich wirst du es ablehnen! Oder ziehst du etwa in Erwägung, dich mit ihm zu treffen?« In seiner Stimme lag eine Schärfe, die durch den strengen Ausdruck seiner graublauen Augen noch unterstrichen wurde. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort. »Du weißt doch, dass ich mich in der Partei für ein härteres Strafrecht einsetze. Wenn du diesem Opfer-Täter-Dialog zustimmst, kommt das garantiert an die Öffentlichkeit und lässt mich vor den Parteikollegen und Wählern sehr unglaubwürdig erscheinen.«
Fee sah ihn fassungslos an. Eigentlich hatte sie bereits entschieden, sich nicht auf ein Gespräch mit dem Täter einzulassen, denn sie konnte sich unmöglich mit dem Mann treffen, der Eva auf dem Gewissen hatte. Doch Christians egoistisches Verhalten störte sie gewaltig. Gerade jetzt hätte sie Trost und Mitgefühl von ihm erwartet, keine Moralpredigt. Ärger wallte in ihr auf und verdrängte ihre Trauer. Sie griff nach ihrer Tasche, nahm eine Packung Papiertücher hervor und zog eines heraus. Nachdem sie sich die Nase geputzt hatte, sah sie zu Christian und beschloss, ihm ihren Entschluss noch vorzuenthalten.
»Es ist allein meine Entscheidung, ob ich mich mit dem Täter treffe oder nicht. Und du hast sie zu akzeptieren.« Sie stand langsam auf und zog den Mantel aus.
Christian erhob sich auch und wedelte mit dem Brief herum. »Denkst du etwa, dass dir eine Zusammenführung helfen kann? Dass alte Wunden dadurch geheilt werden? Felicia, es geht bei einem solchen Dialog nicht um deine Bedürfnisse, sondern um die des Täters. Und der macht bei dem Programm nur mit, um schneller wieder aus dem Knast zu kommen. Sobald er dann draußen ist, begeht er das nächste Verbrechen.«
Fee öffnete den Wandschrank und hängte ihren Mantel hinein. »Bei der Restaurativen Justiz steht aber das Opfer im Vordergrund. Schreiben sie zumindest. Sie wollen dem Opfer eine Stimme geben und den Täter zur Verantwortung ziehen. Allerdings durch eine heilende Form der Justiz.« Sie wusste selbst nicht, weshalb sie das Programm verteidigte. Vielleicht, weil der Brief im Grunde genommen sehr nett geschrieben war. Man drängte sie zu nichts, im Gegenteil, es wurden sogar Vorbereitungsgespräche angeboten. Sehr wahrscheinlich reagierte sie so, um Christian Widerstand zu leisten. In letzter Zeit stritten sie sich oft, doch Fee gab dem Frieden zuliebe am Ende meistens nach.
Sie hatte es satt!
»Das soll das Opfer glauben!«, konterte er auch schon. »Sei nicht so naiv! Außerdem hast du so eine Gegenüberstellung sowieso nicht mehr nötig. Es geht dir gut.«
Sie schlug den Schrank mit einem Knall zu und blickte trotzig zu Christian hoch, der sie mit seinen einen Meter vierundachtzig um fast einen Kopf überragte.
»Ich habe auch gedacht, es würde mir gut gehen. Aber anscheinend stimmt das nicht, sonst hätte ich vorhin keinen Zusammenbruch erlitten. Alles kam wieder hoch!« Sie gestikulierte wild umher, und eine Spur von Mitgefühl huschte über sein Gesicht.
»Deine beste Freundin ist damals ums Leben gekommen, und du wurdest angeschossen. Es ist also absolut verständlich, dass dich eine solche Anfrage aus der Fassung bringt.«
Fee marschierte durch den Flur und betrat die Wohnküche, gefolgt von Christian, der weiter auf sie einredete.
»Als ich dich damals kennengelernt habe, warst du ein psychisches Wrack. Aber davon bist du jetzt weit entfernt. Du hast dein Leben im Griff und brauchst diesen Scheiß nicht.« Er zerriss den Brief und warf die Fetzen auf die dunkelgraue Granitablage der Kücheninsel.
Fee, die sich gerade ein Glas mit Wasser füllen wollte, stellte es wieder ab und sammelte die Papierfetzen zusammen. »Was soll das? Das ist allein meine Angelegenheit! Du hast kein Recht, dich einzumischen.«
Christian stützte die Hände auf die Ablage und fixierte Fee. »Oh doch, in diesem Fall habe ich das Recht. Es betrifft meine politische Karriere. Konzentriere dich besser auf unsere Hochzeit.« Er ließ seine Aussage einen Moment in der Luft hängen und fuhr dann in unbeschwertem Ton fort. »Ach, wann war noch gleich der Termin im Brautmodengeschäft? Morgen, oder?«
Fees Herzschlag drohte auszusetzen. Die Brautkleidsuche! Sie hatte keine Ahnung, wie sie die durchstehen sollte.
Fee schwitzte, und ihr Magen verkrampfte sich. Seit ihrer Ankunft in dem Brautmodengeschäft fühlte sie sich zwischen all den zukünftigen strahlenden Bräuten wie ein schwerer schwarzer Stein, der mitten im weißen Puderschnee lag. Dabei hatte sie sich heute Morgen fest vorgenommen, sich zusammenzureißen und wie jede normale Verlobte ein Brautkleid auszusuchen. Das konnte ja nicht so schwierig sein, hatte sie sich eingeredet, doch jetzt überkam sie die kalte Realität. Die Erinnerungen an Eva begannen sie erneut zu quälen. Damals hatte sie wenige Tage vor dem Überfall mit Eva ein Brautmodengeschäft besucht, und Eva hatte dort ihr absolutes Traumkleid gefunden. Ein schlichtes, damit sie mit buntem Schmuck noch Akzente setzen konnte. Nie würde Fee ihr glückliches Gesicht vergessen und ihre Worte, als sie in dem cremefarbenen Seidenkleid aus dem Umkleideraum getreten war. »Mädels, das ist es! Mein Kleid!«
Eine Woche später war sie tot.
Die Erinnerung traf Fee wie eine Faust in den Bauch, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie spürte eine Hand auf ihrem Rücken.
»Fee, alles okay?«, fragte ihre beste Freundin Jessy besorgt. »Wir können auch wieder gehen.«
Fee atmete tief durch. »Danke, es geht schon.« Bevor sie hierhergekommen waren, hatte sie Jessy und ihrer Mutter das zusammengeklebte Schreiben des Forums gezeigt. Während Jessy wie erwartet entsetzt gewesen war, hatte ihre Mutter nur die Augen verdreht und gemeint, Fee solle sich wegen so einer Lappalie – Lappalie! – nicht aufregen.
»Fee, Herzchen«, rief ihre Mutter nun und zeigte auf eine Kleiderpuppe in einem üppigen Tülldress mit rosafarbenen 3-D-Blüten. Das trägerlose Oberteil war mit unzähligen Glitzersteinchen verziert. »Das hier musst du anziehen. Darin siehst du bestimmt aus wie eine Märchenprinzessin.«
Oh nein, dachte Fee, darin sehe ich eher aus wie eine Hochzeitstorte!
Yvonne, ihre Schwiegermutter in spe, rümpfte die Nase und wandte sich kopfschüttelnd an Fees Mutter. »Dieses Kleid geht gar nicht. Als zukünftige Frau eines Politikers braucht Felicia etwas Royales. Elegant, modern, aber auf keinen Fall kitschig und aufreizend.« Sie marschierte durch den Laden wie ein General und musterte sämtliche Kleider abschätzig. Fees Mutter richtete sich vor einem Spiegel ihr rotes, stark toupiertes Haar, dann folgte sie Yvonne und verteidigte das Glitzerkleid.
»Hör nicht auf die beiden«, flüsterte Jessy. »Zu dir passt ohnehin ein Vintagekleid am besten. Zart und verträumt. Du bist ein Elfentyp.«
Fee verzog das Gesicht. Sie mochte den Vergleich nicht besonders, auch wenn er in Anbetracht ihres Namens und ihres Äußeren durchaus zutraf. Sie hatte langes, feines und hellblondes Haar, blasse Haut und himmelblaue Augen. Sogar ihre Ohren glichen denen einer Elfe: leicht abstehend und groß. Früher in der Schule war sie deswegen oft gehänselt worden. Dumbo hatte man sie genannt, wie den kleinen Elefanten aus dem Zeichentrickfilm. Sie hatte immer versucht, ihre Ohren zu kaschieren, aber wegen ihres dünnen Haares war es ihr nie gelungen. Durch die Freundschaft zu Eva hatte sie mit der Zeit an Selbstbewusstsein gewonnen, und inzwischen stand sie zu ihrem Schönheitsfehler. Ach, Eva, dachte Fee verzweifelt.
»Fee.« Jessy schien offenbar zu bemerken, dass sie nicht bei der Sache war, und sah sie bekümmert an. »Du musst diesen Brief vergessen, ja?«
Das kann ich nicht. Fee spürte, wie die Wut in ihr emporkroch. Wie konnte Evas Mörder es wagen, eine solche Bitte an sie zu stellen? Entschuldigen wollte er sich! Als könnte er dadurch alles wiedergutmachen. Aber Eva war tot! Eine Entschuldigung brachte sie nicht zurück. Verdammt!
»Komm, wir schauen uns die Kleider an«, fuhr Jessy bemüht fröhlich fort. »Guck mal, das hier ist doch ganz hübsch.« Sie zeigte auf einen Traum aus champagnerfarbener Spitze, doch im selben Moment stieß Yvonne dazu. »Das ist viel zu schlicht. Da kann sie ja gleich im Nachthemd gehen.«
»Schätzchen«, meldete sich ihre Mutter, »bitte zieh doch das Kleid mit den rosa Blüten mal an. Mir zuliebe. Oh, und ich habe noch eines mit einer Schleife in der Taille gesehen.«
»Das ist alles Kitsch!«, zischte Yvonne. »Komm mit, Felicia, ich habe dort drüben etwas Passendes entdeckt.«
In dem Moment stieß eine lächelnde Kundenberaterin zu ihnen und wandte sich an Fee. »So, nun bin ich bereit für Sie. Haben Sie schon ein paar Kleider gesehen, die Ihnen gefallen?«
»Ich … nein …«
»Das macht nichts, wir finden schon etwas. Was für Vorstellungen haben –« Sie konnte den Satz nicht mal beenden, schon begannen Yvonne und Fees Mutter auf sie einzureden.
Fees Nerven vibrierten, ihr Herz raste. »Jetzt reicht’s!«, schrie sie. »Hört endlich auf! Wenn, dann suche ich mir ein Kleid aus, das mir gefällt. Nur mir!« Sie bemerkte, wie schrill sich ihre Stimme anhörte, und hielt inne. Ihre Mutter, Jessy und Yvonne schauten sie fassungslos an, genauso wie die Angestellte und ein paar Kundinnen. »Aber wisst ihr was, ich will kein Kleid. Und auch keine Hochzeit. Das war Evas Traum, nicht meiner.« Tränen füllten ihre Augen. »Ich kann das nicht.« Sie rannte aus dem Laden.
Schon seit fünf Minuten saß sie im Wagen und beobachtete die Schneeflocken, die sich auf der Windschutzscheibe sammelten. Where Is My Mind von den Pixiesertönte aus der Musikanlage und drang ihr unter die Haut.
Die Dämmerung begann einzusetzen, und Laternen erhellten den von Tannen gesäumten Weg zur Seniorenresidenz, in der immer mehr Fenster aufleuchteten. Fee rieb sich die Schläfen. Ihre Großmutter erwartete sie, aber sie wollte ihr in diesem aufgewühlten Zustand nicht unter die Augen treten. Zuerst musste sie sich beruhigen.
Ihr Handy klingelte, und nicht mal die durchdringenden Töne von Joey Santiagos E-Gitarre konnten es überstimmen. Erregt wühlte Fee in der Tasche und zog das Gerät zwischen Lippenstift, Bonbons, Geldbörse und Taschentüchern hervor. Schon auf der Fahrt hierher hatte es ununterbrochen geklingelt, und ein Blick auf das Display zeigte elf verpasste Anrufe. Sie schaltete es aus. Bei Jessy würde sie sich später melden, aber ihre Mutter und Yvonne konnten ihr gestohlen bleiben. Sie war sich bewusst, dass sie vorhin alle überrascht hatte mit ihrem plötzlichen Wutausbruch, schließlich passte so etwas nicht zu ihr. Aber es war ihr ernst gewesen. Sie wollte weder ein Kleid noch eine Hochzeit.
Sie starrte auf das Lenkrad, und der Mercedesstern verschwamm vor ihren Augen.
»Verdammte Scheiße!« Sie schlug mit der Faust gegen das Lenkrad und lehnte sich in ihrem Sitz zurück, schaute aus dem Fenster. Die vom Wind umhergewirbelten Schneeflocken bildeten kreisförmige Muster auf der Windschutzscheibe.
Sie tröstete sich mit der Tatsache, dass sie eigentlich nie hatte heiraten wollen. Doch dann hatte Christian ihr vor einem Jahr auf den Malediven einen Antrag gemacht – während eines Abendessens direkt am Meer bei Kerzenschein. Sie war aus allen Wolken gefallen, weil sie kurz vor dem Urlaub noch einen heftigen Streit gehabt hatten und sie die Beziehung damals ernsthaft infrage gestellt hatte. Sie vermutete deshalb insgeheim, dass ihn keine romantischen Absichten zu dem Antrag bewogen hatten. Vielmehr sah er in einer Ehe womöglich einen Vorteil für seine politische Laufbahn. Ein Familienmensch kam bei der Wählerschaft nun mal besser an.
Schlussendlich hatte Fee ihre Zweifel aber beiseitegeschoben und den Antrag angenommen. Sie schätzte Christian, ihren Fels in der Brandung. Neben ihren Großeltern und Jessy hatte er ihr damals vor acht Jahren, in der schlimmsten Zeit ihres Lebens, beigestanden und sie aus einer Phase geholt, in der sie niemanden mehr an sich heranließ und sich fast zerstört hätte. Christian hatte sie vor sich selbst gerettet und ihr neue Perspektiven aufgezeigt.
Um sich voll und ganz auf ein neues Leben einlassen zu können, hatte sie jedoch ihr altes zuerst abwerfen müssen und eine Veränderung durchgemacht. So wurde aus der Schmuckdesignerin mit Vorliebe für bunte Flatterkleidchen eine organisierte Finanzbuchhalterin im Businesskostüm. Ganz geformt nach Christians Idealbild, wie Jessy und ihre Großmutter, beide keine Anhänger von Christian, manchmal behaupteten. Fee war sich ihrer Verwandlung durchaus bewusst, und auch wenn diese Phase nicht immer leicht gewesen war – von alten Gewohnheiten verabschiedete man sich nur schwer –, so hatte sie es durchgezogen, weil sie wusste, dass nur ein kompletter Neuanfang sie retten würde. So hatte sie sich Hals über Kopf in eine Beziehung mit Christian gestürzt, die trotz zahlreicher Streitereien bis heute hielt. Christian mochte gelegentlich etwas zu perfektionistisch sein, aber genau diese Eigenschaft schätzte Fee an ihm. Er hatte immer alles unter Kontrolle, ob als Partner im Investmentunternehmen seiner Mutter, in seiner Partei oder privat. Griff man ihn an, kapitulierte er nicht, sondern kämpfte stattdessen. Erlitt er trotzdem einen Misserfolg, ließ er sich nicht unterkriegen und machte weiter. Im Leben falle man immer mal wieder hin, sagte er oft, und das sei nicht tragisch. Tragisch sei nur, wenn man einfach liegen bleibe und nicht wieder versuche aufzustehen.
Fee hatte ihn für seine Einstellung und Stärke immer bewundert und so sein wollen wie er. Vermutlich einer der Hauptgründe, weshalb sie seinen Heiratsantrag angenommen hatte. An seiner Seite hatte sie sich sicher gefühlt.
Gestern hatte sie wieder mal feststellen müssen, dass es nicht mehr so war. Sie hatte sich nach Trost und Wärme gesehnt, stattdessen aber nur einen Streit erhalten, wie in letzter Zeit so oft. In den vergangenen Wochen hatte sie sich häufig bei dem Gedanken ertappt, ob Christian wirklich der Richtige für sie war, hatte ihre Zweifel am Ende aber immer zur Seite geschoben und sich eingeredet, dass Streitereien zu einer gesunden Beziehung gehörten. Trotzdem blieben die Bedenken, zumal sie sich sehr oft und über alles Mögliche stritten: über ihre Malerei, die Wohnungseinrichtung, seine politischen Ansichten, seine dominante Mutter, ihr Engagement für Obdachlose … Und natürlich die Hochzeit. Christian wollte groß feiern, sie eher klein. Anfangs war sie sogar ganz gegen eine Feier gewesen und fand, eine standesamtliche Heirat würde reichen. Christian jedoch wünschte sich ein Fest, hauptsächlich für Familie, Freunde, Geschäftspartner und seine Parteikollegen. Am Ende hatte Fee nachgegeben, und inzwischen stand der Termin mit dem siebten September bereits fest. Kirche und Hochzeitslocation – das Schloss Rapperswil – waren gebucht und die Einladungskarten an die rund zweihundert Gäste kürzlich durch die Hochzeitsplanerin verschickt worden. Die Leute freuten sich, allen voran Fees Mutter und Großmutter. Letztere wäre auch gern zur Brautkleidsuche mitgekommen, hatte sich aber wegen plötzlich auftretender starker Kopfschmerzen hinlegen müssen. Fee hatte ihr versprochen, später vorbeizukommen und Fotos von dem Kleid zu zeigen.
Nun war sie da, aber ohne Fotos, weil es kein Brautkleid gab. Vielleicht nie eines geben würde.
Fee atmete tief durch, ehe sie nach ihrer Handtasche und der Pralinenschachtel auf dem Beifahrersitz griff. Dann öffnete sie die Wagentür.
Ein frostiger Wind wehte beharrlich vom Zürichsee herauf, als Fee vom Parkplatz zur Seniorenresidenz lief. Schneeflocken trieben ihr ins Gesicht, sodass sie die Kapuze ihres Mantels über den Kopf zog.
Umgeben von schneebedeckten Tannen, wirkte die neugotische Villa mit dem Türmchen und den Bogenfenstern wie einem Wintermärchen entsprungen. Fees Großmutter hatte nach dem Tod ihres Mannes vor sechs Jahren beschlossen, ihr Haus am Zürichberg ihrem Sohn, Fees Vater, zu überlassen, und sich hier eine kleine Wohnung gemietet.
Im überheizten Innern des Gebäudes begann Fees Haut zu glühen, und sie zog den Mantel aus. Während sie auf den Aufzug wartete, band sie ihr Haar, das sich durch die Kapuze elektrisch aufgeladen hatte und in alle Richtungen abstand, zu einem Pferdeschwanz. Als sie im dritten Stock ankam, sah sie gleich ihre Großmutter, die einer jungen Frau im weißen Kittel dabei half, übrig gebliebene Weihnachtsdekoration von den Fenstern im Foyer abzunehmen. Offenbar hatte sie keine Kopfschmerzen mehr.
In ihrer rosafarbenen Seidenbluse und der hellgrauen Stoffhose, das weiße schulterlange Haar zu sanften Wellen frisiert, sah Violetta Strasser so elegant aus wie eh und je. Munter plaudernd wickelte sie einen Strohengel in Seidenpapier, legte ihn in eine Kiste und griff nach einem silbernen Stern. Sie entdeckte Fee, und ihre honigbraunen Augen leuchteten auf. Fee fühlte beim Anblick ihrer Großmutter sofort, wie sich ihr Gemüt erhellte, als würde ihr jemand den Teil einer schweren Last von den Schultern nehmen.
»Fee, Liebes, hier bist du ja.« Ihre Großmutter wedelte mit dem Stern, Glitzerstaub rieselte herab. »Die zukünftige Braut!« Ehe Fee etwas sagen konnte, fiel ihr Violetta in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Als sie von ihr abließ, musterte sie Fee erwartungsvoll. »Na, wie war es? Du hast hoffentlich Fotos vom Kleid gemacht?«»Äh …« Fee wich ihrem Blick aus. »Gehen wir in deine Wohnung, dann erzähle ich dir alles.«
Violetta betrachtete sie prüfend. »In Ordnung.« Sie legte den Stern in die Kiste, verabschiedete sich von der Pflegerin und hakte sich bei Fee ein.
»Wie geht es deinem Kopf?«, fragte Fee, während sie über das knarrende Parkett des Flurs schritten.
»Dank der Schmerztablette wieder besser. Aber heute Morgen habe ich es kaum ausgehalten. Merkwürdig. Solche Kopfschmerzen hatte ich noch nie. Liegt vermutlich am Wetter.«
»Meinst du? Vielleicht solltest du es abklären lassen.«
»Ach was!« Violetta öffnete lachend die Wohnungstür. »Wegen Kopfschmerzen renne ich nicht gleich zum Arzt.« Zielstrebig ging sie in die Kochnische und setzte Wasser auf. Der Teekessel aus Edelstahl glänzte wie ein frisch geputzter Spiegel. Danach betätigte sie die Fernbedienung ihrer Stereoanlage, und sogleich erklang eine Klaviersonate des Komponisten Jean-Philippe Rameau. Les Tendres Plaintes.
Violetta war Pianistin gewesen, und wenn sie nicht gerade selber spielte, dann hörte sie klassische Musik, ob nun Pianostücke, Opern oder Sinfonieorchester. Rameau gehörte zu ihren liebsten Komponisten. Auch Fee mochte ihn, besonders diese langsame Sonate. Wenn ihr die sanften Klänge in die Ohren drangen, fühlte es sich an, als legte jemand eine warme und weiche Decke um sie.
»Nun aber zu dir«, sagte ihre Großmutter. »Was ist los? Du wirkst so durcheinander. Hast du kein Kleid gefunden?«
Fee schluckte. Wenn es nur das wäre! Sie beschloss, noch nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. »Nein, habe ich nicht.« Sie öffnete einen Schrank, entnahm ihm zwei mit Goldrand verzierte Teetässchen und stellte sie zusammen mit der Zuckerdose auf ein Silbertablett.
Violetta winkte ab. »Mach dir nichts draus. Beim ersten Mal finden die wenigsten ihr Traumkleid.« Sie öffnete eine Dose mit einer Teemischung und füllte etwas davon in das Sieb eines Kruges. Der weihnachtliche Duft von Orange, Apfel und Zimt strömte Fee entgegen.
»Setz dich doch schon mal. Ich komme auch gleich.« Violetta drückte ihr das Tablett in die Hände. Fee ging damit durch das Zimmer, stellte es auf den Salontisch und zündete das Tiffanylämpchen auf der Biedermeierkommode an. Der Raum mit den antiken Möbeln und dem schwarzen Steinway-Flügel im Erker erstrahlte in weichem Licht. Wie jedes Mal betrachtete Fee die zahlreichen Fotos, die in unterschiedlichen Rahmen fast eine ganze Wand schmückten und vom Leben ihrer Großmutter erzählten: ihren unzähligen Konzerten, Reisen, Treffen mit Freunden und Familie. Die Bilder reichten weit zurück, einige zeigten Violetta als junge Frau, eine überaus attraktive Südländerin mit dunklen Locken, vollen Lippen und olivfarbenem Teint. Fees Großmutter stammte aus der Südschweiz, dem Tessin. Leider existierten aus ihrer Kindheit kaum Fotos, was daran lag, dass ihre Eltern früh gestorben waren. Die Mutter bei der Geburt, der Vater an einer Grippe. Violetta war in einem Kinderheim aufgewachsen, wie sie einst erzählt hatte. Umso mehr faszinierten Fee zwei Schwarz-Weiß-Bilder, die ihre Großmutter als Baby zeigten, zusammen mit dem Vater. Bei einem der Fotos handelte es sich um das Porträt eines dunkelhaarigen Mannes, der sein pausbäckiges Kind wiegte. Der Blick, mit dem er es ansah, war so voller Liebe, dass Fee jedes Mal ganz warm ums Herz wurde. Die andere Aufnahme zeigte Vater und Töchterchen im Garten vor einem blühenden Magnolienbaum. Von der Mutter habe sie leider kein Foto, hatte ihre Großmutter einst gesagt.
Fee sah zu einem anderen Bild, einer Nahaufnahme ihrer Großeltern bei deren Hochzeit. Das frisch verheiratete Paar strahlte Harmonie und Schönheit aus, fand Fee. Ihre Großmutter glich der Filmschauspielerin Sophia Loren; ihr dunkles Haar umgab das Gesicht wie eine Wolke, die Augen funkelten honigbraun. Fee hatte sich als Jugendliche oft gewünscht, mehr nach ihrer südländischen Großmutter und ihrem Vater zu kommen, oder nach ihrer Mutter, einer rothaarigen Schönheit. Aber bei ihr hatten sich voll und ganz die Gene ihres blauäugigen und hellblonden Großvaters durchgesetzt.
Sie schaute ihm in die gütigen Augen und wünschte sich nichts sehnlicher, als ihn hier zu haben. Er fehlte! Ihre Beziehung war genau wie die zu ihrer Großmutter sehr innig gewesen. Nur einmal hatte sie ihn enttäuscht, damals, ein paar Wochen nach dem Überfall, als sie ihm mitgeteilt hatte, nicht mehr als Schmuckdesignerin für ihn arbeiten zu können und stattdessen nochmals zu studieren. Accounting & Finance. Was wolle denn ausgerechnet sie mit Zahlen, hatte er gefragt und fassungslos den Kopf geschüttelt. Er könne ja verstehen, dass sie eine Auszeit brauche, aber gleich alles aufzugeben und auf diesen Schwätzer – so hatte er Christian genannt – zu hören, sei doch töricht. Fee hatte sein Unverständnis nachvollziehen können. Ihr Großvater war Inhaber der Juwelierdynastie Strasser Uhren & Schmuck gewesen, einem über mehrere Generationen hinweg geführten Familienunternehmen, das seit seinem Tod von seinem einzigen Sohn, Fees Vater, geleitet wurde. Ihr Großvater hatte ihre Designs immer sehr gemocht, und das nicht nur, weil sie seine Enkelin war. Ihre Kollektionen gehörten zu den meistverkauften. Doch weiterzumachen wie zuvor war für Fee keine Option gewesen.
Nach dem Studium hatte ihr Großvater sie dazu überredet, in der Buchhaltung der Firma zu arbeiten, worauf sie sich ihm zuliebe eingelassen hatte. Auch nach seinem Tod und unter der neuen Leitung ihres Vaters war sie geblieben.
»So, hier ist der Tee«, erklang Violettas Stimme. Sie füllte die beiden Tässchen und stellte die Kanne daneben. »Komm, setz dich.«
»Ja, gleich.« Fee holte ihre Tasche und nahm die Pralinenschachtel heraus. »Beinahe vergessen.« Sie ließ sich auf die weiche, mit geblümtem Stoff bezogene Couch fallen und öffnete die blaue Box.
»Fémina-Pralinen!« Violetta nahm sich eine und wickelte sie aus dem silberfarbenen Papier. Während sie sich die Schokolade in den Mund schob, gab sie ein genießerisches »Mmmh« von sich. Dann blickte sie Fee ernst an.
»Also, Liebes, was ist los?«
Fee entnahm ihrer Handtasche das Schreiben. »Gestern habe ich diesen Brief erhalten.«
Violetta griff nach ihrer Lesebrille und faltete den zusammengeklebten Brief stirnrunzelnd auseinander. »Was ist damit passiert? Hast du ihn zerrissen?«
»Nicht ich. Christian.«
Violettas Miene glich einem einzigen Fragezeichen. Nachdem sie den Brief gelesen hatte, legte sie ihn schweigend auf den Tisch und schob die Lesebrille ins Haar. Sie wirkte überwältigt, und in ihren Augen schimmerten Tränen, was Fee erstaunte. Ihre Großmutter war für gewöhnlich immer recht beherrscht.
»Evas Mörder will tatsächlich Kontakt zu dir.« Ihre Stimme zitterte, sie griff nach Fees Händen. »Das muss entsetzlich für dich sein. Ich kann das besser nachvollziehen, als du denkst.«
»Wie meinst du das?«
Violetta murmelte etwas Unverständliches vor sich hin.
»Was ist los?«
»Ach, Fee, ich habe dir so viel zu erzählen. Aber alles zu seiner Zeit. Reden wir zuerst über dich.« Sie rückte ein Stück näher. »Du quälst dich jetzt bestimmt wegen Eva, nicht wahr?«
»Ja. Dabei habe ich gedacht, darüber hinweg zu sein. Aber gestern, als ich diesen Brief las, kam alles wieder hoch. Und heute im Brautladen bin ich sogar ausgerastet.« Sie erzählte ihrer Großmutter alles, woraufhin diese ihr über den Rücken strich.
»Du willst also nicht mehr heiraten?«
Sie zögerte. »Heiraten schon, aber ohne Feier. Nur standesamtlich. Ich werde mit Christian sprechen.« Sie verstummte und erntete einen fragenden Blick ihrer Großmutter. »Allerdings haben wir schon alles gebucht, die Einladungen sind auch verschickt, wie du weißt. Alle freuen sich. So wie du.« Fee blickte sie schuldbewusst an. Gleichzeitig fühlte sie sich erleichtert, weil sie sich alles von der Seele geredet hatte.
»Ach, Kind!« Violetta wedelte mit den Händen. »Meinetwegen musst du keine Feier veranstalten, du meine Güte! Sicher wäre es schön gewesen, und ich hätte dich gerne als Braut gesehen. Aber ihr müsst diese Hochzeit für euch planen, für niemanden sonst.« Sie zog die Stirn in Falten. »Ich finde es nur bedenklich, dass du wegen Eva keine Feier mehr willst. Ich verstehe schon, dass dich die ganze Hochzeitssache an sie erinnert und schmerzlich für dich ist. Aber auf mich wirkt das alles so, als hättest du Evas Tod noch nicht überwunden.«
»Anscheinend nicht.«
»Weißt du, ich hatte oft das Gefühl, dass du damals dein Leben zu radikal geändert hast. Du hast alles daraus verbannt, was dich an Eva erinnerte. Ich weiß, dass du eine schwierige Zeit durchgemacht hast, und ich bin sehr froh, dass du dich danach wieder gefangen hast. Nur ist seither etwas von dir verloren gegangen. Etwas, das dich früher ausgemacht hat.« Sie verstummte, wirkte schuldbewusst. »Bitte entschuldige, dass ich das sage. Ich weiß ja, dass du es nicht mehr hören wolltest.«
»Schon gut.« Fee spielte mit den Ärmelknöpfen an ihrer Bluse. »Ich musste mich verändern, es ging nicht anders.«
»Ja, sicher. Ich fände es aber nicht richtig, wenn du diese Feier nur wegen Eva absagen würdest. Das hätte sie nicht gewollt, im Gegenteil.«
»Ich weiß. Ich bin einfach durcheinander.« Fee warf den Kopf in den Nacken und strich sich das Haar zurück. »Eigentlich wollte ich ja sowieso nie eine Feier. Vermutlich würde sie eh in einem Fiasko enden. Denk nur an meine Eltern.«
Violetta seufzte. Ihr Sohn, Fees Vater, hatte seine Frau schon vor fünfundzwanzig Jahren wegen einer anderen verlassen. Fee war damals erst acht gewesen. Die neue Beziehung hatte nicht lange gehalten, und seither hatte er stets wechselnde Liebschaften. Fees Mutter hatte ihm nie verziehen, und wann immer sie auf ihn traf, konnte sie ihre Wut nicht zurückhalten.
»Oh, und nicht zu vergessen Yvonne!«, bemerkte Fee. »Ginge es nach ihr, sollte Christian ja gar nicht heiraten.« Sie lachte auf. »Aber sie hat sich damit abgefunden, weil es ihm wichtig ist. Dafür möchte sie wenigstens eine große Feier. Wenn sie erfährt, dass wir nur noch standesamtlich heiraten, wird sie toben.«
Violetta nickte verständnisvoll. Sie wusste von Fees schwierigem Verhältnis zu ihrer Schwiegermutter in spe, der es schwerfiel, eine Frau an der Seite ihres Sohnes zu akzeptieren. Dass Yvonne eine wichtige Rolle in Christians Leben einnahm, hatte Fee schon zu Beginn ihrer Beziehung festgestellt. Damals fand sie den innigen Umgang schön und beneidete Christian sogar etwas darum, weil ihr Verhältnis zu ihren Eltern so distanziert war. Sie hatte sich ausgemalt, Christians Mutter könnte zu einer Art Ersatzmutter für sie werden.
Die erste Begegnung mit Yvonne hatte ihr jedoch sämtliche Illusionen geraubt. Yvonne und Christian waren eine eingeschworene Gemeinschaft, und wenn es nach Yvonne ging, sollte sich das niemals ändern. Fee konnte Yvonnes Verhalten in gewisser Weise nachvollziehen. Seit dem Krebstod ihres Mannes vor einundzwanzig Jahren hatte sie nur noch Christian, und für den war nur das Beste gut genug, wobei Fee in Yvonnes Augen weit davon entfernt war. Oft hatte sie etwas an ihr auszusetzen, besonders an der Malerei. Einzig die Tatsache, dass Fee aus einer reichen Familie stammte und vielleicht sogar mal das Familienunternehmen leiten würde, lobte Yvonne, die erfolgreich eine Investmentfirma führte.
Der Gong der alten Wanduhr erklang und riss Fee aus ihren Gedanken.
»Wie auch immer, die Hochzeitsfeier steht unter keinem guten Stern, deshalb können wir es auch lassen und nur standesamtlich heiraten … Ich befürchte aber, dass Christian nicht damit einverstanden sein wird. Er will eine große Feier.«
»Er kann das nicht allein entscheiden.« Ein nachdenklicher Ausdruck erschien auf Violettas Gesicht. Sie schwieg eine Weile, ehe sie auf den Brief zeigte. »Was hat er eigentlich zu der Anfrage gemeint? Und deine Eltern?«
»Christian teilt meine Meinung, aber es geht ihm dabei nicht um mich, sondern um seine politische Ansicht. Seine Partei setzt sich für ein härteres Strafrecht ein, und er befürchtet, wenn ich dem Opfer-Täter-Dialog zustimme, könnte ihm das politisch schaden.« Fee verdrehte die Augen. »Das ist wieder mal so typisch für Christian. Er hat nicht nach meinen Gefühlen gefragt, es geht ihm nur um die Politik. Wir haben uns gestern darüber gestritten.«
Ihre Großmutter sah sie an, als wunderte sie das nicht, sagte aber nichts dazu. »Und deine Eltern?«
»Mama hat alles heruntergespielt und gemeint, ich solle mich ruhig mit dem Mann treffen. Ich müsse diese Sache endlich abhaken. Jeder Mensch habe eine zweite Chance verdient … Tja, und Papa weiß noch gar nichts davon.«
»Hast du schon mit Evas Eltern gesprochen? Oder mit ihrem damaligen Verlobten? Vielleicht hat das Forum auch sie angeschrieben.«
»Das vermute ich auch. Bisher habe ich sie noch nicht kontaktiert. Kein leichtes Thema. Evas Verlobter Manuel ist sowieso in Afrika, für Ärzte ohne Grenzen.« Fee starrte auf das Schreiben. »Es ist wirklich unglaublich, dass sich Evas Mörder mit mir treffen will. Und das Forum lässt das zu und vermittelt.« Fieberhafte Erregung ergriff sie, und sie schluckte, um das Beben in ihrer Stimme zu unterdrücken. «Restaurative Justiz! Opfer-Täter-Dialog! Was für eine Kuscheljustiz!«
»Sie sind aber um dein Wohlergehen bemüht, das geht aus dem Brief ganz deutlich hervor. Sie bieten sogar Beratungs- und Vorbereitungsgespräche an.«
»Ja, ich weiß. Ich glaube schon, dass das Forum im Interesse der Opfer handelt, auch wenn Christian anderer Meinung ist. Wie auch immer: Ich will Evas Mörder nicht treffen. Auf seine Entschuldigung kann ich verzichten.«
Violetta schwieg, und Fee fand, es hatte sich ein gräulicher Schleier auf ihr Gesicht gelegt. Ihr wurde bewusst, dass ihre Großmutter ihre Ansicht noch gar nicht eindeutig geäußert hatte. Vorsichtig fragte sie: »Was meinst eigentlich du dazu?«
Violetta starrte auf die Pralinenbox. »Grundsätzlich bin ich deiner Ansicht. Menschen, die bewaffnet ein Geschäft überfallen und dabei Leute erschießen, sollten keine zweite Chance bekommen.«
»Grundsätzlich?«
Violetta begann, nervös an ihrem seidenen Halstuch zu zupfen, und wiegte dabei den Kopf, als stünde eine schwere Entscheidung an. Dann atmete sie tief durch. »Ich war einst in einer ähnlichen Situation wie du. Ich habe es dir nie erzählt, auch deinem Vater nicht. Nur dein Großvater wusste Bescheid.«
»Worüber?«
Sie zupfte erneut an ihrem Halstuch. Dann griff sie nach Fees Händen, während ihre Augen sie fest fixierten. »Ich wollte dir ohnehin bald davon erzählen, auch deinem Vater, das musst du mir glauben. In den vergangenen Wochen habe ich mich nämlich mit meinem Testament befasst. Mir ist dadurch bewusst geworden, dass ich noch einiges regeln muss vor meinem Tod und –«
»Ach, bitte rede nicht schon wieder über deinen Tod«, sagte Fee bekümmert. Ihre Großmutter sprach in letzter Zeit oft über das Sterben.
»Irgendwann wird auch meine Zeit kommen, so ist das eben. Ich bin auch schon fast achtundsiebzig.« Sie starrte nachdenklich ins Leere, und Fee sah sie traurig an. Dass ihre Großmutter so sachlich über ihr Lebensende sprach, fühlte sich an wie ein Stich ins Herz. Sie wollte sich noch nicht damit befassen.
»Aber wie gesagt«, fuhr Violetta mit fester Stimme fort, »muss ich vorher noch einiges regeln. Ich will nicht, dass du und dein Vater euch nach meinem Tod damit herumschlagen müsst. Und genauso wenig möchte ich, dass ihr von jemand anderem mein … kleines Geheimnis erfahrt. Und da wir schon beim Thema sind, kann ich es dir auch gleich erzählen.« Sie rieb sich die Schläfen. »Ich mache das erst jetzt, weil es nach wie vor sehr schwierig ist für mich, darüber zu sprechen. Es ist ein überaus dunkles Kapitel in meiner Familiengeschichte.« Sie schloss einen Moment lang die Augen und faltete die Hände. Fee blickte sie gebannt an, sie platzte fast vor Neugier.
»Meine Mutter, Alice Ferrazzini, hat ihren Mann, meinen Vater, umgebracht.«
»Was?« Fee starrte ihre Großmutter ungläubig an. »Umgebracht? Ich dachte, sie sei bei der Geburt gestorben? Und dein Vater an einer Grippe. Und dass du in einem Kinderheim im Tessin aufgewachsen bist.«
Violetta schaute verlegen auf ihre Hände. »Das habe ich alles erfunden. Es tut mir sehr leid.«
»Erfunden!« Fee schüttelte den Kopf. Die Offenbarung ihrer Großmutter war einfach unfassbar. »Aber … wieso?«
»Ich habe mich immer sehr geschämt für die Tat meiner Mutter. So sehr, dass ich mich anfangs nicht mal getraut habe, deinem Großvater von ihr zu erzählen. Als ich ihn kennenlernte und mich in ihn verliebte, war ich zum ersten Mal in meinem Leben richtig glücklich. Dein Großvater war schon damals eine richtige Frohnatur. Er stand auf der Sonnenseite des Lebens, war als Juwelier wortwörtlich umgeben von Glanz und Licht, und das wollte ich auch. Deshalb beschloss ich, meine dunkle Vergangenheit vorerst für mich zu behalten. Ich hatte Angst, dass er mich nicht mehr würde haben wollen, wenn er von meiner Mutter wüsste. Erst viel später habe ich ihm die Wahrheit gesagt.« Sie sah entschuldigend zu Fee, die noch immer vollkommen geschockt war und kaum Worte fand.
»Das … das ist einfach alles unglaublich! Deine Mutter hat also wirklich deinen Vater umgebracht? Warum? Und wann?«
»Es ist 1944 passiert, ich war drei. Mein Vater hat Alice, meine Mutter, mit ihrem Liebhaber, einem italienischen Schmuggler, in flagranti im Bootshaus erwischt, das hat mir meine Großmutter Jahre später erzählt. Sie hat nicht viel gesagt, aber es kam wohl zum Streit, und dann erschoss Alice meinen Vater, damit der Schmuggler fliehen konnte. Nach ihm wurde gefahndet, weil er zuvor einen Schweizer Grenzwächter getötet hatte.«
»Das ist entsetzlich!«
»In der Tat, das ist es. Weißt du, laut meiner Großmutter war Alice schon immer böse und kriminell. Angeblich wurde sie sogar schon vor ihrer Zeit in Brissago straffällig. Damals lebte sie noch in Zürich. Ich weiß aber nicht, was sie dort getan hat. Ich habe mich nie damit befasst, weil ich nichts mit ihr zu tun haben wollte.« Ihre Worte klangen hart, dennoch wirkte sie plötzlich sehr zerknirscht, fast so, als würde sie es bereuen.
»Du weißt demnach auch nicht, ob sie in Zürich eine Familie hatte? Eltern? Geschwister?«
»Sie hatte keine. Meine Stiefschwester hat meiner Großmutter mal gesagt – ich war etwa neun Jahre alt –, man solle mich am besten nach Zürich zu der Familie meiner Mutter schicken. Großmutter meinte daraufhin, es gebe leider niemanden mehr.«
Fee entging ihre bittere Betonung des Wortes leider nicht. »Du hast noch eine Stiefschwester?«
Ein dunkler Schatten glitt über Violettas Gesicht. »Ja. Pippa. Und einen Stiefbruder. Matteo. Mein Vater war vor der Ehe mit meiner Mutter schon mal verheiratet und hatte bereits zwei Kinder.«
»Pippa, Matteo«, wiederholte Fee ungläubig. »Und sie leben beide noch?«
»Matteo ist vor vier Jahren an Lungenkrebs gestorben. Pippa lebt vermutlich noch, sonst hätte ich es erfahren. Wegen der Magnolienvilla.«
»Magnolienvilla?«
»Das ist das Haus in Brissago, in dem ich aufgewachsen bin. Es gehört mir zu einer Hälfte. Als Matteo starb, haben Pippa und ich seinen Anteil auch noch geerbt. Er regelte das so in seinem Testament.«
»Wow!« Fee musste die Flut an Informationen kurz auf sich wirken lassen. Ihre Urgroßmutter war eine Mörderin gewesen, und ihre Großmutter hatte noch eine Stiefschwester und eine Villa im Tessin.
Violetta fuhr bereits fort. »Als ich Brissago damals mit sechzehn Jahren verließ, war ich voller Wut und beschloss, alles hinter mir zu lassen. Ich wollte ein neues Leben beginnen und mit meiner Familie nichts mehr zu tun haben.«
In Fees Kopf tobten unzählige Fragen. Viel mehr als ein »Aber warum nicht?« brachte sie jedoch nicht heraus.
Ihre Großmutter schien mit sich zu ringen. »Nach Vaters Ermordung und Mutters Verhaftung war es für mich nicht leicht. Pippa und meine Großmutter Lucilla hassten mich. Ihrer Ansicht nach steckte in mir genauso viel Böses wie in meiner Mutter. Sie haben mich –« Sie brach ab und holte tief Luft.
»Du musst nicht darüber sprechen, wenn du nicht willst.«
»Danke, aber es geht schon.« Sie faltete die zitternden Hände. »Sie haben mich gequält, besonders Lucilla. Sie hat mich geschlagen, mich manchmal tagelang in den Keller gesperrt, mich gedemütigt. Sie meinte, man müsse das Böse aus mir heraustreiben.«
«Das ist schrecklich! Es tut mir so leid! Was ist mit Matteo? Hat er einfach zugesehen?«
»Er konnte nichts dagegen machen, er war ja nur fünf Jahre älter als ich. Manchmal hat er mir geholfen und mich vor Lucilla verteidigt, aber viel hat es nicht gebracht. Und das Hauspersonal traute sich natürlich auch nie, sich gegen Lucilla zur Wehr zu setzen. Mit achtzehn zog Matteo nach Locarno, von da an war ich allein auf mich gestellt.» Sie blickte ins Leere. »Ich glaube, er hat mich wegen seines schlechten Gewissens in seinem Testament berücksichtigt.«
Fee brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. »Wie hast du das alles ertragen können?«
Violetta zeigte auf den Flügel. »Das Klavierspiel gab mir Kraft. Es ist schon interessant, was Musik bewirken kann. Lucilla hat mich und Pippa unterrichtet, aber mich nahm sie viel härter ran. Ich musste oft stundenlang üben. Bis mein Nacken und meine Handgelenke schmerzten.« In ihre Augen trat plötzlich ein unerwartetes Leuchten, als hätte man zwei kleine Kerzen darin angezündet. »Aber die Schmerzen nahm ich mit der Zeit gar nicht mehr wahr, weil ich das Spielen so sehr liebte. Lucilla ahnte nicht, dass sie mir einen Gefallen tat, und ich verhielt mich so, als würde ich das Klavier hassen. Ich befürchtete, sie würde mich nicht mehr spielen lassen, wenn sie wüsste, welches Vergnügen es mir bereitete.« Sie lächelte traurig. »So hatte ich wenigstens etwas Lebensfreude.«
Sie schwiegen eine Weile, bis Fee fragte: »Vorhin hast du erwähnt, dass du noch etwas regeln musst?«
»Ja. Es geht um die Villa. Ich will mir meinen Anteil endlich ausbezahlen lassen.«
»Warum hast du ihn so lange behalten?«
Violetta schob ein Zierkissen zur Seite und lehnte sich zurück. »Nach meinem Auszug war niemandem bewusst, dass mir die Villa auch zu einem Teil gehört, schon gar nicht mir selbst. Erst in den Siebzigerjahren, nach dem Tod meines Großvaters, erfuhren Pippa und Matteo von meiner Miteigentümerschaft. Wir drei waren die letzten Erben. Lucilla war zwei Jahre vor ihm gestorben und meine Tante Carmina schon in den Fünfzigerjahren im Irrenhaus.«
Fee riss die Augen auf. »Im Irrenhaus?«
»Ja, aber ich weiß nichts Genaues darüber. Tante Carmina war ein Tabuthema. Als ich trotzdem mal nach ihr gefragt habe, hat mir Lucilla den Hintern versohlt.«
»Hm … Du hast vorhin deinen Großvater erwähnt. Warum hat er dich nie in Schutz genommen vor Lucilla und Pippa?«